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Blood-red Diamond

- Blutrote Seele -
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, ein neues Kapitel! :)
Einfach, weil ich mal Lust hatte xD

Viel Spaß beim Lesen! ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Yay! Action! :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
An dieser Stelle noch einmal ein großes Danke an alle, die diese Geschichte hier gerade verfolgen oder es noch tun werden! ^^
Viel Spaß beim Lesen! :D

(PS: Yay, Kapitel 20 grade angefangen und schon eine gute Idee für den Übergang zum Finale! Freu mich schon sehr darauf, das nieder zuschreiben! :) ) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Das Warten hat ein Ende!
Weiter geht's! :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey ihrs :D
Man mag es kaum glauben, aber letzten Samstag habe ich das letzte Kapitel von BrD fertig geschrieben! :D Jaha! Ich habs tatsächlich geschafft! xD
(Man davon abgesehen, dass meine allerliebste Betaleserin Nott noch ein bisschen (inhaltlichen) Verbesserungsbedarf sieht! Aber das nehme ich natürlich gerne an :D)

Wir haben 27 Kapitel, einen Prolog, einen Epilog und (momentan) knapp 112.000 Wörter (und das ist ein echter Rekord für mich! *___*)
Freut euch also noch auf die kommenden Kapitel! :)
Bin schon sehr auf eure Meinung gespannt! <3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Okaaaay... Hab mich nun (endlich!) entschieden.
Da das Kapitel beinahe untrennbar zu dem vorherigen gehört, lade ich es einfach jetzt mit hoch.

Ihr habt also "Glück". Diese Woche gibt es ein doppeltes Kapitel! :D
Man darf sich freuen ;) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Gefühlschaos und -drama! :D Hihihi. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
An dieser Stelle wünsche ich euch ein frohes und erfolgreiches Jahr 2015! :D
Danke für eure Treue! :3

Und habt ihr das neue Cover zu BrD gesehen??? *____* <3
(Seid so lieb und lasst ihr ein Kommi da, ja? Sie hat es wirklich verdient! :3) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ach, was solls. Ich habe keine Lust mehr zu warten xD
Hier ist das letzte (*schnief*) Kapitel. Komplett anzeigen

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Prolog

Eine unheimliche Stille erfüllte die kahlen, weißen Flure. Kein einziger Windhauch verirrte sich so tief in die verwinkelten Gänge des Gebäudes. Die Luft stand still. Kein Mensch war zu sehen.

Nur erahnen konnte man sie. Sie, die in den kleinen Zimmern lagen und sich im Reich der Träume befanden. Es fühlte sich an, als hätte die Zeit angehalten. Als hätte die Welt sich unter dem Teppich aus Abermillionen Sternen zur Nachtruhe gelegt.
 

Es war buchstäblich die Ruhe vor dem Sturm.

Immer wieder rollte der weit entfernte Donner wie das leise Knurren eines Hundes über die nachtschlafende Stadt. Die Fenster begannen zu vibrieren, als das Röhren des Himmels ertönte. Wie eine kaputte Glühbirne zuckten Blitze über die Dächer der Stadt.
 

Doch das alles blieb unbemerkt von den wenigen Personen, die zu dieser späten Zeit überhaupt nicht an Schlaf dachten.

Ein Schrei durchbrach die Stille und ein gequältes Stöhnen folgte. Schweißperlen rannen wie die klaren Tropfen eines Wasserfalls über ihre blasse Haut. Die Hitze des Tages war längst gewichen und doch fühlte sich die Luft noch unerträglich heiß an.

Der beinahe eisige Wind, der plötzlich die bunten Gardinen an den Fenstern, wie die Umrisse eines Geistes, blähte, schien das Bett überhaupt nicht zu erreichen.
 

Ein erneutes Stöhnen folgte und echote unnatürlich laut von den Zimmerwänden wieder. Die Unruhe wuchs sekündlich. Plötzlich war die unheimliche Stille verschwunden und einer Lautstärke gewichen, die der Stimmung auf den sonnengefluteten Straßen der Stadt glich. Menschen rannten durch den Raum, als der Alarm geschlagen wurde. Immer mehr strömten in das kahle, überhitze Zimmer. Schreie hingen in der Luft. Die nervöse Stimmung drückte auf die Anwesenden.
 

Weitere Schreie und der salzige Geruch von Tränen mischten sich unter die abgestandene Luft. Als wenn die Natur ebenfalls erwachte, erschütterte ein lauter Donnerschlag die Szene. Die Lichter flackerten, ehe ein gezackter Blitz das Schwarz des Himmels in ein unheimliches Glühen tauchte.

Wie eine Armee von Tausendfüßlern wedelten dutzende Hände hektisch über dem kleinen, schmalen Bett herum. Dicht gedrängt, sodass kaum ein Entkommen aus dessen Mitte war. Schwarze Fäden zogen sich wie Spinnenweben wild über den schneeweißen Untergrund.
 

Ein letzter lauter Schrei ertönte und plötzlich war alles ruhig. Die Welt hielt den Atem an. Eine ohrenbetäubende Stille legte sich über die Anwesenden. Jeder von ihnen wartete gespannt auf das lang ersehnte Geräusch. Das Geräusch, welches den Unterschied zwischen Tränen und Gelächter bedeutete. Bange Sekunden, die sich wie Jahre anfühlten und dann … Der kleine Körper schien sich seine winzige Lunge aus dem Leib zu schreien. Die angespannte Atmosphäre löste sich in einem kurzen Moment in Luft auf. Ein Wunder war geschehen.
 

„Es ist ein wunderschönes Mädchen! Herzlichen Glückwunsch!“ Die Stimme des Mannes zauberte den Anwesenden ein Lächeln auf ihre verschwitzen Gesichter.

„Du hast es geschafft, Liebling!“ Ein erleichtertes Lachen. Eine Hand, die liebevoll gedrückt wurde.

„Ich möchte sie sehen!“, ertönte die schwache Stimme der Frau, kurz bevor der Arzt zu ihr heran trat und das kleine, frisch geborene Lebewesen zu ihr auf das Krankenhausbett legte. Ihre schwachen Arme legten sich zärtlich um den kleinen Körper und ihre dunklen Augen strahlten vor Freude. Ihr persönliches Wunder lag endlich in ihren Armen.
 

„Sie ist wunderschön.“ Eine weiße Haut, schwarze Haare und dieselben dunkelbraunen Augen, wie ihre Mutter. Ein Engel, der auf Erden gekommen war.

„Und etwas Besonderes noch dazu“, lächelte der Vater des Kindes, als er seine Hand nach seiner Tochter ausstreckte und die winzige, linke Hand des Babys berührte. So sanft, als wäre sie aus dem feinsten Porzellan, schob er ihre Finger beiseite und entblößte das wohl Schönste, was die anwesenden Personen je in ihrem Leben gesehen haben.

„Ihre Tochter ist wirklich etwas ganz Besonderes“, sagte der Arzt ehrfürchtig, als er den Stein bewunderte. „Ich habe noch nie ein Baby gesehen, das mit so einem wunderschönen Edelstein gesegnet wurde.“

Rot, wie Blut. Das Licht funkelte in ihm, als würden tausend Flammen darin lodern. Ein mystisches Flackern zierte sein Inneres und unterstrich die Einzigartigkeit dieses Schmuckstücks.
 

„Er wird ihr sicherlich viel Glück in ihrem Leben bringen! Sie wird einen wundervollen Mann kennen lernen und der Segensstein wird zu ihr sprechen.“ Die Frau lächelte die Mutter an, in deren Augen der Stolz leuchtete.

„Unsere Amelina wird immer etwas Besonderes sein genau wie das Geschenk, das ihr bereits so früh gemacht wurde. Möge ihr Leben scheinen, wie dieser Edelstein. Möge sie ihren Weg finden.“
 

Rot, wie das lodernde Feuer.

Schwarz, wie die tiefe Dunkelheit.

Und Weiß, wie die reine Unschuld.
 

Ein blutroter Diamant.

Flammen

Wie oft sie mir diese völlig übertriebene Geschichte schon erzählt hatten? Die Geschichte meiner Geburt? Ich konnte es mittlerweile gar nicht mehr zählen. Immer war ich die Schöne, die Besondere. Die, mit einem Diamanten der seltensten Färbung. Mein Segensstein hatte mich in eine Ecke gedrängt, aus der ich in meinem Leben nicht mehr entkommen konnte.

Ich wollte gar nichts Besonderes sein! Das ging mir nur auf die Nerven! Jeder sprach mich darauf an. Für alle war ich nur die mit dem „flammenden Segensstein“. Die Person dahinter blieb den Meisten völlig verborgen.

 

Ich öffnete meine Augen einen Spalt breit, schloss sie jedoch sofort wieder, als grelles Licht meine Sicht blockierte. Genervt hob ich einen Arm, um mein Gesicht so vor der Sonne zu schützen. Sie brannte regelrecht auf meiner Haut. Es war Sommer und unerträglich heiß. Ich mochte den Sommer, keine Frage. Immerhin war ich als Juli-Kind geboren worden.

Doch diese seit drei Wochen andauernde Hitzeperiode ging mir nur noch auf die Nerven. Selbst das Sonnen, welches ich sonst liebte, war zurzeit nur eine Qual. Diese paar Minuten, die ich mich nun doch vor die Tür getraut hatte, würde ich garantiert mit einem Sonnenbrand büßen müssen.

Doch wofür war diese Jahreszeit sonst gut? Im Haus gefangen war man schon das ganze restliche Jahr! Manchmal war das Wetter wirklich unfair.

 

Ganz automatisch wanderten meine Gedanken zu dem einen Thema zurück. Meine freie Hand zuckte und ich hob sie an meinen Hals, an dem er schon seit fast 18 Jahren baumelte. Ein helles Licht blinkte mir glänzend entgegen, als ich zu meiner Hand herab sah, auf der das warme Gebilde ruhte. Dort hatte ich ihn aufbewahrt. Nah an meinem Herzen. Wie ein kleiner Regentropfen drehte er sich an einer kurzen Metallstange in seinem herzförmigen Behälter. Ich hatte diese Form gewählt, weil es damals die einzige Nacht im kompletten Juli war, in der es geregnet hatte. Ein roter Regentropfen. Mir gefiel die Idee.

Die Sonnenstrahlen, die sich in dem Edelstein brachen, ließen ihn brennen. Es wirkte so, als würden die Flammen in dem festen Kern der Materie lodern und das gab einem das Gefühl, ein Stück echten Feuers in den Händen zu halten.

Schön war er ja wirklich. Und ziemlich selten wahrscheinlich auch. Doch wirklich Glück gebracht hatte er mir in meinem Leben bisher nicht. Im Gegenteil …

 

„Ach, Kleines! Hör doch bitte auf deinen Segensstein immer so anzufunkeln, als wäre er an allem Schuld, was dir gerade nicht passt.“

Die Stimme meiner Mutter ließ mich aufschrecken. Ein Lächeln zierte ihr Gesicht, als sie sich auf den alten Metallstuhl neben mich setzte. Ihre langen, schwarzen Haare glänzten silbern im Licht der unbarmherzigen Sonne. Ihre weiße Haut, die ich leider von ihr geerbt hatte, zeigte nicht den kleinsten Hauch von Bräune, obwohl sie täglich unter freiem Himmel arbeitete. Ihr eigener Segensstein, ein kreisrunder Feueropal, schimmerte in einem feurigen Orange in dem schwarzen Lederarmband an ihrer rechten Hand. Ganz friedlich und unbedeutend.

„Mache ich doch gar nicht“, sagte ich selbst wenig überzeugt und blickte wieder in Richtung der großen Eiche, die den Innenhof meines Wohnkomplexes zierte.

„Aber nein, natürlich nicht.“ Das Lächeln in ihrer Stimme konnte man beinahe riechen. „Schatz, ich weiß, dass im Moment nicht alles so läuft, wie du, wie dein Vater und ich uns das wünschen.“ Was für eine Untertreibung. „Es tut uns wirklich leid, dass wir dich so oft alleine lassen müssen. Und jetzt musstest du auch noch in die Großstadt ziehen!“

Der Ton, in dem sie den letzten Satz aussprach, ließ mich die Augen rollen. Nur mit Mühe konnte ich ein Seufzen unterdrücken. Was dachte sie nur von mir?

„Mama. Ich komme alleine klar, wirklich! Und so groß, wie du wieder tust, ist Summer Hills nun auch wieder nicht!“

„Jede Stadt ist größer als die, aus der du kommst!“ Obwohl ich ihre Bemerkung äußerst lächerlich fand, wusste ich genau, dass sie das ernst meinte. Sehr ernst.

„Das ist auch nicht schwer. Unser Dorf“, ich betonte das Wort extra stark, „hat ja auch nicht mehr als 1000 Einwohner. Aber mach dir bitte keine Sorgen! Ich war schon als Kind so oft hier, ich kenne diese Stadt in- und auswendig! Papa soll sich seinen Geschäftsreisen widmen und du musst zurück in deine Ganztagsschule. Du solltest sowieso schon lange weg sein! Warum bist du also immer noch hier?“ Jetzt war es an mir zu grinsen, als ich ihren ertappten Gesichtsausdruck sah.

„Ich wollte mich nur noch mal von dir verabschieden, bevor ich gleich losfahre“, sagte sie und versuchte möglichst würdevoll zu klingen. Ich kicherte.

„Das hast du vor einer Stunde auch schon gesagt. Die Sonne geht bald unter. Du hast noch einen weiten Weg vor dir.“ Mit einem Nicken und einem unterdrückten Seufzen gab sie sich geschlagen und erhob sich mühselig aus dem bequemen Stuhl. Mit schnellen Schritten verschwand sie durch die Balkontür ins Innere meiner Wohnung. Einen Moment später folgte ich ihr ins Wohnzimmer.

Trotz der geschlossenen Vorhänge war die Luft ebenso heiß und stickig, wie sie eben auf dem Balkon gewesen war. Das würde wieder eine schlaflose Nacht werden. Die Hoffnung, dass es abends etwas abkühlte und ich die Wohnung einmal durchlüften konnte, hatte ich schon vor Tagen aufgegeben.

 

Ich sah, wie meine Mutter im Flur werkelte und lehnte mich an den Türrahmen, um ihr dabei zuzusehen. Schnell hatte sie ihre Sachen zusammen gesucht und nach ein paar weiteren Momenten war sie abreisebereit. Ihre traurigen Augen blickten mich an. Ich lächelte ihr aufmunternd entgegen, als ich auf sie zu ging und sie in meine Arme schloss.

„Wir telefonieren!“, sagten wir beide im gleichen Moment, wobei ihr flehender Ton auf meinen Beruhigenden prallte. Das brachte selbst meine Mutter zum Kichern.

„Sei vorsichtig! Ich hab dich lieb!“

„Aber ja. Du Bitte auch. Ich hab dich auch lieb.“ Wir winkten uns noch einmal zum Abschied zu und im nächsten Augenblick war sie im Hausflur verschwunden.

 

Und plötzlich war ich wieder alleine. Die gewohnte Stille meiner Wohnung umfing mich und hüllte mein ganzes Ich in die bekannte Decke aus Einsamkeit.

Ja, ich war es gewohnt. Schon früher waren meine Eltern oft außer Haus und ich hatte bereits als kleines Kind gelernt für mich selbst zu sorgen. Es machte mir auch nichts aus. Ich war gerne für mich. Unabhängig von anderen. Ich war schon immer sehr reif für mein Alter, das hatte ich oft genug zu hören bekommen.

Es war mir auch nie etwas anders übrig geblieben.

 

Lustlos schlich ich zurück ins Wohnzimmer und ließ mich auf das Sofa fallen. Meine Hand wanderte zur Fernbedienung und sobald ich den roten Knopf gedrückt hatte, erwachte der Fernseher unter leisem Knistern zum Leben.

Bunte Werbung flimmerte über den Bildschirm und das überfröhliche Gedudel der Musik wurde nur von der Stimme der Sprecherin übertrumpft, die gerade etwas über Waschmittel erzählte.

Morgen würde das neue Schuljahr beginnen. Mein letztes. Es war immer noch merkwürdig darüber nachzudenken. So unwirklich. Seit kurzem lebte ich in meiner eigenen kleinen Wohnung mitten in der Großstadt. Zum Glück verdienten meine Eltern nicht wenig, weshalb ich diese Möglichkeit überhaupt ausschöpfen konnte. Für eine normale Schülerin wäre dies nicht bezahlbar gewesen.

Doch es würde nicht mehr lange dauern. Nur noch dieses eine Jahr und dann könnte ich mir selber einen Job suchen. Darauf hatte ich schon so lange gewartet …

Quietsch bunte Figuren sprangen über den Bildschirm und quäkten in einer hohen Stimme irgendetwas Merkwürdiges. Ich merkte, wie meine Augenbraue hoch wanderte, als ich versuchte, den pädagogischen Wert dieser Zeichentrickserie zu entdecken. Doch ich hatte die leise Vermutung, dass ich da lange suchen könnte. Das war doch alles bloß Kinderverdummung.

 

Zwei Sender weiter tauchte eine sehr vornehme und gut gekleidete Nachrichtensprecherin auf. Sie erzählte etwas von einem schweren Zugunglück und dass mindestens 50 Leute dabei gestorben waren. Bilder von Flammen und Blut flimmerten über den Bildschirm und schienen sich in mein Gedächtnis einzubrennen. Ein schrecklicher Unfall. So viele Tote. So viele Verletzte. Menschen mit Familie und Freunden, Träumen und einer leuchtenden Zukunft.

Und innerhalb von wenigen Sekunden war diese mögliche Zukunft verschwunden. Die Bilder verblassten und die Welt hatte einige Schicksale weniger auf ihren Schultern zu tragen.

Tränen, Leid und Wut. All das spiegelte sich in den Augen der Verletzen und Angehörigen wieder.

 

So sehr man auch versuchte das Gute in der Welt und am Leben zu sehen … Es gab immer wieder Momente, in denen man sich klein fühlte. Einsam und vom Leben betrogen. Es war einfach nicht fair, dass Menschen so sterben mussten. Völlig unverschuldet.

So unfair …

 

Die Bilder wechselten. Die Blonde erschien wieder im Bild und begann mit der nächsten Meldung. Dem Tod einer ganzen Familie. Ein Bild erschien im Hintergrund. Fünf fröhliche Gesichter blickten der Kamera entgegen. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Vater, Mutter und drei Kinder. Zwei Jungs und ein kleines Mädchen. Keines älter als 10 Jahre.

 

„ … Wie die Polizei mitteilte, waren die Segenssteine der fünf Familienmitglieder in ihrer Wohnung nicht auffindbar gewesen. Erste Recherchen ergaben, dass einige Familienangehörige mit ungewöhnlichen Steinen, wie unter anderem auch einem Kunzit gesegnet worden waren. Einem seltenen Edelstein, den es in den unterschiedlichsten Farbvarianten gibt. In diesem Fall soll es sich um eine besonders wertvolle pfirsichfarbene Variante gehandelt haben.

Ob dieses Verbrechen etwas mit den in letzter Zeit vermehrten Edelstein-Morden auf sich hat, ist noch unklar. Bereits viermal in den letzten drei Monaten hatte es diese rätselhaften Verbrechen gegeben, bei denen die Segenssteine der Opfer gestohlen worden waren. Schon seit einiger Zeit wird darüber diskutiert, ob es sich um eine Bande von Serientätern handelt, doch für diese Vermutung gäbe es noch keine Beweise.

Jedoch laufen die Ermittlungen der Polizei in alle Richtungen, versicherte der Polizeioberkommissar David Kolovski am Nachmittag in einer schriftlichen Stellungnahme. Es gäbe keinen Grund für die Bevölkerung sich Sorgen zu machen …“

 

Ich drückte den Knopf erneut und das Fernsehbild verblasste. Ich schloss meine Augen und schaltete meinen Kopf ab. Immer wieder schoben sich die Gedanken in den Vordergrund, doch ich hatte beschlossen, sie zu ignorieren. Ich konnte sowieso nichts daran ändern. Es war eben noch nicht meine Zeit.

Wenn da bloß diese dämlichen Sprüche der anderen nicht wären. Jeden Tag aufs Neue. Und auch wenn ich immer sagte, dass es mir egal war, musste das noch lange nicht stimmen …

 

„Nein, nein, nein. Nicht schon wieder!“, stöhnte ich leise und erhob mich vom Sofa. Ich brauchte wohl wirklich mal einen kühleren Kopf. Vielleicht würde eine schöne, kalte Dusche helfen.

Ich schlich in das Schlafzimmer und nahm mir meine Shorts und das Top für die Nacht und ging hinüber ins Badezimmer. Unachtsam schmiss ich mein Sommerkleid auf den Fußboden, schaltete das kleine Radio ein und hielt einen Moment vor dem Spiegel inne. Das Brennen war abgeklungen, doch trotzdem lag noch ein merkwürdiges Glühen in meinem Segensstein. In Momenten wie diesen wusste ich wieder, warum mir der Stein trotz allem ein wenig unheimlich war …

Ich hob meine Hände hinter den Kopf und öffnete den Verschluss der silbernen Kette. Kurz darauf ruhte das goldene Herz mitsamt dem roten Diamanten in meiner linken Hand. Genau an der Stelle, an der der Stein zusammen mit mir das Licht der Welt erblickt hatte. Das Ganze war schon eine seltsame Prozedur.

Behutsam legte ich die Kette auf die Ablage vor dem Spiegel und wagte mich in die gläserne Dusche. Ein paar Sekunden später spürte ich das kalte Wasser auf meiner Haut, was mir einen eisigen Schauer über den Körper huschen ließ. Im ersten Moment zuckte ich zurück, doch sobald ich eine angenehme Temperatur eingestellt hatte, entspannten sich alle Muskeln gleichzeitig. Ich ließ das Wasser über mein Gesicht laufen und spürte, wie sich mein unruhiger Kopf endlich zu entspannen schien.

Wieso ließ ich mich auch immer so runterziehen? Ich war wirklich unmöglich. Und schon jetzt, in den wenigen Minuten, in denen der Stein nicht an meiner Haut ruhte, fühlte ich mich unwohl. Er war ein Teil von mir. Beinahe ein Teil meines Körpers. Ich konnte wirklich nicht verstehen, dass es Menschen gab, die ihren Segensstein als Plunder abhakten und ihn irgendwo Zuhause in eine Ecke schmissen und einfach vergaßen. Ein merkwürdiger Gedanke.

 

Ich verließ die Dusche und trocknete mich grob mit einem Handtuch ab, ehe ich meine Sachen für die Nacht anzog. Schnell fuhr ich noch über meine langen, schwarzen Haare, bis diese wenigstens nicht mehr tropften, nahm meine Kette von der Ablage und trottete zurück ins Wohnzimmer. Das Zimmer, welches eben noch in bunten Farben erstrahlt hatte, lag nun in einem gespenstischen Dunkeln. Ich bahnte mir meinen Weg hinüber zu den Fenstern und zog die schwarzen Vorhänge beiseite. Die Sonne war hinter dem gegenüberliegenden Gebäude verschwunden und hatte die Farben des Innenhofs in dunkle Grautöne verwandelt.

Ein paar Schleierwolken zierten noch den hellblauen Himmel und wurden in verschiedenste Orange- und Rosatöne getaucht. Ein letzter Gruß der Sonne. Es würde nicht mehr lange dauern, ehe sich die Nacht über die Stadt legen würde.

 

Ich wandte den Blick ab und ließ mich wieder auf das Sofa fallen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich die leuchtenden Ziffern meiner Digitaluhr: 21:24. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie spät es schon war. Aber wenigstens würde dieser langweilige Abend nicht mehr so lange andauern. Es hatte also auch Vorteile.

Mit einer beinahe automatischen Bewegung hob ich meine Hand und ließ den Anhänger herausfallen, sodass er nun an der Kette direkt vor meinen Augen baumelte. Ich spürte eine große Traurigkeit, die sich bei dem Anblick des roten Steines in mir regte. Wieso? Wieso hatte er bisher nicht reagiert? Warum ausgerechnet meiner? Warum war ich immer noch alleine?

 

Ich schloss meine Augen und drückte die Kette an mich.

Was war noch mal so besonders an mir? Wer hatte gesagt, ich wäre stark? Warum hatte man mich so oft gelobt, wie toll ich alleine klar kam? Und warum war ich es, die von so vielen bewundert und gleichzeitig belächelt wurde?

Wie sollte ein einziger Mensch damit zurechtkommen? Und warum traf es ausgerechnet mich?

 

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Es war dunkel. Und unheimlich still. Kein Geräusch drang durch diese schier unendliche Dunkelheit. Ich war verwirrt. Wo war ich? Was war passiert? Und warum war mein Körper so schwer?

Mühsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt. Vor wenigen Minuten hatte ich noch geschwitzt, doch jetzt kroch eine eisige Kälte meinen Körper hoch.

Ich spürte, wie mein Herz schmerzhaft gegen meine Brust schlug und sich mein Magen verkrampfte. Etwas stimmte hier nicht, so viel war klar. Doch ich wusste einfach nicht was.

 

Die Dunkelheit endete nicht. Egal wie weit ich lief. Egal wohin ich ging.

Mit jedem Schritt wurde mein Herz schwerer. Ich fühlte mich leer und einsam. Ich wollte schreien, jemanden um Hilfe bitten, doch mein Hals war wie zugeschnürt. Ich bekam keinen einzigen Ton heraus.

Etwas Merkwürdiges ging hier vor und ich wollte gar nicht so genau wissen, was es war.

 

Plötzlich hellte sich die Dunkelheit auf und ich bemerkte eine einzelne Flamme in der Ferne. Obwohl ich nicht dorthin gehen wollte, trugen mich meine Füße ganz automatisch in diese Richtung. Die Flamme wurde größer und größer und die Hitze kehrte zurück.

Wie ein sich rekelndes Gespenst loderte das Feuer in der Dunkelheit. Sekündlich schien es größer zu werden und ich stolperte ein paar Schritte zurück. Wie war das möglich? Da war nichts! Nichts, was die Flamme verbrennen konnte! Sie tanzte einfach so auf dem kahlen Boden!

 

Was war hier eigentlich los? Das konnte doch nur ein Albtraum sein!

Ein heißer Stich in meine Brust ließ mich aufschreien. Ich hob meine Hand an die Stelle und spürte eine ungeheure Hitze, die mir unglaubliche Schmerzen bereitete. Ich zog an der schmerzenden Stelle und keuchte, als ich sie plötzlich in der Hand hielt. Mit einer ruckartigen Bewegung schmiss ich das glühende Stück auf den Fußboden und zuckte noch weiter zurück.

Ich betrachtete meine Hände, die plötzlich in den verschiedensten Rottönen leuchteten. Verbrennungen. Aber wie …?

 

Ich blickte auf den Gegenstand, den ich eben zu Boden geworfen hatte und mein Atem stockte, als ich ihn erkannte. Meine Kette, samt dem roten Segensstein, lag auf dem Boden und kleine Flammen schlugen aus dem Diamanten in die Höhe. Ich sah, dass ein Teil des Steines abgesplittert war, was eigentlich unmöglich war. Ein Diamant konnte nicht einfach so zerbrechen!

 

Gerade als ich meine Hand nach ihm ausstrecken wollte, sickerte plötzlich eine dunkle Flüssigkeit aus dem Inneren des Steins heraus. Mit zitternden Fingern berührte ich die immer größer werdende Pfütze, die sich über den schwarzen Boden verteilte. Die Flammen malten ein wildes Muster in die dickflüssige, dunkelrote Flüssigkeit und als ich sie berührte, wurde mir plötzlich unsagbar schlecht.

Der Geruch stieg mir in die Nase und ich musste einen starken Würgereiz unterdrücken.

 

Ich ließ mich auf die Knie fallen und versuchte zu atmen. Einfach nur zu atmen. Nicht zu ersticken.

Eine merkwürdige Melodie summte in meinen Ohren, die bei mir eine Gänsehaut verursachte. Nein, sie sollte aufhören! Ich wollte das nicht hören! Diese Melodie … Sie war nicht richtig. Ich konnte sie nicht aushalten. Sie sollte verschwinden, sofort!

 

„Aufhören!“

 

.

 

Mit einem Satz wurde ich aus der Schwärze gerissen. Schwer atmend sah ich mich panisch im Zimmer um und bemerkte, dass ich immer noch im Wohnzimmer auf der Couch lag. Ich musste wohl eingeschlafen sein …

Mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkorb. Ein stechender Schmerz begleitete jeden Schlag. Meine Augen brannten, als der Schweiß meiner Stirn in sie hinein lief.

Was war das eben gewesen? Wie kam ich denn auf so einen merkwürdigen Traum? Wieso hatten sich diese Bilder in meinen Kopf geschlichen? Ich verstand es nicht. Es war so unheimlich gewesen … So Angst einflößend …

 

Mit einem Mal erinnerte ich mich an den Gegenstand in meiner Hand. Vorsichtig öffnete ich sie und blickte auf den roten Stein, der friedlich darin zu ruhen schien. Das Funkeln war mit dem Tageslicht verschwunden. Nun lag er nur noch matt in meiner Hand. Völlig ordinär. Bei Nacht verschwand das Besondere und wich etwas völlig anderem. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich mich, als ich den Diamanten betrachtete. Das ansonsten so feurige Rot war nun dunkel, stumpf und beinahe dreckig. Ein kalter Schauer rann über meinen Rücken, als mir bewusst wurde, woran mich dieser dunkelrote Fleck in meiner Hand erinnerte: Blut. Die Flüssigkeit aus meinem Traum. Ein blutroter Tropfen. Ein blutroter Diamant.

 

Ich erschauderte und wandte meinen Blick ab. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich in der Nähe meines Segenssteins schlecht fühlte. Aber warum war das so? Das war doch alles nur ein Traum gewesen!

„Und was für einer …“, flüsterte ich und wandte meinen Blick der Uhr zu. In blauen Ziffern leuchtete mir die Uhrzeit entgegen. 3:28 Uhr. Der Tag fing ja gut an.

 

„Na, Happy Birthday“, kam es mit einem gewollt sarkastischen Unterton von mir, als ich mich erhob und in mein Schlafzimmer ging, um mich die letzten Stunden vorm Klingeln des Weckers ins Bett legen zu können.

 

Rot, wie Blut.

Das konnte doch nichts Gutes bedeuten …

Schneewittchen

Ein leises Geräusch ertönte neben mir und es dauerte einige Momente ehe ich begriff, dass mein Wecker die Ursache war. Irgendein Lied aus den Charts trällerte mir leise in mein Ohr und ein Blick auf die blau leuchtenden Ziffern der Uhr verriet mir, dass es kurz nach halb sechs war. Um acht Uhr würde die Schule beginnen.

Mühsam drehte ich mich auf die Seite und streckte die Hand nach meinem Handy aus. Ich berührte das Display, welches daraufhin zum Leben erwachte. Ein helles Licht blendete mich und ich musste ein paar Mal blinzeln, ehe sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Verschlafen schaltete ich auf dem Display meine Internetverbindung ein und es dauerte nicht lange, ehe das bekannte Geräusch mir neue Nachrichten verkündete. Tatsächlich hatten mir um diese Uhrzeit schon 10 Personen zum Geburtstag gratuliert.

Super. Ab dem heutigen Tage war ich also erwachsen. Was auch immer das heißen sollte. Ob sich ab heute etwas ändern würde? Ich bezweifelte es sehr. Das ganze Spiel würde genauso weitergehen, wie es gestern geendet hatte.

 

Nur eine Sache hatte sich geändert. Mein Blick wanderte auf meinen kleinen Nachttisch. Dort lag er. Im Halbdunkeln vergraben. Halb versteckt hinter meiner Lampe. Die Erinnerungen an den Traum durchfluteten meinen Kopf erneut. Ich sah das Blut, welches sich über den Boden schlängelte. Das Feuer. Die Kälte. Und diese undurchdringliche Schwärze.

Auch jetzt ergab das Ganze einfach keinen Sinn. Warum hatte ich so etwas Schreckliches geträumt? Lag das vielleicht an den Nachrichten, die ich gesehen hatte? Hatten mich diese Bilder bis in den Schlaf verfolgt? Es konnte keine andere Erklärung geben …

 

Ich schwang die dünne Decke mit einer Bewegung zurück und richtete mich langsam auf. Meine Füße landeten mit einem leisen „Platsch“ auf dem Laminatboden. Ich schüttelte kurz den Kopf und stand auf.

„Keine blöden Gedanken mehr! Für den Rest des Tages!“, verordnete ich mir selber und öffnete die Vorhänge vor dem Fenster. Zu meiner Überraschung war der Himmel nicht hellblau, wie erwartet, sondern von einem matten Grau. Wolken hatten sich über Nacht zu einer dichten Decke zusammengerauft und tauchten die Stadt in zahllose Schatten. Es sah sogar ein wenig nach Regen aus. Das war wieder typisch. Genau an meinem Geburtstag …

 

Ich suchte mir aus meinem Schrank meine Lieblingskleidung heraus und ging ins Badezimmer. Wie in Trance und immer noch nicht ganz wach, machte ich mich soweit fertig bevor ich in die Jeans und das braun gestreifte T-Shirt schlüpfte und mich meinen Haaren widmete. Ohne groß Zeit damit zu verschwenden, kämmte ich meine schwarzen Haare nach hinten, schob den bekannten, dunklen Haarreif hinein und zupfte die rote Schleife daran zurecht.

 

Heute würden wieder alle Augen auf mich gerichtet sein. Und das noch mehr als sonst. Die einzige 18-jährige an der Schule, deren Segensstein noch nicht mit ihr gesprochen hatte. Besonders, ja das war ich. Aber nur im negativen Sinn …

 

Ein lautes Schellen riss mich aus meinen Gedanken. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich das Geräusch als die Türklingel identifiziert hatte. Aber wer besuchte mich schon um diese Uhrzeit?

Ein wenig skeptisch war ich schon, als ich den Knopf drückte, der die Haustür vier Stockwerke unter mir öffnete. Ich beobachtete vom Türrahmen aus, wie sich der Fahrstuhl in Bewegung setze und sich wenige Sekunden später die Tür auf meiner Etage öffnete. Zwei lächelnde Mädchen sprangen mir sofort entgegen.

„Happy Birthday!“, riefen sie simultan und streckten mir ihre beiden Hände entgegen. Kleine, bunt verpackte Boxen lagen in ihren ausgestreckten Handflächen. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen. Es war unglaublich, welche Wirkung diese beiden auf mich hatten …

„Vielen Dank!“, sagte ich, nahm ihnen die Päckchen ab und bat sie in meine Wohnung. Sofort steuerten die beiden ins Wohnzimmer und ließen sich auf der Couch nieder. Ich folgte ihnen, ohne die Geschenke aus den Augen zu lassen.

„Na mach schon!“, meinte die Blonde und mein Lächeln wurde breiter. Ich wusste, dass sie sich besonders Mühe gegeben hatte, weil ihre Geschenkideen immer etwas … einfallslos waren. Sagte sie zumindest.

 

„Mary! Hetz sie nicht! Wir sind extra ein bisschen früher hergekommen, also haben wir noch Zeit!“, lächelte die Brünette. Doch ich sah, dass auch sie etwas nervös war. „Bevor du dich wunderst, das Ganze hier war Marys Idee. Ich meinte ja, wir können damit auch bis zur Schule warten, aber ihr war das lieber so.“

Ich legte den Kopf schief und grinste. Die Blonde sprang noch immer aufgeregt auf meinem Sofa herum, also beschloss ich mich zuerst den Geschenken zu widmen. Bevor noch etwas passierte.

 

Ich nahm zuerst das pink eingewickelte Geschenk. Ein kurzer Blick auf Marys Kleidung überzeugte mich einmal mehr davon, dass sie diese Farbe liebte. Mary, eigentlich Mary-Sae, aber die Kurzform hatte sich schon lange eingebürgert, mochte es möglichst bunt. Auch heute stach ihre Quietschgrün/Pink-Kombo garantiert wieder aus der Masse heraus. Allein dieses pinkfarbene Rüschentop und dieser neongrüne Rock … Aber wenigstens hatte sie ihre blonden Haare nur normal zu einem Dutt auf ihrer rechten Kopfseite zusammengebunden und hatte die auffälligen Accessoires weggelassen …

Mit wenigen Handgriffen hatte ich das Papier von den Klebestreifen befreit und konnte eine kleine, schwarze Samtschachtel daraus hervorziehen. Neugierig beäugte ich die Schachtel von allen Seiten und hob dann den Deckel an. Sofort glänzte mir etwas Kleines, Silberbraunes entgegen. Vorsichtig wanderten meine Finger über den Samt, ehe ich nach der kleinen Figur greifen konnte. Ein silbernes Armband aus fragilen Gliedern baumelte zwischen meinen Fingern und ein Anhänger in Form eines Eichhörnchens war daran befestigt. Ein Eichhörnchen. Mein Lieblingstier.

„Oh Mary. Das ist … wunderschön! Vielen Dank!“, brachte ich mühsam hervor und wandte meinen Blick kurz ihr zu. Das Lächeln schien beinahe ihr Gesicht zu sprengen.

„Das freut mich!“

 

„Und jetzt meins!“, mischte sich die Brünette ein und ich sah fragend zu ihr hinüber. Talamarleen, die sonst eher eine stille, liebevolle Person war, drängte sich selten in den Vordergrund. Mit ihrem beigefarbenen Rock, dem gelben Top und der roten, kurzärmeligen Jacke verschwand sie perfekt in jeder Menschenmenge, ohne groß aufzufallen. Auch ihre kurzen, braunen Haare ließen sie deutlich jünger wirken, als sie war.

Doch, dass sie so darauf bestand, dass ich mir ihr Geschenk ansehen sollte, machte mich etwas stutzig. Sie schien meinen Blick zu bemerken und lächelte schüchtern zurück.

Vorsichtig legte ich das Armband auf den Tisch vor mir und nahm mir das meergrüne Päckchen vom Sofa. Auch hier hatte ich das Papier schnell entfernt und stutzte erneut, als ich wieder eine kleine, schwarze Samtschachtel in den Händen hielt. Ich hörte die beiden Mädchen kichern. Ich hatte wohl einen etwas merkwürdigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Doch ohne länger zu zögern öffnete ich die Verpackung und zwei kleine Anhänger blitzten mir entgegen. Sofort musste ich lachen. Die beiden kannten mich einfach zu gut.

Ich griff nach der kleinen, roten Schleife, die auf der rechten Seite lag. Sie sah eins zu eins aus wie die, die ich immer in meinen Haaren trug. Und auch der andere Anhänger passte perfekt zu mir. Ein roter, tropfenförmiger Edelstein – höchstwahrscheinlich kein echter -, der dieselbe Form wie mein Segensstein hatte. Und beide hatten die passenden Befestigungen, um an mein neues Armband zu passen.

„Wir dachten, das passt ganz gut zu dir“, lächelte Mary und ich grinste zurück.

„Tausend Dank, ihr beiden! Die sind wirklich wunderschön!“

„Bitte, gerne“, meinte Tala und half mir gleich das Armband an meinem rechten Arm fest zu machen und die zwei Anhänger daran zu befestigen. Fröhlich blinkte es mir von dort entgegen.

 

„So, und jetzt haben wir keine Zeit mehr! Wir müssen los!“, drängte Mary plötzlich und sprang vom Sofa auf. Ich blickte auf die Uhr und sah, dass es tatsächlich schon viertel nach sieben war. Eine gute halbe Stunde brauchten wir von hier aus zur Schule.

„Bin gleich fertig!“, meinte ich und stürmte durch meine Wohnung. Zum Glück hatte ich meine Tasche schon am Vortag gepackt, sodass ich sie nur noch greifen musste. Schnell schlüpfte ich in meine schwarzen Ballerinas und folgte den Mädchen vor die Tür. Ich schloss die Haustür hinter mir ab und sprang zu meinen Freundinnen in den bereits wartenden Fahrstuhl. Unten angekommen verließen wir den Wohnkomplex und machten uns auf den Weg.

 

„Und wie fühlst du dich jetzt? Immerhin bist du ab heute erwachsen!“ Den Blick, den ich Mary im diesen Moment zuwarf, konnte man nicht unbedingt als freundlich bezeichnen, doch die Blonde kicherte nur.

„Als ob sich in dieser einen Nacht irgendwas geändert hatte“, meinte ich bloß und ignorierte die Tatsache, dass es tatsächlich so gewesen war. Mein Segensstein wog plötzlich schwer an meinem Hals.

„Bist du nicht reifer und verantwortungsbewusster geworden?“ Mir war nicht entgangen, dass sie mich ärgern wollte. Sie, die als einzige von uns dreien noch keine 18 Jahre alt war. Tala, die schon vor einem halben Jahr volljährig geworden war, lächelte nur still.

„Wie sollte ich, wenn ich jeden Tag mit d i r zu tun habe.“ Ha.

„Na Dankeschön!“, meinte sie ironisch und das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Ein kleiner Moment des Triumphes. „Aber wenn das so ist, wirst du bestimmt auch seeeehr bald einen Freund finden.“ Wirklich nur ein kleiner Moment. Ich seufzte. Nicht wieder das Thema.

 

„Mary, das war nicht nett. Fang nicht heute damit an.“ Talamarleens tadelnder Ton ließ die Blonde verstummen, worauf eine unangenehme Stille folgte. „Mach dir keine Sorgen. Das ist völlig normal. Bei einigen Menschen dauert es eben länger. Aber das heißt nicht, dass mit dir etwas nicht stimmt.“ Sie versuchte mich aufzumuntern, wie schon so oft, aber im Moment ging das einfach nicht.

„Tala, ich bin die einzige 18-jährige, die noch keinen Freund hat! Wieso ich, wenn doch alle immer sagen, was für einen besonderen Segensstein ich habe? Warum spricht er einfach nicht mit mir?“ Meine Stimme wurde automatisch leiser und mein Blick senkte sich auf den gepflasterten Fußboden. Wir waren bereits in der nahen Einkaufsstraße angekommen, was mir die vielen Tische, Stühle und Schilder verrieten, denen ich ausweichen musste.

„Nimm dir das nicht so zu Herzen, Lina. Du weißt selber, dass die Wissenschaft in Punkto Segenssteine – oder Seelenssteine - noch immer vor einem Rätsel steht. Niemand weiß, wie das alles genau funktioniert. Egal, wie oft sie es schon versucht hatten, bisher gab es keinerlei Erfolge. Niemand kann vorhersagen, welche Art von Stein ein neugeborenes Baby erhält. Welche Farbe und Größe er hat und wann er anfangen wird, zu sprechen.“ In diesem Moment klang sie wie meine Mutter. „Alles, was wir wissen ist, dass der Segensstein eines Menschen dann reagiert, wenn der Stein des Seelenpartners in der Nähe ist. Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, wie es passiert. Mein Stein …“, sie blickte auf ihren blaugrünen Turmalin, der in Form einer Muschel als Schlüsselanhänger von ihrer Tasche baumelte, „fing plötzlich an zu Rauschen. Wie das Meer. Ich hatte erst gar nicht verstanden, was das zu bedeuten hatte.“ Ich sah zu ihr hinüber. Ein schüchternes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und ihre Wangen röteten sich leicht, als sie an die erste Begegnung mit ihrem Freund dachte.

„Und meiner schien plötzlich zu vibrieren! Einfach so! Das hat total gekitzelt!“, mischte Mary sich ein und blickte auf ihren pinken Rubin, der in einer herzförmigen Brosche an ihrem Oberteil befestigt war. „Und so lange ist das ja auch noch nicht her. Ich habe Noel erst vor einem halben Jahr kennen gelernt. Da war ich auch schon über 17 Jahre.“

 

„Ja, das stimmt wohl“, gab ich mich geschlagen und ließ meinen Blick über die belebte Straße schweifen, auf der sich ein Auto an das andere reihte. Cafés, Bäckereien, Kleidungsboutiquen und Elektronikgeschäfte nahmen geschlossen die unteren Stockwerke der Hochhäuser ein. Beinahe hektisch drängelten und schubsten sich die Leute an uns vorbei und wir hatten Mühe uns nicht gegen die nächste Hauswand drängen zu lassen.

Und als die Schule in Sichtweite kam, waren wir mehr als erleichtert. Ein großes, eisernes Tor bildete den Eingang zu einem großen, teils gepflasterten und teils bepflanzten Schulhof. Das mehrstöckige Schulgebäude umschloss das Gelände u-förmig. Die Uhr zeigte uns, dass wir noch 15 Minuten hatten, um pünktlich bei der Zeremonie zu erscheinen, die heute anlässlich des ersten Schultages in der Turnhalle am Ende des Hofs stattfand.

„Pünktlich, wie immer“, freute sich Mary und Tala und ich folgten der aufgedrehten jungen Frau durch das Tor. Doch weit kamen wir nicht.

 

„Wow, Schneewittchen ist endlich erwachsen geworden. Glückwunsch.“ Allein diese Stimme verursachte bei mir eine Gänsehaut. Ich blieb stehen und wandte mich um. Ihre eisblauen Augen bohrten sich tief in meine. Das teure Kleid umspielte ihren schlanken Körper und die langen, blonden Haare wehten wie Federn im Wind. Doch die Ohrringe, mit ihren beiden Zwillingsseelensteinen – mehrfarbigen, purpurfarbenen und goldgelben, Ametrinen – waren natürlich trotzdem sichtbar. Eine Besonderheit. Sonst hatte niemand Zwillingssteine. Viele vermuteten, dass sie einmal einen Zwilling gehabt hatte, dieser aber tot geboren wurde, doch darüber schwieg sie vehement. Ihr war es lieber, als Besonders zu gelten.

„Lilly. Guten Morgen“, grüßte ich sie so neutral wie möglich. „Und danke für die Glückwünsche.“ Dass sie mich wieder einmal bei meinem verhassten Spitznamen „Schneewittchen“ genannt hatte, ließ ich diesmal außen vor. Weiße Haut, schwarze Haare und ein blutroter Edelstein hatten mir diesen eingebracht.

„Aber gerne doch.“ Sie spie die Worte beinahe aus. Der kleinen Menschentraube, die sich um uns gebildet hatte, schenkten wir beide keinerlei Beachtung. „Jetzt, wo du … erwachsen bist, wirst du wohl auch ganz bestimmt bald einen Freund finden.“ Ah, ihr Lieblingsthema. Etwas, womit sie mich immer kriegen konnte. Dass sie den begehrtesten Typen der Schule zum Freund hatte, brauchte ich wohl nicht zu erwähnen …

„Aber ja, davon bin ich fest überzeugt.“ Eine Lüge, aber das musste ich ihr ja nicht gerade auf die Nase binden. Nicht ausgerechnet IHR. „Du kennst doch den Spruch: Was lange währt …“ Den Rest des Satzes ließ ich einfach in der Luft stehen, da sich ihr Gesichtsausdruck schon ziemlich verdunkelt hatte. Sie wusste ganz genau, worauf ich hinaus wollte …

 

„Lina! Wir müssen los! Sonst kommen wir wirklich noch zu spät!“ Marys Hand ergriff meine, um mich weiter in Richtung Turnhalle zu ziehen. Doch vorher ließ sie es sich nicht nehmen, Lilly noch einen ziemlich giftigen Blick zuzuwerfen.

Wenige Schritte später stieß auch Tala wieder zu uns und wir mussten einen Schritt schneller gehen, um nicht völlig zu spät zu kommen. Wir erreichten die Halle gerade, als die Schülermenge verstummte und der Rektor an sein Rednerpult trat. Schnell huschten wir auf die erstbesten leeren Plätze und ließen die Prozedur über uns ergehen.

 

Wie erwartet war die Stunde extrem langweilig. Wieder einmal wurde uns die Wichtigkeit dieses letzten Schuljahres aufgezeigt – von fünf verschiedenen Personen – und uns viel Glück für die anschließende Jobsuche gewünscht. Neue Lehrer und sogar noch ein neuer Schüler und viel Gelaber.

Ich musste irgendwann meinen Kopf ausgeschaltet haben, denn ich bekam erst mit, dass es vorbei war, als sich die Schüler erhoben. Schnell bahnte ich mir meinen Weg durch die Menge, um meine beiden Freundinnen nicht zu verlieren.

Zusammen trotteten wir durch das Gebäude, bis zu unserem Klassenzimmer und setzen uns auf unsere angestammten Plätze. Für einen kurzen Moment hatte ich wirklich gehofft, dass es nun etwas ruhiger werden würde, doch ich hatte mich geirrt.

 

Ein nicht enden wollendes Echo an „Happy Birthday“- Glückwünschen prasselte auf mich ein. Gefühlt hatte sich die halbe Schule um meinen Tisch herum versammelt und gratulierte mir zum Geburtstag. Selbst Mitschüler aus anderen Klassen, hatten sich in unserem kleinen Raum eingefunden. Dankend und mit einem Lächeln nahm ich ihre Glückwünsche entgegen. Von einigen engeren Freunden bekam ich sogar kleine Geschenke (einen neuen Kugelschreiber, einen Schlüsselanhänger und zwei CDs von der Schülerband), worüber ich mich natürlich sehr freute. Es gab tatsächlich Leute, die es ernst mit mir meinten.

 

Erst als der Lehrer den Raum betrat, löste die Gruppe sich auf und es wurde allmählich ruhiger. Schon beinahe zu ruhig.

Die Stunden verstrichen, ohne, dass ich es groß mitbekam. Natürlich versuchte ich den Lehrern zuzuhören, was mir auch ganz gut gelang, doch aus irgendeinem Grund war ich innerlich aufgewühlt. Mich verfolgten die letzten Stunden unaufhörlich. Ohne, dass ich es wollte und vor allem, verstand. Das Älterwerden war wohl doch nicht so spurlos an mir vorbei gegangen, wie ich gedacht hatte.

 

Und mit dieser seltsamen Einstellung dauerte es nicht lange, ehe die Schulglocke 12 Uhr schlug. Sofort brach der übliche Tumult aus, als die Schüler ihre Taschen packten und sich aus dem Klassenraum entfernten. Da einer unserer Lehrer krank war, fiel der Nachmittagsunterricht aus. Und weil wir das schon gut eine Woche lang wussten, hatten Mary-Sae, Talamarleen und ich uns schon etwas vorgenommen.

 

„Yay, Karaoke!“, rief Mary fröhlich, als sie vor uns die Treppen vor dem Haupteingang herunterhüpfte. „Wir waren schon viel zu lange nicht mehr los!“

„Das wird bestimmt nett“, stimmte auch Tala ihr zu.

Ja, Karaoke. Sozusagen meine Geburtstagsfeier. Ich hatte es den beiden versprochen, nachdem sie mich sehr entrüstet angesehen hatten, als ich sagte, dass ich dieses Jahr gar nichts machen wollte. Ich hatte es einfach nicht für nötig gehalten. Doch die beiden sahen das ganz anders.

 

Auf dem Weg in die Stadt ließ ich mich etwas zurückfallen. Meine Freundinnen waren in ein Gespräch über einen neuen Film vertieft, den sie in den Ferien gesehen hatten, was mir die Möglichkeit gab, meine Nachrichten aufzurufen.

Tatsächlich waren noch einige Glückwünsche hinzugekommen. Teilweise von Leuten, mit denen ich seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Freundlich bedankte ich mich bei allen und gerade, als ich das Handy wegpackten wollte, begann es plötzlich zu vibrieren. Das Gesicht und der Name meiner Mutter füllten nun das Display. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen drückte ich auf den Annehmen-Knopf.

„Hallo Mama“, begrüßte ich sie und hörte, wie sie ein anderes Gespräch abbrach, als sie meine Stimme hörte.

„Lina, mein Schatz! Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag! Bitte entschuldige, dass ich heute nicht vorbeikommen kann. Und das ausgerechnet an deinem 18.!“ Bei dem letzten Satz hatte sich eine Spur Traurigkeit in ihre Stimme gemischt.

„Dankeschön. Und mach dir keine Gedanken. Ich gehe grade mit Mary und Tala in die Stadt. Wir wollen noch zum Karaoke, ein bisschen feiern.“

„Hallo, Frau Hikari!“, riefen die beiden plötzlich in mein Telefon. Sie mussten mein Gespräch bemerkt und sich ebenfalls etwas zurückfallen gelassen haben, da sie nun an meiner Seite gingen. Ich hörte, wie meine Mutter am Telefon kicherte.

„Das freut mich sehr für euch. Habt Spaß ihr drei. Ich will euch gar nicht groß stören. Grüß die beiden Mal von mir, ja?“ Im Hintergrund rauschte es. Kinderstimmen übertrafen die meiner Mutter in Punkto Lautstärke bei Weitem, was es mir wirklich erschwerte sie zu verstehen. Ich wusste, dass sie eigentlich keine Zeit hatte mit mir zu sprechen, darum kam ich ihr entgegen und beendete das Gespräch.

„Klar, mach ich. Dir auch viel Spaß bei der Arbeit. Hab dich lieb.“

„Ich hab dich auch lieb. Bis dann“, meinte sie noch, ehe die Leitung unterbrochen wurde.

 

„Schöne Grüße“, bestellte ich den beiden und steckte das Telefon zurück in die Tasche. Erst da bemerkte ich, dass wir bereits angekommen waren. Das große, bunte Neonschild über dem Eingang war auch nicht zu übersehen.

„Und jetzt haben wir Spaß, verstanden?“ Der letzte Teil war definitiv an mich gerichtet und ich bekam jetzt schon ein schlechtes Gewissen, weil ich den ganzen Tag so deprimiert war. Dies war meine Geburtstagsfeier und dementsprechend sollte ich mich auch benehmen.

„Aber ja!“, meinte ich fröhlich und ging als Erste in die Karaokebar.

 

Der Abend verstrich und bereits nach wenigen Minuten hatte sich bei mir so etwas wie gute Laune eingestellt. Immer, wenn ich mit meinen besten Freundinnen zusammen war, konnte ich gar nicht schlecht gelaunt sein. Seit wir uns kannten, waren wir unzertrennlich und es war unglaublich, wie wohl wir uns in der Gegenwart der anderen fühlten. Es war immer wieder toll die beiden in meiner Nähe zu haben.

Wir hatten Spaß, ganz eindeutig. Wir lachten viel, bestellten uns Pizza und sangen so lange, bis wir beinahe heiser waren. Ohne, dass wir es bemerkt hatten, war es tatsächlich schon kurz vor 22 Uhr geworden.

„Verehrte Gäste. Ihre gebuchte Zeit ist gleich überschritten. Wir bitten Sie, den Raum zu verlassen, sodass die nächsten Gäste ihn benutzen können.“ Die Frau mit den dunklen Haaren lächelte uns freundlich zu, als sie das Zimmer betrat, uns höflich auf die Uhrzeit aufmerksam machte und gleich wieder verschwand. Wir drei waren etwas perplex, da es uns doch etwas überraschte.

„Meine Güte, so spät schon?“, wunderte Tala sich. „Wir hatten doch gar nicht geplant, so lange zu bleiben! Morgen ist doch wieder Schule!“ Mary und ich lachten. Das war wieder typisch unsere Streberin.

„Ohhh, die Jahrgangsbeste kommt nicht mehr rechtzeitig ins Bettchen und es ist nur unsere Schuld!“, kreischte Mary gespielt entsetzt und sah mich dabei an. Und ich stimmte in das Schauspiel mit ein.

„Nein! Wie konnten wir es nur wagen?“, rief ich und schlug mir die Hände vor das Gesicht.

Tala schüttelte nur den Kopf und wie auf Kommando fingen wir alle an zu kichern.

„Los jetzt“, meinte sie dann nur und wir nahmen unsere Taschen, bevor wir die Karaokebar verließen.

 

Draußen war es kalt und dunkel geworden und zur Überraschung meiner Freundinnen, regnete es in Strömen. Ich war nicht ganz so überrascht, weil das wieder typisch war. Es regnete immer an meinem Geburtstag. Egal, welche Wetterlage wir gerade hatten. Aber manchmal war es echt schon gruselig …

„Woah, was für ein Wetter! Dann müssen wir uns wohl beeilen, um noch halbwegs trocken zur Bushaltestelle zu kommen.“ Nickend stimmten wir Mary zu und mit wenigen schnellen Schritten sprinteten wir unter die überdachte Bushaltestelle an der Straßenecke. Bis auf einen älteren Herrn mit Brille waren wir die Einzigen.

„Und, hat es dir wenigstens Spaß gemacht oder haben wir dich zu sehr genervt?“ Ernsthaft entrüstet sah ich meine blonde Freundin an.

„Natürlich hat es mir Spaß gemacht! Denkst du etwa ich tue nur so?“ Auch wenn ich wusste, dass sie das nicht böse meinte, war ich doch ein wenig gekränkt. Ja, ich hatte mich dazu überreden lassen, aber sie musste doch langsam wissen, dass ich wirklich gerne mit den beiden was unternahm. Wieso also die Frage?

„Okay, okay, sorry! So war das wirklich nicht gemeint!“, ruderte sie schnell zurück, doch entspannte sich sofort, als sie mein kleines Lächeln bemerkte.

„Danke, ihr beiden. Das war wirklich einer der schönsten Geburtstage, die ich je hatte!“, meinte ich aufrichtig und umarmte die beiden ganz fest. Das Armband an meiner Hand klimperte dabei zustimmend.

„Sehr gerne.“ Tala wischte sich verstohlen über die Augen, als ich sie aus meiner Umarmung entließ. Ich lächelte ihr zu.

 

Ein lautes Geräusch ließ uns aufblicken. Am Ende der wenig befahrenen Straße tauchte ein Bus hinter der Kurve auf. Anhand der Nummer erkannte ich, dass es meiner war.

„So, ich muss dann“, sagte ich zu den beiden in dem Wissen, dass sie einen anderen nehmen mussten. Leider wohnten sie in einem anderen Stadtviertel.

„Dann pass gut auf dich auf“, meinte Tala und drückte mich zum Abschied.

„Wir sehen uns morgen!“, kam es von Mary um einiges stürmischer. Ich kramte in meiner Handtasche nach meinem Portemonnaie und zog die Busfahrkarte heraus. In dem Moment hielt der Bus neben uns.

„Bis morgen!“ Ich winkte zum Abschied und betrat den Bus. Der Busfahrer warf wenig interessiert einen Blick in meine Richtung, ohne auf die Karte zu achten und ich schlenderte durch das Fahrzeug, bis ich mich mittig auf einen der leeren Plätze setzte.

Der Bus war bereits angefahren und ich konnte die Haltestelle nicht mehr sehen. Also machte ich es mir auf dem Platz gemütlich und sah mich um. Außer mir waren nur vier weitere Menschen plus der Fahrer im Bus. Auch der ältere Herr von eben war mit mir zugestiegen. Eine junge Frau, die sichtlich angetrunken war, telefonierte lautstark im hinteren Teil des Busses und ein mittelalter Mann schien sie – seinen Blicken nach zu urteilen – äußerst attraktiv zu finden. Widerlich.

Dann war da noch ein ganz merkwürdiger Typ. Er sah mit seinem grauen Anzug und den wild abstehenden, schwarzen Haaren aus, wie jeder andere Büromensch der Stadt, doch ich sah sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Wenn jemand sagen würde, er wäre nervös, wäre das eine völlige Untertreibung gewesen. Immer wieder blickte er sich im ganzen Bus um und sah aus dem Fenster. Jedes Auto, jede Person musterte er genau und jedes Mal, wenn er jemand neues sah, zuckte er zusammen. Nervös knetete er die Hände, nur um dann danach seine Aktentasche fest an sich zu drücken.

Was war bloß los mit dem Kerl? Er machte mich auch ganz nervös! Hoffentlich stieg er bald aus …

 

Mit einem Mal überrannte mich das schlechte Gefühl vom Vorabend erneut und mir wurde wahnsinnig schlecht. Ich fing an am ganzen Körper zu zittern und je länger ich den Typen beobachtete, desto schlimmer wurde es. Was ging hier vor sich?

Ein lautes Kreischen ließ mich aufschrecken und ich konnte gerade noch sehen, wie eine schwarze Limousine mit voller Wucht auf den Bus zu hielt, ehe ein heftiger Ruck durch meinen Körper ging.

Für eine Sekunde wusste ich nicht, was passierte und alles, was ich fühlte, waren starke Schmerzen in meinem rechten Arm. Alles geschah auf einmal und ich kniff einfach nur die Augen zusammen und wartete darauf, dass es endlich vorbei war.

 

Und so plötzlich wie es gekommen war, so schnell verschwand das Schwanken auch wieder. Ich öffnete meine Augen einen Spalt breit und bemerkte erst dann, dass der Bus umgekippt war und nun auf der Seite lag. Mühsam rappelte ich mich auf und hörte, wie die Scheibe unter meinen Füßen knirschte. Ein merkwürdiger Geruch lag in der Luft, der mir Angst machte.

So schnell ich konnte, kletterte ich über die nun waagerecht liegenden Sitze, und versuchte mich durch eine zerbrochene Schreibe auf der anderen Seite des Busses heraus zu ziehen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte meinen Arm, als ich mich durch das Fenster hievte und so auf der Außenseite des Fahrzeugs saß. Das Erste, was ich wahrnahm, waren die geschockten Gesichter der Passanten, die den Unfall mit angesehen haben mussten. Das Auto, das uns gerammt hatte, steckte noch halb in der Karosserie des Busses, welcher bereits Feuer gefangen hatte.

Ich bekam Panik und wollte so schnell wie möglich weg von dem Bus, als etwas Hartes gegen mich stieß. Aufgeregt schreiend und bleicher, als ich es je bei einem Menschen gesehen habe, sprang der seltsame Mann neben mir aus dem Bus auf die Straße. Dabei schien er nicht mal zu bemerken, dass er mich dabei beinahe runtergestoßen hätte.

Auch wenn ich so etwas noch nie gesehen hatte, wusste ich sofort, was ich in dem kleinen Moment, in dem ich seine Augen sehen konnte, in eben diesen erkennen konnte: Todesangst.

 

So schnell er konnte, humpelte er über die Straße und versuchte von der Kreuzung zu kommen. Gebannt blickte ich auf ihn und sah, wie er es nicht einmal wagte, sich umzusehen, als ein lauter Knall die Stille zerriss. Schreie ertönten und die umstehenden Menschen ergriffen panisch die Flucht. Ich verstand nicht, was ich da sah. Ich verstand nicht, was der Mensch dort machte. Derjenige, mit dem schwarzen Mantel. Derjenige, der sich zu dem nervösen Mann, der nun regungslos auf der Straße lag, herunterbeugte.

Und ich verstand nicht, was diese rote Flüssigkeit war, die sich nun mit dem Regenwasser vermischte.

 

Blasse Haut, Weiß wie Schnee.

Schwarze Haare, wie Ebenholz.

Und rot, wie das Blut, das nun aus seinem Körper rann.

 

Schneewittchen war tot.

Melodie

Endlich verstand ich und mein Körper fing heftig an zu zittern. Ich schlug mir die Hände vor den Mund und vergaß alles um mich herum. Selbst die Lage, in der ich mich befand. Erst, als eine Hand meinen Arm packte und unsanft an mir zog, erwachte ich aus meiner Starre. Ich bekam gerade so noch mit, wie ich von dem Bus runter gezogen wurde und auf der Straße landete. Der Aufprall war zu heftig und zu überraschend, um mich abfangen zu können, und ich fiel schmerzhaft auf die Knie. Bevor ich mich jedoch wieder sammeln konnte, wurde der Druck um meinen Arm stärker und ich wurde ohne mein Zutun wieder auf die Beine gehievt. Ich spürte, wie ich rannte und die Farben um mich herum verschwammen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ließ der Druck nach und ich konnte aufhören zu rennen.

Meine Beine konnten das Gewicht nicht mehr halten und ich sackte auf dem Bürgersteig zusammen. Den mittlerweile lichterloh brennenden Bus nahm ich nur am Rande wahr. Noch immer starrte ich auf die blutverschmierte Leiche des Büroangestellten, die dort auf der Straße lag. Seine Augen starrten ins Nichts.

 

„Hey, reiß dich zusammen!“, zischte eine Stimme neben mir und ich schreckte zurück. Erst jetzt bemerkte ich den jungen Mann, der neben mir stand. Seine rötlichen, längeren Haare klebten durch den Regen eng an seiner Haut. Die blaue Jeans, der rote Schaal und die schwarze Lederjacke taten es ihnen gleich. Seine blauen Augen starrten mich an. „Bist du okay?“ Ich konnte nicht antworten. Mein Gehirn funktionierte nicht richtig. Ich wusste es nicht. Ich wandte meinen Blick zurück auf die Kreuzung und beobachtete das rege Treiben. Ich sah die Menschen, die eben noch mit mir im Bus saßen, geschockt durch die Gegend taumeln. Der Bus war dabei, völlig auszubrennen. Irgendwo in der Nähe jaulten die Sirenen. Doch ich bemerkte erst jetzt, dass etwas fehlte. Das Auto. Die schwarze Limousine war einfach weg. Dort, wo sie eben noch in dem Bus gesteckt hatte, klaffte nun nur noch ein großes Loch. Warum?

 

„Steh auf. Du erkältest dich noch.“ Erneut ein Druck an meinem Arm und ehe ich es bemerkte, stand ich wieder auf meinen eigenen Füßen. Verdutzt sah ich mich um. Der Rothaarige ließ mich immer noch nicht aus den Augen. „Du bist am Arm verletzt. Du solltest zu einem Arzt gehen.“ Warte, verletzt? Wie aufs Kommando kehrte der stechende Schmerz zurück und ich keuchte. Ich blickte zur Seite und bemerkte das Blut, welches meinen Arm herunter lief. Waren das … Glasscherben?

Sofort wandte ich meinen Blick von der Wunde und spürte schon den Schwindel, der mich befiel. Mein Körper zitterte und meine Sicht verschwamm.

„Hey, stehen bleiben! Nicht umfallen!“ Nicht umfallen? Ha, witzig. Was meinte er, was ich wohl gerade versuchte? Zwei starke Hände griffen nach meinen Oberarmen und hielten mich aufrecht. Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte den Nebel darin zu vertreiben.

„Was … ist passiert?“, presste ich mühsam hervor und erhoffte mir etwas Licht für die Dunkelheit.

„Der Bus hatte einen Unfall“, war sein einziger Kommentar. Ach wirklich? Ich war zwar nicht ganz auf der Höhe, aber soviel war mir auch klar.

„Bei einem Busunfall werden aber nicht einfach Menschen auf offener Straße erschossen“, sagte ich so sarkastisch, wie ich konnte, auch wenn es eher nach bösem Kätzchen, als nach wütendem Tiger klang. Ich suchte seine Augen und bemerkte den harten Blick, den er mir zuwarf.

„Diesmal schon.“ Was für ein mieser …

 

Das Heulen von Sirenen durchschnitt die Luft und das Rauschen der Wasserpumpen mischte sich darunter. Die Feuerwehr war eingetroffen und versuchte den Brand zu löschen. Die Hitze des Feuers musste auf der ganzen Kreuzung zu spüren sein. Noch ehe die Feuerwehr alles abriegeln konnte, tauchten auch schon Polizei und Krankenwagen auf. Erleichterung durchströmte mich und ich fühlte, wie sich mein rasendes Herz langsam beruhigte. Die Panik klang ab.

„Du solltest jetzt gehen“, meinte der junge Mann und ließ meine Arme los. Ohne ein weiteres Wort verschwand er hinter der nächsten Häuserecke. Verdutzt sah ich ihm hinterher. Wieso verschwand er denn plötzlich? Musste er nicht … eine Zeugenaussage machen oder so was? Immerhin hatte er mir gerade geholfen! Wahrscheinlich sogar das Leben gerettet! Und ich hatte nicht mal danke gesagt.

Mit kleinen Schritten lief ich ihm hinterher. Ich war noch immer etwas wackelig auf den Beinen, aber langsam schien das Adrenalin in meinen Adern die Oberhand zu gewinnen.

 

Es war nicht schwer ihn zu finden. Er war der einzige Mensch, der sich von der Unglücksstelle entfernte. Viele waren nicht mehr auf den Straßen, doch der Lärm hatte wohl einige aus dem Schlaf gerissen. Die Gardinen hinter den Fenstern wackelten und neugierige Gesichter blickten nach draußen. Doch nur wenige trauten sich vor die Tür.

„Warte!“, rief ich ihm hinterher und zu meiner Überraschung blieb er tatsächlich sofort stehen und wandte sich um. Ich blieb wenige Meter vor ihm stehen, als sich unsere Blicke trafen. Erst jetzt bemerkte ich dieses unheimlich intensive Blau seiner Augen. Zahllose Gefühle regten sich darin wie Fische im dunkelblauen Meer. Das jagte mir einen Schauer über den Rücken.

„Was willst du noch?“, fragte er mit kalter Stimme und ich musste schlucken.

„Eigentlich wollte ich mich nur bei dir bedanken, aber wenn du mir so kommst, dann vergiss es.“ Ich versuchte stark zu klingen, trotz meiner inneren Unruhe. Auch wenn die Panik weg war, die Angst war es noch lange nicht …

„Kleine Mädchen sollten so spät nicht mehr unterwegs sein.“ Meine Gesichtszüge entgleisten. Was für ein blödes Spiel spielte der Kerl eigentlich mit mir?

„Du siehst auch nicht so viel älter aus!“ Kein gutes Gegenargument, doch das war alles, was gerade noch ging. Mein Gehirn hatte für heute Feierabend. Doch das hielt mich nicht davon ab, ein ziemlich mulmiges Gefühl zu kriegen. Je länger ich ihn ansah, desto schlimmer wurde es. Er hatte etwas … Kaltes an sich. Etwas … Gefährliches.

 

Automatisch wanderte meine Hand zu dem Anhänger, der an meiner Brust baumelte. So, als ob er mich beschützen könnte. Ich bemerkte, dass der Blick des Jungen nun auch darauf gelenkt wurde und im nächsten Moment weiteten sich seine Augen schlagartig. Ich zuckte zurück.

„Das ist doch …!“, keuchte er und kam schnellen Schrittes auf mich zu, was meine Angst nur noch schürte. Er befreite den Anhänger nicht gerade unsanft aus meiner Hand und warf im schwachen Licht einer nahen Straßenlaterne einen Blick darauf. Auf einmal war sein Gesicht meinem ziemlich nahe … Viel zu nahe. Ich glühte.

Doch plötzlich geschah etwas ganz anderes. Eine Stimme, wie ich sie noch nie gehört hatte, durchflutete meinen Kopf. Eine merkwürdige Melodie, deren Klänge nicht von dieser Welt zu kommen schienen. Ich zitterte vor Kälte. Meine Haut war eisig vom Regen. Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. Was zum Teufel war das?

Er hob seinen Kopf und starrte mir in die Augen. Seine Hände griffen wieder nach meinen Oberarmen, doch diesmal waren sie nicht freundlich, sondern schmerzhaft. Seine starken Finger krallten sich regelrecht in mein Fleisch und ich stöhnte vor Schmerzen auf.

„Geh zurück! Sofort! Und dann verschwinde von hier! Und lass bloß nie jemanden diesen Stein sehen, verstanden? Verschwinde!“, knurrte er mir bedrohlich entgegen und stieß mich von sich. Mein Körper war nicht in der Lage mich aufzufangen, sodass ich unsanft mit dem Hintern auf der nassen Straße landete.

Als ich wieder aufsah, war der Rothaarige verschwunden. Und auch die Melodie war einfach weg. Hatte ich mir das nur eingebildet? Was war bloß los mit mir?

 

Ich zog meine Beine näher an mich heran und vergrub mein Gesicht darin. Der Regen war mir egal. Auch die brennenden Schmerzen in meinem Unterarm und dem Kopf interessierten mich nicht. Ich konnte einfach nicht mehr.

Das Bild der blutenden Leiche und die panische Angst, die ich kurz vor seinem Tod in seinem Blick gesehen hatte, verfolgten mich und ließen mich nicht los. Ich fühlte sie. Die Tränen, die in meinen Augen brannten. Es war wohl einfach alles zu viel. Was für ein toller Geburtstag.

 

+++++

 

Ich fühlte mich … merkwürdig. Nicht schlecht, aber auch nicht gut. Alles in mir war seltsam leer. Die restliche Nacht war kurz gewesen. Und doch war ich nicht müde. Glaubte ich zumindest. Wie gesagt, mein Hirn war immer noch im Feierabend.

Ich seufzte und drückte erneut auf den Knopf, um den Sender zu wechseln. Wie ein Schluck Wasser in der Kurve lag ich auf meinem Sofa. Unfähig heute vor die Tür zu gehen. Ich hatte den anderen gesagt, dass ich mich gestern bei dem Regen etwas unterkühlt hatte und lieber keine richtige Erkältung riskieren wollte. Ich wollte nicht, dass sie von dem Geschehen am gestrigen Tag erfuhren. Dass sie sich Sorgen machten.

 

Außerdem wusste ich gar nicht, was ich hätte sagen sollen. Ach ja, was ich euch noch erzählen wollte! Gestern ist was ganz irres passiert! Ich habe auf dem Rückweg einen seltsamen Mann beobachtet und kurz darauf ist uns mit voller Wucht ein Auto in den Bus gefahren. Und als der Kerl da raus wollte, wurde er einfach auf offener Straße erschossen! Tja, Sachen gibt’s?

Ich glaube, das wäre eher kontraproduktiv gewesen. Diesen einen Tag würde ich mir gönnen und morgen würde es weitergehen, wie immer. Alles wie immer.

Mein Blick wanderte auf den weißen Stoff, der meinen Arm verhüllte. Wie eine Schlange wand er sich darum und versteckte die Spuren dieses Vorfalls. Die Nacht, die ich vergessen wollte.

Viel davon wusste ich nicht mehr. Ein Polizist hatte mich gefunden und zu einem Notarzt gebracht. Dieser hatte die Glasscherben aus meinem Arm gezogen und die große Wunde genäht. Eine Narbe, toll. Ich musste noch kurz meine Sicht der Dinge erklären, doch ich glaube, ich habe nur Müll erzählt. Aber ich weiß es nicht mehr. Ein Streifenwagen hatte mich nach Hause gefahren. Ich hatte gelogen und gesagt, ich würde meine Mutter am Morgen anrufen. Okay, das war nicht ganz gelogen. Nur die Geschichte war eine andere.

Aber da ich gerade 18 geworden war, konnten sie nichts tun. Immerhin war ich ja erwachsen und konnte meine eigenen Entscheidungen treffen. Wenigstens ein Gutes an der Sache …

 

Doch mich selber konnte ich davor nicht schützen. Ich hatte meine erste Leiche gesehen. Und nicht nur das. Ich hatte diesen Menschen sterben sehen. Vor meinen Augen. Vielleicht hatte er Familie? Freunde? Eine Arbeitsstelle, die ab dem heutigen Tag unbesetzt war? Vielleicht war er aber auch alleine und hielt sich ein Haustier, welches nun niemand mehr fütterte? Verhungerte gerade ein kleiner Fisch oder ein Kätzchen irgendwo da draußen? Oder hatten die Polizisten längst sein Apartment gefunden und durchsucht?

Wieso musste das ausgerechnet in dem Moment passieren, in dem ich in diesem blöden Bus saß? Ach ja, ich war ja etwas Besonderes. Wahrscheinlich konnte ich den gestrigen Tag mit auf diese Liste nehmen.

 

Die Bilder im Fernsehen zogen plötzlich meine Aufmerksamkeit auf sich. Dieser Ort … das war doch ...! Ich drehte die Lautstärke auf.

„Ein rätselhafter Unfall im Magnusviertel beschäftigt seit gestern die Polizei von Summer Hills. Um ca. 22:15 Uhr kollidierte eine vermutlich mit überhöhter Geschwindigkeit fahrende schwarze Limousine mit einem Stadtbus. Augenzeugen berichteten, der PKW sei bei Rot über eine Kreuzung gefahren und hätte so den Unfall verursacht. Die Kollision war so gewaltig, dass der Bus umkippte und einige Meter über die Straße rutschte. Die wenigen Insassen wurden nur leicht verletzt.“ Bilder des brennenden Fahrzeugs flackerten über den Bildschirm. Sie zeigten die Feuerwehrmänner, die mit ihren Wasserschläuchen versuchten, den Brand unter Kontrolle zu bringen. „Doch als die Polizei die Unfallstelle erreichte, war das schwer beschädigte Unfallfahrzeug verschwunden. Augenzeugen berichteten von einem schwarz gekleideten Mann, der aus der Limousine ausgestiegen sei und in aller Ruhe die Kreuzung überquert hatte. Kurz darauf seien Schüsse gefallen. „Als wir hier ankamen, fanden wir einen reglosen Mann auf der Straße liegend und die herbeigerufenen Notärzte konnten nur noch seinen Tod feststellen“, berichtet Markus Rade, Sprecher der Polizei. Bei dem verstorbenen Mann soll es sich um einen 35-jährigen Mann handeln, der für den in Summer Hills ansässigen Stromkonzern arbeitete. Bestätigen wollte das die Polizei noch nicht. Wie es zu diesem Unglück kommen konnte und warum ein Mensch sein Leben verlieren musste, ist noch völlig unklar. Auch über die Motive, die zu dieser Bluttat geführt hatten, kann bisher nur spekuliert werden. Die Ermittlungen gehen weiter.“

 

Die Bilder wechselten und ich drehte die Lautstärke des Fernsehers wieder runter. Mein Herz pochte noch immer vor Aufregung. Doch ich spürte auch eine gewisse Erleichterung. Niemand hatte meinen Namen erwähnt und zu sehen war ich auch nicht gewesen. In dem Moment, als die Kamera umstehende Passanten eingefangen hatte, war ich hinter dem Jungen her gewesen und deshalb nicht auf der Kreuzung.

Diesem komischen Kauz … Im ersten Moment half er mir und im nächsten war er nur noch gemein und schrie mich sogar an! Dem Kerl ging es wirklich zu gut … Und wie merkwürdig er sich verhalten hatte … Ist einfach abgehauen, als die Polizei kam. Ob er etwas mit dem schwarzen Mann zu tun hatte? Nein, sonst hätte er mir wahrscheinlich nicht geholfen. Aber was wollte er sonst?

Wieder so eine nervige Frage, die mich nicht in Ruhe ließ. Ich konnte es kaum erwarten, bis diese blöde Phase endlich vorbei ging und wieder Normalität einkehrte.

 

Mein Magen knurrte und erinnerte mich daran, dass es bereits später Nachmittag war. Ich hatte den ganzen Tag nichts Vernünftiges auf die Beine gestellt. Aber vielleicht war das auch gut so.

Mühsam schälte ich mich aus der bequemen Sofaecke und ging hinüber in die Küche. Doch auf halben Weg stockte ich. Etwas, was ich schon längst vergessen hatte, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein kleines, in rotes Papier eingewickeltes Quadrat lag auf der kleinen Kommode in meinem Flur. Eine bunte Schleife zierte seine Oberseite. Ich legte den Kopf schief und bemerkte das weiße Kärtchen, auf dem auf der einen Seite ein kleiner Hund mit Geburtstagshütchen saß und auf der anderen Seite mein Name prangte.

Erst in diesem Moment erinnerte ich mich daran. Meine Mutter hatte mir bereits am Sonntag das Geschenk mitgebracht mit der Bitte, erst an meinem Geburtstag reinzusehen. Ich hatte es total vergessen. Meine Freundinnen, der Karaokeabend und natürlich der Unfall hatten es komplett aus meinem Kopf verdrängt.

 

Doch jetzt überkam mich so was wie Neugier. Anhand der Form hatte ich bereits eine wage Ahnung, was sich darin verbergen könnte, aber das half mir eher wenig.

Ich nahm das Paket in die Hände und begann vorsichtig die Klebestreifen zu entfernen. Ich hatte teilweise etwas daran zu fummeln, doch schon bald konnte ich das Papier entfernen. Meine Vermutung wurde sogleich bestätigt. Ein ziemlich alt aussehendes Buch mit der Aufschrift: „Die Wissenschaft der Segenssteine – Fakten und Theorien“ ruhte nun in meinen Händen. Ich konnte nicht anders, als es verdutzt anzustarren.

Ein Buch über wissenschaftliche Theorien? Wie kamen sie denn bitte auf diese Idee? Und anhand der vielen kleinen Kratzer und abgenutzten Stellen auf dem ledernen Einband vermutete ich, dass sie es auf einem Flohmarkt oder Ähnlichem gebraucht erstanden haben mussten.

Ich schlug das Buch in der Mitte auf und wurde sogleich von einer leicht verblichenen Schrift auf einem gelblich angelaufenen Papier begrüßt. Wie alt mochte das Buch wohl sein? Mit schnellen Fingern blätterte ich den gut 500 Seiten dicken Wälzer durch und sah viele Bilder und Buchstaben an mir vorbei zischen und gerade, als ich es wieder zugeklappt hatte, bemerkte ich den weißen Umschlag, der hinter dem Einband hervorblickte. Ein Blick dort hinein offenbarte mir ein paar Geldscheine, die wohl mein eigentliches Geschenk darstellten. Das Buch war wahrscheinlich eher ein Zufallsfund gewesen. Bestimmt die Idee meiner Mutter.

 

Mit einem kleinen Grinsen legte ich das Buch zurück auf die Kommode und setzte meinen Weg in die Küche fort. Ein Blick in den Kühlschrank zeigte mir die gewohnte Leere, die dort immer herrschte. Viele frische Lebensmittel hatte ich selten, da ich sowieso während der Schulzeit essen ging und abends eine Kleinigkeit reichte.

Ich nahm mir die letzten vier Eier, die Milchpackung und etwas Speck und begann mir eine Portion Rühreier zu braten. Ein schnelles, leckeres Essen. Um mich nicht zu sehr zu langweilen, schaltete ich das kleine Radio auf der Anrichte ein, ehe ich am Tisch platz nahm und mich meinem Essen widmete. Ich beachtete die Stimme im Radio nur mit einem halben Ohr.

„Erst heute Morgen wurde bekannt, dass die berühmte Sängerin May Simons und der Schauspieler James Hayfield ein Paar geworden sind. Entgegen aller Behauptungen, dass May Simons nach ihrer gescheiterten Ehe mit dem Regisseur Reinold Hitch zunächst keinen Partner mehr haben wollte, gaben sie vor wenigen Stunden bei einer Pressekonferenz ihre Liebe öffentlich bekannt. Die inzwischen 32-jährige Sängerin hatte ihre letzte Beziehung ohne den Segen ihres Edelsteins begonnen, was für einen riesigen Skandal gesorgt hatte. Doch nun versicherte sie, dass der Segenstein sie mit dem fünf Jahre älteren Schauspieler zusammengebracht hatte. Er sei ihre wahre Liebe, sagte sie gegenüber der Tageszeitung ‚Raising Sun’. „Wir sind wirklich glücklich“, kommentierte der Schauspieler, der in Filmen wie dem gerade im Kino laufenden Kriegsdrama „WAR“ mitspielt. Auch seine Beziehungen waren bisher immer nach nur wenigen Monaten gescheitert. Bleibt nur, dem neuen Paar alles Gute zu wünschen.“

 

Eine Beziehung ohne Segensstein? War das wirklich so unmöglich? Ja, es war verpönt. Die Menschen verstanden es nicht. Hielten es für falsch. Den Partner anhand der Entscheidung des Segensteins zu wählen, war Gang und Gebe. Das war richtig.

Doch noch immer gab es Menschen, die dieser Prozedur keinen Glauben schenkten. Sie ließen ihre Steine unbeachtet und nahmen ihr Leben selbst in die Hand. Es gab solche, die dies öffentlich taten und auch welche, die es verheimlichten. Sie gaben an, der Stein hätte sie zusammengebracht, was aber nicht der Fall war. Solange die Beziehung lief, war das auch kein Problem. Das große Chaos folgte immer erst dann, wenn sich das Paar trennen wollte. Dies war, aufgrund der Seelenssteine, eigentlich unmöglich.

 

Trotzdem. Für viele einsame Menschen war dies der letzte Ausweg. Die letzte Chance, die drohende, lebenslange Einsamkeit abzuwenden.

War das auch mein Schicksal? Sollte die, mit dem seltenen Edelstein, wirklich niemanden finden, der zu ihr passte? War ich vielleicht … zu besonders? Niemand wusste, wie die Steine funktionierten und nach welchen Kriterien sie den Seelenpartner auswählten. Wer konnte also leugnen, dass es für manche Menschen wirklich keinen Lebensgefährten gab? Und wer konnte versprechen, dass sich die Wege zweier füreinander bestimmter Menschen auch wirklich kreuzten?

Und was noch viel schlimmer war … Was, wenn derjenige, den man lieben sollte, ein kompletter Blödmann war? Wenn man ihn nicht ausstehen konnte? Ging das überhaupt? Was war die „Liebe“ dann überhaupt noch wert?

 

Ja, die Menschen glaubten daran. An ihre Segenssteine. An die Wunder, die sie vollbrachten. Doch niemand sah gerne die Nachteile, die diese Art des Lebens mit sich brachte. Niemand ließ sich gerne sagen, dass er fremdbestimmt wurde. Diese Seite wurde gerne unter den Teppich gekehrt …

 

Jetzt noch frustrierter, als sowieso schon, erhob ich mich von dem Küchenstuhl, stellte mein benutztes Geschirr einfach unabgewaschen neben die Spüle und drückte einen Kopf auf dem grauen Radio, um es zum Verstummen zu bringen.

Ohne großen Elan schlürfte ich ins Schlafzimmer, schloss das Fenster und die Vorhänge und auch, wenn es eigentlich noch viel zu früh zum Schlafen war, legte ich mich in ins das einladende Bett. Der Schock saß mir immer noch in den Knochen und die letzte, schlaflose Nacht ließ mich hoffen, dass ich wenigstens heute mal ein Auge zumachen konnte. Dank des Regens hatte es sich soweit abgekühlt, dass sogar die Raumtemperatur erträglich war. Dem stundenlangen Lüften sei Dank.

 

Morgen würde ich wieder zur Schule gehen.

Mal sehen, wie ich das überstehen wollte.

Verfolgungswahn

Ich schlug die Augen auf und die morgendliche Dunkelheit empfing mich. Ich war plötzlich putz munter. Mein Blick fiel auf den Wecker neben mir und ich sah, dass dieser erst in guten 45 Minuten klingeln würde. Doch jetzt, wo ich schon mal wach war …

Ich schwang die Decke nach hinten, zog die Vorhänge auf und schaltete das Licht ein. Ich blinzelte ein paar Mal, bis ich endlich den Schlaf aus meinen Augen vertrieben hatte. Aus meinem Kleiderschrank suchte ich mich ein passendes Outfit zusammen, das ich heute zur Schule anziehen konnte. Da der Wettermann von einem sehr heißen Hochsommertag gesprochen hatte, ließ ich die lange Jeans dort liegen, wo ich sie vor kurzem hingeschmissen hatte und nahm mir etwas Kürzeres heraus, auch wenn dadurch der Verband am Arm sichtbar bleiben würde. Das war mir klar. Doch wer mich kannte, wunderte sich nicht über kleinere Verbände an meinem Körper. Dank meiner Schusseligkeit kam das öfter vor. Ich würde einfach sagen, ich wäre hingefallen. Ganz einfach und simpel. Im Grunde war das ja auch nicht gelogen …

Also überlegte ich nicht lange, nahm das Erstbeste, was mir praktisch entgegen fiel – weiße Shorts, ein lilafarbenes Top und ein grünes Kapuzenshirt mit Reißverschluss - , und ging hinüber ins Badezimmer. Ich hatte Zeit und diese nutzte ich. Keine Hektik, kein Beeilen. Einfach Ruhe. Und tatsächlich schaffte ich es die Zeit voll auszunutzen. Doch obwohl ich ziemlich trödelte, brauchte ich nicht sonderlich viel länger als sonst, was mich doch etwas überraschte. Und trotzdem war es immer noch zu früh um loszugehen. Eigentlich. Heute hatte ich zum Glück erst zwei Stunden später Schule, also konnte ich mich genauso gut noch ein bisschen amüsieren.

 

Ich schnappte meine Tasche und lief schnellen Schrittes die vielen Stufen hinunter. Als ich die Tür öffnete schlug mir bereits der Vorbote der kommenden Hitze entgegen. Es war schwül und die Luft stand. Kein Hauch rührte sich.

Auch wenn der ausgedörrten Landschaft der kurze Regenschauer sicherlich gelegen gekommen war, hatte es noch längst nicht ausgereicht, um den braunen Rasen und die hängenden Blütenköpfe wieder zu alter Schönheit zurückzubringen. Der strahlend blaue Himmel über meinem Kopf ließ aber keine große Hoffnung auf weiteren Regen aufkommen.

Aber wie gesagt. Ich mochte den Sommer. Also konnte ich auf den großen, herbstlichen Regen auch noch eine Weile verzichten.

 

Als ich die Einkaufsmeile erreicht hatte, war es erst kurz vor 9 Uhr. Und da ich nicht zu früh in der Schule sein wollte, bog ich eine Straße vorher ab und schloss mich dem Menschenstrom aus Büroangestellten und Hausfrauen an, der in Richtung des Marktplatzes führte. Dort gab es ein paar schöne Geschäfte und in mir brodelte die Lust auf ein bisschen Schaufenster-Bummeln.

 

Es war erstaunlich voll für einen Mittwochmorgen. Schon bevor wir den Marktplatz erreichten, bemerkte ich, dass heute etwas anders war. Luftballons hingen an den Straßenlaternen und schmückten die Schilder der Bäcker und Modegeschäfte. Ich streckte mich, um an dem schwarzhaarigen Herren – der locker einen Kopf größer war, als ich – vorbeizusehen und erhaschte einen Blick auf eine überdimensionale Bühne, die die Mitte des Marktplatzes voll ausfüllte. Menschen sammelten sich davor; kleine Fähnchen in der Hand. Und da dämmerte es mir. Die vielen Pappplakate, die an den Schildern befestigt waren, bunte Ballons und die laute Musik, die aus den großen Lautsprechern drang. Ein kleines Seufzen konnte ich mir nicht verkneifen. Es war Bürgermeisterwahl. Irgendwas hatte ich da in der Zeitung gelesen, aber wirklich aufgepasst hatte ich nicht.

Also schälte ich mich aus dem Strom, nicht ohne den einen oder anderen anzustoßen, was mir einige, nicht sehr nette Kommentare einbrachte. Gerade, als ich den Rand der Menschentraube erreichte, brach plötzlich großer Jubel los, der nur von der noch lauter gewordenen Musik übertrumpft wurde. Wie auf ein Stichwort betrat ein kleiner, dicklicher Mann die Bühne. Seine kurzen, dunkelbraunen Haare, die sorgfältig in Form gelegt waren, und der schwarze Anzug ließen ihn ungeheuer seriös wirken. Und nicht zuletzt das überfreundliche Lächeln in seinem kantigen Gesicht deutete darauf hin, dass er Politiker war.

 

Ich hatte mich bis an den Seitenrand der Bühne durchgekämpft und stand etwas abseits von seinen Anhängern kurz hinter der Absperrung. Die überdimensionalen Wahlplakate verbreiteten seinen Namen in der ganzen Innenstadt: Theodor Leynardh. Der Frauenversteher, der perfekte Schwiegersohn und derjenige, der der Mittelschicht aus dem Herzen sprach. Der perfekte Politiker. Und als dieser wartete er nicht lange, ehe er begann seine Botschaft zu verkünden.

„Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger! Wie freue ich mich heute hier vor Ihnen stehen zu dürfen und in Ihre fröhlichen Gesichter blicken zu können! Ein wundervoller Tag wie dieser bietet die perfekte Gelegenheit für unser kleines Zusammenkommen. Schon bald, meine Freundinnen und Freunde, werden wir erneut hier zusammentreffen und den Start in eine bessere Zukunft feiern! Eine Zukunft, die nur durch sie alle möglich gemacht werden kann, wenn sie mir in drei Wochen ihre Stimme geben!“

Tosender Applaus brandete auf und ich verdrehte bloß die Augen. Wahnsinn, was so ein paar eintrainierte Worte für eine Wirkung auf einige Menschen hatten. Doch ich würde mich damit nicht weiter beschäftigen. Nur weil ich jetzt wählen durfte, hieß das noch lange nicht, dass ich es auch tun würde. Schon alleine, was der so von sich gab …

„Dass diese Stadt die schönsten und klügsten Einwohner des ganzen Landes hat, ist bereits weltweit bekannt.“ Ein Raunen ging durch das Publikum – das überwiegend aus Frauen bestand (wen wundert’s) – und ein geschmeichelter Ausdruck machte sich auf ihren Gesichtern breit. „Und genau darum braucht diese Stadt einen neuen Bürgermeister, der sich den vielen Fehlern seines Vorgängers ohne zu klagen annimmt und Summer Hills endlich wieder zu einer florierenden Metropole macht!“

Erneut brandete tosender Applaus auf und Fähnchen schwangen sirrend durch die Luft.

„Weg mit Berger!“, schrie einer aus der Menge und der Rest jubelte noch lauter. Arthur Berger. Der amtierende Bürgermeister der Stadt.

„Ja, weg mit ihm! Er hatte die Chance diese Stadt zum Wohlstand zu führen und konnte sie nicht nutzen! Und warum? Weil er eher an der Macht interessiert war, als an seinen Mitmenschen! Wollt ihr wirklich so jemandem weiter die Führung überlassen?“

Energisches Kopfschütteln und lauter Jubel.

 

Ich konnte dieses Eingeschleime kaum ertragen. Glaubten die Leute wirklich das, was der Typ sagte? Oder machte es ihnen Spaß belogen zu werden? Aber nicht mit mir. Ich hatte da keine Lust drauf.

Und außerdem wusste ich wirklich bessere Sachen, die ich mit meiner Freizeit anfangen konnte. Ein letztes Mal sah ich auf die Bühne, auf der der Kandidat gerade wieder begonnen hatte zu sprechen, bevor ich mich abwenden und meiner Wege gehen wollte. Doch gerade in diesem Moment trafen sich auf einmal unsere Blicke. Seine eisblauen Augen starrten direkt in meine. Sofort durchfuhr ein eisiger Schauer meinen Körper und ich zuckte ganz automatisch zurück. Sein Blick war plötzlich hart und irgendwie kalt. Die Freundlichkeit, die ihn eben noch wie eine Aura umgeben hatte, war verschwunden. Ich hatte so ein seltsames Gefühl, als ob ich hier nicht erwünscht war.

 

Obwohl das alles nur wenige Sekunden gedauert haben konnte, ging plötzlich ein fragendes Raunen durch die Reihen, welches mich zurück in die Realität holte. Ich wandte meinen Blick von dem Politiker ab und erhaschte die Augen einiger umstehender Passanten. Fragend sahen sie hinauf zum Rednerpult; ihre Schreie und Jubelrufe waren verstummt.

Erst jetzt bemerkte ich, dass es merkwürdig ruhig war. Leynardh hatte seine Rede mitten im Satz unterbrochen und ich stellte fest, dass er mich noch immer ansah. Langsam wurde es wirklich unheimlich. Obwohl mein Verstand mir sagte, ich solle einfach gehen, damit der Möchtegern-Bürgermeister weiter seine – wahrscheinlich gekauften – Anhänger bespaßen konnte, konnte ich mich nicht rühren. Meine Beine waren schwer wie Blei. Es war richtig unangenehm Leynardhs intensiven Blick auf mir zu spüren.

 

Erst als plötzlich ein aufgebrachter Schrei hinter mir ertönte, löste sich meine Starre und ich sprang erschrocken zurück. Keine Sekunde später hechtete ein Mann an mir vorbei und über den Sicherheitszaun, direkt an den Rand der Bühne. Er rief aufgebracht irgendwelche Beschimpfungen, als er den Politiker mit – wie es für mich aussah – faulen Eiern bewarf.

 

„Lügner! Spinner! Die Menschen sind dir doch völlig egal! Du Mistkerl!“, rief der junge Mann immer und immer wieder, als er sich gegen die starken Hände der Sicherheitsbeamten wehrte, die ihn unter großer Anstrengung versuchten, vom Marktplatz zu entfernen.

Die geschockte Menge war plötzlich unheimlich still. Die vorderste Reihe hatte sich im Schrecken etwas zurückgezogen, was auch nachfolgende Menschen weiter von der Bühne weggeschoben hatte. Angst und Entsetzen lag ihn ihren Augen, was ich sehr gut verstehen konnte. Mein Herz schlug wie wild und in meinem Magen blühte eine heftige Übelkeit auf. Und trotz meiner inneren Panik versuchte ich einigermaßen klar zu denken. Das war es also, was Leynardh gesehen hatte. Er hatte gar nicht mich gesehen, sondern den Typen, der sich seitlich an die Bühne heran geschlichen hatte. Seine Blicke hatten nicht mir gegolten, sondern ihm. Aber ich hätte schwören können ...!

War es jetzt soweit? Litt ich schon unter Verfolgungswahn? Das war wirklich viel zu viel Aufregung für mich …

 

Ohne weiter auf die mich umgebenden Menschen zu achten, drehte ich mich um und ging schnellen Schrittes zurück in Richtung meiner Schule. Auch wenn es immer noch viel zu früh sein musste, klang der Gedanke an altbekannte Räume ohne jeglichen Überraschungseffekt wirklich verlockend.

 

Und so dauerte es auch nicht lange, bis ich mich müde und völlig fertig auf meinen Stuhl sinken lassen konnte. Der Klassenraum war leer. So wie sämtliche Gänge dieses Gebäudes. Und das würde wohl noch für gute 30 Minuten so bleiben.

Also kramte ich in meiner Tasche nach meinen Schulbüchern und begann lustlos darin herumzublättern. Dieser Tag würde wohl wieder auf der Liste mit den schlimmsten Tagen überhaupt landen …

 

Die restlichen Stunden bis zur Mittagspause verliefen ziemlich ereignislos. Bis auf die vielen besorgten Blicke, die mir meine Mitschüler den Vormittag über zugeworfen hatten, war alles wie immer. Ich versicherte allen, mir würde es gut gehen und wenn ich diesen blöden Verband nicht getragen hätte, wäre ich auch schnell aus der Sache wieder herausgekommen. So jedoch …

„Das war es also, weshalb du gestern nicht gekommen bist, was? Bist auf dem Heimweg hingefallen und musstest den nächsten Tag zum Arzt, hab ich recht? Ach, das ist so typisch du!“, schlussfolgerte Mary aus meiner erfundenen Ich-bin-gestolpert-Geschichte und Tala hatte ihr nickend zugestimmt.

„Das hättest du uns aber auch sagen können! Dann wären wir mit dir zusammen zum Arzt gegangen!“

„Beim nächsten Mal lassen wir dich nicht alleine nach Hause fahren!“

Ich lächelte sie an und dankte für ihre Fürsorge. Doch das half mir nicht besonders, mich innerlich zu beruhigen. Ein schlechtes Gewissen machte sich in mir breit und ich war wirklich froh, als Mr. Warner den Klassenraum betrat und uns um Ruhe bat. Beinahe wäre ich weich geworden und hätte es ihnen erzählt. Zu meinem Glück aber schaffte es die Geschichte über den Kakaoanbau an der Elfenbeinküste mich wieder zu beruhigen.

 

Als wir dann endlich den Klassenraum verlassen durften, gingen wir drei sichtlich geschafft von dem vielen Stoff, der plötzlich auf uns eingeprasselt war, hinaus auf den Schulhof, um uns in eine der hintersten Ecken zu verziehen. Dort, wo niemand uns beim Essen störte. Und auch, wenn es bei mir heute nur ein billiges, belegtes Brötchen vom Schulbäcker gab, freute ich mich schon wahnsinnig auf etwas Essbares. Sogar auf dieses harte Wurfgeschoss mit dem verschrumpelten Salatblatt und dem merkwürdig riechenden Käse.

 

Doch gerade, als Mary sich über Talas kiwigrünes T-Shirt mit dem Bild einer Kuh auf der Vorderseite lustig machte und ich genüsslich in das steinharte Ungetüm beißen wollte, raschelte es plötzlich im Gebüsch hinter uns und ich hielt inne.

 

„Schönen Tag, die Damen!“ Erschrocken wandten wir uns in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort, zwischen den Büschen standen zwei junge Männer und lächelten uns an.

Okay, das Lächeln des Dunkelhaarigen war eher einschüchternd, als freundlich. Seine kurz geschorenen Haare und die gut trainierten Muskeln, die sich unter seiner Kleidung abzeichneten, hatten einen respekteinflößenden Charakter. Dazu kamen noch die stark gebräunte Haut und seine tiefen, dunkelgrünen Augen, die sein kantiges Gesicht vervollständigten. Allgemein jagte mir seine muskulöse Gestalt eher eine Heidenangst ein …

 

„Hey, was macht ihr denn hier?“, war es Mary-Sae, die als Erste aufsprang, um dem Blonden, der in vorderster Reihe lässig an einen Baum gelehnt stand, in die Arme zu springen. Ein breites Lächeln zierte ihre Lippen.

„Hallo Süße. Ich hatte Sehnsucht nach dir. Und wenn du so ein bezauberndes Kleid trägst, wäre es eine Schande, dich nicht darin zu sehen“, kam es als Antwort und Marys Wangen glühten. Sie küsste den jungen Mann, der gleich seine Arme um seine Freundin schlang und sie fest an sich drückte. Noel machte, im Gegensatz zu seinem Freund, einen sehr netten und sympathischen Eindruck. Seine hellbraunen Augen, die einen leichten Stich ins grünliche hatten, funkelten fröhlich und seine Gesichtszüge waren perfekt geformt. Er war groß und schlank und immer gut gekleidet. Definitiv ein Kandidat für den perfekten Schwiegersohn.

 

Auch Tala hatte sich erhoben und zu dem Schwarzhaarigen gesellt, der noch immer etwas im Verborgenen stand. Ein Lächeln zierte beide Lippen und wenn ich mir die beiden so ansah, wurde mir wieder klar, warum andere Passanten vor Angst, dass gleich ein Verbrechen passieren würde, gleich ihr Handy zückten. Bereit die Polizei zu rufen. Tja, wenn die wüssten.

 

„Hey Lina!“, begrüßte mich nun der Blonde, als er sich endlich von Mary gelöst hatte. Was nicht hieß, dass er sie losgelassen hätte.

„Hey Noel, hey Damian“ meinte ich und nickte zur Begrüßung in die Richtung des Gebüsches, wo die beiden Dunkelhaarigen noch immer im Schatten verborgen standen. Ein kurzer Laut, der wohl so etwas wie ein „Hallo“ sein sollte drang hinter einem Baum hervor. Ich konnte nicht anders, als zu grinsen.

„Meine Damen und Herren: Die Polizei, ihr Freund und Helfer!“, witzelte Noel, während er eine ausladende Handbewegung in Damians Richtung machte und mir dabei verschwörerisch zuzwinkerte. Es war manchmal fast so, als könnte er meine Gedanken lesen.

Mary stimmte in mein Kichern mit ein, als sie und Noel sich mir gegenüber auf den Grasboden setzten.

 

Jetzt endlich traute ich mich in mein Brötchen zu beißen und versuchte krampfhaft diesen seltsamen Geschmack zu ignorieren. Ich wusste, dass ich für den Rest der Pause sowieso abgemeldet sein würde.

„Wie seid ihr hier reingekommen? Immerhin hat euch Mrs. Crouch doch letztes Mal eine halbe Stunde lang eine Standpauke gehalten“, lächelte Mary-Sae und lehnte sich an die Schulter ihres Freundes.

„Ihr gehört nicht auf diese Schule! Ihr habt hier nichts verloren! Wenn ich euch noch einmal erwische, dann werde ich richtig unangenehm!“, äffte Noel die quietschige Stimme unserer Lehrerin nach. Selbst diesen starren Gesichtsausdruck, bei dem ihre Augen immer gefährlich weit aus ihrer Höhle krochen, konnte er perfekt nachmachen. Wir kicherten.

 

„Nicht zu vergessen, dass wir auch noch Ärger bekommen haben“, mischte sich Talamarleen ein, die gerade mit ihrem Freund hinter dem Baum hervorkam und sich zu uns setzten. Sie waren also fertig mit ihrem minutenlangen sich anstarren. Das taten sie jedes Mal, wenn sie sich trafen. Sie sahen sich einfach nur in die Augen. Wir hatten die Szene schon mehrmals beobachtet, weil wir als ihre besten Freundinnen neugierig waren. Doch ihre Begrüßung war wirklich so langweilig, wie sie sich anhörte.

 

Damian brauchte wegen seiner breiten Schultern mindestens doppelt so viel Platz wie ich, also rückte ich bereitwillig etwas zur Seite. Ich wollte ja nicht zerquetscht werden …

„Ja, aber das war auch irgendwie lustig“, lachte Mary und verdrehte ihre Augen. „Wie seid ihr diesmal hier reingekommen?“

„Als ob man über die Mauern nicht locker drüberklettern könnte.“ Damians tiefe Stimme ließ beinahe die Erde beben. Es war immer wieder eine Überraschung, ihn sprechen zu hören, denn sonderlich gesprächig war er wirklich nicht.

„Die Ziegelsteinmauer? Ihr seid echt verrückt. Das Ding ist gute drei Meter hoch!“, meinte Mary nicht ohne Bewunderung in ihrer Stimme.

„Du kennst uns doch, Süße. Uns kann keiner von so etwas abhalten.“ Das überhebliche Lachen des Blonden erfüllte die Luft und ich steckte mir das letzte Stück Brötchen in den Mund. Es war immer wieder schön zu sehen, was für ein Selbstbewusstsein Noel hatte. Und Mary schien das auch noch zu gefallen.

 

Auch wenn die beiden mir manchmal reichlich merkwürdig erschienen, konnte ich nicht leugnen, dass sie mir sehr sympathisch waren. Und das lag nicht nur daran, dass sie die Seelenpartner meiner besten Freundinnen waren.

Ich blickte auf das Display meines Handys und bemerkte, dass es jede Sekunde zum Nachmittagsunterricht läuten würde. Etwas ungelenk stand ich von dem warmen Fußboden auf und zischte, als ich bemerkte, dass mein linker Fuß eingeschlafen war.

„Wir müssen los“, sagte ich und versuchte das widerliche Kribbeln zu vertreiben. Auch die anderen erhoben sich, aber nicht, ohne den Partner keine Sekunde aus den Augen zu lassen.

 

Ich musste mir bei den leidenden Gesichtsausdrücken meiner Freunde ein wenig das Kichern verkneifen. Sie taten beinahe so, als würden sie sich das ganze nächste Jahr nicht wiedersehen.

„Nun sieh mich nicht so an, Süße“, kam es von Noel, der aber ebenfalls einen mitleiderregenden Eindruck machte. „Ich weiß, morgen ist doch Donnerstag! Ich muss morgen nicht in der Bank erscheinen und Damian hat nur vormittags Berufsschule. Und ihr seid auch schon um 3 Uhr fertig. Was haltet ihr davon, wenn wir zusammen in die Stadt gehen? Ein Eis ist bei dieser Hitze genau das Richtige!“

Marys blaue Augen leuchteten. Ich hatte fast Angst, ich könnte erblinden, wenn ich weiter in ihre Richtung sah.

„Super! Ich bin dabei!“ Sie gab ihm einen leichten Kuss auf den Mund.

„Perfekt“, entgegnete der Blonde. „Tala, Damian? Kommt ihr auch mit?“ Die beiden Angesprochenen blickten auf. Ein schüchternes Nicken war die einzige Antwort, die er bekam. Aber das reichte auch. „Lina?“ ich zögerte einen kurzen Moment. Es war zwar immer schön mit ihnen was zu unternehmen, aber ich konnte das Gefühl des fünften Rad am Wagens nicht abschütteln. Besonders im Moment nicht. Und trotzdem.

„Natürlich! Geht bloß nicht ohne mich!“, lachte ich und versuchte, es möglichst ernst zu meinen.

„Abgemacht!“

 

Genau in diesem Moment ertönte die Schulglocke und ein stilles Seufzen lief durch unsere Reihen. Ihre Gesichter sprachen Bände.

„Wir müssen dann wieder. Die Mauer ruft!“ Noel zwinkerte mir zu und ich lächelte zurück. „Viel Spaß noch, ihr drei!“

Die Lautstärke auf dem nahen Schulhof schwoll an und kündete von den Schülermassen, die sich wieder in ihre Klassenräume begaben. Die Pärchen trennten sich – wenn auch mit sichtbarem Widerwillen – und bald darauf waren die Jungs im Gebüsch verschwunden.

 

Und wir hatten noch vier Stunden Schule hinter uns zu bringen. Vier langweilige noch dazu. Aber immerhin gab es etwas, auf das es sich lohnte zu warten. Etwas, um meine Gedanken wieder in richtige Bahnen zu lenken. Und vor allem: Wieder ein Tag, an dem ich nicht alleine in meiner Wohnung sitzen musste.

 

Eis essen. Tja, warum eigentlich nicht?

Zufall?

Manchmal begrüßte ich es und manchmal hasste ich es auch: dieses Gefühl, als würde das Gehirn nur aus einer Mischung von unnützem Wackelpudding und luftiger Zuckerwatte bestehen. Irgendwie geht es dann nicht mehr vor und nicht zurück.

Natürlich hatte es auch seine guten Seiten. Blöde Dinge, über die man partout nicht nachdenken wollte, störten einen auch nicht. Es war, als würde es sie gar nicht geben. Keine Sorgen, keine Probleme. Schön.

Aber leider funktionierten auch normale Dinge nicht mehr. Wenn plötzlich das Shampoo beinahe als Zahnpasta fungierte und statt des Löffels eine Gabel für die Cornflakes herhalten musste, wurde es langsam Zeit sich Gedanken zu machen.

Von den vier Nachmittagsschulstunden wusste ich nicht mehr viel und auch der Abend war spurlos an mir vorübergegangen. Wahrscheinlich hätte ich das Brötchen doch nicht essen sollen …

 

„Was ist los? Geht es dir nicht gut?“ Ich schreckte auf und es dauerte einige Sekunden, ehe ich wieder wusste, wo ich eigentlich genau war. Bunte Bilder zierten die weißen Wände und Plastiktische mitsamt Stühlen füllten den Großteil des halboffenen Cafés. Lautes Stimmengewirr umgab uns und dröhnte schrill in meinen Ohren.

„Es ist alles in Ordnung, Süße. Mach dir bitte keine Gedanken. Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht.“ Etwas erleichtert stellte ich fest, dass diese Fragen nicht an mich gerichtet waren, sondern Noel galten, der heute wirklich ungewöhnlich ruhig war. Sonst war er immer die Stimmungskanone und derjenige, der alle paar Minuten einen Witz hervorzauberte.

„Über was hast du denn nachgedacht? Vielleicht kann ich dir helfen?“ Die Sorge, die in Marys Stimme mitschwang, ließ in uns allen das Unbehagen wachsen. Sie klang immer so leidend, wenn es um das Wohlergehen ihrer Freunde ging. Fast so, als würde ihr allein der Gedanke, dass etwas nicht stimmte, tatsächlich unheimliche Schmerzen bereiten. Ganz vorne auf der Liste stand natürlich ihr Freund. Der, den sie mehr als alles liebte.

„Ich glaube nicht, dass du mir helfen kannst, Kleines. Ist nur wieder so eine blöde Familienangelegenheit.“ Der Blonde zuckte mit den Schultern, doch seine gewollt lässige Art überzeugte heute niemanden.

„Hast du dich wieder mit deinen Eltern gestritten?“, kam Tala ihrer Freundin zuvor und Noel seufzte leise.

„Ja, so könnte man es sagen.“

„Wegen deiner Schwester?“, riet ich und sah ihn mitleidig an. Das übliche Thema.

„Noel?“, mischte sich nun auch Damian ein, worauf sich dieser geschlagen gab.

„Ist ja gut. Ihr könnt echt die Stimmung vermiesen mit euren traurigen Visagen.“ Er versuchte die Stimmung zu lockern, was aber eher schlecht als recht funktionierte. „Ja, Megan ist gerade für ein paar Tage zu Besuch. Sie ist gestern gekommen und wird schon morgen Abend wieder abreisen. Sie war angeblich wegen einiger geschäftlicher Dinge in der Nähe und wollte ‚Nur mal vorbeischauen’.“ Anhand seines Tonfalls war definitiv ersichtlich, was er von der Idee seiner Schwester hielt.

 

Megan. Ich hatte sie schon einmal auf Noels 20stem Geburtstag getroffen. Das war eine Begegnung, die ich nie wieder vergessen würde. Sie war eine ganz taffe Frau. Obwohl sie erst 28 Jahre alt war, hatte sie eine Ausstrahlung wie eine Mittvierzigerin. Und damit will ich nicht sagen, dass sie alt aussah. Nein, ganz im Gegenteil. Wie ihr Bruder hatte sie strohblonde Haare, die ihr in wunderschönen Locken weit den Rücken herunterfielen. Ihre Haut war weiß und makellos. Beinahe wie Porzellan. Trotzdem wirkte sie in keiner Weise zerbrechlich, nein. Sie konnte wirklich sehr einschüchternd sein, wenn ihre giftgrünen Augen auf einen gerichtet waren. Selbst hochrangige Männer hatten tiefen Respekt vor ihr.

 

„Haben sie wieder das alte, leidige Thema herausgekramt?“ Mary-Sae drückte sich enger an ihn und er zuckte erneut mit den Schultern.

„Sie kommen eben immer noch nicht damit klar, dass ich „nur“ ein Banker bin und noch kein Vorstandsvorsitzender eines riesigen Konzerns. So, wie meine Schwester.“ Megan war wirklich unglaublich. Bereits mit 21 Jahren hatte sie eine führende Position bei dem hier ansässigen Stromkonzern inne. Sie brauchte nur weitere 4 Jahre, bis sie den Vorstand und damit den ganzen Konzern inklusive Tochterfirmen leitete. Sie war in jedem Wirtschaftsmagazin auf dem Titelblatt gewesen.

 

Doch, Moment …

„Noel? Sag mal, arbeitete dieser Mann, der am Montag bei diesem seltsamen Busunfall gestorben ist, nicht im Konzern deiner Schwester?“ Ich versuchte die Frage so lässig wie möglich zu stellen und mir meine Neugierde nicht anmerken zu lassen. Bloß nichts Falsches sagen …

Dennoch lagen die Blicke meiner Freunde plötzlich alle auf mir. Fragend musterten sie mich eingehend. Ich versuchte möglichst gelassen zu wirken und blickte ihnen ruhig entgegen. Der Blonde legte den Kopf schief und schien ernsthaft darüber nachzudenken.

„Jetzt wo du es sagst, ja, hat er wirklich. Megan hatte es kurz nach ihrer Ankunft erwähnt, aber ich muss gestehen, ich habe nicht wirklich zugehört. Der Kerl war wohl nicht sonderlich beliebt, weil er ziemlich arrogant gewesen sein soll. Hielt sich für was Besseres. Aber da fragst du wirklich den Falschen.“ Klar, warum sollte er auch so was wissen?

„Ja, natürlich! Entschuldige. Das erinnerte mich nur gerade an das, was ich in den Nachrichten gehört habe. Schrecklich, was da passiert ist“, ruderte ich zurück und setzte einen betroffenen Gesichtsausdruck auf, ehe ich meinen Blick schnell wieder in den halb geschmolzenen Eisbecher senkte und lustlos darin zu stochern begann. Dieses Eismonster konnte niemand wirklich aufessen, egal wie köstlich es auch schmeckte.

„Ja, wirklich schlimm. Da traut man sich kaum noch auf die Straße …“ Talas Stimme war leise geworden, so, als schien sie sich wirklich darüber Sorgen machen. Was auch nicht ganz verwunderlich war. Immerhin waren wir drei zu genau dieser Uhrzeit alleine unterwegs gewesen. Und, dass ich darin sogar verwickelt war, sollte sie lieber erst gar nicht wissen.

Aber genau dieses Unbehagen schien das Stichwort für Damian zu sein. Als ob er die Angst seiner Freundin spüren konnte, legte er plötzlich seinen muskulösen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. Die Braunhaarige entspannte sich sofort.

Und ich musste wirklich mit mir kämpfen. Damians Arm schien mindestens doppelt so groß und schwer zu sein, wie Talas kompletter Körper und ich ertappte mich dabei, zu denken, er würde sie jeden Moment zerquetschen.

 

Ich schüttelte den Kopf und versuchte diesen dämlichen Gedanken zu vertreiben. Als ob er ihr jemals etwas tun würde. Sie war immerhin seine Freundin. Dabei blieb mein Blick an Mary und Noel hängen, die gegenüber von mir saßen. Ich stutzte kurz, als ich ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Und als die beiden in meine Richtung sahen, war es ganz um uns geschehen. Wir bekamen einen richtigen Lachanfall.

Lachtränen traten mir in die Augen und ich versuchte sie immer wieder aus eben diesen zu vertreiben, was sich jedoch als unmöglich herausstellte.

„Drei Dumme, ein Gedanke“, fasste Noel die Situation in einem Satz zusammen, während er seinen Lachkrampf schon fast wieder beendet hatte. „Wie Elefant und Maus.“

„Noel! Sag so was nicht! Das ist unhöflich!“, zischte Mary und haute ihm ihren Ellbogen in die Seite, worauf dieser keuchte. Aber zumindest hatte sie aufgehört sich wie ein kleines Kind zu benehmen.

 

Ich war immer noch am Kichern und als mein Blick zufällig auf den beiden Gesichtern des Pärchens hängen blieb, zwang ich mich dazu, mich zu endgültig beruhigen.

„Entschuldigt!“, meinte ich atemlos und lächelte die beiden an. „Ich musste gerade an was Witziges denken. Sorry, das war wirklich der falsche Moment.“ Ich schüttelte meinen Kopf und wunderte mich wirklich über mich. Aber was wollte ich heute auch von meinem Wackelpudding/Zuckerwatte-Gehirn erwarten?

 

Tala und Damian sahen uns noch kurz fragend an, beließen es aber dabei.

„Wir sollten dann auch langsam los“, meinte Noel und blickte auf seine Uhr. „Es ist schon halb fünf. Wenn wir wirklich noch ein bisschen shoppen wollen, sollten wir uns sputen.“

Das gleichzeitige Gequietschte von Plastik auf Stein war zu hören und nachdem wir unser Eis bezahlt hatten, waren wir schon unterwegs in die Innenstadt. Das Café lag etwas außerhalb der Einkaufsmeile, weshalb es dort nie ganz so voll war. Und trotzdem gab es dort das beste Eis der Stadt. Dafür nahmen wir gerne die 15 Extra-Minuten Fußmarsch in Kauf.

 

Die Stadt war nicht so voll, wie ich gedacht hatte. Trotz der späten Stunde, in der die meisten schon Feierabend hatten und die Geschäfte noch geöffnet waren, waren weniger Menschen in den Straßen, als ich es normalerweise gewohnt war. Aber wahrscheinlich war das nur eine Ausnahme. Morgen, um diese Zeit, traten sie einem wohl wieder die Füße platt … Also blieb mir nichts anderes übrig, als es einfach zu genießen.

 

„Nun guck doch nicht so! Lächle mal wieder!“, grinste Mary den Jungen neben ihr an. Im Stehen waren sie beinahe gleich groß. „Du sagst zu mir auch immer, ich solle meine kleinen Zwillingsbrüder einfach ignorieren! Dann musst du das auch bei deiner Schwester machen!“

„Ja, ja. Aber nur, wenn du endlich aufhörst mich zu zerquetschen!“ Ein helles Lachen erklang.

„Nein“, meinte sie darauf zuckersüß und drängte sich noch näher an ihn.

„Hey, wenn du mit deinem schweren Körper an meinem Arm rumbaumelst, kann ich gar nicht richtig laufen!“ Sein Grinsen traf den wütenden Blick seiner Freundin.

„Was bitte meinst du denn mit ‚schwer’? Willst du mir sagen, ich wäre fett?“ Ihre Stimme überschlug sich fast.

„Na, du bist doch schwer! Ein Leichtgewicht bist du ja wahrhaftig nicht!“ Sein Blick verriet mir, dass er Marys Aufregung gar nicht verstand. Das war der übliche Startschuss.

 

„Oh je, sie streiten sich schon wieder.“ Talas kurze, braune Haare tauchten in meinem Augenwinkel auf, als sie sich neben mich gesellte. Damians riesige, schwarze Gestalte ragte wie ein Berg neben ihr auf.

„Noel hat es nicht anders verdient“, grummelte dieser mit tiefer Stimme.

„Aber das kann doch gar nicht richtig sein! Immerhin lieben die beiden sich doch! Warum müssen sie also immer streiten?“

„Den beiden schadet das nicht.“ Trotz seines starren Gesichtsausdrucks wusste ich, dass das eben schon beinahe ein Witz gewesen war.

„Aber, das tut mir immer so leid.“

 

„Mach dir da mal keine Sorgen“, mischte ich mich ein. „Die beiden sind nun mal wie sie sind und das ist doch auch gut so!“ Ich lächelte die Braunhaarige an und tatsächlich glättete sich ihre sorgenvolle Mine.

„Ja, wahrscheinlich hast du-“

Ein heftiger Schlag traf ohne Vorwarnung meinen Rücken und ich spürte, wie ich zu Boden ging. Mein Kopf wurde heftig nach hinten gerissen und irgendetwas knackte ohrenbetäubend. Ein heftiger Schmerz schoss meinen Rücken entlang und ich keuchte auf. Noch ehe ich irgendetwas unternehmen konnte, knallte mein Körper unsanft auf dem Fußweg auf, was mir sämtliche Luft aus meinen Lungen presste. Es war heiß, so heiß!

 

Plötzlich war alles still. In meinen Ohren rauschte es betäubend laut und meine Sicht war verschwommen. Etwas Schweres lag auf mir und drückte mich nieder. Ich konnte mich nicht bewegen.

Dumpf bemerkte ich, wie jemand meine Schulter berührte, was einen schmerzhaften Stich durch meinen Körper schickte. Ich zuckte zurück. Weg von der Berührung und versuchte zu verstehen, was eigentlich gerade passiert war.

„Lina? Lina, geht es dir gut? Amelina?“ Ich hörte meinen Namen und spürte, wie das Gewicht von meinem Körper verschwand. Meine Muskeln zitterten, als ich mich vom Boden hochstemmte und so mich hinzuknien versuchte. Ich blinzelte ein paar Mal, um endlich wieder was erkennen zu können.

„Lina?“ Ich schaute auf. Marys goldblondes Haar tauchte vor meinen Augen auf. Ihre eisblauen Augen schauten mich besorgt, fast panisch an. Neben mir nahm ich am Rande wahr, wie Noel Tala auf die Beine half.

„Au!“, stöhnte ich, als ich versuchte meinen Nacken zu drehen. Ich fühlte wie mein Arm brannte. „Was ist … passiert?“ Meine Stimme war leise und fast kratzig.

„Komm, wir sollten hier weg! Damian kümmert sich darum!“ Was? Worum wollte er sich kümmern? Was war eigentlich los? Doch ich brachte kein Wort heraus. Mary zog mich auf die Beine und lotste mich einige Meter die Straße hinauf. Mein Körper zitterte und es fiel mir schwer, aufrecht stehen zu bleiben. Ich stöhnte vor Freude, als ich mich endlich hinsetzen durfte. Die kalte Mauer in meinem Rücken war ein wahrer Segen.

 

Ich schloss meine Augen und wartete darauf, dass der Schwindel verschwand, doch je länger ich darauf wartete, desto heftiger wurde das Brennen an meinem Arm, bis es schließlich die Oberhand gewann. Ich blickte an meinem Körper herunter und sog scharf die Luft ein, als ich die vielen Kratzer und Schürfwunden bemerkte, die stetig bluteten. Meine blasse Haut war an vielen Stellen von Blut und Dreck bedeckt. Außerdem schien die Wunde unter dem Verband wieder aufgegangen zu sein, denn das Weiß hatte sich an einigen Stellen zu einem Dunkelrot verfärbt. Es tat weh.

„Lina, dein Arm!“ Ich wandte den Blick ab. Ich konnte das Blut nicht sehen. Neben mir saß Tala, die Augen starr auf die Straße gerichtet. Auch sie hatte einige Kratzer an ihrem Körper, schien sonst aber unverletzt zu sein.

Noch immer verstand ich nicht, was passiert war, bis ich ihrem Blick folgte. Mein Magen verkrampfte. Dort, wo wir Minuten zuvor noch gestanden hatten, klaffte nun ein riesiges Loch in der Wand eines Cafés. Ein völlig zerstörter Kleinlaster klemmte zwischen dem Schaufenster und den großen Mülltonnen in der angrenzenden Gasse. Ein kleines Feuer schwelte direkt unter dem Auto, doch ein Passant hatte es mit einem Feuerlöscher bereits unter Kontrolle gebracht.

Dieser Wagen. Er hätte uns beinahe …

 

Es herrschte großer Tumult auf der Straße. Menschen liefen hin und her, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Zwischen all den Köpfen erkannte ich Damian, der die Leute aus dem Café in Sicherheit brachte. In der Ferne heulten schon die Polizeisirenen.

Mein Atem ging schwer, als ich endlich begriff, was eben genau passiert war. Dieser Wagen hätte uns … beinahe getötet. Der Schwindel kehrte zurück und ich versuchte dieses beklemmende Gefühl des Erstickens wieder loszuwerden, welches heftig auf meine Brust drückte. Ich musste meine Luge zwingen, weiterzuatmen.

 

Warum? Warum passierte mir das schon wieder? Und als ob der Busunfall nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hätte ich heute beinahe die Menschen verloren, die mir so viel bedeuten! Warum wurde ich bloß immer vom Pech verfolgt? Und warum zog mein Unglück nun auch meine Freunde mit hinein?

„Lina?“ Ich schreckte hoch, als Damians Gesicht plötzlich vor mir auftauchte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er zu uns gestoßen war. „Bist du okay?“ Ich nickte kraftlos. Meiner Stimme traute ich nicht. „Tut mir leid, dass ich dich verletzt habe.“ Ich spürte seinen Blick auf meinen Wunden und versuchte mich wieder zusammen zu reißen.

„Nein, nein!“ Ich schüttelte wild meinen Kopf. In meinem Nacken knackte es erneut. „Da gibt es nichts, wofür du dich entschuldigen musst! Du hast uns gerettet. Die paar Kratzer sind völlig egal.“ Ich erschreckte etwas, als sich tatsächlich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

„Das ist mein Job.“ Ich konnte nicht anders, als schüchtern zurück zu lächeln.

 

„Ist jemand verletzt worden?“ Noels Stimme war merkwürdig flach. Sein Blick immer noch starr auf den Unfallwagen geheftet.

„In dem Café waren nicht viele Leute. Nur leichte Verletzungen. Die Notärzte werden sich darum kümmern.“

„Wissen deine Kollegen schon, was passiert ist?“ Unsere Blicke wandten sich zu den zahlreichen Polizisten hinüber, die gerade die Straße absicherten.

„Das Fahrzeug war führerlos. Ich habe bereits einen Handwerker ausmachen können, der den Kleinbus als Nutzfahrzeug für seine Firma einsetzt. Er war sich sicher, die Handbremse angezogen zu haben. Mein Vorgesetzter übernimmt das Verhör.“ Ein langer, schlaksiger Mann mit ebenso kurzen Haaren, wie Damian sie trug, blickte in genau diesem Moment zu uns herüber. Mit einem Winken bedeutete er dem Jungen sich wieder zu ihm zu gesellen. „Ich muss zurück. Mein Boss ist der Meinung, dass das vielleicht kein Zufall war. Die Bremsleitung soll beschädigt sein.“ Mein Mund wurde plötzlich ganz trocken.

„Du … Du meinst, jemand wollte, dass der Wagen jemanden verletzt?“ Meinen wahren Gedanken behielt ich lieber für mich. Uns verletzt?

„Mach dir keine Sorgen. Das hat garantiert nichts mit uns zu tun“, meinte Damian, gab seiner verängstigten Freundin einen sanften Kuss und ging zurück zu seinen Kollegen von der Polizei.

 

Sein Gesichtsausdruck drehte mir den Magen um. Etwas lag in seinem Blick, was mich erschaudern ließ. Er wirkte so … ernst. Mehr, als ich es je bei ihm gesehen habe. So, als wüsste er etwas, was wir anderen nicht wussten.

Vielleicht war es doch schlimmer, als wir dachten.

 

Noels ausgesprochene Gedanken hingen über uns wie eine bleischwere Wolke.

„Bei uns gibt es ja auch nichts zu holen.“

 

.

 

Danach hatte sich das Zuckerwatte/Wackelpudding-Gemisch zurück gemeldet. Obwohl ich wusste, dass seine Bemerkung eher scherzhaft gemeint sein sollte, standen mir immer wieder die Haare zu Berge, wenn ich auch nur daran dachte.

 

Die neuen Verbände, die nun neben meinem Arm auch noch das rechte Bein und meinen linken Fuß bedeckten, kratzen an meiner Haut, als ich mich von meinem Sofa erhob und durch die Balkontür ins Freie trat. Die Schwüle des Sommers umfing mich sofort und ich ließ mich erschöpft auf einen der Stühle fallen. Die weiche Unterlage, die ich schon gar nicht mehr weglegte, hatte die Hitze der Sonne gespeichert und spendete nun eine angenehme Wärme.

Die Sonne hatte sich bereits hinter mein Nachbarhaus zurückgezogen und malte nur noch sanfte Orangetöne an den hellblauen Himmel. Die wenigen weißen Wölkchen, die sich den Tag über gebildet hatten, schwebten harmlos über die Stadt hinweg.

 

Ich seufzte. Und ich dachte wirklich, ich hätte mich etwas von dem Stress erholt. Aber zweimal innerhalb von einer Woche einen Unfall zu erleben war wirklich nichts, was ich so einfach verdrängen konnte.

Ich machte mir Sorgen um Tala. Wir hatten sie noch zusammen nach Hause gebracht, nachdem wir der Polizei unsere Schilderung des Abends erzählt hatten. Noel und Mary-Sae, die vorweg gegangen waren, hatten nur den Knall gehört und Tala hatte den Wagen lediglich aus dem Augenwinkel bemerkt. Sie hatte gespürt, dass Damian sich angespannt hatte und als sie sich zu ihm umdrehen wollte, stieß er uns schon aus dem Weg. Ich hatte überhaupt nichts mitbekommen. Nichts gesehen, nichts gehört.

Wenn Damian aufgrund seiner Ausbildung zum Polizisten die Situation nicht so gut hätte einschätzen können und den Kleinbus nicht rechtzeitig bemerkt hätte, würden wir jetzt sicherlich nicht so unbeschadet Zuhause sitzen.

 

Ich höre immer noch, wie meine Mutter in das Telefon brüllte, als ich ihr den Vorfall geschildert hatte. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie durch den Hörer gesprungen. Es hatte mich viel Mühe gekostet sie davon abzuhalten herzukommen und mich mit in ihre Wohnung zu nehmen. Sie hatte sogar gemeint, sie würde meinen Mietvertrag eigenhändig kündigen, wenn ich es nicht selbst tat, aber als ich sie daran erinnerte, dass ich nun 18 Jahre alt und somit für mich selbst verantwortlich war, gab sie resigniert auf.

Und obwohl sie versucht hatte, tapfer zu sein, konnte ich ihre Tränen in der Stimme hören. Der Kloß saß noch immer in meinem Hals. Ich tat ihr weh. Und ich hasste mich noch mehr dafür.

 

„Du dämlicher Stein“, zischte ich zum wiederholten Mal an diesem Abend zu und ließ noch einmal meinen Daumen darüber kreisen. Von wegen Glücksbringer. Das Ding war zu nichts nutze. Er war nicht mal in der Lage mir einen Freund zu beschaffen, geschweige denn mir in irgendeiner Weise Glück zu bringen. Im Gegenteil. Er schien das Unglück geradezu anzuziehen.

Das Orange am Himmel verblasste und das dunkle Blau der Nacht verschlang das letzte Licht des Tages. Nur die zahlreichen Sterne und die vielen Fenster, die wie Glühwürmchen die Nacht erhellten, drängten die Schatten etwas zurück.

Der leichte Wind, der durch das Blätterdach der nahen Bäume rauschte, ließ mich tatsächlich leicht frösteln und mit einem leisen Seufzen räumte ich meinen Platz an der frischen Luft und ging zurück ins Wohnzimmer. Es war mittlerweile halb Elf und ich beschloss ins Bett zu gehen.

 

Am Wohnzimmertisch blieb ich kurz stehen. Ich blickte auf den Stein in meiner Hand, wie er mit dem goldüberzogenen Kettenanhänger im schwachen Licht der Nachbarhäuser funkelte. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf und ich merkte, wie sich meine Finger darum verkrampften. Das erste Mal seit 18 Jahren. Doch ich hatte mich entschieden.

Ein leises Klirren im Dunkeln verkündete mir, dass der Anhänger die Glasplatte des Tisches berührt hatte und die Kette mir aus der Hand geglitten war.

 

Ohne einen Blick zurück zu werfen verließ ich den Raum und ging ins Bett.

Regen

„Bin ich froh, dass heute schon Freitag ist. Diese Woche war eine wahre Katastrophe! Wenn der Rest des Schuljahres auch so schrecklich wird, na dann Prost Mahlzeit!“ Ich nickte nur. Darauf wusste ich nichts zu sagen. Obwohl sie wütend klingen wollte, schlich sich doch so etwas wie Unbehagen und auch eine Spur von Angst in ihre Stimme. „Ich werde dieses Wochenende jedenfalls keinen Schritt vor die Tür machen!“

„Das klingt nach einem guten Plan.“ Talamarleens Stimme war leise, zittrig. Sie hatte den Vorfall am Vortag nicht gut verkraftet. Ich machte mir wirklich Sorgen um sie.

„Hey, Tala. Mach dich nicht verrückt. Versuche einfach es zu vergessen, okay?“ Genauso, wie ich es tat. Ich spürte ihren Blick auf meinem Gesicht. Ich war mir sicher, dass sie nach etwas ganz bestimmten suchte und befürchtete, dass sie es auch fand.

„Genau! Schlimmer kann es ja nicht mehr werden!“ Wir drei zuckten bei Marys Worten gleichermaßen zusammen. Eine erdrückende Stille legte sich erneut über uns, so wie sie es heute schon den ganzen Tag getan hatte. Wir waren alle mehr betroffen, als wir uns das selber eingestehen wollten.

 

Ich lehnte meinen Kopf an den Baum, vor dem ich saß. Mein Mittagessen ruhte so gut wie unberührt auf meinen Knien. Die Finger hatten sich bereits darum verkrampft. Ich brachte es nicht über mich etwas davon zu essen.

Die dunkelgrünen Blätter wehten sanft in dem leichten Luftzug, der gerade über den Schulhof fegte. Müdigkeit drückte mich nieder. Obwohl ich gut geschlafen hatte, fühlte ich mich total kraftlos. Diese ganze Aufregung brachte meinen Körper langsam dazu zu streiken.

 

Eine meiner Hände löste sich von dem nicht gegessenen Brötchen und umklammerte den Gegenstand an meinem Hals. Ich konnte das Seufzen nur schwer unterdrücken. Ich war schwächer, als ich gedacht hatte.

Das erste Mal seit meiner Geburt hatte ich meinen Segensstein nicht neben dem Bett liegen gehabt. Es war zwar ein merkwürdiges Gefühl, aber nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Im Grunde war das ja auch blöd. Was sollte sich groß ändern, ob ich ihn mitnahm oder nicht? Als ob das Unglück mich nicht finden würde, wenn er nicht da war.

Der Morgen war ziemlich ruhig verlaufen. Keine Hektik, keine Panik. Diesmal war ich der Zuckerwatte in meinem Kopf ausgesprochen dankbar gewesen. Doch sie verflog so schnell, wie sie gekommen war. Gerade, als ich die Wohnung verlassen wollte, fiel mir ein rotes Blitzen auf, das von meinem Wohnzimmertisch zu kommen schien. Ich wusste sofort, worum es sich handelte und mein innerer Kampf begann erneut.

 

Am Ende hatte ich gute 15 Minuten reglos im Flur verharrt, bis ich wütend über mich selbst ins Wohnzimmer gestakst war und die Kette in meine Hosentasche gleiten ließ, bevor ich das Haus verließ.

Deswegen war ich auch 10 Minuten zu spät zum Unterricht gekommen. Doch als meine Lehrerin gerade anfangen wollte mich zu tadeln, waren ihr die vielen Verbände aufgefallen, die mich wie eine Mumie umhüllten. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, waren ihr die Worte regelrecht im Hals stecken geblieben. Daraufhin hatte sie nur gesagt ich soll beim nächsten Mal pünktlich sein und mich zu meinem Platz geschickt.

Mary hatte mir erzählt, dass sie die Geschichte bereits erzählt hatten, denn immerhin war auch Talas Haut von einigen Pflastern und Kratzern übersät gewesen. Mein Anblick hatte sie also trotz Vorwarnung überrascht.

 

Der Rest der Klasse war seltsam ruhig gewesen. Niemand hatte uns darauf angesprochen. Mir immer nur gute Besserung gewünscht. Wahrscheinlich hatte sie Talas starrer Gesichtsausdruck davon abgehalten, groß auf der Sache herum zu reiten. Immerhin sah sie wirklich so aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ich konnte nur hoffen, dass Damian sie am Wochenende etwas beruhigen konnte.

 

„Damian wird das Wochenende bei mir schlafen. Meine Eltern sind ein paar Tage zu meiner Tante aufs Land gefahren.“ Ihr Versuch, das Thema zu wechseln und die Stimmung etwas zu heben, war mehr als offensichtlich, aber wir nahmen ihn gerne an.

„Habt ihr was Spezielles geplant?“, fragte ich, um mich ihrem Beispiel anzuschließen.

„Er hat uns ein paar DVDs besorgt. Außerdem wollen wir zusammen einen Nudelauflauf kochen.“ Sie blickte mich erleichtert an. „Er mag doch den Auflauf meiner Mutter so gerne und ich will ihm mal das Rezept beibringen.“

„Damian und kochen? Bist du sicher, dass das was wird? Vergiss nicht, er ist bei der Polizei und nicht bei der Feuerwehr.“ Mary kicherte über ihren Witz und auch uns anderen beiden schlich sich ein Lächeln auf das Gesicht. Das Erste seit einer ganzen Weile.

„Sag so was nicht! Er hat mir letzte Woche Spaghetti mit Tomatensoße gekocht! Die Nudeln waren nur etwas angebrannt und wir haben auch nur gute eineinhalb Stunden gebraucht, die Küche wieder sauber zu machen.“ Das Lachen, was in der Luft lag, tat uns allen mehr als gut. Es war, als würde es die schlechten Gedanken vertreiben. Sie einfach verscheuchen.

Es wurde mir mehr und mehr klar: ich brauchte meine Freunde. Ohne sie würde ich das alles nicht überstehen.

 

Die Schulglocke klingelte und leitete die letzten zwei Schulstunden dieser Woche ein. Ich konnte es kaum noch erwarten mich endlich etwas auszuruhen.

 

.

 

Obwohl es erst Nachmittag war, lagen die ersten Schatten über den Hochhäusern der Stadt. Wolken waren aufgezogen und in der Ferne kündete ein rumpelndes Geräusch das nahende Gewitter an. Trotz der immer noch sehr schwülen Luft war bereits eine deutliche Abkühlung spürbar.

Es lag der feine Geruch nach Regen in der Luft. Ich beeilte mich die Straße entlangzugehen, da ich natürlich keinen Regenschirm dabei hatte. Dem Wetterbericht hatte ich die letzten Tage scheinbar zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ich war einfach ein wenig abgelenkt gewesen.

 

Das Hochhaus, in dem meine Wohnung war, ragte vor mir wie ein dunkler Koloss in den Himmel auf. Seine eckige Form schien die Wolkendecke regelrecht zu zerschneiden. Das unheimliche Gelb des Himmels, tauchte die Straße in ein merkwürdiges Licht.

Schnellen Schrittes verschwand ich durch die Haustür ins Innere des Wohnhauses und im gleichen Moment schaltete sich das Licht ein. Die Flure waren vollkommen leer. Ich schlüpfte in den schon bereitstehenden Fahrstuhl und nur wenige Momente später umfing mich die Dunkelheit meines Flures.

 

Meine Hand wanderte zu dem Lichtschalter neben der Tür, doch etwas ließ mich innehalten. Ein merkwürdiges Gefühl kroch meinen Körper hoch und eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Es war ganz still. Nur der Donner, der durch die dicken Mauern gedämpft wurde, schälte sich durch die heran brechende Nacht.

Mein Atem ging ungewöhnlich schnell, aber ich begriff nicht warum. Woher kam dieses schlechte Gefühl? Warum stieß mich meine eigene Wohnung in diesem Moment ab? Wieso fühlte ich mich so unbehaglich?

In meinen Ohren rauschte das Blut, während ich mir den Flur noch einmal ganz genau ansah. Die Schemen meiner Kommode und des Schuhschrankes zeichneten sich gegen die weiß gestrichenen Wände ab. Nur wenig Licht fiel durch die offen gelassenen Türen.

Eigentlich sah alles aus wie immer, doch ich konnte meinen Körper nicht dazu bringen sich zu bewegen. Etwas hielt mich an der Stelle, an der ich gerade stand. Hatte meine Handtasche wirklich dort auf dem Boden gelegen, als ich gegangen war? Und der Regenschirm … Lag der nicht auf der anderen Seite der Kommode?

 

Erneut lief mir ein Schauer über den Rücken und ich spürte, wie die Panik wuchs. Was war bloß los mit mir?

Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete ich die Haustür erneut und griff nach dem nahen Regenschirm. Die Tür hinter mir schloss sich und ich eilte die Treppen hinunter. Den Fahrstuhl beachtete ich gar nicht. Dieser war mir gerade zu langsam.

Ich huschte durch die Haustür und trat in den eben einsetzenden Regen hinaus. Ich konnte gerade noch den Schirm aufspannen, ehe ein Wolkenbruch auf mich nieder ging. Innerhalb weniger Sekunden stand eine zentimetertiefe Wasserschicht auf der Straße.

 

Meine Füße trugen mich; weg von dem Haus. Ich spürte, wie die Panik abebbte, jedoch nicht verschwand. Je länger ich lief, desto bescheuerter kam ich mir vor. Was bitte sollte diese Aktion? Wieso flüchtete ich aus meiner eigenen Wohnung? Wie blöd war ich eigentlich? Nur weil eine Tasche auf dem Boden lag? Oder wegen eines Regenschirms? Deswegen lief ich grade in Sommerklamotten und nassen Schuhen durch ein schweres Unwetter?

Vielleicht … Ja, vielleicht hatte meine Mutter doch recht. Vielleicht konnte ich wirklich nicht auf mich aufpassen. Ich war wohl lange nicht so erwachsen, wie ich gerne sein wollte.

 

Der Regen prasselte ohrenbetäubend auf meinen Regenschirm ein. Der Donner, der nun zwischen den Hochhäusern widerhallte, ließ die Erde erbeben. Blitze warfen für Sekundenbruchteile ihr Licht auf die beinahe ausgestorbene Stadt. Kaum ein Mensch war auf den Straßen und nur wenige Autos quälten sich durch die Wassermassen, die sie wie kleine Wellen auf dem Meer vor sich her schoben. Die Lichter der Stadt funkelten in jedem einzelnen Tropfen und malten verzerrte Gemälde auf die Straßen.

 

Ich hielt inne, als ich die große Kreuzung am Ende des Blocks erreicht hatte. Auf der anderen Straßenseite grüßte mich der sonst so einladend wirkende Westside Park, der jetzt jedoch im zuckenden Licht der Blitze einen weniger freundlichen Eindruck machte.

Ein erneutes Krachen schoss über meinen Kopf hinweg und ließ mein Herz ein weiteres Mal kurz aussetzen. Es war wohl wirklich an der Zeit, wieder nach Hause zu gehen und diesen blöden Tag einfach zu vergessen. Am besten gleich diese ganze Woche.

 

Ich schob meine Umhängetasche zurecht und wandte mich in die Richtung, aus der ich gekommen war. Doch ich konnte lediglich ein paar Schritte machen, ehe sich mein Körper versteifte. Ich starrte auf die schwarze Limousine, die nur wenige Meter von mir entfernt am Bordstein parkte. Kein anderes Auto war zu sehen. Mein Atem stocke und mein Herz raste, als ich bemerkte, dass die Seitenscheibe herunter gekurbelt war. Etwas Schwarzes, Glänzendes wurde mir entgegengestreckt und alles in mir verkrampfte. Ich wollte schreien, doch ich bekam keinen Ton heraus.

Ein heftiger Ruck zog mich zur Seite. Nur eine Sekunde, bevor etwas an meinem Gesicht vorbeizischte. Ich stolperte vorwärts, ohne zu wissen, wohin ich ging. Mein Herz verkrampfte in meiner Brust und ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.

„Jetzt komm schon! Schnell!“ Die Stimme ließ mich aufschrecken. Erst in dem Moment nahm ich meine Umgebung wieder wahr. Die dunklen Bäume des Westside Parks zogen an mir vorbei, während ich durch den Park hechtete. Ein junger Mann hatte meinen Arm fest umklammert und zog mich mit sich. Ich musste mehrmals blinzeln, um die Regentropfen aus meinen Augen zu vertreiben, damit ich ihn sehen konnte. Erst da bemerkte ich, dass ich den Regenschirm gar nicht mehr in der Hand hielt.

 

Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, zischte wieder etwas an mir vorbei und ich spürte eine unangenehme Hitze, als es mich fast berührte. Ich zuckte zurück und ein Schrei entwich mir, als sich unter das andauernde Donnern noch andere Schritte mischten.

 

Ich schloss die Augen, als heiße Tränen in ihnen brannten. Wollte gar nicht wissen, was hinter mir passierte. Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Meine Beine waren wie Wackelpudding und ich konnte, nein, ich wollte keinen Schritt mehr weiter. Die Angst lähmte mich. Panik übernahm meinen Körper; mein Denken. Ich wollte nur noch, dass es aufhörte.

Doch der feste Griff um meinen Arm verstärkte sich nur noch und zog mich unnachgiebig weiter. Ich spürte, wie Äste gegen meinen Körper schlugen und versuchte den Tränenschleier wegzublinzeln. Der Junge hatte mich in das dichte Gebüsch gezogen und hechtete mit mir im Schlepptau über den matschigen Untergrund. Mit jedem Schritt schien ich mehr und mehr zu versinken und ich hatte kaum noch genug Kraft meinen Fuß zu heben. Wieso konnte es nicht endlich vorbei sein?

„Du gibst jetzt nicht auf, kapiert?“ Er zog stärker; ich taumelte ihm hinterher. Mein Atem ging stoßweise und mein Oberkörper verkrampfte schmerzhaft. Ich wollte, dass er mich endlich losließ. Endlich stehen blieb.

 

Als ob er meine Gedanken gehört hatte, bog er plötzlich scharf nach rechts und drückte mich hinter einem schäbigen Gebäude auf den Boden. Ich sah mich um und erkannte etwas, was aussah wie alte Türen eines Toilettenhäuschens, Bretter und anderen Müll, der hier achtlos abgeladen wurde. Da, wo es niemand sehen sollte.

Ich krabbelte ungeschickt in eine Lücke zwischen dem Müll und der Ziegelsteinwand und zog meine Beine eng an meinen Körper. Der Junge kauerte sich direkt vor mich in die Dunkelheit. Mein Atem ging schnell und mein Herz hämmerte ungeheuer laut gegen meinen Brustkorb. Das Zischen in meinen Ohren schien alles andere zu übertönen. Ich hatte Angst, dass ich uns verraten könnte.

 

Die Stille war erdrückend. Ich wagte es kaum zu atmen. Bloß keinen Millimeter bewegen.

Als der Junge sich plötzlich etwas entspannte und sich mir zuwandte, zuckte ein greller Blitz über den Himmel, sodass ich endlich sein Gesicht sehen konnte. Ich musste schlucken, als ich ihn erkannte. Diese kupferroten Haare. Das war doch nicht möglich?! Wieso war ER hier?

Doch ich wagte es nicht, etwas zu sagen. Ich beobachtete, wie er in der Tasche seiner Lederjacke kramte und ein Handy hervorzog. Das Licht seines Displays flackerte auf und ein leiser Fluch kam über seine Lippen. Ich drückte mich enger an die rostige Tür an meinem Rücken.

Er warf erneut einen Blick über seine Schultern, als wollte er sich vergewissern, dass die Verfolger uns noch nicht gefunden hatten. Doch ich war mir sicher, dass wir das längst gemerkt hätten, wenn es so wäre. Oder auch nicht mehr.

„Verdammt, wir können nicht zurück“, zischte er fast lautlos und hob seinen Blick. Wir sahen uns tief in die Augen und ich zuckte zurück. Sein Blick jagte mir Angst ein.

 

Er wandte sich ab und erhob sich langsam, um sich lautlos zu der Ecke des Gebäudes vorzutasten. Vorsichtig sah er um die Ecke, bevor er sich wieder zu mir umdrehte und mir mit einem Handzeichen bedeutete zu ihm zu kommen.

Doch ich konnte nicht. Mein Körper zitterte wie Espenlaub. Mir war unheimlich schlecht und ich bekam kaum Luft. Und mir war so kalt. Die wenige Kleidung, die ich trug, war völlig durchnässt.

Ich konnte da nicht wieder raus. Diese Männer … Ich wollte nicht sterben!

 

Ich zuckte zusammen und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als sein Gesicht nur Zentimeter von meinem auftauchte. Ich blickte starr in seine meerblauen Augen.

„Komm. Wir können nicht hier bleiben.“ Er streckte seine Hand nach mir aus. „Ich verspreche dir, dass ich dich in Sicherheit bringen werde. Dafür musst du mir aber vertrauen.“ Sein Gesichtsausdruck war plötzlich so anders. Ich hätte es beinahe als freundlich bezeichnet, wenn er nicht ein hämisches Grinsen aufgesetzt hätte. „Du kannst doch nur gewinnen. Alleine kriegst du eh nichts auf die Reihe.“

Unglaublich. Er machte sich tatsächlich in so einer Situation über mich lustig. Doch leider hatte er recht.

 

Ich löste meine steife Hand, die ich um meine Knie geschlungen hatte und reichte sie ihm. Er zog mich sofort auf die Füße und sogleich verschwanden wir, begleitet von einem dröhnenden Donnerschlag, im Dunkel des Parks.

 

.

 

„Was wollten diese Kerle von mir?“ Mittlerweile hatte ich meine Stimme wiedergefunden und fühlte mich so sicher, dass ich es wagte, etwas von mir zu geben.

„Du meinst, außer dich tot zu sehen?“ Wieder so ein Spruch. Ich schnaubte.

„Soweit ich weiß, gibt es meistens einen Grund dafür jemanden umzubringen. So war es jedenfalls in allen Actionfilmen und Krimis, die ich bisher gesehen habe.“ Trotz der Situation, in der ich mich befand, konnte ich mir ein bisschen rumgezicke nicht verkneifen. Dieser Typ schaffte es immer wieder mich zu reizen.

 

Wir spähten um die Ecke eines Hauses, ehe wir die Straße weiter heruntereilten. Immer darauf bedacht uns von niemandem sehen zu lassen. Nervös blickte ich mich nach jedem Auto um, welches über die nasse Straße rollte.

Ich hatte absolut die Orientierung verloren. Wir waren aus dem Park geflüchtet und hatten uns immer in dunklen Gassen aufgehalten. Diesen Teil der Stadt kannte ich nicht, doch ich hatte das Gefühl, als ob wir nicht zu meiner Wohnung wollten. Den Ort, an dem ich jetzt unbedingt sein wollte.

 

„Wo gehen wir hin?“, versuchte ich es erneut.

„So weit weg wie möglich.“ Das war es. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Als wir gerade wieder in eine Gasse einbogen, hielt ich ruckartig inne. Da der Junge noch immer meine Hand hielt, zwang ich ihn so ebenfalls anzuhalten. Ein verwunderter Ausdruck trat auf sein Gesicht, als er sich mir zuwandte. „Hey, was tust du? Wir müssen hier weg!“

„Nein.“ Ich starrte ihn an. Versuchte möglichst bedrohlich und würdevoll auszusehen, doch die Tränen, die schon in meinen Augen brannten, ließen mich vermuten, dass wohl eher das Gegenteil der Fall war. „Nicht bevor du mir endlich sagst, was hier los ist!“ Er schüttelte den Kopf und verstärkte den Griff an meinem Arm. Ich stemmte mich mit allem was ich hatte dagegen. Obwohl er mich locker hätte mitziehen können, blieb er nach wenigen Schritten stehen und sah wieder zu mir. Ich kämpfte noch immer mit mir.

„Ich wurde gerade auf offener Straße von einer Gruppe bewaffneter, schwarz gekleideter Männer überfallen und durch die halbe Stadt gehetzt. Ich könnte jetzt genauso gut tot sein und habe keine Ahnung warum! Verdammt.“ Ich fühlte, dass die Tränen nun frei über meine Wangen liefen, wo sie sich mit dem Regen vermischten.

 

Der Druck an meiner Hand wurde kurz etwas kräftiger und der Junge legte seinen Kopf schief. Seine rötlichen Haare klebten nass an seiner leicht gebräunten Haut. In seinen blauen Augen glänzte etwas, was ich nicht lesen konnte.

„Hör zu. Ich erkläre dir alles später. Wir müssen verschwinden und zwar jetzt. Diesen Männern ist es egal, ob wir leben oder tot sind. Die sind nur hinter deinem Edelstein her und dabei machen sie vor nichts halt.“

 

„Meinem Edelstein?“ Meine Stimme klang erstickt. Nicht mehr als ein beinahe lautloses Flüstern. „Dann müssen wir … zur Polizei.“ Damian. Er konnte mir helfen. Er konnte mich vor den Männern verstecken. Die Polizei konnte das.

„Nein. Das geht nicht. Die können dir nicht helfen.“

„Ich muss zur Polizei! Sofort!“ Ich drehte plötzlich völlig durch. Versuchte meine Hand von seinem Griff zu befreien. Irgendwo hier musste doch eine Wache sein! Jemand, der mir helfen konnte! Irgendjemand!

„Nicht, hör auf! Glaub mir, die Polizei ist machtlos! Die haben absolut keine Ahnung! Ich weiß, wer dir helfen kann! Aber ich kann dich nur beschützen, wenn du endlich mit mir zusammenarbeitest anstatt gegen mich!“

Ich stockte und hörte auf mich zu wehren. Mein Geist war seltsam leer. Er schien meinen Gefühlsumschwung zu bemerken und ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er mich weiter in die Dunkelheit hineinzog.

 

Meinen Stein? Sie wollten meinen Segensstein? War es wirklich das? Waren all die Vorfälle, die mir in den letzten Tagen passiert waren, gar kein Zufall? Der Busunfall? Der Kleinbus gestern? Und das komische Gefühl, welches mich in meiner Wohnung beschlichen hatte? Hat dort etwa jemand … auf mich gewartet? Wären mir diese Männer im Wohnzimmer entgegengesprungen und hätten mich einfach umgebracht? Erschossen?

 

War ich zum Tode verurteilt?

 

Bilder drängten sich in meinen Kopf. Die lächelnde Familie im Fernsehen. Unschuldige Kinder neben ihren stolzen Eltern, die noch ein erfülltes Leben vor sich gehabt hatten.

Leere Augen, die stumm in den Himmel starrten. Rotes Blut, das sich über den schmutzigen Asphalt ergoss. Ein Feuer, das im Hintergrund heiß loderte.

Und ein Bild von mir mit weit aufgerissenen Augen, die nie wieder etwas sehen würden …

 

Ein erstickter Laut drang aus meiner Kehle und mein Körper versagte endgültig seinen Dienst. Ich spürte mich nicht mehr. Meine Beine waren verschwunden. Nicht mal den kalten, schlammigen Untergrund konnte ich spüren, als ich auf der Stelle zusammensackte. Eine Stimme versuchte von weit her zu mir vorzudringen, doch ich konnte sie kaum wahrnehmen.

 

Ich war tot. So gut wie tot. Aber warum?

 

Ach ja, ich war ja etwas Besonderes.

Flucht

Ich spürte, dass ich langsam aufwachte. Aus den Tiefen meiner Ohnmacht auftauchte. Und es war nicht so, wie in den Filmen. Keine schützende Dunkelheit, die mich alles vergessen ließ, nein. Nicht eine Sekunde hatte mich das eben Geschehene losgelassen. Ich wusste immer noch genau, was passiert war und das trieb mir wieder die Tränen in die Augen.
 

Ich kämpfte dagegen an. Unbewusst. Ich wollte nicht aufwachen. Zurück zu meinen Problemen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis mich diese Männer finden würden. Und diese panische Angst würde das Letzte sein, was ich fühlen würde.
 

„Du kannst dann endlich mal aufwachen und aufhören so zu tun, als wärst du immer noch ohnmächtig. Ich habe echt besseres vor, als dir beim Stöhnen zuzuhören.“

Die Stimme ließ mich zusammenzucken. Mir war nicht bewusst gewesen, dass noch jemand da war. Und schon gar nicht er.

Vorsichtig öffnete ich meine Lider und blinzelte ein paar Mal, bis sich meine schmerzenden Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Das Zimmer, in dem ich mich befand, war klein und schäbig. Die hässliche, uralte Blümchenmustertapete blätterte von der Wand ab und die Decke wies Spuren von jahrelanger Feuchtigkeit auf. Die Luft war abgestanden und muffig, genauso wie das klamme Bettzeug unter dem ich lag.

Ein alter, abgewetzter Holzschrank voller Kratzer stand mir gegenüber und daneben befand sich ein schmuddeliger Sessel, der irgendwann mal eine hellgrüne Farbe gehabt haben musste. Mein Blick fiel auf den Jungen, der sich darin merkwürdig verschränkt rekelte.

„Na also, geht doch“, ertönte seine Stimme, als ich meinen steifen Körper aufrichtete und die Beine über die Bettkante schwang. Alles an mir tat weh, wobei die Kopfschmerzen alles zu überlagern schienen. Und trotz der wenigen Kleidung, die ich trug – immer noch die knielange Hose und ein dünnes T-Shirt vom Vortag – war mir unendlich heiß. Die löchrigen Vorhänge vor den Fenstern konnten die Sommerhitze nicht aus dem Raum fernhalten.

„Hier drüben ist ein kleines Bad“, meinte der Rothaarige erneut und ich sah, wie er mit einer lässigen Handbewegung in Richtung einer kleinen Tür zeigte, die mir bisher gar nicht aufgefallen war. „Wir können nicht noch länger hier bleiben. Deine kleine Sterbender-Schwan-Nummer hat uns schon zu viel Zeit gekostet.“

Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, den er aber gekonnt ignorierte. Auch wenn alles in mir sich bereits irgendwelche scharfen Bemerkungen zurechtgelegt hatte, blieb ich ruhig und sagte kein Wort. Mir ein wenig Wasser ins Gesicht spritzen zu können klang in diesem Augenblick mehr als verlockend.
 

Mühsam erhob ich mich aus der viel zu weichen Matratze und spürte sofort, wie mich ein leichter Schwindel befiel. Schnell krallte ich meine Hände an den kleinen Nachttisch und war froh, dass er nicht unter meinem Gewicht nachgab, obwohl er lautstark knarzte.

Sobald das Zimmer aufgehört hatte sich zu drehen, umrundete ich das Bett und verschwand im Badezimmer, ohne einen weiteren Blick auf die im Sessel sitzende Person zu werfen.
 

Das Bad war ebenso alt und abgenutzt, wie der Rest des Zimmers. Die braunen Armaturen hatten mehrere Sprünge und Kratzer und wirklich sauber waren sie auch nicht. Die Dusche betrachtete ich nur mit einem angewiderten Blick, ehe ich den Wasserhahn am Waschbecken aufdrehte und mir mit einem erleichterten Stöhnen den Schweiß aus meinem Gesicht wusch. Das kalte Wasser kribbelte auf meiner Haut und schien mich völlig aus diesem Albtraum aufzuwecken. Wie hatte ich nachdem was gestern passiert war überhaupt schlafen können?

Doch als ich an das leere Gefühl in meinem Körper dachte, war mir klar, dass das kein richtiger Schlaf gewesen war. Ich war völlig weggetreten.
 

Vor mir, aus einem dreckigen und zerkratzten Spiegel, starrten mir zwei dunkelbraune Augen entgegen, die einen leichten Rotschimmer trugen. Umrandet von einer blassen Haut und rabenschwarzen Haaren. Doch das Braun, was sonst an dunkle Schokolade erinnerte, hatte sich in ein bleiches Abbild dieser Farbe verändert. Müde blickten mir meine eigenen Augen entgegen.

Schlammspritzer bedeckten meine Haut und die einst schneeweißen Verbände, hingen locker und dreckbeschmiert herab. Völlig nutzlos. Ich löste die Wollreste komplett von meinen Armen und Beinen und stopfte sie in dem kleinen Mülleimer neben dem Waschbecken, der damit seine Fassungsgrenze bereits erreicht hatte.

Das letzte, getrocknete Blut rann als gefärbtes Wasser meine Arme hinab, als ich sie vorsichtig abwusch. Zurück blieben nur einige Schorfreste und die große, noch immer mit Nähten zusammengehaltene, Wunde an meinem Unterarm. Ein leichtes Ziepen kroch durch meinen Körper, als ich sie ausspülte in der Hoffnung, dass keine Keime ihren Weg dorthin gefunden hatten.

Alles in allem machte das Mädchen im Spiegel keinen guten Eindruck.
 

Schnell spritze ich mir noch einmal etwas der kühlen Flüssigkeit ins Gesicht, schob meinen Haarreif zurecht und versuchte noch etwas von dem Schlamm zu entfernen, doch meine Kleidung sah schrecklich aus. Die Hose war schlammverkrustet und das T-Shirt war voller Flecken, die ich als Baumharz, Erde und sonstigen Schmutz identifizierte. Normalerweise würde ich mich so gar nicht vor die Tür trauen, doch ich befürchtete, dass mir keine andere Wahl blieb.

Ich wollte gerade das Badezimmer verlassen, als mich eine leise Stimme aufhorchen ließ und ich innehielt. Die Tür stand einen Spaltbreit offen – die Türklinke war kaputt, wie ich bemerkte – und ich hörte die Stimme des Jungen durch die Öffnung.

„Ja, sie ist endlich aufgewacht. Wir werden gleich wieder aufbrechen.“ Dann herrschte Stille, ehe er auf eine scheinbar nicht existente Frage antwortete. „Das dürfte sich als etwas schwieriger erweisen. So schnell lassen die Typen nicht locker. Hier gibt es echt was zu holen.“ Etwas zu holen? Meinte er etwa mich? Nein, nicht mich. Meinen Seelensstein. Meine Hand umklammerte ihn fester. „Wenn wir gut durchkommen, sollten wir heute Abend am vereinbarten Ort ankommen. Lasst ihn einfach da. Ich erledige den Rest.“

Ein leises Rascheln und die darauffolgende Stille signalisierte das Ende des Gesprächs. Doch erst, als ich hörte, wie er sich wieder auf den Sessel setzte, verließ ich das Badezimmer. Sein Blick wanderte direkt zu mir und ich tat es ihm gleich. Seine Augen waren dunkel und emotionslos. Ich konnte nicht erkennen, was er gerade dachte.
 

„Und, was haben wir jetzt vor?“ Endlich hatte ich meine Stimme wieder gefunden, auch wenn sie sehr klein und leise war.

„Wir machen jetzt einen kleinen Einkaufsbummel und essen gemütlich ein Eis.“ Seine Worte tropften regelrecht vor Sarkasmus. Ich schnaubte.

„Na schön, dass sich wenigstens einer amüsiert“, zischte ich ihn bedrohlich an, worauf ein Lächeln in seinen Mundwinkeln zuckte.

„Und bevor du auch noch damit anfängst, sollten wir lieber schleunigst von hier verschwinden.“ Er war bereits aus dem Sessel aufgesprungen und ging zur Tür, als ich ihn aufhielt.

„Würdest du mir auch verraten, was genau du mit mir vorhast? Woher soll ich wissen, dass ich dir wirklich vertrauen kann?“ Obwohl meine Knie zitterten, versuchte ich einen möglichst ruhigen Eindruck zu erwecken. Auch, wenn ich das Gefühl hatte, als würde er mir das sowieso nicht glauben.

„Wie du vielleicht schon gemerkt hast, ist eine Bande von Mördern hinter dir her, die es nur auf deinen Diamanten abgesehen hat. Und wahrscheinlich hattest du in den letzten Tagen auch mal deinen Fernseher an. Menschen sterben, fast täglich, und immer verschwinden ihre Segenssteine auf merkwürdige Weise und die Polizei ist völlig machtlos. Seit einem guten, halben Jahr ist diese Stadt das Zentrum der Diebstähle, die in über 90 Prozent der Fälle für die Bestohlenen tödlich ausgingen. Wenn du die nächsten Tage überleben willst, bleibt dir also nichts anderes übrig, als mir zu vertrauen, Kleine.“

Mein Mund war so trocken, als ob ich bereits seit Stunden eine große Wüste durchqueren würde. Ich schluckte, doch dadurch wurde das Kratzen in meiner Kehle nur noch schlimmer. Panik ergriff erneut von meinem Herz Besitz und ich überlegte fieberhaft, ob ich diesem Jungen wirklich trauen konnte. Einen Jungen, den ich nicht mal kannte. Es war möglich, dass er mir tatsächlich helfen wollte, aber ebenso gut könnte ich im nächsten Moment auch im nächsten Busch liegen. Mein Herz verkrampfte.
 

„Wie heißt du?“

Er sah mich fragend an. „Wie bitte?“

„Du hast mir noch nicht mal deinen Namen verraten. Wenn ich dir wirklich vertrauen soll, dann sag mir wenigstens, wie du heißt.“ Wieso wollte ich das eigentlich wissen? Glaubte ich wirklich, dass mir das etwas von der Angst nehmen konnte? Woher kam das starke Verlangen seinen Namen zu kennen?

„Na, wenn du meinst. Ich heiße Jaden. Und jetzt komm endlich.“
 

Schnell verließen wir das Zimmer und huschten durch den schmalen, dunklen Gang. Wir folgten dem dreckigen Teppich, der sich wie eine Schlange zwischen den Wänden entlang wand, bis wir eine kurze Treppe hinunter eilten, die in die Empfangshalle führte. Der älteren Frau mit den wasserstoffblonden Haaren hinter der Rezeption schenkten wir kaum Beachtung. Ich ging davon aus, dass Jaden das Zimmer schon bezahlt hatte, denn sonst hätte sie uns wahrscheinlich lautstark hinterher gebrüllt. Aber eigentlich konnte mir das auch egal sein. Mit wenigen Schritten hatten wir den kleinen Raum durchquert und Sekunden später umhüllte uns die sommerliche Hitze vor der Tür.
 

Nur wenige Autos befuhren die schmale Straße und auch die Bürgersteige waren so gut wie leer. Die ganze Gegend schien ein genaues Abbild des schäbigen Hotels zu sein, welches wir gerade verlassen hatten. Überall abblätternde Farbe, rissige Gebäude, Müll und hingeschmierte Graffiti.

Wo bitte war ich hier gelandet?

Ein Ruck an meinem Arm zog mich weg von der offenen Straße, zurück in die Schatten der Gassen. Gerade in dem Moment bemerkte ich eine schwarze Limousine, die auffällig langsam die Straße abfuhr. Ihre getönten Scheiben riefen grausige Erinnerungen an den Vorabend wach. Jaden drückte uns beide unsanft gegen eine der Hauswände, die zu unserem Glück eine weitere etwas überragte und so einen Vorsprung bildete. Die kalten Steine drückten unangenehm gegen meine nackte Haut, doch davon konnte ich mich in diesem Moment nicht stören lassen.

Der Rothaarige neben mir war extrem angespannt, als er vorsichtig in Richtung Straße sah. Seine Hand lag an meiner Hüfte und presste mich so noch fester an die Mauer. Sein Körper verdeckte meinen fast komplett. Trotz der Gefahr, in der wir gerade schwebten, spürte ich, wie mir peinlich berührt das Blut in das Gesicht schoss und meine Wangen brannten. Er war einfach viel zu nah! Wir warteten solange, bis der Wagen außer Sichtweite war. Sofort zog er mich weiter; tiefer in die Dunkelheit.
 

Etwas in mir schrie noch immer, dass ich dem Kerl nicht folgen, sondern den schnellsten Weg zur Polizei nehmen sollte, doch auf der anderen Seite hatte ich das Gefühl, als ob der Rothaarige recht hatte. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Diese schwarzen Männer. Die Limousine. Die Waffen. Es war genauso wie bei dem Busunfall neulich. Ich konnte es spüren, dass es da einen Zusammenhang gab.

„Darum warst du damals auch da, hab ich recht? Bei diesem Busunfall. Du wusstest, dass der Segensstein des Mannes gestohlen werden sollte, oder?“, sprach ich meine Gedanken laut aus. Als ich aufblickte, sah ich mich verwirrt um. Ich hatte überhaupt nicht darauf geachtet, wo wir langgegangen waren und war daher umso überraschter, dass der gepflasterte Boden plötzlich einem unebenen Untergrund wich und wir uns zwischen zahlreichen Bäumen hindurch schlängelten, deren ausgetrocknete Blätter schon wie im Spätherbst den Boden säumten. Nur noch wenige Einfamilienhäuser mischten sich unter die fast ländliche Gegend.

„Du solltest weniger wirres Zeug denken und dafür lieber schneller laufen.“ Sein kupferrotes Haar schob sich bei jedem Schritt träge über seine schwarze Lederjacke, die ebenfalls Spuren des nächtlichen Regens aufwies. Ich starrte auf seine muskulöse Statur, die meine bei weitem überragte. Er schien sehr sportlich zu sein. Oder er machte solche Verfolgungsjagten öfter. Vielleicht war das ein Hobby von ihm. „Ich hatte es vermutet, war am Ende aber zu spät. Mit so einer Aktion hatte ich wirklich nicht gerechnet“, fügte er plötzlich hinzu. Noch immer sah ich auf seine breiten Schultern und versuchte das Stechen in meiner Hüfte zu verdrängen. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet und ich war in diesem Moment sehr froh, dass Jaden sich von mir abgewandt hatte und voran lief. Es fühlte sich an, als hätte sich sämtliches Blut aus meinem Gesicht verzogen und ich begann trotz der Sommerhitze zu frieren.

Ich hatte mich also wirklich nicht getäuscht. Dieser Mann musste sterben, weil sie es auf seinen Edelstein abgesehen hatten. Und mein Name war der Nächste auf der Liste.
 

Die Bäume reihten sich immer dichter aneinander und ein kurzer Blick zurück verriet mir, dass wir die Stadt bereits weit hinter uns gelassen haben mussten. Die Wolkenkratzer, die sich nun vor den weißen Wolken am Himmel wie ein Gebirge abhoben, schienen mit jedem meiner Schritte weiter zu schrumpfen.

Wir flohen aus der Stadt? Weg von Summer Hills? Aber, wo wollte er denn hin? Hier draußen war nichts und niemand! Wir würden zwar nicht durstend in einer Wüste landen, weil es hier keine gab, aber der Gedanke schutzlos und hungernd im Wald zu sitzen, behagte mir gar nicht.
 

Doch gerade, als ich den Jungen darauf ansprechen wollte, blieb er so plötzlich stehen, dass ich ungebremst in ihn hinein lief. Ich stöhnte leise vor Schmerz und legte mir in meinem Kopf schon die richtigen, nicht besonders freundlichen Wörter zurecht, die ich ihm entgegenwerfen wollte, als mich ein Blick nach vorn wieder davon abbrachte. Wir waren durch die letzten Baumreihen gebrochen und befanden uns auf einer sternförmigen Lichtung. Die Sonne erhellte das frische Gras, das sich sanft im Takt des Windes wog. Einige bunte Farbklekse mischten sich unter das Grün und das Schlagen vieler, kleiner Flügel verschmolz mit dem Rascheln der Pflanzen. Es schien so, als ob dieser Fleck völlig unberührt von allem existierte. Es war ein wunderschöner Anblick.

Jaden ließ meinen Arm los und bewegte sich vorsichtig auf einen wirren Haufen aus Blättern und Ästen zu, der nur wenige Meter neben uns am Waldrand ruhte. Immer wieder starrte er wachsam in die umliegenden Bäume, als rechnete er jeden Moment mit einem Angriff. Etwas, was mich ganz nervös machte.

Als er den Haufen erreicht hatte, begann er schnell die – wie ich jetzt sehen konnte – losen und angetrockneten Äste wegzuziehen und sie unachtsam ins Gebüsch neben sich zu werfen. Mir stockte der Atem, als ein alter, schwarzer Pick-up zum Vorschein kam. So ein Modell, wie man es in den amerikanischen Spielfilmen immer sah. Das perfekte Fluchtfahrzeug.
 

Jaden brauchte nicht lange, um den Wagen auszugraben und schwang sich gleich hinter das Lenkrad. Das donnernde Dröhnen des Motors riss mich aus meiner Starre und ich lief schnell um den Pick-up herum, um mich mühsam auf der Beifahrerseite in das hohe Auto zu ziehen. Ich hatte mich noch gar nicht ganz hingesetzt, da steuerte der Rothaarige den Wagen bereits tiefer in den Wald hinein. Trotz der Geländetauglichkeit des Wagens spürten wir jede Unebenheit im Boden und ich beeilte mich meinen Gurt anzulegen.

Das bullige Gefährt peitschte sich durch das Unterholz und hinterließ eine breite Schneise der Verwüstung. Doch bald schon verfestigte sich der Boden unter uns und wurde zu einer Straße, die aus festgefahrener Erde bestand. Wahrscheinlich ein Forstweg oder so.
 

Ich drückte mich eng gegen den Sitz und zog meine Beine nah an meinen Oberkörper heran. Mit jeder Minute entfernte sich die Stadt mehr und mehr in den Rückspiegeln und Tränen brannten in meinen Augen, die ich zu unterdrücken versuchte. Meine kleine Umhängetasche drückte unangenehm in meine Magenkuhle, doch das war mir in diesem Moment total egal. Ich war gerade dabei alles zu verlieren, was mir in meinem Leben etwas bedeutet hatte.

Wie hatte es nur soweit kommen können? Warum ich? Ich wollte doch nichts weiter als glücklich mit meinem Freund zusammen leben! Selbständig sein. Gute Freundinnen haben, mit denen ich etwas unternehmen und lachen konnte. Ein Job, der mir Spaß macht! Das war alles, was ich je wollte.
 

Und jetzt bekam ich das genaue Gegenteil. Mein Leben zersplitterte gerade in tausend kleine Teile und ich spürte mit einer entsetzlichen Gewissheit, dass ich es nie wieder zusammensetzen konnte.

Vielleicht … ja, vielleicht sollte ich denen einfach den Stein geben. Vielleicht konnte das mein Leben retten. Mein Leben wieder normal werden lassen.

„Daran solltest du nicht mal denken.“ Seine Stimme holte mich zurück und ich spürte, wie sein Blick auf meinem Gesicht lag. Doch genauso wurde mir in diesem Moment bewusst, dass heiße Tränen über meine Wangen kullerten. Beschämt wischte ich mit einer Hand über die Augen, ehe ich mich wieder wie ein kleines Kind auf dem Beifahrersitz zusammenrollte.

„Woran soll ich nicht denken?“, fragte ich möglichst unschuldig und wandte meinen Kopf, damit ich aus dem Fenster sehen konnte. Noch immer zogen Bäume rasend schnell an uns vorbei.

„Ich weiß genau, was du dir gerade überlegt hast. Du warst nicht die Erste mit der Idee, glaub mir. Das würde dir nicht helfen. Auch wenn viele Menschen es leugnen, dieser Stein ist ein Teil von uns. Ein sehr wichtiger.“ Der hatte gut reden.

„Ach wirklich? Ich habe gar nicht gesehen, dass du deinen Segensstein trägst.“
 

Ich wagte es nicht ihn direkt anzusehen, doch ich konnte deutlich spüren, wie sich die Stimmung im Wagen schlagartig veränderte. Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken und ich wusste, dass das nichts mit der Klimaanlage zu tun hatte, die Jaden eben eingeschaltet hatte.

Eine unheimliche Stille legte sich über uns und ich befürchtete, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. War er jetzt sauer? Ich konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass sich seine Hände wie Fäuste um das Lenkrad krallten, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Ich hatte wohl irgendetwas gesagt, was ich nicht hätte sagen sollen. War sein Stein auch gestohlen worden? Seit ich ihn kannte hatte ich den Edelstein noch nicht bei ihm entdecken können. Vielleicht hatte er etwas Ähnliches durchgemacht wie ich.

Eine kleine Welle von Mitleid brandete in mir auf, doch ich wusste nicht, woher sie kam. Das waren doch alles nur Vermutungen. Und trotzdem war diese ganze Sache mehr als merkwürdig.
 

Ein abruptes Lenkmanöver brachte mich wieder dazu auf die Straße zu achten. Tatsächlich hatte Jaden einen Weg gefunden, der noch hügeliger war, als der eben. Eigentlich hatte das mit einer „Straße“ nichts mehr gemein. Trampelpfad traf es wohl eher. Trotzdem bildete ich mir ein zwischen all der Erde und dem Unkraut so etwas wie Asphalt zu erkennen.

Wir holperten über unzählige Erdhügel, bis sich plötzlich etwas zwischen den Bäumen erhob. Gebannt starrte ich auf die Felsformation, die eine Schneise in den Wald schlug. Es schien eine Art Gebirge zu sein, von dem ich bisher gar nichts gewusst hatte. Auch, wenn die meisten Hügel die Wolkenkratzer der Stadt bei weitem nicht übertrafen, hatten die massiven Steinwände doch etwas Beeindruckendes.

Jaden stoppte den Wagen, als wir vor einem ziemlich alt aussehendem Metallzaun standen. Ein verblichenes Schild hing lose an dem verrosteten Maschendraht.

„LEWOIS Mineralienbergwerk“, prangte in Großbuchstaben darauf und die kleine Warnung darunter „Betreten verboten“ sollte Unbefugte von dem Gelände fernhalten. Doch so wie es aussah, war schon lange niemand mehr hier gewesen. Überall wucherte Unkraut und die Natur hatte sich bereits große Teile der Anlage zurückerobert. Selbst ein paar Bäume hatten bereits den asphaltierten Hof an einigen Stellen aufgebrochen.
 

Während ich mich noch umsah, schwang das Tor plötzlich wie von Geisterhand auf. Die schwere Eisenkette mit dem Schloss daran war verschwunden und das Auto konnte ohne Probleme passieren. Jaden nutzte die Gelegenheit und manövrierte den Pick-up auf das Bergwerksgelände.

Zielsicher steuerte er in Richtung einer großen Fabrikhalle, deren Metalltor bereits halb aus seinen Angeln gesprungen war und den Eindruck erweckte, als würde es jeden Moment herabfallen. Dunkelheit verschluckte uns, als wir in das Gebäude fuhren und nur die Scheinwerfer ein gespenstisches Licht warfen. Ich erkannte dutzende Kisten, Spinde und alte Bergwerksgeräte, die überall verstreut lagen.

Jaden stoppte den Wagen und die Lichter verschwanden, als der Motor verstummte. Nur kurz flackerte die Innenraumbeleuchtung des Wagens auf, als der Rothaarige die Tür öffnete und in die Schwärze verschwand. Mit zitternden Knien tat ich es ihm gleich. Dunkelheit umfing mich und nur wenige Lichtstrahlen drangen durch die löchrige Decke und die verdreckten und gesprungenen Fenster.

Doch als sich meine Augen an die Umgebung gewöhnt hatten, konnte ich sogar einige Umrisse ausmachen. Eine Gestalt – ich vermutete, dass das Jaden war – bewegte sich an mir vorbei zu dem Tor, aus dem wir eben gekommen waren. So schnell ich ohne über etwas zu stolpern konnte, ging ich ihm hinterher, bis wir wieder ins Freie traten.

Einige Wolken hatten sich gebildet und verdeckten nun zeitweise die Sonne. Dennoch war es unerträglich heiß. Im Wagen und in der Halle war mir die Temperatur wesentlich angenehmer vorgekommen.
 

Ich spürte, wie sein Blick kurz auf mir lag, ehe er in Richtung des Gebirges ging.

„Komm.“

Stumm folgte ich ihm und ließ die alte Bergwerksruine nicht aus den Augen. Es war richtig unheimlich hier. Immer wieder bildete ich mir ein aus den Augenwinkeln etwas an mir vorbeihuschen zu sehen, was mir eine Gänsehaut auf die Arme zauberte. Waren das Tiere? Oder waren wir hier nicht allein?
 

Jaden führte mich in den alten Schacht eines Stollens, der gut versteckt am hinteren Ende eines großen Stahlgerippes lag. Wieder begrüßte uns Dunkelheit und ich tastete mich an den Steinwänden entlang, um nicht hinzufallen oder mir den Kopf zu stoßen. Es war ungewöhnlich leise hier zwischen den Felsen. Die einzigen Geräusche, die in der Luft lagen, waren unsere Schritte und das gelegentliche Rascheln unserer Kleidung.

Und genau aus diesem Grund fiel es mir auch deutlich auf, als plötzlich nur noch ich mich bewegte.

„Jetzt komm schon. Trödel nicht so.“ Er klang genervt und trotz dessen, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, konnte ich fast fühlen, wie er seine Augen verdrehte.

„Würde ich ja gerne, wenn ich wenigstens meine Hand vor Augen sehen könnte“, zischte ich ihm entgegen und grummelte in mich hinein. Die Angst, die tief in meinem Kopf saß, half mir nicht sonderlich einfach drauf los zu rennen, ohne zu wissen, wohin es gehen würde.

Ein belustigter Laut ertönte direkt vor mir und ich zuckte zurück, als sich etwas um mein Handgelenk schloss und mich ruckartig vorwärts zog.
 

Auch wenn ich immer noch Angst hatte irgendwo gegen zu laufen, beeilten sich meine Füße ganz von allein vorwärts zu kommen. Ich wusste ja, dass wenn ich auf irgendetwas zusteuern würde, Jaden zuerst dagegen laufen würde, was ein wenig Schadenfreude in mir aufkeimen ließ.

Doch bevor etwas in diese Richtung passieren konnte, bogen wir nach rechts in einen beleuchteten Gang ein. Fackeln säumten in einigen Metern Abstand die nackten Felswände, sodass sie gerade so den gesamten Weg beleuchteten. Kleine Wassertropfen hatten sich an den Felsen gebildet und tropften nun rhythmisch in die bereits am Boden entstandenen Pfützen. Bunte Farben zogen sich durch das Gestein und einige Stellen glitzerten im Licht der Flammen wie kleine Sterne.
 

„Du hast sie also hierher gebracht.“ Eine dunkle Stimme ertönte hinter mir und aus Schreck verlor ich beinahe das Gleichgewicht. Mit wild pochendem Herzen drehte ich mich blitzschnell um und plötzlich hatte ich das Gefühl vor einer Wand zu stehen, die eben noch nicht dagewesen sein konnte. Mein Gehirn brauchte einige Millisekunden ehe es begriff, dass das keine Felswand sondern die breiten Schultern eines Mannes war.

Ich wandte meinen Kopf nach oben, bis sich unsere Blicke trafen. Seine dunklen Augen waren eiskalt. Etwas lag in seinem Blick, dass mir eine riesige Angst einjagte. Ich wollte schreien, doch kein Ton kam über meine Lippen.

„Ich hatte keine andere Wahl. Sie hätte keinen Tag mehr überlebt.“ Ich wollte weg. Weg von dem Mann. Doch meine Füße rührten sich nicht vom Fleck. Sein kantiges, vernarbtes Gesicht und seine Glatze schreckten mich ab. Er machte mir Angst. Aber selbst wenn mich meine Beine tragen würden, wo sollte ich auch hin?

„Wenn du das sagst, Jaden. Du weißt, dass ich deinem Urteil vertraue.“ Er wandte seinen Blick kurz von mir, nur um mich dann wieder anzustarren. „Bring sie gleich mal zum Doc. Wollen wir doch mal sehen, was uns da schönes ins Netz gegangen ist.“

Seelenlos

Das gleißende Licht blendete noch immer meine Augen. Auch nach der halben Stunde, die wir schon hier sein mussten. Nach der Dunkelheit, durch die wir uns lange bewegt hatten, war dieses grelle Licht richtig unangenehm. Und mein noch immer wild schlagendes Herz machte das Ganze nicht besser.

 

„So, das hätten wir.“ Die Stimme des Doktors erklang neben mir, als er sich von seinem quietschenden Stuhl aufrichtete und die weiße Box – in der sich das Verbandszeug befand – zurück in einen alten Medizinschrank stellte.

Als er sich wieder lächelnd mir zuwandte, nickte ich ihm kurz zu und betrachtete die Frischen Bandagen und Pflaster an meinen Armen und Beinen.

„Danke“, meinte ich leise und rutschte unruhig auf dem kleinen Krankenbett hin und her. Jaden war gleich, nachdem sie mich hier in die Krankenstation – wie sie es nannten – gebracht hatten, mit dem furchteinflößenden Typ verschwunden. Sie meinten nur, ich solle hier warten.

Ein grauhaariger Mann hatte mich gleich beim Betreten des Raumes in Empfang genommen und meine Wunden versorgt. Er war wirklich nett. Etwas an ihm erinnerte mich an meinen verstorbenen Großvater, was mir bei jedem Blick auf ihn wieder bewusst wurde. Und mir ehrlich gesagt auch ein wenig unheimlich war.

„Mach dir keine Sorgen, Amelina. Hier bei uns bist du sicher. Diese schwarzen Männer können dich hier nicht finden, das verspreche ich dir!“ Doktor Martens, den alle wohl nur Doc oder Mat nannten, hatte sich wieder auf den Stuhl vor mir gesetzt und sah mich aus seinen dunkelgrünen Augen an. Einige graue Haarsträhnen hingen ihm verschwitzt im Gesicht. In seinem Blick lag etwas Mitfühlendes, doch mein Kopf weigerte sich, sich darauf einzulassen.

Ich rückte soweit auf dem Bett nach hinten, dass ich gegen die Betonwand stieß und zog meine Beine dicht an meinen Oberkörper heran, um sie anschließend mit meinen Armen an mich zu drücken. Meine schwarzen Haare schoben sich schwer über meine Schultern.

„Aber ich will das hier doch gar nicht! Ich will zurück nach Hause! Meine Eltern, meine Freunde … Sie machen sich doch Sorgen um mich!“ Meine Stimme war so leise, dass ich sie selbst kaum hören konnte. Ein dicker Kloß blockierte meinen Hals, als ich daran dachte, wie meine Mutter bei mir anrief und ich nicht ans Telefon ging. Sie würde sich riesige Sorgen machen! Und nach spätestens einem Tag würde sie vor meiner Tür stehen, in der Annahme, mir wäre sonst was passiert!

„Das kann ich sehr gut verstehen, aber du musst einsehen, dass es richtig war, was du getan hast! Du könntest sonst jetzt tot sein. Weißt du …“

 

Ich hörte kaum auf seine Worte, die wie ein Buch aus ihm heraussprudelten. Wollte sie auch gar nicht hören. Mir war es in dem Moment völlig egal, was richtig oder falsch war. Wieso war ich überhaupt mit Jaden mitgegangen? Warum hatte ich das getan? Wieso bin ich nicht sonst wo hin geflüchtet? Die Frau am Rezeptionstresen des Hotels hätte bestimmt die Polizei rufen können, wenn ich dort einen Aufstand gemacht hätte.

Wenn ich meiner Familie doch bloß alles erzählen könnte …

 

Der Gedanke erschreckte mich. Wie ein schwerer Stein, der die Wasseroberfläche eines Sees durchbrach, kam mir plötzlich diese Idee. Warum hatte ich nicht schon früher daran gedacht?

So schnell, dass einige meiner Gelenke knackten, entrollte ich mich aus meiner starren Position und warf mich auf die rechte Seite des Bettes. Dort, auf dem kleinen, metallischen Beistelltisch stand meine schwarze Tasche. Die, die ich überall mit hinnahm. Die, in der ich alles Wichtige aufbewahrte.

Ich griff mir den dreckigen Stoff und zog sie zu mir auf das Bett. Mit einer schnellen Bewegung zog ich den Reißverschluss auf und wühlte einige Sekunden im Inneren herum, bis der flache Gegenstand über meine Finger streifte.

Beinahe schon abgrundtief erleichtert griff ich nach dem Gerät und nahm es in beide Hände. Wie die Tasche von meinen Beinen herunterfiel, bemerkte ich gar nicht. In diesem Augenblick zählte nur dieser eine Gedanke in meinem Kopf: Ich konnte sie anrufen! Ihnen alles erklären! Meine Eltern wussten bestimmt einen Ausweg!

 

Ich nahm nur dumpf wahr, wie der Doktor protestierte, als er meine Absicht erkannt hatte. Routiniert streiften meine Finger über das Touchscreen, bis sie endlich den gewünschten Telefonbucheintrag gefunden hatten und ich nur noch kurz davor war, die Anrufen-Taste zu drücken. Viel Empfang hatte ich hier mitten im Berg natürlich nicht, aber sie schienen irgendwas angestellt zu haben, das es trotzdem ging. Doch es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis dieser Traum wieder zerplatze.

Es war, als ob man mir alle Hoffnung, alles Leben mit einem Schlag aus dem Körper gesaugt hätte. Verzweifelt versuchte ich noch das Handy wieder an mich zu bringen, doch Jaden hatte den Raum bereits wieder durchquert. Das Telefon ruhte schwarz in seiner Hand.

„Andrè wird sich darum kümmern. Wir können kein Risiko eingehen.“ Obwohl er die Worte zu dem Narbentypen in die entgegengesetzte Richtung sprach, konnte ich jedes Wort verstehen. Sofort beschlich mich ein ungutes Gefühl …

„Was meinst du mit „sich darum kümmern“? Das ist mein Handy! Gib mir das wieder!“, zischte ich dem Rothaarigen entgegen und ignorierte die Blicke der beiden anderen Männer. Jadens eisblaue Augen starrten mich dunkel an.

„Dein Telefon kann geortet werden und dass würde alle hier Anwesenden in Gefahr bringen. Geheime Verstecke sind nur gut, solange sie auch geheim sind.“ Der Glatzköpfige grinste, was seine kantigen Gesichtszüge merkwürdig verzerrte.

„Freundlich wie eh und je, Jaden.“

„McSullen!“ Jetzt mischte sich auch der Doc ein und der seltsame Mann reagierte. „Das Mädchen hat keine Ahnung, was hier überhaupt vor sich geht! Könntet ihr beiden endlich aufhören mit eurem Machogehabe alles noch schlimmer zu machen? Sie ist schon so fertig genug!“

 

Der Raum wurde plötzlich ganz still und ich sah gebannt von einem zum anderen. Ein intensives Gefühl von Sympathie keimte in mir auf, als mein Blick auf dem Grauhaarigen verharrte. Der Doktor schien tatsächlich zu verstehen, was ich fühlte. Es gab also jemanden, der sich dafür interessierte, wie es mir ging.

Doch die Augen des Mannes, der anscheinend McSullen hieß, waren unnatürlich dunkel und hart, was die Anspannung trotz allem in mir nur noch mehr schürte.

„Ist ja schon gut, Doc. Spring mir nicht gleich ans Leder.“ Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „Jaden. Geh und kümmere dich um das Telefon. Danach triff dich gleich mit der Crew.“ Der Rothaarige nickte und verschwand ohne einen weiteren Blick auf mich durch die Tür. Zusammen mit meinem Telefon. Panik erfasste mich erneut.

„Nein! Gebt mir mein Handy zurück! Ich muss doch meinen Eltern Bescheid geben, wo ich bin! Meine Mutter wird sich riesige Sorgen machen! Und Mary-Sae, Talamarleen und die anderen! Ich kann doch nicht einfach verschwinden!“ Mein Atem ging stoßweise. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ungeschickt versuchte ich meine Wackelpudding-Beine von der Bettkante zu schieben, doch ich hatte kaum Gefühl darin. Mein ganzer Körper zitterte und kein Muskel gehorchte mir.

„Amelina, Amelina! Hör mir zu! Es ist alles in Ordnung! Beruhige dich! Die Männer werden dich umbringen, wenn du ihnen in die Arme läufst! Du musst unbedingt hier bleiben! Hier bist du sicher! Aber du kannst deiner Familie und deinen Freunden nicht Bescheid sagen. Du könntest auch sie in Gefahr bringen!“

 

Etwas in mir zerbrach in diesem Moment. Das Zittern stoppte. Die Panik verschwand und wich einer tauben Leere. Mein Körper erschlaffte. Die Bilder des Unfalls kamen zurück. Dieser weiße Kleinlaster … Sie hatten es auf mich abgesehen. Doch sie nahmen auch in Kauf, dass meine Freunde verletzt werden. Oder sogar Schlimmeres. Und es wäre meine Schuld gewesen. Mama, Papa, meine Freunde …

Meine Hand wanderte zu meiner Brust. Dort, wo er versteckt hinter meinem Oberteil ruhte. So schwer, als würde er mich auf den Boden drücken wollen.

„Ich will diesen blöden Stein nicht mehr.“ Die Worte waren kaum zu hören und doch wusste ich, dass der Doktor sie gehört haben musste, denn eine Hand lag plötzlich schwer auf meiner Schulter. „Sollen sie ihn doch haben! Ist mir doch egal. Ich will einfach nur … nach Hause.“

 

Sie brannten auf meinen Wangen. Heiß und nass. Ich schloss die Augen. Zog meine Beine heran. Rollte mich zusammen.

Etwas in mir war zerbrochen. Nein. I c h war zerbrochen. Angst war das vorherrschende Gefühl. Und vor allem fühlte ich mich … hilflos. Ich stand einer Mauer gegenüber, die ich einfach nicht überwinden konnte. Es gab keinen Weg dran vorbei. Doch genauso wenig konnte ich zurückgehen. Etwas zog mich unbarmherzig vorwärts.

Und ich wusste auch, was es war. Die Zeit. Sie blieb nicht stehen. Das Leben drängte mich weiter. Immer weiter weg von dem Weg, den ich bis vor ein paar Tagen noch gegangen war. Raus aus dem Licht; hinein in die Dunkelheit voller Schmerz und Angst.

 

Das konnte doch alles nur ein schlechter Scherz sein.

 

„Amelina? Kannst du mich hören?“ Ich schreckte auf, als das Gesicht des Doktors nur wenige Zentimeter vor meinem auftauchte. Erst in diesem Moment begriff ich, dass ich ausgestreckt auf dem Bett gelegen haben musste. Ich war völlig verwirrt. „Du hattest eine Panikattacke, aber jetzt ist alles wieder gut.“ Panik?

Ich richtete meinen Oberkörper auf und ein stechender Schmerz schoss durch meinen Kopf. Kurz kniff ich lufteinziehend die Augen zusammen, ehe das Stechen wieder abklang.

Der Raum war leer. Nur der Doktor und ich waren anwesend. Wann war McSullen denn gegangen? Wie lange war ich … weggetreten?

„Was ist …?“, fing ich an, brach aber ab, als eine neue Welle Kopfschmerzen über mich hereinbrach. Nur wenige Momente später tauchten ein Glas Wasser und eine Tablette vor meinen Augen auf, was ich dankend annahm.

„Den alten Grießgram habe ich vertrieben und der Kleine, Arrogante ist noch nicht wieder aufgetaucht.“ Ich musste schmunzeln, als ich anhand der Umschreibung McSullen und Jaden wiedererkannte. "Die quatschen viel, wenn der Tag lang ist. Sie mögen zwar gute Anführer sein, aber von Freundlichkeit haben die beiden wirklich noch nicht viel gehört. Kommt wohl davon, wenn man sich über zwei Jahre lang gegenseitig auf die Nerven geht." Das ließ mich aufhorchen.

„Zwei Jahre?“

„Es dürften mittlerweile Zweieinhalb sein, wenn mich mein altes Hirn nicht im Stich lässt. Die beiden haben ganz schön Leben in die Bude gebracht, kann ich dir sagen. Erst seit ihrer Ankunft hier bei uns, konnten wir überhaupt etwas erreichen.“ Ich massierte mir mit den Fingen meine Schläfen und wartete darauf, dass die Tablette endlich ihre Wirkung entfaltete.

„Erreichen? Was wollt ihr denn erreichen? Was war das hier für ein Ort?“ Der Stuhl knackte, als der Doktor sich gegen die Lehne sacken ließ.

„Stimmt, du weißt gar nicht, was dir alles widerfahren ist. Ich kann dir eine kurze Einweisung geben, aber wir haben nicht viel Zeit, darum hör gut zu. Hier, in diesem bereits vor etlichen Jahren verlassenen Bergwerk, haben wir Unterschlupf gefunden. „Wir“ sind eine Gruppe von Menschen – so um die 30 -, die alle dasselbe Problem haben wie du, Amelina. Wir alle wurden wegen unserer Seelensteine gejagt.“ Als Stoff raschelte, blickte ich auf und sah gerade noch, wie der ältere Mann ein großes Skalpell aus seiner Kitteltasche zog. Während die Klinge durch eine transparente Plastikhülle geschützt wurde, prangte ein kleiner, trapezförmiger Stein im Metall des Stils. Er schimmerte, je nach Lichteinfall, in einem dunklen Grün, das bis ins Braun reichte. „Das ist ein bräunlichgrüner Edpidot. So, wie ich ihn hier in der Hand halte, ist er gute 1500 Euro wert. Das ist zwar bei Weitem nicht das Außergewöhnlichste, was es da draußen gibt, aber die Männer sind nicht wählerisch, wenn es um Geldbeschaffung geht. Außerdem sind so kleine, weniger wertvolle Edelsteine leichter zu verkaufen.“ Ein trauriges Lächeln huschte über seine blassen Lippen, als sein Blick auf dem Stein lag. „Natürlich war ich nicht das Ziel Nummer eins und nach ihrem gescheiterten Angriff haben sie mich wahrscheinlich längst wieder vergessen, aber als ich Hilfe brauchte, habe ich sie hier gefunden. Und irgendwie bin ich dann geblieben.“ Er nickte kurz. „Denn hier kann ich helfen.“

 

Er wandte seinen Blick von dem Segensstein und sah mir direkt ins Gesicht. Er schien etwas darin zu suchen und es anscheinend auch zu finden.

„Aber du musst dir keine Sorgen machen, Amelina. Hier werden die Männer dich nicht finden. Jeder glaubt, dass dieses Gelände nach einem schlimmen Chemieunfall vor gut 30 Jahren lebensgefährlich verseucht sei.“ Ich schreckte zurück. Verseucht? Doch der Doc lachte nur. „Glaub mir, wir wissen es besser! Es gibt hier nichts, was uns schaden kann! Sonst wären wir natürlich nie hierhergekommen!“ Ich nickte hölzern und irgendwie nicht ganz so überzeugt. Er lächelte. „So, es wird Zeit“, meinte er nach einem Blick auf seine Armbanduhr. „Ein guter Freund wartet auf dich.“

Er erhob sich von seinem Stuhl und streckte mir eine helfende Hand entgegen. Ein bisschen wackelig war ich noch auf den Beinen, aber zumindest die Tablette schien mittlerweile zu helfen. Auch mein wilder Herzschlag hatte sich soweit beruhigt, dass ich wieder richtig atmen konnte.

„Wie fühlst du dich?“

„Ich … Es geht mir gut“, antwortete ich knapp, da mein Hals sehr kratzte.

„Das freut mich“, lächelte der Doc und begleitete mich langsam zur Tür, vor deren Schwelle uns gewohnte Dunkelheit empfing. „Überanstreng dich die nächste Zeit nicht. Du brauchst dringend noch etwas Ruhe.“ Ich nickte. „Komm, ich bring dich noch schnell dahin, damit du dich hier in diesem Irrgarten nicht verläufst. Und Amelina“, fügte er noch mit einer Ernsthaftigkeit in seiner Stimme hinzu, die mich erschaudern ließ, „Auch wenn du es gerade nicht recht glauben kannst, wir werden dir helfen, das verspreche ich dir.“

 

+++++

 

Der Raum wirkte ungewöhnlich freundlich für eine steinerne Kammer, die tief in einen Berg gehauen war. Bunte Bilder von Landschaften säumten die geraden Wände. Seen, Berge, Wälder und Blumenwiesen verliehen dem Zimmer einen Eindruck von Freiheit und Sorglosigkeit. Auch einige schön drapierte Stoffvorhänge zierten die Wände, was die kalten Mauern beinahe verdeckte.

Ein hölzernes Regal ruhte an der gegenüberliegenden Wand, das von einer schweren Last aus Büchern auf den Boden gedrückt wurde. Mehrere kleine Teppiche füllten den Großteil des Raumes aus und zauberten bunte Flecken in das Grau. Außerdem befanden sich noch eine Sitzecke, bestehend aus zwei sesselähnlichen Stühlen und einem kleinen Glastisch, sowie ein Schreibtisch samt Bürostuhl in dem Zimmer. Eine kleine Glühbirne, die von einer Papierlampe umgeben war, baumelte friedlich von der Decke.

Für einen Moment vergaß ich wirklich, wo ich mich gerade befand. Es war unglaublich, dass so etwas in einem alten Bergwerk existierte.

 

„Du musst Amelina sein, hab ich recht?“ Erschrocken wandte ich den Kopf zum Schreibtisch und bemerkte jetzt erst den Mann, der mir von dort aus entgegen sah. Seine dicken, schwarzen Haare umrahmten ein jung wirkendes Gesicht, in dem Augen in der Farbe von Milchschokolade mir entgegen blickten. Eine verwaschene Jeans und ein kurzärmeliges Hemd verstärkten den Eindruck nur.

Ich besann mich auf die Frage und nickte zur Antwort. Der Schreibtischstuhl knatschte, als er sich erhob und mir die Hand entgegenstreckte. Höflich erwiderte ich den Händedruck.

„Freut mich sehr, dich kennen zu lernen. Mein Name ist Colin Ambush. Aber nenn mich doch bitte Colin. Das Siezen macht mich so alt. Ich bin ein anerkannter Wissenschaftler, der sich mit Segenssteinen beschäftigt.“ Er lachte. „Zumindest habe ich das, als ich noch da oben war“, grinste er und deutete mit seinem Finger Richtung Decke. „Komm, setz dich.“ Ich folgte seiner Einladung und ließ mich dankbar auf einem der Stühle nieder. Wie aus dem Nichts zauberte er plötzlich einen Teller voller Kekse und eine frische Kanne Tee hervor und stellte sie zwischen uns auf den Glastisch.

Der fruchtige Duft von verschiedensten Beeren erfüllte den Raum und kleine Dampfschwaden stiegen aus der Tasse auf. Beherzt griff ich mir ein paar Kekse und ließ mich tiefer in das Polster des Stuhls sinken.

 

„Leider kann ich dir nicht mehr bieten, als ein paar trockene, pappige Kekse. Der Supermarkt befindet sich blöderweise nicht gerade um die Ecke.“ Ich verschluckte mich beinahe an dem Keks und würgte ihn etwas unbeholfen herunter.

„Ah. Nein, danke. Kekse sind wirklich gut“, sagte ich schnell und griff nach der Tasse Tee, um den Hustenanfall im Keim zu ersticken. Wieder ein Lächeln. Doch diesmal mischte sich etwas anderes in seine Augen.

„Würdest du ihn mir mal zeigen? Deinen Segensstein?“ Die Fragen waren gut durchdacht und vorsichtig ausgesprochen. Er hatte also schon von meinem … kleinen Ausraster gehört. Ohne ihm zu antworten legte ich den letzten Keks in meiner Hand in den Mund und zog an der silbernen Kette, bis das Herz samt Stein aus meinem Oberteil glitt. Ich öffnete den Verschluss und hielt ihm das glänzende Stück Metall entgegen. Ehrfürchtig öffnete er seine Handfläche, sodass ich ihm den Stein darauflegen konnte.

Es war ganz still. Neugierig, und auch ein wenig beunruhigt, beobachtete ich seine Reaktion, als er mit seinen Fingern über den tropfenförmigen Diamanten strich. Sein Gesicht zeigte lediglich Interesse, doch ich hatte das Gefühl, als hätte sein Körper sich ein wenig angespannt.

 

„Ein wirklich schöner und außergewöhnlicher Edelstein“, durchbrach er nach einigen Minuten des Schweigens die Stille. „Einen so feuerroten Diamanten habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Wirklich außergewöhnlich.“ Ich nahm mir einen neuen Keks und knabberte nervös daran herum. Colin zauberte eine kleine Edelsteinlupe hervor, die mich mit ihrem ausgeklappten Flügel stark an ein Fernglas erinnerte. „Absolut rein. In diesem Zustand wahrscheinlich mehrere Millionen Euro wert“, meinte er, als er sein Auge an das kleine Glas presste und ich schluckte hart, als er diese immense Summe nannte. Immer wieder drehte und wendete er meinen Stein und hielt ihn jedes Mal anders gegen das Licht, um eine neue Fassette an ihm zu entdecken.

Ich empfand diese Art des Starren als ziemlich unwohl, fast so, als würde es mir gelten und nicht dem Stein. Als würde er durch den Stein in mich hinein sehen.

 

Mein Körper spannte sich von Sekunde zu Sekunde mehr an, bis ich das Schweigen zwischen uns nicht mehr aushielt.

„Und, was sagst du? Ist dir irgendwas … Merkwürdiges daran aufgefallen?“ Ich bereute meine Worte, schon in diesem Moment, als sie meinen Mund verließen, doch ich wusste, dass es bereits zu spät war. Ich hatte seine Aufmerksamkeit geweckt.

Colin ließ seine Hände sinken und sah mich an. Plötzlich galt das Starren also tatsächlich mir. Ein helles Geräusch ertönte, als er die Lupe auf den Tisch vor sich legte und mir meine Kette in die Hand legte. Ganz behutsam. Beinahe so, als könnte die kleinste Erschütterung den Gegenstand zerstören. Ich rutschte tiefer in das Polster und ließ meinen Seelenstein nicht mehr aus den Augen.

„Was meinst du mit „merkwürdig“?“ Mein Magen verkrampfte. Manchmal hasste ich es, wenn die Leute auch zwischen den Zeilen lesen konnten.

„Na ja …“, meinte ich leise und knetete nervös meine Finger. Jetzt war es sowieso zu spät. „Mich haben alle immer für etwas … Besonderes gehalten. Wegen des Steines. Aber … Er hat mir nur Pech gebracht. Diese ganze Sache hier! Und … Und … Einen Freund habe ich auch noch nicht.“ Ich fragte mich selber, ob die letzten Worte überhaupt hörbar gewesen waren. Es hatte sich angefühlt, als wären sie nur heiße Luft gewesen.

 

Eine Weile blieb es still. Mein Blick lag weiterhin auf meinem roten Diamanten, sodass ich keine Ahnung hatte, was in dem Wissenschaftler vorging. Jedenfalls wurde mir in diesem Moment bewusst, dass ich mir solche Menschen immer anders vorgestellt hatte. Wissenschaftler waren für mich verrückte, alte Typen in weißen Kitteln und mit einer Frisur, als hätten sie gerade in mehrere Steckdosen gleichzeitig gefasst. Immer aufgedreht und am wirren Zeug reden.

Warum war er dann also so … ruhig?

„Amelina.“ Ich zuckte zusammen, als mein Name ertönte. „Lass mich dir ein bisschen was über Segenssteine erzählen, ja?“ Er wartete auf eine Antwort. Ich nickte kurz.

„Jeder Mensch wird mit einem Edelstein in der linken Hand geboren. Der Hand, die nah am Herzen liegt. Dafür, dass Segenssteine, oder auch oft Seelenssteine genannt, unser Leben bestimmen, wissen wir sehr wenig über sie. Wir kennen weder den Grund für ihre Art, die Farbe oder die Größe. Warum wurdest du mit einem Diamanten geboren? Warum ist er feuerrot? Liegt es an den Steinen der Eltern?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Meine Mutter besitzt einen orangefarbenen Feueropal und mein Vater einen braunen Zirkon. Das … würde nicht passen“, überlegte ich laut.

„Es sind nicht die Eltern, nein“, fuhr Colin fort. „Wir haben Untersuchungen angestellt und viele Großfamilien erforscht, aber nirgends ließ sich ein Muster erkennen, egal, was wir auch versuchten. Es gab keinen roten Faden, der sich durch die Familien zog oder etwas, das auf die Herkunft der Steine schließen ließ. Wir stehen also diesbezüglich noch immer auf dem Schlauch. Doch es gibt einige Ansätze, die jedoch teilweise sehr verrückt klingen. Liegt es an uns? Bestimmen wir bereits vor unserer Geburt wer wir sein werden? Oder entwickeln wir uns analog zu den Steinen? Ist es also von vorn herein festgelegt, wer wir sind? Doch wer bestimmt es dann?“ Er nahm einen Schluck aus seiner Teetasse. Das Getränk hatte bereits aufgehört zu dampfen. „Ein geschätzter Kollege von mir hatte einmal seine Theorie mit mir und der Welt geteilt. Er meinte, die Farbe der Steine hinge von der Farbe unserer Seele, unserer Aura ab.“ Ich schluckte.

„Die Farbe unserer Seele?“

„Ja. Schon seit Jahrhunderten sind die Menschen der Meinung, dass jedes Lebewesen eine dünne, leuchtende Aura umgibt, die je nach Wesenszügen in verschiedenen Farbnuancen erstrahlt.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Meisten hielten seine Idee für unsinnig und völlig verrückt. Es konnte bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden, dass wir eine Seele besitzen und unsere Aura eine bestimmte Farbe hat. Doch ich glaube daran. Unser Wesen und die innere Kraft unserer Steine sind im Einklang. Wir ergänzen uns gegenseitig, wie zwei Seiten einer Medaille. Darum ist es den Seelenssteinen auch möglich unseren ewigen Partner zu finden. Unser zweites Ich.“ Fasziniert richtete ich meinen Blick auf Colin. Er lächelte, als er meinen interessierten Blick bemerkte.

„Das heißt also, dass wir mit den Steinen verbunden sind?“

„Oh ja, und noch mehr als das.“ Er nahm sich einen Keks und begann nachdenklich daran zu knabbern. „Wir teilen mehr als die Erfahrung gemeinsam „geboren“ zu werden. Wir teilen ein ganzes Leben. Gefühle, Erlebnisse und Freude und Leid. Er ist beinahe schon ein Teil unseres Körpers. Darum fühlen wir uns auch so unwohl, beinahe schon krank, wenn der Stein einmal längere Zeit nicht in unserer Nähe ist. Auch, wenn einige Menschen es leugnen: Wir können nicht ohne einander existieren.“ Jetzt sah er wieder auf mich. „Darum ist es auch keine gute Idee mit dem Gedanken zu spielen, ihn einfach herzugeben.“ Ich spürte, wie mir das Blut sofort ins Gesicht schoss. Eine sehr unangenehme Wärme brannte auf meinen Wangen.

„Aber ich … ich dachte …“, begann ich, verstummte dann aber. Ja, was habe ich eigentlich gedacht?

„Natürlich hast du daran gedacht, weil es dein gutes Recht ist. Du hast Angst, das verstehe ich. Du wehrst dich gegen diese Änderung in deinem Leben und möchtest nichts sehnlicher, als wieder nach Hause zu gehen. Aber glaube mir, das ist nicht die Lösung. Du wirst doch bestimmt schon davon gehört haben, oder? Menschen, die depressiv, ja sogar verrückt geworden sind, nachdem ihnen der Segensstein entwendet wurde oder sie ihn verloren oder verkauft haben. Jeder einzelne wurde dadurch an den Rand der Verzweiflung getrieben. Und ein sehr großer Teil davon hat seinem Leben ein Ende gesetzt.“

 

Ich zuckte bei seinen Worten zusammen, denn ich wusste, dass sie wahr waren. Die beste Freundin meiner Mutter hat genau das durchmachen müssen. Ihr Stein wurde gestohlen, als sie auf offener Straße überfallen und ihr die Handtasche geklaut wurde. Obwohl sie unverletzt blieb, hat sie den Verlust ihres Seelenssteins nie überwunden. Auch ihre Familie hatte ihr nicht helfen können. Zwei Monate später hatte man sie erhängt in ihrem Schlafzimmer gefunden. Sie hinterließ zwei kleine Kinder.

„Es gibt immer Spekulationen, wenn solch ein Fall publik wird“, erzählte Colin weiter „und viele zweifeln daran, dass der Tod dieser Menschen mit dem Verlust ihres Edelsteins zusammenhängt, doch die Zahl der Fälle, die sich mit dieser Theorie deckt, ist erschreckend hoch. Manche Menschen mögen stark genug sein, sich ein Leben ohne diesen Teil ihrer selbst aufzubauen, aber viele sind es eben nicht. Und aus diesem Grund solltest du diese Entscheidung nie unüberlegt und aus einer Laune heraus treffen. Du würdest deine Seele verlieren. Es könnte dich zerbrechen.“

 

Mein ganzer Körper zitterte, als es mir wirklich bewusst wurde, was Colin mir damit zu sagen versuchte. Es gab verschiedene Arten des Sterbens. Ich hätte alles nur noch schlimmer machen können.

„Ich … ja, ich glaube, du hast …“ Ich blickte erneut auf und stockte, als ich ihn sah. Innerhalb weniger Sekunden schien sämtliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen zu sein und Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Die schwarzen Haare von Schweiß getränkt. Was war denn plötzlich …? „Colin? Ähm, geht es dir nicht gut?“ Seine Hände verkrampften sich vor seinem Bauch und um seine geschlossenen Augen verzog er leidend das Gesicht.

Ich wollte gerade aufstehen und zu ihm gehen, als er das Gleichgewicht zu verlieren schien und mit einem leisen „Verdammt …“, vom Stuhl rutschte.

 

Das Letzte, was ich wahrnahm, war der riesige Blutfleck, der sich rasend schnell auf seinem grauen Hemd ausbreitete, ehe mein eigener Schrei laut in meinen Ohren dröhnte.

Sternenhimmel

Es ging alles ganz schnell. Und doch viel zu langsam.

Wie von Sinnen schrie ich immer wieder nach dem Doktor. Schrie immer wieder nach Hilfe. Ich merkte kaum, wie die Tür aufging und mehrere Personen den Raum betraten. Erst, als sie sich über Colin beugten, nahm ich sie überhaupt wahr.

Bewegungsunfähig starrte ich auf die Szene vor mir. Jemand schob sein Hemd nach oben und entblößte einen blutverschmierten Oberkörper. Trotz der ehemals weißen Verbände war die Wunde anhand der roten Umrisse gut zu erkennen. Doch ich verstand es nicht. Woher kam die Wunde? Warum blutete er so stark? Warum hatte er vor wenigen Minuten noch völlig normal gewirkt und Kekse gegessen?

 

Hände legten sich auf meine Schultern und zogen mich weg. Ich wehrte mich nicht dagegen. Doch obwohl ich Colin schon bald nicht mehr sehen konnte, hörte ich noch immer die Schreie der anderen Anwesenden, die verzweifelt nach dem Doktor schrien. Die Menschen, die an mir vorbei liefen, beachtete ich kaum. Ich sah niemanden. Spürte nur den kalten Luftzug, den ihre Bewegungen verursachten.

Ich ließ mich führen. Die Hände auf meinem Rücken schoben mich immer weiter durch verzweigte Gänge. Fackeln und Glühbirnen wechselten sich ab und ich konnte sehen, dass einige Stollen bereits notdürftig mit Holzbalken abgestützt waren. Einer wurde sogar vollständig von einem Erdrutsch blockiert.

Erst an einer rostigen Metalltür hielten wir inne. Mit einem lauten Quietschen schwang diese auf und eine Wand aus Dunkelheit baute sich vor uns auf. Vorsichtig wurde ich hineingeschoben und bald darauf flackerte die Deckenlampe auf und gab den Blick auf ein schönes, gemütliches Zimmer frei.

Ein hölzernes Regal gefüllt von alten Büchern stand neben einem alten Spind an der Wand gegenüber der Tür. Gleich daneben stand ein Bett aus Metall, auf dessen Matratze ein grünes Bettzeug lag. Direkt neben der Tür war eine kleine Sitzecke aufgebaut, die aus einem runden Tisch und zwei Stühlen bestand, die ebenfalls aus Metall gemacht waren. Der kleine, ebenfalls grüne, Teppich unter meinen Füßen fühlte sich angenehm weich an, als mich eine Hand zu dem Bett hinüber schob.

Erst als ich den weichen Stoff unter mir spürte, hob ich meinen Blick und sah, wer mich überhaupt hierher gebracht hatte.

 

Ein Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren lächelte mir entgegen. Sie musste beinahe in meinem Alter gewesen sein. Vielleicht Anfang 20. Sie trug eine lange Jeans und ein rot gemustertes T-Shirt, welches im starken Kontrast zu ihrer sehr hellen Haut stand. Zahlreiche Sommersprossen tanzten mit ihren grünen Augen um die Wette, umrahmt von sanften, goldenen Wellen. Sie war ein wunderschönes Mädchen.

„Beruhige dich erst mal. Es wird alles wieder gut, okay?“ Ich nickte sprachlos, völlig überrascht von ihrer glockenhellen Stimme. Ihr Klang erinnerte mich stark an eines der Windspiele, die meine Mutter gesammelt hatte. Sichtlich zufrieden wandte sie sich von mir ab und ging hinüber zu dem rostigen Spind. Erst als sie die Türen öffnete bemerkte ich, dass dieser als eine Art Kleiderschrank diente. Sie wühlte einige Zeit darin, ehe sie zu mir hinüber sah und mir einen Haufen Stoff in die Hand drückte. Ich erkannte eine verwaschene, schwarze Jeans, ein blaues T-Shirt und einen grauen Wollpullover, der selbst auf meinem Schoß etwas zu groß wirkte. „Hier, zieh das an“, meinte sie leise und blickte mich an. „Dir muss hier unten in deinem Outfit ja eiskalt sein.“ Ich schaute sie verdutzt an, ehe mir klar wurde, dass ich tatsächlich noch mit kurzen Sommerklamotten herumlief und es hier im Berg wirklich frisch war. Sofort überzog eine Gänsehaut meinen Körper.

„Danke“, meinte ich aufrichtig und begann mich umzuziehen. Das Mädchen drehte sich höflichkeitshalber von mir weg und ging langsam zur Tür.

„Nichts zu danken. Ich hoffe nur, die Kleidung passt. Ich besorge dir solange etwas zu essen. Du musst einen ganz schönen Hunger haben, nach allem, was passiert ist.“ Tatsächlich hatten die Kekse nur einen ganz kleinen Teil meines ansonsten leeren Magens gefüllt, weshalb dieser sich sofort lautstark zu Wort meldete. „Bin gleich wieder da“, sagte die Blonde und verließ das Zimmer.

 

Ich ließ mir Zeit. Langsam zog ich mich um und bemerkte, wie dankbar mein doch sehr abgekühlter Körper für diese schützende Stoffhülle war. Draußen waren zwar auch die kurzen Sachen noch zu viel, doch innerhalb des Gebirges, bzw. unter der Erde, war lange Kleidung durchaus angebracht.

Erschöpft ließ ich mich zurück auf das Bett sinken. Der etwas zu große Wollpullover spendete sofort eine wohlige Wärme und ich schlang meine Arme um den Oberkörper. Als ich mich sitzend auf der Matratze breit machte, stieß ich plötzlich gegen etwas und blickte neben mich. Dort lag meine Tasche. Das Mädchen musste sie mit hierher gebracht haben. Ich dagegen hatte sie schon völlig vergessen.

Doch ich würdigte den schwarzen Beutel keines zweiten Blickes. Im Moment würde er mir überhaupt nicht weiterhelfen.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, bis sich die Tür mit einem leisen, metallischen Geräusch erneut öffnete und das blonde Mädchen wieder den Raum betrat. Doch diesmal war sie nicht alleine …

„Da bin ich wieder“, trällerte die junge Frau und balancierte ein mit Essen und Trinken beladenes Tablett in Richtung des Metalltisches. Doch ich schenkte ihr keine Beachtung. Der Junge, der gerade die Tür hinter sich schloss, ließ mich ebenfalls nicht aus den Augen. Sofort braute sich erneut Wut in meinem Magen zusammen, doch ich besann mich im letzten Moment anders.

„Was ist mit Colin?“, fragte ich Jaden, der sich bereits auf einem der Stühle breitgemacht hatte. „Geht es ihm gut?“ Sein Gesicht zeigte keine Gefühlsregungen.

„Ja, es geht ihm gut. Der Doc hat sich um ihn gekümmert.“ Erleichterung.

„Ein Glück. Was war überhaupt mit ihm los? Wo kam all das Blut her?“ Doch der Rothaarige schüttelte nur den Kopf.

„Vergiss es einfach. Ihm geht es gut und damit reicht es.“ Seine Stimme war so eisig, dass selbst der Blonden die Züge entglitten und das Lächeln verschwand. Wie versteinert blickte ich ihn an. Interessierte ihn das wirklich so wenig, wie es seinem Kameraden ging? Ich dachte, sie alle teilten ein Schicksal? Wieso reagierte er dann so abweisend? Oder lag es etwa an mir?

„Aber Jaden. Sei nicht so kalt. Du magst Colin genauso wie jeder andere hier. Und du solltest die arme Amelina nicht so mies behandeln. Immerhin hast du selber sie hergebracht!“ Die Blonde protestierte, doch Jaden zuckte nur mit den Schultern.

„Ob du es glaubst oder nicht, Aurelia, aber du bist heute schon die Zweite, die mir das sagt.“ Die junge Frau schnaubte.

„Oh ja und ich kann sehr gut sehen, wie du dir Mühe gibst, daran etwas zu ändern“, zischte sie verärgert, worauf ein Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. Langsam erhob er sich von dem Stuhl und beugte sich zu der Blonden herunter, sodass sich ihre Nasen beinahe berührten. Mir stockte der Atem.

„Ich habe dir schon mal gesagt, dass du dich besser nicht mit mir anlegst, kleines Fräulein. Wir wollen ja nicht, dass das ausartet, nicht wahr?“ Er grinste breit und es wirkte seltsam … aufrichtig. Nach dem ersten Schock schien auch Aurelia sich wieder gefangen zu haben, denn das Lächeln auf ihren Lippen wirkte ziemlich herausfordernd.

„Oh, willst du mir etwa drohen? Soll ich dich etwa an das letzte Ausarten erinnern, mein Freund?“

„Diesmal würde es anders laufen. Der Frauen-Bonus zählt bei dir nicht mehr.“

„Feigling“, lächelte die Blonde und bekam dafür einen Stupser in die Seite, der sie zusammenzucken ließ.

„Kümmere dich gut um das Prinzesschen hier. Keith will mit mir sprechen“, waren seine letzten Worte, ehe er durch die Tür verschwand. Prinzesschen, pah. Mistkerl.

 

Aurelia schüttelte nur seufzend den Kopf, bevor sie zu mir hinüber kam und sich auf das Bett neben mich setzte.

„Tut mir echt leid, Amelina. Jaden kann manchmal ein richtiger … Blödmann sein. Du hast jetzt wahrscheinlich einen ziemlich schlechten Eindruck von ihm, nicht wahr?“ Ich starrte zu Boden.

„Er hasst mich“, antwortete ich darauf bloß und begann an dem Saum meines Pullovers zu spielen.

„Nein, nein. Er hasst dich nicht, glaub mir. Jaden kann einfach nur seine Gefühle nicht gut zeigen. Er hat schon einiges Schlimmes durchgemacht und das hat ihn sehr vorsichtig werden lassen. Eigentlich ist er ein wirklich netter und liebevoller Mensch.“ Die letzten Worte wirkten irgendwie träumerisch. Ich kam nicht umhin mir vorzustellen, dass zwischen den Beiden etwas lief.

„Dann ist er das aber seeeeehr tief drinnen“, sagte ich gedehnt. Die junge Frau lachte.

„Ja, das stimmt wohl. Man muss ihn schon sehr gut kennen, um den netten Jaden zu finden.“

„Dann … Kennt ihr euch wohl sehr gut, oder?“ Nervös knetete ich meine Finger. Aber warum wühlte mich das Thema überhaupt so auf? Es wäre doch schön, wenn die beiden sich mögen würden. Ging mich ja nichts an.

„Oh ja, richtig gut sogar. Es ist jetzt beinahe zwei Jahre her, da hat er mir das Leben gerettet.“

Das ließ mich aufhorchen. Erschrocken sah ich sie an.

„Er hat dir … das Leben gerettet?“ Sie nickte bestätigend.

„Ja. Ohne Jaden wäre ich heute nicht hier. Weißt du, Amelina, mir ist damals etwas ganz ähnliches wie dir passiert. Auch ich hatte das Glück ihn zum richtigen Zeitpunkt in meiner Nähe gehabt zu haben.“ Mein Körper kribbelte unangenehm bei der Vorstellung. „Vielleicht kann ich dir deshalb auch etwas Mut zusprechen. Auch, wenn du es momentan noch nicht glaubst, du hast alles richtig gemacht. Es war kein Fehler ihm zu vertrauen.“ Sie sah mich an. Ich blickte nur erstarrt zurück, worauf sich ein Lächeln auf ihren Lippen formte. „Ich fange am besten mal von vorne an. Mein Name ist Aurelia Starchain. Ja, der Nachname ist merkwürdig. Ich weiß auch nicht woher der kommt.“ Sie lachte. „Jedenfalls bin ich letzten Monat 22 Jahre alt geworden und lebe seit gut eineinhalb Jahren hier. Ich weiß nicht, wie sie mich damals gefunden und gerade mich ausgewählt hatten, aber plötzlich brach die Hölle um mich herum aus.“ Plötzlich hob sie ihre Hände und führte sie an die Seite ihres Kopfes. Kurze Zeit später hielt sie eine himmelblaue Haarspange in der Hand, an deren Ende sich eine schwarze Stoffblume befand. Ein Stein, so dunkelblau, dass er fast mit dem Schwarz des Stoffes verschmolz, glitzerte wie ein nächtlicher Sternenhimmel im Licht der Lampe.

Ich beugte mich ein Stück zu ihr hinüber. Völlig fasziniert von der Tiefe ihres Seelensteins.

„Wunderschön“, hauchte ich und hörte Aurelia kichern.

„Danke. Ja, er ist wirklich schön. Ein kornblumenblauer Saphir. In dieser Farbe und mit diesen Eigenschaften einzigartig auf der Welt. Colin hatte mir mal gesagt, dass das wahrscheinlich der wertvollste, je gefundene Saphir ist.“

„Wow.“

„Tja, aber gegen deinen roten Diamanten ist das hier nur ein kleines Kieselsteinchen. Völlig unbedeutend. Und genau darum macht sich Jaden auch solche Sorgen um dich.“ Das riss mich aus meiner Starre.

„Er macht sich Sorgen? Um mich? Das bezweifle ich.“ Die Momente, in denen er sich über mich lustig gemacht und geärgert hatte kamen wieder hoch. Und außerdem kannten wir uns eigentlich überhaupt nicht. Den Kerl kümmerte es doch gar nicht, was mit mir passierte. Das hatte er schon unmissverständlich klargestellt.

„Doch, glaub mir. Gegen deinen millionenschweren Diamanten ist mein Steinchen mit seinen geschätzten 175.000 Euro überhaupt nichts wert. Und genau deshalb werden sie auch nicht aufhören nach dem Stein zu suchen. Nicht immer werden die Steine verkauft. Oft scheinen sie sie auch zu behalten und wichtigen Geschäftspartnern als Geschenk zu geben. Das vermuten wir jedenfalls, weil die Typen ohne Unterstützung lange nicht so viel hätten erreichen können. Schon allein die Informationen über uns und unseren Tagesablauf müssen sie irgendwo herbekommen. Aber zum Glück kennen sie wenigstens unser Versteck bisher nicht.“ Meine Augen wurden groß.

„Die erkaufen sich ihre Informationen? Mit Segenssteinen?“ Aurelia nickte und plötzlich sah sie wahnsinnig erschöpft aus.

„Genauso wie Waffen, Munition, Autos und ihre zahlreichen Verstecke beziehungsweise Unterschlüpfe. Und die korrupten Reichen haben ihre Sammlung um ein wertvolles Schmuckstück bereichert.“

„Aber …“ Das verwirrte mich. „Müsste es nicht auffallen, wenn irgend so ein Typ und seine Freundin ständig so wertvolle Edelsteine anschleppten?“ Die Blonde schüttelte nachdenklich ihren Kopf.

„Nein. Warum auch? Reiche können sich doch ständig und überall neue Edelsteine besorgen. Vielleicht besitzen sie oder einer ihrer Bekannten eine Edelsteinmine im hintersten Teil der Erde. Niemand würde es verdächtig finden, sollte ein Prominenter einen neuen Rubin im Ring tragen. Und sollte doch mal jemand nachfragen, bleiben immer noch gut einstudierte Lügengeschichten. Und für ein bisschen Geld behaupten die meisten Menschen fast alles. So einfach kann das manchmal sein.“ Sie seufzte. Und auch mir war in diesem Moment elend zumute. Es war alles geplant. Bis ins kleinste, widerlichste Detail. Und das nur um einen bunten Stein mehr in einem Tresor verstauben zu lassen. „Aber genug von dem miesepetrigen Gelaber.“ Ich zuckte erschrocken zusammen, als die Blonde aufsprang und in die Hände klatschte. „Du isst jetzt erst mal was und legst dich in Ruhe hin. Alles Weitere wird sich schon bald ergeben.“

Ich sah ihr hinterher, während sie leichtfüßig durch das graue Zimmer schwebte. Es schien, als würde sie auf weichen, flauschigen Wolken laufen und nicht auf dreckigem, unebenem Felsen. Wie aus einer anderen Welt.

„Wenn du noch etwas brauchst, sag einfach Bescheid. Ich werde im Zimmer nebenan sein, falls irgendwas sein sollte. Einfach links den Gang runter. Du kannst es gar nicht verfehlen.“

 

Mit diesen Worten verließ sie den Raum und Stille umfing mich erneut. In meinem Kopf hämmerte es. Viel zu viel schien sich dadurch zu schlängeln, sodass es sich eher wie ein zäher Brei anfühlte, als rasende Gedanken.

Da half nur noch eins. Irgendwas Essbares und eine schöne, heiße Dusche. Aber eine Dusche? Ich blickte mich um. Nirgends war etwas Vergleichbares zu entdecken. Das war also etwas, was ich noch hätte fragen können. Aber über unser Gespräch hatte ich den jetzt kaum noch zu ignorierenden Druck in meinem Körper völlig vergessen. Leider linderte dies aber auch genau mein Hungergefühl, so gut mein abendlicher Snack auch riechen mochte.

Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als doch noch mal vor die Tür zu gehen und Aurelia zu belästigen. Und danach noch zu hoffen wieder zurück zu finden …

 

Ich zwang meinen steifen Körper sich aufzurichten und durchquerte den Raum. Als meine Finger die kalte Eisentür aufdrückten, durchfuhr mich ein eisiger Schauer. Schnell schüttelte ich das Gefühl ab und trat auf den schwach beleuchteten Gang. Nur zwei alte von Plastik umgebene Glühbirnen warfen ein kaltes Licht in die Schatten. Ein leichter Luftzug wand sich durch die Gänge, der an meinen Haaren zupfte.

Eine Gänsehaut kroch meine Arme hoch, die diesmal nichts mit den niedrigen Temperaturen zu tun hatte. Ich fand es hier einfach nur unheimlich.

Mit wenigen Schritten lief ich den Gang entlang, und so, wie Aurelia es mir beschrieben hatte, fand ich die Tür, die in ihr Zimmer führen musste. Erstaunt entdeckte ich, dass ein schmaler Lichtstreifen aus der unverschlossenen Öffnung drang. Gerade als ich meine Hand nach der Klinke ausstrecken wollte, erklang ihre Stimme.

 

„Das war wahnsinnig gefährlich dich so ganz alleine und ohne Rückendeckung mit den Kerlen anzulegen! Du hättest wirklich verletzt werden können! Wir wussten gar nicht, dass du in Schwierigkeiten steckst! Wir hatten keine Möglichkeit zu reagieren!“ Eine leichte Panik war aus ihren Worten herauszuhören und ich fragte mich, mit wem sie da sprach. Doch schon eine Sekunde später wusste ich es. Denn diese Stimme kannte ich bereits zu gut.

„Das war eine spontane Aktion, Aurelia. Ich wusste selber nicht, was die diesmal geplant hatten! Aber ich musste schnell handeln! Mir blieb einfach keine Zeit! Wir dürfen den Kerlen nicht noch mehr in die Hände spielen!“ Ein ärgerliches Schnauben ertönte. Mein Körper zitterte.

„Ja, ja. Das sagst du immer! Aber denk doch auch mal an uns! Wie sollen wir weiter machen, wenn du nicht mehr da bist? Du weißt, dass die meisten von uns dem Kampf da draußen nicht gewachsen sind!“ Aurelias Stimme schien sich beinahe zu überschlagen. Doch ab und zu stockte sie, beinahe so, als würde ihr die Luft weg bleiben. Weinte sie etwa?

„Komm schon, beruhige dich! Es ist ja nicht so, als wäre ich der einzige, der hier etwas bewirken könnte. Aber mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff.“

„Wie soll ich mich da beruhigen? Du weißt doch, wie viel du mir bedeutest!“

 

Ich trat einen langsamen Schritt zurück. Das war nun wirklich nichts, bei dem ich zuhören sollte. Das ging mich alles gar nichts an. Ich konnte bestimmt auch jemand anderes fragen.

Ein weiterer Schritt. Ein kurzer Blick in Richtung Tür. Und da sah ich sie. Aurelia, wie sie dicht an Jaden gedrückt dastand und seine Arme ihren Körper noch fester an sich zogen. Ein intensiver Blick, den ich vorher nur bei richtig verliebten Menschen gesehen hatte.

Ein Anblick, von dem ich mich nicht abwenden konnte.

„Ich bin doch wieder hier. Und in nächster Zeit werde ich das Bergwerk nicht alleine verlassen, das verspreche ich dir.“ So sanft. So beruhigend. Eine Seite, die er mir gegenüber nicht einmal angedeutet hatte.

„Und was ist mit Amelina? Bist du sicher, dass es eine gute Idee war sie hierher zu bringen?“

Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als mein Name ertönte. Meine Beine begannen zu zittern. Ich wollte weg. Gar nicht hören, was die beiden über mich redeten. Doch warum rührte ich mich dann nicht vom Fleck?

„Mach dir nicht so viele Gedanken um sie. Ich bin mir sicher, dass sie uns nicht lange zur Last fallen wird. Sieh es doch mal so: Entweder ist sie der Schlüssel, um die Bande ein für alle Mal vom Erdboden zu tilgen, oder sie löst das Problem mit ihrer eigenen Dummheit. Vielleicht hätte ich ihr doch das Handy zurückgeben sollen …“

 

He. So fühlte es sich also an innerlich zu zerbrechen? Es war gar nicht so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Keine Wut? Kein Zorn? Kein Gefühl des Enttäuschtseins? Nein. Eher im Gegenteil. Da war gar kein Gefühl mehr in mir. Eine leere Hülle. Ein Nichts.

Sie warteten also nur darauf, bis sich ihr Problem selbst erledigte? Bis ich eine Dummheit beging? Doch warum haben sie mich dann eigentlich gerettet? Nur, um den Kerlen eins auszuwischen? Damit sie meinen Stein nicht bekamen?

 

Waren all ihre netten Worte nur Lügen? Lügen, denen ich beinahe geglaubt hätte? Diese Menschen, denen ich angefangen hatte zu vertrauen, hatten all das nur gespielt?

Wie konnte ich nur so dumm sein?

 

++++++

 

Die Nacht war kurz. Und jetzt musste ich mit den Folgen leben. So müde, wie ich es noch nie in meinem Leben gewesen war, fiel es mir richtig schwer auf diesem unbequemen Stuhl sitzen zu bleiben. Ich krallte mich richtig an den Lehnen fest, um meine aufrechte Position beizubehalten.

Doch ich spürte, wie die Müdigkeit an mir zog. Wie immer wieder meine Augenlider zufielen. Ich bemerkte ständig, wie sich die Stimmen um mich herum zu einem unverständlichen Brei vermischten. So, als würde jemand mit der Fernbedienung den Fernseher ständig laut und leise drehen.

 

Wieder richtete ich mich auf, um mir eine neue Sitzposition zu suchen, die vielleicht etwas bequemer sein würde. Oder vielleicht lieber weniger bequem, wenn meine Augen wirklich offen bleiben sollten.

Das Zimmer, in dem ich saß, war nicht großartig beleuchtet. Die einzelne Glühlampe, die über dem provisorisch aus Holzkisten und Brettern zusammengeschusterten Konferenztisch hing, erhellte die anwesenden Gesichter nur teilweise. Die meisten von ihnen kannte ich nicht. Da waren Jaden und McSullen, sowie der Doktor, der mich gestern aufgepäppelt hatte. Dazu kamen noch drei andere Männer und eine Frau, die vermutlich schon länger hier unten lebten. Die Haare der Männer waren kurz geschoren und ihre Gesichter zierten mehr oder weniger dichte Bärte. Die Haut von dem einen war sogar so weiß, dass sie beinahe im Lampenschein zu leuchten schien. Die Frau hingegen faszinierte mich. Ihr natürlich rotes Haar schien wie eine Flamme auf ihrem Kopf zu lodern. In perfekten Locken umrahmten sie ihr sehr jung wirkendes Gesicht. Sie schien so, wie sie in dem kurzen Rock und der Bluse mir gegenüber saß, direkt aus einem der Hochglanz-Modemagazine entsprungen zu sein.

Man hatte mich ihnen vorgestellt, doch die Namen der Anwesenden hatte ich längst wieder vergessen. Das interessierte mich sowieso sonderlich wenig. Und so finster, wie sie mich ständig ansahen, erging es ihnen bei mir nicht anders.

 

„Sie scheinen ihr Schema geändert zu haben“, begann McSullen gerade erneut die Diskussionsrunde. „Unsere Leute haben beobachtet, dass die Sichtungen der Männer in der Innenstadt deutlich zugenommen haben. Die Auswahl der Opfer scheint nun also mit zufälligen Begegnungen auf der Straße zu beginnen.“

„Und dann verfolgen sie das Opfer, um mehr über es in Erfahrung bringen zu können? Das ist ein komplett neuer Ansatz!“, erboste sich der sehr korpulente Typ mit dem Vollbart. Genau wie die wenigen Haare auf seinem Kopf, leuchtete auch dieser in einem so hellen Grau, dass er beinahe Weiß erschien. Ich kam nicht umhin zu denken, dass er einen perfekten Weihnachtsmann abgeben würde.

„Dann ist niemand mehr sicher, der seinen Seelensstein in der Öffentlichkeit trägt.“ Der weißhäutige Mann fuhr sich bei seinem laut ausgesprochenen Gedanken mit den Fingern durch das haselnussbraune Haar.

„Davon müssen wir leider ausgehen.“ McSullen blätterte in ein paar Unterlagen, die vor ihm auf dem improvisierten Tisch lagen. Das Knistern der Blätter hallte im ganzen Raum wider.

„Aber so wird es für uns schwieriger ihre nächsten Schritte vorherzusehen!“ Das erste Mal, seit diese Besprechung begonnen hatte, beteiligte sich nun auch Jaden an dem Gespräch. Er saß mir direkt gegenüber; gleich neben der rothaarigen Frau. Seine kupferrote Haarfarbe sah jedoch ziemlich unspektakulär aus gegenüber ihrer. Ein kleines, gedankliches „Ätsch!“ konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Erneut schien mich sein Blick zu durchbohren, während ich ihn so gut es ging ignorierte.

 

Nach seinen Worten am Abend war ich geflohen. Einfach feige weggerannt.

Aber wieso hatte mich das eigentlich so geschockt? Es war doch klar gewesen, dass ich ihnen völlig egal war. Es ging hier um ihr Leben, nicht meins.

Das war es, was sie von mir dachten. Ich hatte verstanden. Ich war ihnen egal. Komplett egal. Sie fanden es nett, dass ich ihnen einfach so in die Hände gefallen war. Ich war sogar ziemlich nützlich für sie.

Doch mir war mein Leben nicht egal. Nein, mir nicht.

 

Durch Zufall und der Tatsache, dass ich an meiner Zimmertür vorbeigerannt war, hatte ich tatsächlich eine Art Badezimmer gefunden. Eine improvisierte Dusche war, neben die schon in Bergwerkszeiten errichtete Toilette, gebaut worden, in der es sogar – dank Durchlauferhitzer – warmes Wasser zum Duschen gab.

Es hatte sich wahnsinnig gut angefühlt den ganzen Dreck von meinem Körper zu waschen. Trotz der neuen Kleidung, die Aurelia mir gegeben hatte, hatte ich mich die ganze Zeit unwohl gefühlt. Erst als ich aus der Dusche stieg und in den kleinen, verschmierten Spiegel geblickt hatte, konnte ich mich in der Person darin wiedererkennen.

 

Ich war schon immer schwach gewesen. War ohne meine Eltern und meine Freunde aufgeschmissen. Bloß hatte ich das nie wahrhaben wollen.

Doch jetzt war niemand da, der mir helfen konnte. Niemand, der helfen wollte. Ich war auf mich allein gestellt. Niemandem hier würde es wirklich etwas ausmachen, wenn ich einfach verschwände. Wer weiß, ob es sogar jemand merken würde?!

Aber das würde mich nicht aufhalten. Wenn ich ihnen egal war, dann würde ich mein Leben eben selbst in die Hand nehmen. So schnell durfte ich einfach nicht aufgeben! Es war MEIN Leben und ich hatte da auch noch ein Wörtchen mitzureden!

Ich wusste in diesem Moment, dass selbst, wenn ich mich aufgegeben hätte, meine Familie und meine Freunde es noch lange nicht getan hatten. Und ich war es ihnen schuldig, wenigstens zu versuchen aus der ganzen Sache wieder herauszukommen. Wieder zurück zu kommen …

 

Nachdem ich in mein Zimmer zurückgegangen war und die inzwischen eiskalte Suppe mit dem Brot gegessen hatte, war ich in das Bett gekrochen und hatte mich unter der Decke vergraben. Gefühlte wenige Minuten später hatte plötzlich Aurelia in dem Zimmer gestanden und mich ohne große Erklärungen hierher gebracht. Sie war verschwunden und ich musste den verachtenden Blicken weiter standhalten.

 

Jede Minute kämpfte ich gegen die Müdigkeit an. So ganz, ohne etwas zu tun, war das alles hier richtig langweilig. Immer wieder verschwamm meine Sicht und die Schwerkraft zog penetrant an meinen Augenlidern. Mich fragte sowieso niemand nach meiner Meinung, warum war ich also hier?

Mit einer Mischung aus Langeweile und Wut im Bauch beugte ich mich etwas in meinem Sitz vor und griff nach einem der mit Käse belegten Brote, die seit meiner Ankunft unberührt in der Mitte des Tisches standen, und begann darauf herum zu kauen.

 

„Wir müssen eben noch besser aufpassen und viel mehr zwischen den Zeilen lesen“, kommentierte McSullen Jadens Ausruf und nickte entschlossen. „Dass sie ihre Taktik nach so langer Zeit geändert haben, deutet für mich darauf hin, dass unsere Bemühungen tatsächlich Wirkung zeigen. Wir dürfen uns jetzt nicht abhängen lassen!“

„Das haben wir auch nicht vor, Keith. Genau deshalb sind wir ja hier.“ Ich verschluckte mich beinahe an dem Stück Brot, das ich gerade in Mund hatte, als die Rothaarige sich in das Gespräch einschaltete. Ihre Stimme war dunkler, rauer, als ich es vermutet hatte. Sie richtete ihren Blick auf mich und ich sah direkt in ihre hellgrünen Augen. „Vielleicht sollten wir einfach zur Sache kommen und unseren netten Gast auch einmal zu Wort kommen lassen. Sonst hätten wir sie nach dem anstrengenden Tag gestern nicht so früh aus dem Bett zerren müssen.“

Ich zuckte zusammen und spürte, wie das Blut in meine Wangen floss. Natürlich hatte ich die Anspielung auf meinen müden Zustand verstanden.

„Du hast recht, Scarlett. Einen Versuch ist es Wert.“ Ich bemerkte den leicht resignierten Unterton in McSullens Worten. Beinahe so, als wäre er zu alldem hier überredet worden, ohne wirklich davon überzeugt gewesen zu sein. Eine Tatsache, die mich nicht sonderlich beruhigte.

 

„Also, Amelina …“ Plötzlich war ich schlagartig wach. „Hast du eine Ahnung, warum diese Männer gerade auf dich aufmerksam geworden sind?“ Die Stimme der Frau zog mich in ihren Bann. In meinem Kopf rauschte das Blut nur so durch. Nervös spielte ich mit meinen nun wieder brotfreien Fingern. Ein kurzer Blick auf Jadens genervtes Gesicht und meine Nervosität war beinahe verschwunden und purem Trotz gewichen.

„Nein, ich habe keine Ahnung. Ich trage zwar meinen Anhänger viel in der Öffentlichkeit, aber meistens unter meiner Kleidung versteckt. Schon, um nicht immer darauf angesprochen zu werden.“ Ein Nicken der Frau. Ich konzentrierte mich voll auf sie und blendete die Männer so gut es ging aus.

„Verstehe. Aber gerade jetzt, wo es so wahnsinnig heiß draußen ist, passiert es doch sicherlich, dass der Anhänger sichtbar ist, hab ich recht?“ Ich zuckte erneut zusammen.

„Ja, gut möglich“, gab ich zurück. Wieder nickte sie. Ein kleines Lächeln im Gesicht.

„Ist dir irgendetwas aufgefallen? Hast du bemerkt, dass du beobachtet wirst?“ Ich überlegte kurz. Der Busunfall, das herrenlose Auto, die Waffe in dem Seitenfenster …

„Ich … Nein, ich hatte nichts bemerkt. So viele Dinge sind geschehen, aber ich habe sie alle als Zufall abgetan. Bis ich dann in meine Wohnung ging und dieses merkwürdige Gefühl hatte …“

Nun horchte sie auf. Ich bemerkte, wie sich ihre Augen nur um Millimeter weiten.

„Merkwürdiges Gefühl? Wie genau darf ich das verstehen?“ Ich erschauderte, als ich daran dachte.

„Ich kam von der Schule nach Hause und habe meine Wohnung betreten. Doch noch ehe ich einen Schritt gemacht hatte, überkam mich ein ganz komisches Gefühl und ich bildete mir ein, dass mein Flur anders aussah, als ich ihn hinterlassen hatte. Doch ich dachte, ich hätte mich geirrt. Aber ich … Ich konnte einfach nicht reingehen. Irgendwas hat mich davon abgehalten. Also habe ich meinen Regenschirm genommen und bin sofort wieder gegangen.“

 

Als ich geendet hatte, lagen alle Blicke auf mir. Doch die Verachtung darin war verschwunden und einer Mischung aus Neugier und Erstaunen gewichen. Zu meiner eigenen Verwunderung fühlte sich das noch unbehaglicher an.

Verstohlen sah ich zu Jaden hinüber und war mehr als überrascht zu sehen, dass der harte und strenge Ausdruck in seinen Augen verschwunden war und er mich beinahe … mitleidig betrachtete. Doch so schnell wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Also hatte ich mir das nur eingebildet?

 

„Ich verstehe. Amelina, du hast ein gutes Gespür für so etwas. Die schwarzen Männer hatten sich höchstwahrscheinlich in deiner Wohnung verschanzt. Sei froh, dass du auf dein Gefühl gehört hast, sonst wärst du mit Sicherheit jetzt tot.“

Vermisst

Ich spürte, wie meine Augen sich schlagartig weiteten. Natürlich hatte ich diese Theorie selbst bereits aufgestellt, aber die Art und Weise, wie Scarlett mir gegenüber eben meinen Beinahe-Tod geäußert hatte, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.

Nur weil ich … Es war alles nur Zufall. Bloßer Zufall …

 

Das Gespräch der Gruppe hatte erneut begonnen und ihre unterschiedlichen Stimmen schwirrten verloren in meinem Kopf herum, ohne, dass ich ein Wort verstand.

Mein Gefühl hatte mir das Leben gerettet. Ich selber war es, die die Situation richtig gedeutet und mich gerettet hatte. Niemand anderes; nur ich. Es gab also etwas in mir, dem ich vertrauen konnte. Vielleicht war es wirklich diese Kleinigkeit, die etwas ändern, etwas ausrichten konnte. Es war noch nicht vorbei.

 

„Wenn die Mistkerle ihren Opfern schon in ihrer eigenen Wohnung auflauern haben wir absolut nichts in der Hand! Wie sollen wir dagegen vorgehen?“ Erst jetzt bemerkte ich, dass der dritte mir unbekannte Mann aufgesprungen war und seine Hände zu Fäusten geballt auf dem Tisch lagen. Er war ein schlaksiger, großer Mann, sodass er sich sogar bücken musste, um im Stand das Holz vor ihm berühren zu können.

„Widerliche Dreckskerle …“, fluchte der Weißhäutige.

„Aber vielleicht …“, begann der Doktor, der zum ersten Mal an diesem Gespräch teilnahm, stockte dann aber. Er machte schon die ganze Zeit den Eindruck, als wäre er tief in Gedanken versunken.

„Was aber?“

„Vielleicht … Wenn Amelina sagt, dass die Kerle in ihrer Wohnung waren und sogar etwas angefasst hatten, na, vielleicht …“

„Fingerabdrücke!“ Der laute Schrei des Schlaksigen ließ die gesamte Runde zusammenzucken. Eine Sekunde später sank er zurück auf seinen Stuhl. „Mat! Du hast recht! Wenn sich die Typen eine Weile in ihrer Wohnung aufgehalten haben ist es gut möglich, dass sie Spuren hinterlassen haben.“

„Wir haben zwar nicht viele Möglichkeiten solche Spuren auszuwerten, aber wenn wir die Jungs im Princeton um Hilfe bitten, kriegen wir vielleicht den einen oder anderen Namen raus! Das könnte uns ein ganzes Stück weiterbringen!“

 

Plötzlich schlug die Stimmung schlagartig um. Der Ausdruck ihrer Gesichter wandelte sich von einem resignierten, müden zu einem erwartungsvollen, triumphierenden. Die ganze Atmosphäre erschien auf einmal weniger schwer, als die Anwesenden bedeutungsvolle Blicke austauschten.

„Dann müssen wir so schnell wie möglich die Wohnung durchsuchen und hoffen, dass dort niemand eventuelle Spuren verwischt hat. Wenn die Kerle irgendeinen Fehler gemacht haben, werden wir sie finden!“ Zustimmendes Murmeln erklang von allen Seiten und mir rutschte das Herz einige Stockwerke tiefer.

Hatten die wirklich vor meine Wohnung zu durchwühlen? Wie wollte ihnen das unbemerkt gelingen? Mein Zuhause …

 

„Ich komme mit.“ Das aufgeregte Flüstern verstummte augenblicklich. Alle Augen richteten sich auf denjenigen, dessen leise, aber feste Stimme sie nicht erwartet hatten zu hören. Mich.

„Vergiss es. So ein kleines Mädchen wie dich können wir auf so einer Mission nicht gebrauchen.“ Jaden. Natürlich. Alles andere hätte mich auch gewundert. Ja, beinahe schon enttäuscht. Ein Schalter in mir switchte innerhalb einer Sekunde von viel-zu-müde-zum-Sitzen-bleiben auf stures-kleines-Mädchen-Modus. Das konnte ich auch.

„Natürlich. Keine Frage. Du bist hier der Profi. Vor allem würde es mich sehr interessieren, was du machen würdest, wenn dich einer meiner sehr neugierigen Nachbarn dabei beobachten würde, wie du mit einer Gruppe in weißen Alienanzügen und silbernen Aktenkoffern vor meiner Tür stehst. Ach, und der Fall, dass tatsächlich jemand – sagen wir mal meine Mutter – in meinem Wohnzimmer sitzt und auf meine Rückkehr wartet, könnte auch äußerst unterhaltsam sein.“ Die meisten Blicke verloren ihre Standkraft, als sie bemerkten, dass ich recht hatte, doch ich war noch lange nicht fertig. „Und da du ja genau weißt, was im Gegensatz zum Normalfall plötzlich anders ist, fällt euch die ganze Suche sicherlich ziemlich leicht. Immerhin sind hier Profis am Werk.“

 

Oh, wie ich ihn genoss. Diesen kleinen Moment des Triumphs! Der Ausdruck des Verlierens auf seinem Gesicht! Nach den letzten Stunden, in denen immer ich diejenige war, die am Ende ihrer Kräfte war und vor Todesangst kaum atmen konnte, war es einmal an ihm den Kürzeren zu ziehen. Dass mein Herz schon bei dem bloßen Gedanken an die äußerst gefährliche Unternehmung bis in meine Füße gerutscht war, musste ich ja ihm nicht auf die Nase binden. Das nervöse Zittern meiner Hände vergrub ich in den übergroßen Taschen meines Wollpullovers.

„Sie hat recht, Jaden.“ Die Rothaarige versuchte die Situation mit einem vorsichtigen Lächeln zu lockern. Ihr Blick wanderte zwischen uns hin und her. „Sie kennt ihre Wohnung am besten. Weiß, wo die Typen etwas angefasst haben könnten. Wir haben nicht viel Zeit zum Suchen. Sehr wahrscheinlich beobachten sie die Wohnung. Auch, wenn es gefährlich werden könnte, Amelina ist unverzichtbar auf dieser Mission.“ Jaden ließ ein verächtliches Schnauben hören und hatte wieder den üblichen hasserfüllten Blick auf mich gerichtet. Es kostete mich alle Kraft, um mich ihm nicht zu entziehen.

„Ich befürchte, ich muss dir zustimmen, Scarlett. Aber vor der Abreise müssen wir noch einiges vorbereiten.“ Der Weihnachtsmann kratzte sich am beharrten Kinn. „Bringst du sie bitte zu Aurelia? Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht sofort auf der Straße erkannt wird.“

„Natürlich. Wir werden uns unverzüglich darum kümmern.“ Die Rothaarige stand auf und ich betrachtete das als Zeichen für mich ebenfalls aufzustehen. Ich kämpfte mich auf wackeligen Knien zur Tür hinüber. Doch ehe ich meine Hand zur Türklinke ausstrecken konnte, kamen mir die filigranen, gut manikürten Finger der jungen Frau zuvor. Sie zögerte jedoch eine halbe Sekunde, ehe sie die Tür öffnete. Beim Hinausgehen wandte sie sich ein letztes Mal an die Männer. „Ich habe ein gutes Gefühl bei der Sache. Ich bin mir sicher, dass wir dieses Mal erfolgreich sein werden!“

 

Die Tür schlug zu und das dumpfe Grollen huschte bedrohlich den dunklen Gang entlang, bis sich die gewohnte Stille über uns legte. Nur das Klackern der Absätze von Scarletts Pumps durchbrach wie stetiges Donnern die Einsamkeit, sodass meine leisen Worte ungehört hinter uns verhallten.

 

„Und vielleicht löst sich das Problem ja auch ganz von alleine …“

 

+++++

 

Obwohl ich nicht mal einen Tag in dem Bergwerk verbracht hatte, hatte ich beinahe vergessen, wie sich die unbeschreibliche Hitze des Sommers auf meiner Haut anfühlte. Ich hatte das Gefühl, dass schon nach nicht mal einer Minute ein neuer Sonnenbrand meine Schultern überzog. Auch, wenn natürlich nichts dergleichen zu sehen war.

 

Doch über dem Horizont waren die ersten Anzeichen eines Wetterwechsels kaum noch zu übersehen. Riesige, beinahe schwarze Gewitterwolken türmten sich dutzende Kilometer hinauf in den Himmel und die ersten Lichtblitze flammten zwischen den dunklen Ungetümen auf. Wie bissige Schlangen suchten sie sich zischend einen Weg in Richtung Erde. Ein weiteres Sommergewitter würde sich jeden Moment über der Stadt entladen.

„Das kann uns nur helfen“, bemerkte Jaden, der auf der anderen Seite des Autos ebenso wie ich an die Karosserie gelehnt dastand.

„Kommt drauf an, ob wir rechtzeitig ankommen, bevor uns der Himmel auf den Kopf fällt“, gab ich sarkastisch zurück. Ich hatte das Gefühl, dass das Zittern meiner Beine das ganze Auto zum Beben brachte. Ein belustigtes Schnauben ertönte.

„Was ist los? Bekommt unsere kleine Heldin etwa doch Muffensausen?“ Ich biss mir auf die Lippe, um die aufkommenden Beschimpfungen besser herunterschlucken zu können. Jetzt war nicht die Zeit für so etwas.

 

Ein knarzendes Geräusch im Inneren des Kleinwagens ertönte und eine verzerrte Stimme verkündete den Start unserer Mission. Das Zeichen für uns.

Schnell stiegen wir zurück in das kleine, silberfarbene Auto und Jaden steuerte uns über die Stadtgrenze. Wir hatten einen Umweg von gut einer halben Stunde in Kauf genommen, um die Stadt nicht über dieselbe Straße zu betreten, auf der wir sie letztes Mal verlassen hatten.

Ich fühlte mich unwohl. Aus reiner Gewohnheit wanderte eine meiner Hände immer wieder in Richtung meines Halses. Dort, wo er normalerweise hing. Mein Segensstein. Doch diesmal fasste ich nur ins Leere. Es war mir wirklich schwergefallen zuzugeben, dass es viel zu gefährlich war, ihn mitzunehmen. Dass die Gefahr deswegen erkannt zu werden oder den Anhänger in der Aufregung zu verlieren sehr groß war, war unbestreitbar. Dieses Risiko konnte ich einfach nicht eingehen. Doch einfach in meinem Zimmer liegen lassen konnte ich ihn auch nicht. Es hätte mich innerlich zerrissen nicht zu wissen, ob etwas mit meiner Kette passiert war oder nicht. Ohne meinen Seelenstein war ich rein gar nichts.

Letzten Endes hatte ich sie Aurelia bis zu meiner Rückkehr anvertraut. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen. Das war meine einzige Möglichkeit.

 

Ein schwerer Kloß bildete sich in meinem Hals, als wir meiner Wohnung immer näher kamen. Die Stadt lag beinahe verlassen da. Die Tatsache, dass es früher Sonntagnachmittag war und die bedrohlichen Wolken jeden Moment eine beträchtliche Menge an Regen auf uns niederregnen lassen würde, lockte wohl nicht viele Menschen vor die Tür. Trotz des freien Tages.

Ein Geruch, den ich sehr gut kannte, hing in der Luft und schlich sich sogar durch die teilweise offenen Scheiben des Wagens. Er beantwortete meine unausgesprochene Frage nach dem Verbleib der Bewohner. An jeder Ecke duftete es erneut nach gewürztem Fleisch und Würsten vom Grill. Über den Balkonen und Gärten der Häuser hingen kleine Dunstwolken und vermischten sich mit dem Grau über ihnen.

Beinahe hätte sich bei dem Gedanken an die Menschen, die eben noch draußen zusammen gegessen und gelacht hatten, und nun panisch vor dem kommenden Regen flüchteten, ein kleines Lächeln auf mein Gesicht gezaubert. Doch dieses Lächeln blieb mir im Hals stecken.

 

Wir hatten das Viertel erreicht, in dem ich wohnte, und das seltsame Gefühl einer erfüllten Vorahnung machte sich in mir breit, als ich das Erste ganz in der Nähe an einem Laternenpfahl entdeckte. Trotz des schummrigen Lichtes sah ich jedes einzelne von ihnen. Beinahe so, als würden sie von selbst leuchten und sich als Bilder in meine Augäpfel brennen.

Die Fotos darauf waren nicht groß. Zwei kleine Bilder; direkt nebeneinander angeordnet. Eins hatte ich bisher nie gesehen. Es zeigte eine junge, schwarzhaarige Frau umgeben von ihren zwei besten Freundinnen. Sie grinsten fröhlich der Kamera entgegen, während eine mit ihrem ausgestreckten Arm das Handy hielt und den Auslöser betätigte.

Das andere zeigte dieselbe junge Frau auf einem Passfoto, das mittlerweile auch schon ein Jahr oder älter sein musste.

Darunter prangten einige wenige Buchstaben in einer Größe und Farbe, die jeden Betrachter unfreiwillig auf sich aufmerksam machten. MISSING. Das Kleingedruckte konnte ich nicht lesen. Nur die Nummer am unteren Ende – eine Handynummer – kam mir sehr bekannt vor. Dutzende Male hatte ich diese in meinem Leben bereits gewählt und jedes einzelne Mal bohrte sich nun drängend in meinen Kopf. Wie eine glühende Klinge.

 

Obwohl ich versuchte sie zurückzuhalten, verwässerten bereits zahllose Tränen meine Augen. Ich fühlte mich, als würde ich ersticken. Immer wieder starrte ich auf die Flyer, die an jede mögliche Stelle entlang des gesamten Häuserblocks geheftet waren und jedes Mal versetzten die Fotos – Fotos von mir – mir einen schmerzhaften Stich ins Herz.

Ich wandte meinen Blick ab und versuchte ihn verzweifelt auf die raue Oberfläche des Armaturenbretts zu richten, um meine Umgebung nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Sekunden später trommelten riesige Regentropfen auf die Scheiben und verzerrten die Welt vor dem Seitenfenster zu einer wirbelnden, grauen Masse.

Ich nahm das alles nur am Rand wahr. Ich konzentrierte mich darauf, wieder regelmäßig zu atmen und die Tränen nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um in Selbstmitleid zu versinken. Ich hatte nur eine Chance das Ganze zum Guten zu wenden, wenn ich mich jetzt zusammenriss. Zum Zusammenbrechen war später immer noch Zeit.

 

Der Wagen hielt abrupt und ich wandte meinen Blick zurück zum Seitenfenster. Die verschwommene Silhouette der Haustür meines Wohnhauses lag nur wenige Meter von unserem Parkplatz entfernt. Es würde also gleich losgehen. Jadens Blick schweifte immer wieder angespannt über die beinahe menschenleere Straße. Lediglich die zahlreichen, geparkten Autos der ansässigen Bewohner tupften bunte Farbkleckse in die graue Betonlandschaft. Wie kleine Blumen auf einer gemalten Wiese.

Ich sog erschrocken die Luft ein, als Menschen dicht an meinem Fenster entlangliefen. Erst beim zweiten Blick erkannte ich zwei jüngere Frauen in sommerlichen Outfits, die sich kichernd gemeinsam unter einen Klappregenschirm zwängten und versuchten nicht allzu nass zu werden. Es dauerte nur Sekunden, ehe sie von den Hochhäusern verschluckt wurden.

 

Ansonsten schien alles ruhig und verlassen. Wir konnten die Sache also schnell hinter uns bringen.

Ich streckte mich ein letztes Mal, zog das von Scarlett geborgte, rote Kleid zurecht und sorgte dafür, dass auch die letzte Strähne meines schwarzen Haares ebenfalls unter der blond gelockten Perücke verschwand. Ich knetete meine vor Schweiß nassen Finger ein letztes Mal und streckte meine Hand nach der Autotürklinke aus, als sich plötzlich etwas Warmes auf meine nackte Schulter legte. Ich zuckte vor der Hand zurück und drehte mich um.

Jaden starrte mir entgegen. Sah direkt in meine Augen. Seine Hand ruhte auf meiner Schulter; sein Körper war leicht in meine Richtung gebeugt. Sein Blick war so … intensiv, so ungewohnt freundlich, dass sich in mir sofort so etwas wie Misstrauen regte. Wenn auch ein anderes Gefühl dieses deutlich überlagerte. Meine Haut glühte unter seinen Fingern.

„Das könnte durchaus gefährlich werden. Geh keine unnötigen Risiken ein.“ Wenn seine Stimme nicht so monoton und geschäftsmäßig geklungen hätte, hätte ich wirklich angenommen, er könnte sich doch ein wenig Sorgen um mich machen. So hingegen klang es eher nach einer gewollt netten Version von „Steh mir nicht im Weg“. Trotzdem versuchte ich die Stimmung (und mich selber) nicht weiter aufzuheizen und nickte bloß zur Bestätigung. Gleich darauf zog er seine Hand zurück, um sich ebenfalls seiner Autotür zuzuwenden.

Schnell zog ich an dem kleinen Plastikgriff und war erleichtert die frische und inzwischen ein wenig abgekühlte Luft in meinen Lungen zu spüren. Der Regen perlte angenehm warm von meiner verschwitzten Haut ab.

 

Trotzdem warteten wir nicht lange und eilten die wenigen Meter die Straße hinunter. Der Vorhang aus Wasser war so dicht, dass wir kaum mehr als einige Meter weit gucken konnten. Alles andere wurde wie in grauen Nebel gehüllt. Erst als wir die Tür des Gebäudekomplexes erreicht hatten, hielten wir inne. Meine Haustürschlüssel lagen bereits oben in der gemusterten Handtasche bereit, sodass sich der Eingang innerhalb weniger Sekunden öffnete und wir wieder im Trockenen standen. Nun musste es schnell gehen.

Wir liefen hinüber zur Treppe und ignorierten den wartenden Aufzug. So sollten wir die Chancen minimieren jemandem zu begegnen. Außerdem wären wir auf der Treppe viel flexibler. Meinten die anderen zumindest. Und die mussten es ja wissen. Während des ganzen Weges hielt ich meinen Kopf nach unten gerichtet, um die strähnigen Haare der Perücke mein Gesicht verdecken zu lassen. Jeder bunte Klecks der wild gemusterten Steintreppe brannte sich mit erschreckender Intensität in meinen Kopf. Jede Sekunde rechnete ich damit, dass etwas passierte. Ein verblüffter Aufschrei, das Öffnen einer der Haustüren oder – was noch viel schlimmer war – das Aufflammen eines so stechenden Schmerzes, der nur von einer Schusswunde verursacht werden könnte. Niemand durfte wissen, dass ich hier war. Niemand durfte mich erkennen …

So schnell, aber auch so leise wie möglich, erklommen wir die vier Etagen, bis wir vor meiner dunkelgrauen Wohnungstür standen. Ich warf einen kurzen Blick auf den Eingang meiner direkten Nachbarn und stellte erleichtert fest, dass der Platz im Flur, auf dem immer Schuhe standen wenn jemand Zuhause war, wie so oft leer war.

„Die Nachbarn sind nicht da“, bemerkte ich leise, um Jaden über meine Entdeckung zu informieren und widmete mich ohne seine Antwort abzuwarten dem Schloss. Die Tür klickte und glitt auf. Sofort schob sich der Rothaarige an mir vorbei, um als erster die Wohnung zu betreten. Mir war das gar nicht mal so unrecht. Mehr und mehr überkam mich ein schlechtes Gefühl und musste erneut gegen die Tränen kämpfen.

Würde mir das jetzt jedes Mal so gehen, wenn ich mein Zuhause betrat? Würde ich hier nie wieder ohne Angst leben können?

 

Ich ließ die Tür hinter mir leise ins Schloss fallen und sah gerade noch, wie Jaden in mein Schlafzimmer verschwand. Heute Morgen hatte ich noch gedacht, dass es mir furchtbar peinlich wäre, wenn er meine Wohnung durchsuchen würde, doch seltsamerweise blieb das Gefühl aus. Bis auf Angst und Unsicherheit schien ich gar nichts empfinden zu können.

 

Es dauerte nicht lange, bis ein melodisches Geräusch die Stille zerriss. Panisch zuckte ich zusammen, bis ich begriff, dass das das Zeichen war, auf das ich eigentlich hatte warten sollen.

„Mach auf“, meinte Jaden, der gerade das Badezimmer verlassen hatte, und schaltete sein Handy wieder stumm. Ich drückte den Schalter, um die Haustür zu öffnen und wartete ungeduldig, bis ich mehrere Männer durch den Spion erkennen könnte. Zögerlich fasste ich nach der Klinke und ließ die Gruppe eintreten. Das waren sie also. Drei weitere Männer - allesamt mit Koffern bewaffnet - betraten meinen Flur und ich ließ sie gewähren. Ich wusste nicht viel über sie. Nur, dass sie von einem Forschungsinstitut kamen, an dem junge Wissenschaftler in allen Bereichen lernten und ausgebildet wurden. Daher kam wohl auch die Ausrüstung (Die natürlich nur „ausgeliehen“ war). Nervös stand ich in der Ecke und wartete auf meinen Einsatz.

Jaden erklärte ihnen kurz die Lage, was die Männer lediglich mit einem Nicken bedachten. Als das Gespräch endete, wandten sich alle in meine Richtung. Der blonde Mann, der mir am nächsten Stand, nickte mir zu und ich verstand.

 

Ich schob mich an der Meute in meinem kleinen Flur vorbei und betrat das Wohnzimmer. Sofort befiel mich ein Gefühl von Zuhause-Sein. Der ganze Trott – aufstehen, zur Schule gehen, mit meiner Mutter telefonieren – erschien plötzlich nicht mehr wie ein Traum. Es fühlte sich für einen kurzen Moment wieder real an.

Doch die Realität holte mich schnell wieder ein. Das Krachen des Donners nahm ich gar nicht wahr, als ich im Schein der gelegentlichen Blitze das Zimmer inspizierte. Tatsächlich fielen mir einige Sachen auf, die mir merkwürdig vorkamen. Die Angst umklammerte mein Herz fester.

„Da, der Glastisch. Die Fernbedienung liegt da sonst nicht und die Tischdecke ist ein wenig verschoben. Zu weit links. Das Regal. Die beiden Vasen sind vertauscht. Die Gardine. Die Befestigung hat sich abgelöst.“ War das ich, die da sprach? Ich kannte diese Stimme nicht. Sie hatte so etwas … Mechanisches an sich. Und doch spürte ich es. Ich fühlte, wie jedes Wort in meinem Kopf vibrierte. Wie ich darum kämpfte, stark zu sein.

 

Auch in den anderen Räumen entdeckte ich einige winzige Dinge, die mich störten. Doch bei den meisten wusste ich nicht, ob vielleicht doch ich die Verursacherin war.

Stand die Tasse wirklich da, als ich gegangen war? Hatte ich das Geschirrtuch runtergeschmissen? Warum lag mein Seidenschal auf der Kommode und hing nicht an einem der Haken?

Doch es hieß, dass ich mir da keine Gedanken drüber machen und einfach weiter machen sollte.

 

Erst, als ich nichts mehr entdeckten konnte, gingen die Männer an die Arbeit. Ich warf einen kurzen Blick in einen der silbernen Koffer und entdeckte eine ganze Laborausrüstung. So wie sie die Fernsehkriminologen immer bei sich trugen, wenn sie einen Tatort untersuchten.

Das war meine Wohnung, mein Zufluchtsort, also. Ein Tatort.

 

Ich verließ die Küche und zog mich in den Flur zurück. In einer dunklen Ecke nahe der Tür blieb ich stehen. Ich wollte nicht stören. Konnte nicht zusehen.

Nervös fuhr ich mir mit den Händen über die immer noch nassen und verschorften Unterarme. Verbände wären zu auffällig gewesen, also mussten diese für die Tarnung weichen. Der Doc hatte zwar Protest eingelegt, doch das hatte niemanden gestört. Mir wurde immer noch ein wenig schlecht, wenn ich die lange Narbe und die vielen Kratzer sah und vermied es daher meine Arme eingehender zu studieren.

 

Ich zählte die Blitze, die durch die verschiedenen, offenen Türen in den Flur fielen und verzerrte Muster auf den Holzboden zeichneten. Es war totenstill. Ich konnte kaum glauben, dass außer mir noch weitere vier Personen anwesend waren. Selbst beim Gehen schienen sie keinerlei Geräusche zu machen. Es war richtig unheimlich.

Erst als neben mir zwei weitere Personen im Flur auftauchten verstand ich, dass das Ziel vorerst erreicht war. Die beiden jungen Männer verließen als erste die Wohnung, danach folgte der Dritte von ihnen, bis nur noch Jaden und ich da waren.

Wir ließen erneut einige Minuten vergehen, bis der Rothaarige stumm in Richtung Tür zeigte. Das Zeichen zum Gehen. Er schlüpfte als erster hindurch, doch ich zögerte. Wollte ich wirklich gehen? Konnte ich mich nicht einfach hier einschließen und warten, bis die ganze Sache vorbei war? Warum musste ich gehen, obwohl ich bleiben wollte? Doch ich kannte die Antwort. Ich hatte es bereits selbst erlebt.

Doch gerade, als ich ihm folgen wollte, fiel mein Blick noch einmal auf die Kommode neben der Tür. Das Buch, welches meine Eltern mir zum Geburtstag geschenkt hatten, lag immer noch verlassen da. Mein Geschenk. Extra für mich ausgesucht. Meine Eltern … Was sie jetzt wohl machten?

„Komm schon!“ Ich zuckte zusammen und eilte aus der Tür.

 

Dass ich das Buch mitgenommen hatte, bemerkte ich erst, als wir bereits die Treppe herunter eilten. Das ältere Ehepaar, das gerade den Fahrstuhl betrat, als wir auf der untersten Etage angekommen waren, beachtete uns nicht eine Sekunde lang. Die Anonymität der Großstadt. Manchmal hatte sie doch Vorteile.

 

Der Regen war stärker geworden. Ich schlang meine Arme schützend um das Buch und hätte dabei beinahe meine Handtasche fallen gelassen. Wir huschten über den nassen Beton und ich seufzte geräuschlos, als mich das Metall des Autos wieder umschloss.

Jaden verschwendete keine Sekunde und lenkte den Wagen sofort aus dem Wohnviertel heraus. Wenig später waren wir nur noch ein Kleinwagen von vielen.

 

Ich holte tief Luft und merkte erst jetzt, dass ich sie bei unserer Flucht angehalten haben musste. Meine Lungen schrien bereits nach Sauerstoff. Erst, als die dunklen Riesen im Rückspiegel langsam immer kleiner wurden, begriff ich, dass wir es geschafft hatten. Die ganze Aktion hatte keine 15 Minuten gedauert. Jetzt, wo ich wieder atmen konnte, musste ich zugeben, dass ich ein wenig beeindruckt war. Ich hätte nicht gedacht, dass das wirklich so heimlich, still und leise vonstattengehen konnte. Und wenn die Spuren jetzt noch einen kleinen Hinweis geben konnten, konnte ich vielleicht bald wieder nach Hause …

 

Meine Finger krallten sich fester um den Handgriff der Türverkleidung, als Jaden auf die betonierte Straße abbog. Zwar war das nicht die Straße, auf der ich das erste Mal in Richtung Miene gefahren war, aber das hieß nicht, dass die noch in viel besserem Zustand war. Immerhin war sie mit unserem Kleinwagen noch befahrbar. Wenn man den größeren Schlaglöchern auswich, jedenfalls.

Kurz bevor wir das Bergwerksgelände erreicht hatten, bog Jaden in einen kleinen Trampelpfad ab und stellte den Motor ab. Ich musste wohl ein fragendes Geräusch von mir gegeben haben, denn der Rothaarige wandte sich mir kurz zu.

„Wir gehen von hier an zu Fuß. Unser Versteck würde auffliegen, wenn ständig Autos in ein abgeriegeltes Gelände fahren würden.“

„Und das Auto?“

„Darum kümmert sich später jemand. Und hör bitte auf zu weinen, ja? Für eine Möchtegernheldin war das wirklich nicht schlecht.“ Ich zuckte zusammen. Was? Ich hob meine zitternden Finger und erschrak, als ich wirklich etwas Feuchtes auf meinen Wangen spürte. Oh nein, nein, nein! Wieso bloß? Beschämt wischte ich die lästigen Spuren von meiner Haut.

„Ich weine doch gar nicht. Das ist nur der Regen“, meinte ich kleinlaut und hätte mich selber für diesen Spruch ohrfeigen können. Wie kindisch und klischeehaft war das denn bitte?

„Na dann ist ja gut. Und jetzt komm.“ Kurz bevor Jaden als erster ausstieg, konnte ich noch ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht erkennen. Machte er sich schon wieder über mich lustig?

 

Die Tür schlug hinter ihm zu und ich warf einen letzten, resignierten Blick auf die Wassertropfen, die immer noch gegen die Frontscheibe schlugen, bevor ich ihm widerwillig nach draußen folgte.

Als das kalte Wasser auf meine Haut traf, zuckte ich kurz zusammen. In der Stadt hatte es sich irgendwie angenehmer und wärmer angefühlt. Zumindest war ich froh, dass ich es geschafft hatte, das dicke Buch doch noch in der eigentlich zu kleinen Handtasche zu verstauen. So würde es wenigstens keinen Schaden nehmen.

 

So schnell ich konnte hüpfte ich über Stöcke und Steine und zwängte mich durch dichtes Gebüsch, um Jaden wieder einzuholen, dem es scheinbar nicht mal in den Sinn gekommen war, auf mich zu warten.

Vielleicht hoffte er ja, dass ich mich verlief und elendig im Wald verhungerte? Also, den Gefallen würde ich ihm sicher nicht tun! Das schwere Buch in meiner Tasche verfluchend, kletterte ich über eine riesige, umgefallene Eiche, die meinen Weg versperrte; immer darauf bedacht das Kleid nicht zu zerreißen. Beinahe erleichtert sprang ich die letzten Zentimeter von der Astgabelung herunter, nur um kurz darauf erschrocken innezuhalten. Direkt vor mir ragte ein drei Meter hoher Elektrozaun in den verregneten Himmel, dessen Top durch zusätzlichen Stacheldraht verstärkt wurde. Da wollten wir wirklich drüber?

„Amelina, hier drüben!“ Ich drehte mich zu der Stimme um und sah, wie Jaden bereits ungeduldig auf mich wartete. Mir einer Hand schob er das Metall des Zauns soweit zur Seite, dass ein Durchkommen an dieser Stelle ohne Probleme möglich war. Und Strom gab es offensichtlich auch nicht mehr.

Ich schlidderte durch den Matsch zu ihm hinüber und duckte mich durch die Öffnung. Der beinahe schon bekannte Anblick von verrostetem Metall und geborstenem Beton begrüßte mich und es dauerte nicht lange, bis sich einige Schatten zu lösen schienen. Als Jaden neben mich trat, nickte er den zwei durchnässten Männern zu, welche uns bedeuteten ihnen zu folgen.

Nervös schloss ich mich der kleinen Gruppe an und wartete darauf, dass die Dunkelheit des Gebirges mich wieder verschluckte.

 

+++++

 

Der Aufruhr war groß gewesen. McSullen hatte bereits auf uns gewartet. Und auch die anderen Herrschaften der Verschwörungsgruppe kamen sofort herbeigeeilt, als sie von unserer Ankunft hörten.

Mir hingegen war das alles egal. Mir war kalt, ich war klatschnass, hatte Hunger und war müder als je zuvor. Dass ich die nasse Perücke schon eine Weile hinter mir her schleifte, schien ebenfalls niemanden zu stören. Mich am wenigsten. Konnte Jaden denen doch alles erzählen. Ich kleines Mädchen hätte das wahrscheinlich eh nicht gut genug gemacht.

 

„Aurelia? Bring Amelina doch bitte in ihr Zimmer, ja?“ Ich war aufgeschreckt, als ich meinen Namen gehört hatte und bemerkte die Anwesenheit der Blonden, die ihrem … Freund gerade um den Hals hing, erst in diesem Moment. Widerwillig schien sie ihn loszulassen, verabschiedete sich mit den Worten „Bis gleich“ und zog mich regelrecht hinter sich her. Warum sie es so eilig hatte, konnte ich mir gut denken.

Sofort, als sie bei mir war, griff sie in eine ihrer Hosentaschen und streckte mir die Hand entgegen. Dort lag er. Funkelnd. So, wie ich ihn zurückgelassen hatte. Überglücklich nahm ich die Kette mit meinem Segensstein entgegen und legte sie sogleich wieder um. Das vertraute Gewicht drückte Sekunden gegen meine Haut.

Wir waren erst wenige Meter weit gekommen, ehe ein lautes Schrillen ertönte und die junge Frau etwas aus ihrer Tasche zog: Ein altes Funkgerät.

 

Ich verstand nicht viel, nur, dass es wohl doch Schwierigkeiten gegeben hatte. Zwar nicht bei uns, aber bei den anderen Männern. Waren sie entdeckt worden? Ging es ihnen gut?

Doch ich war zu müde, um groß den Mund zu öffnen und zu fragen. Ich beobachtete ihren starren Gesichtsausdruck noch eine Weile, ehe sie das Funkgerät zurück in ihre Hosentasche steckte und mich grob bei den Schultern packte.

„Es ist nicht mehr weit bis zu deinem Zimmer, okay? Das schaffst du auch alleine! Ich muss dringend wieder zurück!“ Ich nickte hölzern. „Super. Nur noch da vorne“´, sie zeigte auf die nächste Abbiegung, „nach rechts, dann wieder rechts und noch einmal links, dann erkennst du schon das Badezimmer. Mach dich erst einmal frisch und ruh dich aus. Ich komme später nochmal vorbei!“

 

Und schon war sie weg und ich alleine. Ich seufzte tief.

Mit schweren Schritten folgte ich ihren Anweisungen und konnte tatsächlich, trotz der außergewöhnlichen Dunkelheit, am Ende des Ganges die Tür zum Badezimmer erkennen. Eine oder sogar mehrere Lampen mussten wohl defekt sein.

Doch einen geraden, ebenen Gang würde ich wohl auch noch im Dunkeln entlanglaufen können. Und trotzdem … Dieses beklemmende Gefühl ließ mich einfach nicht los. Ein leises Knartschen hinter mir ließ mich ruckartig innehalten.

 

„Gib ihn mir …“ Mein Atem stockte. Ich spürte, wie sich jedes einzelne meiner Haare langsam aufrichtete. Da war doch …?

„Ist … da wer?“ Meine Stimme klang ungewöhnlich laut in der Dunkelheit. Wieso war ich auch gerade an einer Stelle stehen geblieben, die das Licht so gut wie gar nicht erreichte? Ich sollte einfach weitergehen und so tun, als hätte ich nichts gehört. Schnell.

Doch ich hätte es vorher wissen müssen. So etwas wie „Glück“ hatte ich nicht.

 

Ich konnte nicht mal einen Schritt machen, ehe ich schmerzhaft mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug. Das einzige, was ich in der Dunkelheit erkennen konnte, waren die wirren Augen des Mannes, der auf mir saß und mich mit aller Macht auf den Boden drückte.

Der Schrei blieb mir in der Kehle stecken.

 

Rivalen

Ich roch seinen muffigen Atem. Wie eine Wolke aus alkoholischen Dämpfen hing er über mir und nahm mir die Luft zum Atmen. Sein schwerer Körper drückte unangenehm auf meinen Magen; meine Haut scheuerte über den Steinboden, als ich versuchte mich von ihm zu befreien. Doch seine Hände umschlossen meine Handgelenke wie Schraubzwingen und drückten sie erbarmungslos über meinem Kopf zusammen.

Ich hatte keine Chance.

 

„Loslassen!“, verlangte ich heiser, doch der Mann auf mir bewegte sich keinen Millimeter. Seine fettigen, dunklen Haare hingen wie Spinnenbeine an seinem Kopf herunter und ich spürte, wie sie mein Gesicht streiften. Er kam immer näher …

„Gib ihn mir!“ Es war kaum mehr als ein Röcheln, das seinem Mund entwich. Sofort schlug mir wieder sein schlechter Atem entgegen und ich kämpfte verzweifelt gegen den aufsteigenden Würgereflex.

„Was geben? Ich weiß nicht, was sie von mir wollen! Ich habe nichts! Wirklich!“ Ich wusste keinen Ausweg mehr. Wollte schreien und konnte es doch nicht. Ich rang panisch nach Luft. Meine eiskalten Glieder versagten ihren Dienst. Konnten nicht mehr gegen ihn ankämpfen. Kraftlos sackte ich in mich zusammen. Und nun kamen sie. Die Tränen. Heiß brannten sie auf meinen Wangen und mein Schluchzen durchbrach die betäubende Stille.

Ich hatte Angst. So furchtbare Angst.

„Den Segensstein … Gib ihn mir! Er gehört mir!“

 

Noch ehe ich darauf reagieren konnte, verschwand der Druck plötzlich von meinem Körper. Instinktiv zwang ich meine tauben Muskeln, mich wegzubringen. Weg von ihm.

Ich stieß mit dem Rücken gegen die Wand und beobachtete, wie eine zweite Schattengestalt den Typen hart am Kragen fasste und zu sich heran zog. Auch wenn ich nichts Genaueres erkennen konnte, war es sofort klar, dass der Neue deutlich jünger war, als der andere.

„Kevin! Bist du noch ganz bei Trost? Lass gefälligst deine dreckigen Finger von dem Mädchen, oder ich werde persönlich dafür sorgen, dass du ab Morgen im Wald haust!“

„Er gehört mir … mir!“ Der Ton in seiner Stimme schwang schlagartig um. Aus dem schweren, dunklen Röcheln war nun ein hohes, verzweifeltes Winseln geworden.

„Du weißt, dass das nicht stimmt! Dein Stein ist weg und du wirst ihn wahrscheinlich nie wieder sehen! Finde dich endlich damit ab und hör auf andere Leute zu belästigen. Und noch was …“ Plötzlich wurde die Stimme des Jüngeren so dunkel, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. „Wenn du ihr noch einmal zu nahe kommst, dann garantiere ich für nichts mehr, hast du verstanden?“ Ein hohes, unmenschliches Quietschen folgte und im nächsten Moment trennten sich die beiden Männer voneinander. „Gut.“

 

Unwillkürlich zuckte ich zurück, als der Fremde sich mir näherte. Einen Moment später streckte er mir seine Hand entgegen.

„Komm. Ich bring dich in dein Zimmer.“ Mit einem Mal vergaß ich meine Angst komplett, als er mit mir sprach. Anstatt des dunklen, strengen Tons, klang er nun plötzlich freundlich und hilfsbereit. Seine ganze Stimmlage hatte sich innerhalb von Sekunden völlig verändert. Bevor ich es selbst registrierte, hatte ich bereits seine Hand genommen und stand wieder auf meinen eigenen, wackeligen Beinen.

Ich spürte, wie er einen Arm um meine Schultern legte, um mich so zu stützten und mich den restlichen Weg zu begleiten. Den anderen Mann ließen wir einfach zurück. Nur das hohe Wimmern, dass durch den Gang hallte, erinnerte noch an seine Anwesenheit.

 

Wir bogen an der Badezimmertür links ab und mein ganzer Körper entspannte sich, als die Tür zu meinem Zimmer – meinem sicheren Ort – endlich in Sichtweite kam. Erst jetzt wagte ich einen kurzen Blick auf meinen Retter.

Er war wohl ein paar Jahre älter (Mitte 20?) und ein gutes Stück größer als ich. Seine längeren, braunen Haare standen in sanften Wellen von seinem Kopf ab und schienen dieselbe Farbe wie seine Augen zu haben. Seine gut gebräunte Haut war unter einem modischen Oberteil bestehend aus einem langärmeligen Shirt, einem schwarzen, darüber gezogenen T-Shirt mitsamt einer grau/lilafarbenen Weste und einer verwaschenen Jeans versteckt. Die metallische Kette um seinen Hals gab mit jedem seiner Schritte ein beinahe lautloses Klirren von sich. Ich musste zugeben, er war wirklich ziemlich attraktiv …

 

Ich hatte wohl zu offensichtlich zu ihm herüber gesehen, denn als er seinen Kopf in meine Richtung wandte, hatte er ein schiefes Lächeln aufgesetzt.

Das“, lächelte er und zwinkerte mir zu, „heben wir uns für später auf, ja? Holen wir dich erst mal aus den nassen Klamotten raus. Auch wenn dir dieses Kleid wahnsinnig gut steht!“

Plötzlich war die Kälte aus meinem Körper vertrieben. Mein Gesicht glühte vor Scham und ich wandte den Blick schnell zur anderen Seite. Zu meiner Erleichterung standen wir bereits direkt vor meiner Zimmertür.

Schnell zog ich das quietschende Metall auf und stolperte in die Dunkelheit des Raumes. Das Licht flackerte langsam auf, als ich den Schalter betätigte und der bloße Anblick des alten Bettes und der noch älteren Einrichtung ließ mein wild schlagendes Herz langsam zur Ruhe kommen. Erst, als ich seine Stimme hinter mir hörte, wandte ich mich wieder um.

„Deine Tasche“, meinte er und ich sah, wie er sie neben dem Eingang gegen die Wand lehnte. Die musste ich vorhin wohl verloren haben. „Zieh dich erst mal um. Ich warte solange vor der Tür. Du brauchst dir also keine Sorgen um Spanner zu machen.“ Bei dem letzten Satz grinste er noch breiter und trieb mir erneut die Schamesröte ins Gesicht. Ich wandte mich beschämt ab und hörte das Quietschen des Metalls. Ganz schließen tat er die Tür aber nicht. Der Spalt war jedoch so klein, dass ich mir keine großen Sorgen machte. Ich hatte dem Jungen dazu noch eine ganze Menge zu verdanken. Also widmete ich mich dem Stapel Kleidung, in dem ich bereits die gestrige Nacht verbracht hatte.

 

Nachdem wir einige Momente geschwiegen hatten, hielt ich die Stille nicht mehr aus.

„Danke“, meinte ich leise. „Für eben.“

„Kein Problem. Ich konnte ja nicht einfach zugucken. War jedenfalls purer Zufall, dass ich mich hier hinten herumtreibe. Normalerweise bin ich eher im anderen Teil dieses Labyrinths unterwegs. Aber ich bin froh, dass ich diesmal diesen spontanen Umweg gemacht habe.“ Wieder fingen meine Wangen an zu glühen, als ich das Lächeln aus seinem letzten Satz heraushörte. Mein Herz wusste gar nicht, ob es viel zu schnell, viel zu langsam oder vielleicht auch gar nicht schlagen sollte.

Mit einem Ruck öffnete ich den Kleiderschrank und suchte nach einem leeren Kleiderbügel.

„Was … Wollte dieser Kerl eigentlich von mir?“ Ein leises Quietschen signalisierte mir, dass der Brünette wohl von außen gegen die Tür gekommen war.

„Kevin. Na ja, wie soll ich sagen. Ihm ist mal etwas Schlimmes passiert und er kommt einfach nicht darüber hinweg. Er war vor ungefähr fünf Jahren in derselben Situation wie du – wie wir alle hier – und er ist nur knapp mit dem Leben davongekommen. Sein Segensstein allerdings … Der Doc meinte er sei dadurch … verrückt und depressiv geworden.“

Ich hielt in meiner Bewegung inne. Das nasse Kleid hing nur zur Hälfte auf seinem Kleiderbügel, doch der Kloß in meinem Hals ließ meinen Körper gefrieren. Plötzlich hatte ich die geröchelten Worte des Typs wieder im Kopf. „Gib ihn mir! Er gehört mir!“ Auf einmal sah ich den ganzen Vorfall in einem anderen Licht, doch rechtfertigte das wirklich alles?

„Verstehe …“, murmelte ich so leise, dass er es vor der Tür wahrscheinlich gar nicht hören konnte.

 

„Bist du fertig? Kann ich reinkommen?“ Ich zuckte zusammen und merkte noch, wie mir das Kleid aus den Händen rutschte. Wie ein nasser Sack fiel es zu Boden und färbte den Betonboden dunkel.

„Äh, ja. Natürlich“, meinte ich beschämt, bückte mich schnell danach und hing das Kleid erneut auf den Haken, damit ich es zum Trocknen an dem Spind drapieren konnte. Die Tür gab ihr übliches, nerviges Geräusch von sich und ich hörte Schritte an den Wänden widerhallen. Ich wandte mich in seine Richtung. Er durchquerte den Raum und legte die Handtasche, die er wohl eben wieder aufgehoben haben musste, auf den kleinen Schrank neben dem Bett, auf dessen Kante er sich dann setzte.

Mit nervösen Schritten ging ich zu ihm hinüber und setze mich neben ihn an das Fußende. Steif, wie ein Brett. Augen stur auf meine verknoteten Finger gerichtet. Was war ich doch bloß für ein Feigling!

 

„Da unser Kennenlernen ja ein wenig … in die Hose gegangen ist, sollten wir das lieber noch einmal richtig machen.“ Ich blickte auf. „Ich heiße Adelio Di Lauro. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Ich nahm kurz die Hand, die er mir zum Gruß reichte, und erwiderte das kleine Lächeln auf seinem Gesicht.

„Amelina Hikari. Aber meine Freunde nennen mich nur Lina. Freut mich auch.“

„Amelina. So ein schöner Name. Aber wenn du das so möchtest, nenn ich dich auch gerne Linchen.“ Ich stutze. Linchen? Das hat meine Mutter früher oft zu mir gesagt. Und eigentlich war ich froh diesen Spitznamen los zu sein. Aber anhand des vergnügten Funkelns in seinen braunen Augen war mir schnell klar, worauf sein Kommentar hinaus wollte.

„Danke, ich verzichte. Für dich dann noch lieber Amelina.“ Sofort fing mein Gegenüber lauthals an zu lachen und erstaunlicherweise ließ ich mich davon anstecken. Es tat gut endlich einmal wieder richtig lachen zu können. Beinahe so, als wäre diese ganze Sache hier nicht real und nichts weiter als ein Albtraum.

„Oh, oh. Das Kätzchen weiß sich zu verteidigen.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Sowas mag ich besonders.“ Und da war es wieder. Das Brennen auf meinen Wangen. „Zu schade, dass sie dich diesem inkompetenten und ungehobelten Trottel anvertraut haben. Wir beide hätten bestimmt eine Menge Spaß zusammen.“ Bitte, was?

 

„Ich hoffe doch, dass mit der Bemerkung nicht ich gemeint war.“ Ich wandte mich zur Tür. Adelio seufzte.

„Ah, wenn man vom Teufel spricht.“ Jaden stand lässig gegen den Türrahmen gelehnt und sah zu uns hinüber. Sein Blick sprach Bände.

„Was machst du eigentlich hier, hm? Ich habe gehört, die Pasta sei schon längst fertig und sie bräuchten noch wen, um die Soße abzuschmecken. Ein Wunder, dass du noch nicht da bist.“ Der Brünette stand mit solch einer Wucht auf, dass der ganze Schrank, inklusive Bettgestell, vibrierte. Die Stimmung schien schlagartig zu kippen. Die Luft drückte plötzlich schwer auf mich. Besorgt blickte ich zwischen den beiden Männern hin und her.

 „Du immer mit deinen Vorurteilen. Immerhin bin ich nur zum Teil Italiener. Was aber nicht heißt, dass ich nicht ebenso temperamentvoll sein kann …“ Adelio stand nun dicht vor dem Rothaarigen, der sich direkt vor der Tür aufgebaut hatte. Dass Jaden einen guten Kopf kleiner war, als sein Gegenüber, schien ihn gar nicht weiter zu stören.

„Von diesem beeindruckenden Schauspiel durfte ich glücklicherweise bereits Zeuge sein.“ Die Luft zwischen ihnen schien bereits zu Knistern und ich wartete angespannt auf das erste Anzeichen einer beginnenden Schlägerei.

„Du solltest mal ganz still sein, mein Freund. Du tust immer so scheinheilig und willst allen weiß machen, dass dir das Leben anderer wirklich etwas bedeutet. Aber ich weiß, was für ein arroganter Mistkerl du doch bist. Ein Heuchler. Wenn ich nicht zufällig dagewesen und deinen Job gemacht hätte, wäre Lina wahrscheinlich verletzt worden!“ Atmete ich überhaupt noch? Ich wusste es nicht und es war mir egal. Ich sah, wie Jadens Lächeln urplötzlich verschwand.

„Wovon redest du?“

„Du weißt echt gar nichts. Du warst viel zu beschäftigt damit dich in deinem Erfolg zu suhlen und deinen Rachefeldzug gegen die schwarzen Kerle fortzusetzen, dass du Lina alleine und völlig entkräftet losgeschickt hast! Und weißt du was? Kevin ist hier fröhlich rumspaziert und wollte die Gelegenheit gleich mal ausnutzen! Hast du eine Ahnung, was er mit ihr hätte machen können? Der Kerl ist verdammt nochmal gefährlich, wenn er wieder auf einem seiner Trips ist! Annett kann dir das sicherlich bestätigen!“ Mein Körper verkrampfte. Wer war Annett? Und was hat dieser Kevin denn Schreckliches mit ihr angestellt? Auf einmal war mir richtig übel.

„Kevin? Nein, der ist doch …“

„Mir ist absolut egal, was du denkst!“, unterbrach Adelio ihn lautstark. „Es ist so gewesen und es hätte noch viel schlimmer ausgehen können! Soll ich dir was sagen? Verschwinde. Verschwinde einfach von hier. Ich werde von heute an auf Lina aufpassen. Dann kannst du dich endlich um Wichtigeres kümmern. Denn mir wäre es nicht egal, wenn ihr etwas passiert!“

 

Die Luft war zum Schneiden dick. Und eisig. Keiner von den beiden rührte sich auch nur einen Millimeter. Ihre kalten Augen starr auf den anderen gerichtet. Mittlerweile wusste ich, dass ich die Luft angehalten hatte, denn meine Lunge brannte bereits, doch ich brachte es kaum über mich zu atmen. Ich hatte das Gefühl, als klänge selbst das unerträglich laut.

 

„So, da bin ich. Entschuldige, dass ich …“ Aurelia stockte, als sie durch die immer noch offene Tür trat und die Situation bemerkte. Ein Hauch von Verwirrung und Sorge spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder und als sie mich fragend ansah, konnte ich nicht anders, als kaum merklich den Kopf zu schütteln. Ihre Augen weiteten sich noch mehr, als sie ihren Blick wieder auf die Streithähne heftete.

Ich weiß nicht, wie lange es noch gedauert hatte, bis Jaden plötzlich ohne ein weiteres Wort kehrt machte und blitzschnell das Zimmer verließ.

„Jaden? Hey!“, rief Aurelia ihm noch hinterher, doch ohne Erfolg. Irritiert wandte sie sich an Adelio.

„Was ist denn passiert? Habt ihr euch wieder gestritten?“

„Vergiss es, Blondie“, wimmelte er sie ab. Sie bedachte ihn mit einem wütenden Blick. „Er hat nur bekommen, was er verdient hat.“ Ohne die giftigen Worte des Mädchens vor ihm weiter zu beachten, kam er wieder zu mir herüber.

 

Ein riesiger Stein war von meinem Herzen gefallen, als der Streit ohne Prügelei beendet wurde. Ich kannte zwar beide Jungs erst ganz kurz und einer davon war auch noch ein arroganter Kotzbrocken, aber trotzdem wollte ich nicht, dass einer von ihnen verletzt wird. Nicht wegen mir.

„Lina?“ Ich schreckte auf, als ich bemerkte, wie dicht Adelio gerade vor mir saß. Er hatte sich vor das Bett gehockt und sah nun zu mir hoch. „Du siehst müde aus. Du solltest dich wirklich hinlegen.“ Müde? Erst, als er es erwähnt hatte, bemerkte ich diese schwere Decke aus Erschöpfung, die schon seit einiger Zeit auf mir liegen musste. Plötzlich drehte sich alles. „Hey, alles okay mit dir?“

Ich fasste mir an die Stirn und nickte stumm. Meine kühlen Finger fühlten sich angenehm auf meiner überhitzten Stirn an.

„Ich bin wohl … wirklich müde.“

„Dann ruh dich erst mal in Ruhe aus.“ Sein Lächeln war so strahlend und aufrichtig, dass sich mir ebenfalls eins auf die Lippen schlich.

„Ich habe dir eine Kleinigkeit zu essen besorgt.“ Im selben Moment erschien eine kleine Plastikdose vor meinen Augen, die mit sehr lecker aussehenden Sandwiches gefüllt war.

„Danke“, sagte ich leise und nahm Aurelia die Box ab. Augenblicklich meldete sich mein leerer Magen lautstark zu Wort.

„Ja, das ist wirklich eine gute Idee“, hörte ich Adelio lachen und lief ein wenig rot an. „Dann mach es dir bequem.“ Schwungvoll stand er auf. „Ich hole dich morgen früh zum Frühstück ab. Es soll ja nicht heißen, dass wir unsere Gäste hungern lassen.“ Ich nickte. Die Aussicht auf ein richtiges Frühstück war wirklich verlockend. „Blondie und ich verziehen uns dann mal.“ Unter lautem Protest schob er die Blonde, die gegen seine Kraft absolut nichts ausrichten konnte, aus der Tür, bevor er noch einen letzten Blick zurück warf. Ein letzter Blick, ein letztes Lächeln, ehe das Metall erneut ins Schloss fiel und ich alleine zurückblieb.

 

Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt. Kaum ein richtiger Gedanke war noch möglich. Immer wieder schweiften sie in schier unendliche Entfernung ab. Das Treffen am Morgen und der neugefasste Plan. Meine Wohnung, die jetzt ein Tatort war. Der Versuch, meinen Segensstein zu stehlen. Dort, wo ich eigentlich sicher sein sollte.

Im Nachhinein schien das alles viel zu viel zu sein, um an einem einzigen Tag stattgefunden zu haben. Viel zu abstrus.

Doch ich hatte alles erlebt. Konnte jede Sekunde des Tages abrufen. Nochmal durchleben.

 

Ich zwang mich, nicht daran zu denken. Schnell machte ich mich über die belegten Brote her, um meinen Kopf abzulenken, und konnte es kaum erwarten, mit dem Schlüssel neben der Tür das Schloss zu verriegeln, um endlich in Sicherheit zu sein! Und dann wollte ich nur noch schlafen. Nur noch meinen eigenen Gedanken entfliehen.

 

+++++

 

Ich war schon eine gute Stunde wach und saß nachdenklich auf der Bettkante. Mehr als meine Schlafkleidung gegen eine Jeans mit Pullover zu tauschen und mir vorsorglich Schuhe anzuziehen, hatte ich bisher nicht geschafft. Darum war ich auch etwas überrascht, als es plötzlich an der Tür klopfte. Ich legte das Buch meiner Eltern, welches bis eben zusammengeklappt auf meinem Schoss gelegen hatte, neben mich und nach einem vorsichtigen „Herein“ meinerseits, tauchten Adelios braune Haare im Türspalt auf.

„Morgen, Linchen! Ich hoffe, du hast gut geschlafen!“ Einen kurzen Moment lang überlegte ich ihm noch einmal zu sagen, dass er mich nicht so nennen sollte, entschied mich dann aber doch dagegen und es einfach zu ignorieren.

„Guten Morgen. Danke, das habe ich.“ Ich hatte zwar nicht lange geschlafen, dafür aber wirklich gut. Ich fühlte mich tatsächlich ziemlich ausgeruht.

„Freut mich zu hören“, lächelte er. Ob aus aufrichtiger Anteilnahme oder über die Tatsache, dass ich ihn mit dem kindischen Spitznamen davon kommen ließ, wusste ich nicht. Aber ich war in diesem Moment mit beidem einverstanden. „Jetzt gibt’s erst einmal etwas Richtiges zum Essen! Zumindest, wenn wir uns ein bisschen beeilen. Sonst kann es leider passieren, dass ich auf halbem Weg verhungere!“ Lächelnd nahm ich seinen gespielt gequälten Gesichtsausdruck wahr und trödelte nicht länger. Ich verließ das Zimmer und folgte ihm durch die zahllosen Gänge dieser Anlage.

 

Doch etwas schien heute anders zu sein, als die Tage zuvor. Es herrschte immer noch dieselbe Dunkelheit, die nur durch wenige alte Glühbirnen oder dort, wo es keine Stromkabel mehr gab, mit Fackeln erhellt wurde. Aber gleich, als ich mein Zimmer verlassen hatte, war mir dieser muffige Geruch aufgefallen. Es roch nach nasser Erde. Ziemlich penetrant. Ich rümpfte die Nase.

„Es hat die ganze Nacht geregnet“, begann Adelio plötzlich und ich bemerkte, dass er sich zu mir umgedreht hatte. „Das Wasser ist in den Boden eingesickert und das Grundwasser dadurch angestiegen. Und da riecht es hier leider immer wie Komposthaufen ganz unten.“ Mein leises Kichern hallte von den Erdwänden wieder, deren Stabilität nur durch ein paar morsch aussehende Holzbalken gesichert wurde. Seinen Vergleich war ziemlich treffend.

„Und warum seid ihr dann hier unten? Gab es keinen anderen Ort, an den ihr hättet gehen können? Einen … ähm … etwas schöneren Ort?“ Die Frage spukte mir schon einige Zeit in meinem Kopf herum. Ich sah, wie er mit den Schultern zuckte und den Blick wieder nach vorne richtete. Gerade noch rechtzeitig, um nicht über die seitlich abgestellte Holzkiste zu fallen.

„Dies war einfach der sicherste Ort, den wir finden konnten. Es ist nicht leicht, sich vor einer ganzen Horde blutrünstiger, heimtückischer Mistkerle zu verstecken. Und in unterirdische Orte, die angeblich lebensgefährlich kontaminiert sind, verirrt sich normalerweise eben niemand. Und dazu kommt noch die Nähe zu Summer Hills. Das ist wirklich sehr praktisch für uns in Bezug auf Vorratsbeschaffung. So fällt es uns leichter unsere Einkaufstrupps über die Stadt zu verteilen, ohne, dass wir uns verraten würden. Mir wäre ein Strandhaus am Meer aber auch lieber gewesen, glaub mir.“

Lebensgefährlich kontaminiert. Diese Tatsache jagte mir noch immer einen eisigen Schauer durch den Körper. Doch die Menschen hätten sich hier nicht über Jahre hinweg ein Leben aufgebaut, wenn die Verseuchung wirklich nicht nur ein Gerücht gewesen wäre.

„Wie lange … bist du schon hier?“ Ich musste gestehen, ein wenig neugierig war ich wirklich. Außerdem drängte es die Nervosität, die beim Durchlaufen dieser kalten, dunklen Gänge unwillkürlich in mir hochkroch, ein wenig in den Hintergrund. Solange ich ihn reden hören konnte, fühlte ich mich nicht allein.

„Ach weißt du. Wenn man schon eine Weile in dieser Sache drinsteckt, vergisst man das irgendwie. Aber wenn ich so darüber nachdenke … Es dürften jetzt beinahe drei Jahre sein.“ Seine monotone Stimme verwunderte mich. Es klang eher, als würden wir Small-Talk über das Wetter machen, anstatt über einen Abschnitt voller Angst und Tod zu sprechen. Ich schluckte.

„Drei Jahre? Aber, vermissen dich deine Eltern und Freunde nicht? Wissen sie, wo du bist?“ Ich sah, wie sich seine Haare rhythmisch mit jedem Kopfschütteln mitbewegten.

„Nein. Meine Freunde wissen nichts von dem, was mir passiert ist. Ich war plötzlich einfach weg. Und meine Eltern dürfte das nicht besonders interessiert haben. Wir hatten schon einige Jahre vor meinem Verschwinden keinen Kontakt mehr. Die haben mich wahrscheinlich längst als tot abgestempelt und irgendwo im Wald lieblos ein Kreuz in die Erde rammen lassen. Da, wo es bloß nichts kostet. Das würde zu ihnen passen.“

 

Fassungslos blickte ich auf seinen breiten Rücken. Wie ein Eiszapfen bohrte sich diese Tatsache in mein Gehirn und eine Welle von Mitleid für den jungen Mann vor mir ließ mein Herz verkrampfen. Wie kann das Leben eines Kindes seinen Eltern bloß egal sein?

„Das … tut mir leid“, presste ich leise mit meinen unkooperativen Stimmbändern hinaus.

„Ach, mach dir nichts draus!“ Er sah über seine Schulter auf mich zurück und grinste mich an. „Mir ist das ganz recht so. Ich komme besser alleine klar. Aber mach dir keine Sorgen. Du kannst bestimmt bald wieder nach Hause. Da bin ich mir sicher!“

 

Selbst, wenn ich zu einer Antwort fähig gewesen wäre, hätte ich darauf nichts erwidern können, da wir plötzlich von Menschen umringt waren. Der Seitengang, den wir gerade noch entlanggegangen waren und der kaum Platz bot, damit zwei Menschen nebeneinander laufen konnten, mündete in einen deutlich Größeren, beinahe Riesigen. Dies musste eine der Hauptverkehrsstraßen für die unterirdischen Minenfahrzeuge gewesen sein. Die, über die es immer Dokumentationen im Fernsehen gab. Und ich hätte schwören können, dass zwei von diesen riesigen Kipplastern ohne Probleme nebeneinander hätten fahren können.

Ein Stoß frischer Luft zog plötzlich an meinen Haaren und dem blauen Kapuzenpullover und ließ mich frösteln.

Mehrere Menschen zogen an uns vorbei und folgten der ansteigenden Straße, an deren Ende es ungewöhnlich hell war. Ging es dort etwa nach draußen? Der angenehme Duft von Regen lag in der Luft und ich atmete tief ein.

Vergessen war die muffige, kalte Enge der Minenschächte und die vorherrschende Dunkelheit. Es war beinahe so, als würde sich etwas Schweres von meinen Schultern heben. Ein schönes Gefühl.

 

Im Vorbeigehen erhaschte ich kurze Blicke auf die Gesichter der Anwesenden. Das erste, was mir auffiel, war die große Vielfalt an Menschen. Ich entdeckte neben älteren Herrschaften, jungen Frauen und mittelalten Männern auch zwei Kleinkinder. Ein jüngeres Mädchen – sie konnte kaum älter als 18 Jahre alt gewesen sein – trug sogar einen kleinen Säugling nahe ihrem Herzen. Er war wahrscheinlich erst wenige Wochen alt.

 

Adelio steuerte geradewegs auf eine größere Tür auf der rechten Seite zu und ich bemerkte bereits den köstlichen Duft von Backwaren. Die zwei aus ebenfalls rostigem Metall bestehenden Flügel standen gerade weit genug offen, damit ein Mensch locker hindurch passte. Andernfalls hätte sich auch ein ganzer Bus hindurch quetschen können.

Ich ließ einem älteren Ehepaar, welches gerade aus einem anderen Seitengang aufgetaucht war, den Vortritt und schob mich dann selbst durch die Tür. Zuerst fühlte ich mich wie erschlagen. Vor mir lag ein beinahe kirchengroßer Raum, dessen Wände mit massivem Beton verkleidet waren, der nur von einer oberlichtartigen Fensterreihe aufgebrochen wurde. Tische und Bänke reihten sich dicht an dicht in der hinteren, rechten Ecke und boten so Platz für mindestens 50 Leute. Elektronische Lampen und Kerzen zierten die Tische, die nur zu einem kleinen Teil besetzt waren. Direkt daneben war eine provisorische Küchenzeile aufgebaut, aus der ein köstlicher Duft den Raum erfüllte.

Der restliche Platz wurde scheinbar für Gruppenaktivitäten genutzt. Ich konnte in der einen Ecke eine alte Couchgarnitur erkennen und gleich neben der Tür war eine kleine Bibliothek aufgebaut, in der alte, zerschlissene Sessel zum Lesen einluden.

Trotz der alten Möbel – die sie wahrscheinlich vom Sperrmüll geholt hatten – war mit zahlreichen Dekorationen wie Bildern, Tischdecken und Teppichen eine erstaunlich angenehme Atmosphäre gezaubert worden.

Kaum zu glauben, dass dies einmal ein Unterstand für Mienenfahrzeuge gewesen sein musste.

 

„Und? Was sagst du? Ist doch gar nicht so übel, oder?“ Ich bemerkte erst, dass Adelio neben mich getreten war, als seine Stimme direkt von dort ertönte. Ein beinahe stolzes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Ich habe damals mitgeholfen die ganzen Möbel aufzutreiben und hier heranzukarren. Das war eine ziemliche Plackerei, das sag ich dir.“ Ich nickte ehrfürchtig.

„Unglaublich, was ihr hier geschaffen habt.“ Es gab nicht viel, was ich dazu sagen konnte, aber scheinbar war es genau das Richtige.

„Haha, danke, danke“, lachte der Braunhaarige und wirkte wegen des Kompliments sichtlich verlegen. Ich konnte nicht anders, als zu lächeln. Es war richtig niedlich, wie peinlich ihm das war …

 

„Amelina?“ Eine Stimme hinter mir ließ mich herum wirbeln. Sofort fiel mein Blick auf ihn und mein Herzschlag setzte kurz aus. Er war … wieder gesund?

„Colin. Wie schön dich wiederzusehen! Bist du wieder fit?“ Adelio schien der Anblick des Wissenschaftlers nicht so sehr zu erschrecken, wie mich. Vielleicht lag das daran, dass er nicht mit ansehen musste, wie er vor seinen Augen blutend und bewusstlos zusammenbrach …

„Haha, ja. Alles wieder okay. Ich hatte mich an dem Tag zu sehr verausgabt. Meine Schusswunde war wohl noch nicht so gut verheilt gewesen, wie ich gedacht hatte. Entschuldige Amelina, dass ich dir so einen Schrecken eingejagt habe.“ Als er mich direkt ansprach, zuckte ich ein wenig zusammen, doch ich versuchte den Schreck aus meinen Gliedern zu vertreiben.

„Ach was … Hauptsache, es geht dir wieder besser“, meinte ich leise und tatsächlich schien eine ungeheure Last von meinem Herzen zu fallen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass mich das so mitgenommen hatte.

„Ich danke dir. Und ich verspreche, dass das nicht wieder passiert. Schon gar nicht in deiner Gegenwart.“ Er hatte ein gewisses Funkeln in den Augen, was mich endgültig davon überzeugte, dass er wirklich wieder gesund war und mir das nicht vorspielte. Erleichtert lächelte ich zurück.

„Dafür wäre ich wirklich sehr dankbar.“

 

Colin setzte gerade zu einer Antwort an, als ein schriller Schrei die Luft zerriss und sein Lächeln sofort verblasste. Alle Anwesenden wandten sich ruckartig der Tür zu, genau in dem Moment, als ein Mädchen mit kurzen, dunkelblonden Haaren und dunklem Teint durch die Tür fegte. Mir wurde sofort übel, als ich ihr von Schmerz gezeichnetes und völlig verweintes Gesicht sah. Obwohl sie erst Anfang 30 sein konnte, wirkte sie um Jahre älter. Ihre Haare waren zerzaust, so, als hätte sie unkontrolliert mit ihren Händen darin herumgewühlt. Ihre Augen waren vom Weinen und von Kummer gezeichnet. Ihr Körper schien nicht zu wissen, ob er stehen oder auf der Stelle zusammenbrechen sollte.

Doch, als sie mich entdeckte, wandelte sich die Trauer augenblicklich in blanken Hass. Wie eine Furie stürmte sie auf mich zu. Ich spürte, wie mir die Luft wegblieb, als sie mich am Kragen meines Pullovers packte.

„Du! Du! Du bist schuld! Nur du! Wegen dir ist er tot! Tot!“ Ich drohte zu ersticken. Aber nicht, weil mich die junge Frau am Hals würgte, sondern weil mein Körper sich weigerte Luft zu holen. Ich wusste nicht, was sie von mir wollte, doch allein dieses Wort, dieses eine Wort, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.

„Emily! Was tust du?“ So schnell wie er gekommen war, so schnell verschwand der Druck auch wieder von meinem Hals. Nach Luft schnappend taumelte ich einige Schritte zurück, doch meine Sicht verschwamm und Angst schnürte noch immer meine Kehle zu.

Wie von Sinnen kämpfte die Frau gegen Adelios Griff an. Seine Hände umklammerten ihre und nahmen ihr so die Bewegungsfreiheit.

Sie ist schuld! Nur weil Patrik so großzügig war ihr zu helfen ist er nun tot! Erschossen! Nur weil sie hinter ihr her waren! Wieso? Wieso musste das passieren? Warum er und nicht sie?“

 

Plötzlich klang alles um mich herum seltsam dumpf. Alles brannte sich mit erschreckender Deutlichkeit in meine Gedanken. Aurelia hatte mich gestern alleine losgeschickt, weil irgendwas schiefgelaufen war. Das hatte doch die Person im Gespräch über das Funkgerät gesagt. War es das gewesen? Hatte einer dieser Männer, die in meiner Wohnung nach Spuren gesucht haben, den gestrigen Tag nicht überlebt?

War wirklich jemand meinetwegen gestorben?

„Emily! Das mit Patrik tut mir leid. Ich weiß, dass er dein Seelenpartner war, aber sein Tod war nicht Amelinas Schuld! Er hatte sich freiwillig für die Mission gemeldet, weil er endlich diesem unsinnigen Töten ein Ende setzen wollte! Er hat an diese Chance geglaubt! Schon allein, damit er dich beschützen konnte! Er wusste, worauf er sich einließ. Er kannte das Risiko …“ Mit jedem von Adelios Worten wurde mir elender zumute. Mit jedem Wort schien ein Stück mehr von mir zu sterben. Das konnte einfach nicht wahr sein!

„Nein! Nein … Nein, das darf nicht …! Patrik … Er kann doch nicht …“ Ihr Schluchzen erfüllte die Luft. Ich wollte weinen. Mit ihr trauern. Ihr Trost spenden. Doch ich konnte nicht. Da war nichts mehr in mir. Auch keine Traurigkeit. Ich war leer. Nur eine Hülle.

Wer war ich, dass ich mir das Recht nahm über Leben und Tod zu bestimmen? War es diese Aktion Wert gewesen, ein Menschenleben dafür zu riskieren? Wie viel durfte das Erreichen eines Ziels kosten? Was war es das wirklich Wert?

 

Ich musste hier raus. Ich drohte zu ersticken. Alles in mir verkrampfte. Ich hielt das nicht mehr aus!

Dass jemand meinen Namen rief, nahm ich kaum wahr. Ich wusste nur, dass meine Füße mich immer weiter trugen. Weiter weg von diesem Albtraum. Und es war mir völlig egal, wohin …

Kraftlos

Jeder Schritt tat weh. Ich spürte, dass die Muskeln in meinen Beinen bereits schmerzhaft protestierten. Ein Kribbeln, als wenn hunderte Ameisen unter meiner Jeans krabbeln würden, begleitete jede meiner Bewegungen. Doch ich zwang mich immer und immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Tiefer in dieses Gewirr aus Pflanzen und Bäumen. Der Regen, der schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf mich fiel, hinterließ ein klammes Gefühl auf meiner Haut. Meine Kleidung war längst getränkt von der kalten Flüssigkeit. Ich spürte, wie meine Haare nass und schwer auf meinem Kopf klebten. Mir teilweise die Sicht versperrten und störend in meinen Augen hingen.

Ich war weggelaufen, ohne mich um irgendetwas oder irgendwen zu kümmern. Warum sollte ich auch? Ich machte alles nur noch schlimmer, als es sowieso schon war. Wieso sollte ich also immer noch dort bleiben? Sie brauchten mich nicht. Ich stand ihnen nur im Weg. Doch noch viel schlimmer war die Tatsache, dass ich mir selber im Weg stand.

 

Ich merkte, wie meine Schritte immer kleiner wurden und dass mein Körper nicht mehr wollte. So erschöpft, wie ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt hatte, setzte ich mich an einem nahen Baum nieder. Kraftlos ließ ich mich an der Rinde hinabgleiten und fühlte, wie mein Körper sich tief in den matschigen Untergrund zwischen den bodennahen Wurzeln bohrte. Schnell fraß sich die Kälte durch meine Kleidung, die sowieso schon völlig durchnässt war und ich begann zu zittern.

Tropfen für Tropfen schälte sich aus der grauen Wolkenwand über mir und ich hörte jeden einzelnen von ihnen, wenn sie auf die Blätter der Vegetation aufschlugen. Ein rhythmisches Trommeln, welches die Luft erfüllte.

Ich wusste nicht, wo ich mich befand, doch die Tatsache, dass nicht ein einziges Geräusch auf die Anwesenheit von Menschen oder deren Technologie hinwies, ließ mich vermuten, dass ich mich sehr weit von jeder Stadt, jedem Dorf entfernt hatte. Doch dadurch klangen die Gedanken in meinem Kopf nur umso lauter.

 

Ich hörte noch immer ihre Worte. Jedes einzelne hatte sich in mein Herz gefressen. Einer der Männer, die ich vor wenigen Stunden noch durch meine Wohnung geführt hatte, war nun nicht mehr am Leben. Die freudige Erwartung eines Fortschritts war nun kalter Trauer gewichen. Er hatte sein Leben dem Ziel gewidmet, dem sinnlosen Morden ein Ende zu setzen. Doch ich war mir sicher: So edel sein Einsatz auch war, das Wichtigste für ihn war immer die Sicherheit seiner Freundin gewesen. Seiner Seelenpartnerin.

Meine Hand verkrampfte um den Edelstein, der bleischwer an meinen Hals hing und mich zu erwürgen drohte. Mein Seelensstein hatte mich noch nicht mit seinem Seelenpartner zusammen gebracht. Ich war immer noch allein. Doch was wäre wenn mein Partner plötzlich verstarb? Ein Stein reagierte nie auf zwei verschiedene Menschen. War einem dann nur ein Leben voller Einsamkeit vergönnt? Ein Leben ohne Kinder? Ohne Familie? War es dann das ganze Leid überhaupt wert?

 

Ich ließ meinen Kopf gegen die Baumrinde sinken und schloss die Augen.

Es war nicht meine Schuld, dass der Mann tot war. So sehr mich mein Herz auch davon überzeugen wollte, mein Verstand wusste, dass Adelio recht hatte. Es war ein Unfall. Es hätte genauso an jedem anderen Tag, an jedem anderen Ort passieren können. Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Erste, der sein Leben für dieses Ziel geopfert hatte.

Und tief in ihrem Inneren wusste die junge Frau das auch, dessen war ich mir sicher. Doch Trauer und Wut hatten sie überwältigt und sie nach einem Schuldigen suchen lassen. Und in diesem Fall war ich eben diejenige, weil es meine Wohnung gewesen war. Weil ich die „Neue“ war. Weil ich das aktuelle Ziel war.

Warum tat es dann so weh? Warum nahmen mich ihre Worte dann so mit? Wieso schmerzte es in meiner Brust, als ob ich jemanden verloren hätte, der mir lieb und teuer war?

 

Ich wusste die Antwort. Ich kannte sie mit erschreckender Deutlichkeit: Weil es genauso gut einer meiner Lieben hätte sein können.

Der Busunfall. Was wäre gewesen, wenn Talamarleen dieses Mal mit mir zusammen gefahren wäre? Wenn sie diesen Abend nicht zur Wohnung ihrer Mutter, sondern zu der ihres Vaters gefahren wäre? Sie hätte verletzt werden können. Oder Schlimmeres. Sie hätte eine der Kugeln abgekommen können. Sie hätte mit nichts sehenden Augen blutverschmiert auf der Straße liegen können!

Oder der Abend in meiner Wohnung. Was wäre gewesen, wenn meine Mutter mich an dem Tag besuchen gekommen wäre? Freitagnachmittags hatte sie immer frei und die Wochenendschicht übernahm meistens eine ihrer Kolleginnen. Es wäre gar nicht so abwegig gewesen, wenn sie gekommen wäre. Besonders nach dem, was mir die ganze Woche über passiert war.

 

Das war es. Das war es, wovor ich solche Angst hatte. Wovor ich weggelaufen bin.

Ich hatte Angst, dass ich beim nächsten Mal diejenige sein würde, die die Nachricht über den Tod eines über alles geliebten Menschen bekommen würde. Dass das nächste Mal ich dort stand; tränenüberströmt und mit diesem qualvollen Ausdruck in meinen Augen.

Ich hatte solche Angst, weil ich mich in ihr sah.

 

Ich versuchte ruhig zu atmen, das Zittern zu unterdrücken. Die Panik, die mich in diesem Moment beherrschte, hatte die Oberhand über meinen Körper gewonnen. Ich spürte, wie ich abdriftete. Immer tiefer in mich hinein. Und ich ließ es geschehen. Hieß die Taubheit willkommen. Gab mich der trügerischen Ruhe voll und ganz hin, bis alles um mich herum komplett verschwand.

 

Obwohl ich der Ohnmacht nahe war, übertrat ich nie die Grenze zwischen dem bewussten Erleben und der tauben Einsamkeit. Ich blendete alles aus, reagierte auf nichts mehr, und doch war alles um mich herum noch real.

Darum schreckte ich auch sofort auf, als ich ganz in der Nähe Geräusche bemerkte. Erst klangen sie dumpf und unwirklich, doch schon bald bemerkte ich, dass es Stimmen waren.

Panisch riss ich die Augen auf und blickte mich um. Der Himmel war inzwischen nicht mehr grau, sondern beinahe Schwarz, und nur noch einzelne Wassertropfen drangen aus den wabernden Wolkenmassen. Die hereingebrochene Nacht hatte der Umgebung sämtliche Farbe entzogen und tiefe Schatten über sie gelegt, sodass ich nichts um mich herum erkennen konnte.

Mein Körper begann zu zittern, als aus dem unverständlichen Brummen in der Ferne sich richtige Worte herauskristallisierten. Hatte mich etwa jemand gefunden? Aber ich war doch so weit gelaufen! Niemand konnte wissen, dass ich hier war!

 

Automatisch zog ich meine tauben Beine näher an mich heran und machte mich so klein wie möglich. Mit meinen blauen Kleidungsstücken und den dunklen Haaren müsste ich eigentlich unsichtbar inmitten all den Pflanzen verschwinden. Doch als ich zuckende Lichtblitze zwischen den einzelnen Bäumen bemerkte, gefror mir das Blut in den Adern. Gegen eine Taschenlampe war auch meine dunkle Kleidung machtlos.

Ich gab mich geschlagen. Kraftlos fiel mein eben noch starrer Körper wieder in sich zusammen und ich beobachtete resigniert, wie das blitzende Licht immer näher kam. Wenn Adelio und die anderen mich bisher schon für seltsam gehalten hatten, würden sie nach meinem Abgang denken, ich wäre komplett verrückt. Einen guten Eindruck hatte ich bisher wirklich nicht hinterlassen. Ich war sowieso nur das kleine, verwöhnte Mädchen, das von der Welt keine Ahnung hatte. Und wahrscheinlich stimmte das auch …

 

Die Stimmen wurden immer lauter und kurz bevor sie mich entdeckten, bemerkte ich, dass hier etwas nicht stimmte. Ich kannte die Stimmen nicht und das, worüber sie redeten …

„Wieso müssen wir schon wieder diesen ollen, stinkenden Wald durchsuchen? Und das auch noch im strömenden Regen?“ Der Mann klang mehr als erbost. Seine Stimme bebte vor Wut. „Wer kam noch mal auf diese selten dämliche Idee die Schichten beim Poker zu verteilen?! Es war so klar, dass Pete und Tarance betrügen würden! Diese verdammten Penner sind nächstes Mal fällig, das schwöre ich dir!“ Lautes Lachen hallte von den Bäumen wieder.

Plötzlich verkrampfte alles in mir. Etwas ungeheuer Schweres schien auf meine Brust zu drücken und nahm mir jegliche Möglichkeit zu atmen. Ich bekam keine Luft mehr und die Schatten vor meinen Augen verschwammen. In meinen Ohren übertönte das Rauschen meines Blutes alle anderen Geräusche. Ich zitterte. Unfähig, mich zu bewegen.

 

Ich war dumm. So wahnsinnig dumm. Es war alles meine Schuld. Ich hatte es tatsächlich geschafft mich in eine komplett ausweglose Situation zu bringen. Diese Männer, deren Stimmen sich in mich hinein fraßen. Sie waren wahrscheinlich auf der Suche nach mir, um meinen Segensstein zu finden, und was machte ich? Ich präsentierte ihnen den Stein und mich auf dem Silbertablett!

Ich konnte sie schon vor mir stehen sehen. Die letzten Minuten in meinem Leben. Nass, durchgefroren und dreckig würde ich in den Lauf einer Pistole blicken, dahinter zwei schmierig grinsende Gestalten, ehe plötzlich alles vorbei sein würde. Meine Familie, meine Freunde. Ich würde sie nie wiedersehen.

Genauso wie … Aurelia, Colin, Doc Martens, Adelio und … Jaden. Ich konnte nur noch hoffen, dass ich ihnen nicht zu viel Ärger gemacht hatte. Das hatten sie nicht verdient …

 

Ein lautes Knacken in dem Gebüsch, dicht vor mir. Nur noch wenige Schritte. Der Lichtstrahl verharrte lange auf meinem Gesicht, blendete mich. Ich schloss die Augen erneut. Es hieß doch immer, dass es nach jeder schlechten Phase wieder bergauf gehen würde! Wieso musste gerade ich wieder die Ausnahme sein? Ich hatte solche Angst.

 

Ein heftiger Ruck ging durch meinen Körper und es fühlte sich an, als würde ich aus dem Stand umkippen. Ich wollte schreien, doch etwas Schweres, Kaltes drückte auf mein Gesicht und hinderte mich daran, auch nur einen Ton von mir zu geben. Meine Gliedmaßen schabten über den Boden, als ich tiefer ins Gebüsch gezogen wurde. Meine kalten Glieder protestierten bei jedem dumpfen Schlag und als mein Kopf hart gegen einen Ast schlug, wurde mir plötzlich Schwarz vor Augen. Erst langsam nahmen die schemenhaften Konturen um mich herum wieder Gestalt an und die völlige Schwärze wich einem pochenden Schmerz an meinem Hinterkopf.

 

Von einer Sekunde auf die andere stoppte die Welt um mich herum und alles war wieder unheimlich still.

Ich hörte Fußspuren, nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Das Knirschen von Schuhen auf vertrocknetem Laub und das Knacken von kleinen Ästen. Ich versteifte. Versuchte zurückzuweichen, doch stieß gegen etwas Hartes. Lichtblitze zuckten über mein Gesicht und doch … Auf einmal war alles wieder ruhig. Die Männer waren … weg. Nur in der Ferne konnte ich ihre Stimmen noch wahrnehmen, ehe sie völlig verstummten. Dunkelheit legte sich wieder über den Wald.

Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Brust, als ich endlich verstand, dass ich noch lebte. Ich war nicht tot! Sie hatten mich nicht entdeckt! Aber … warum?

Ich spürte noch immer das Gewicht, das auf meinen Mund drückte und erst, als ich meine zitternde Hand hob und gegen etwas Weiches stieß, realisierte ich es. Ich drehte meinen Kopf so gut es ging und blickte nach oben. Ein überraschter Aufschrei blieb mir im Hals stecken. Er drückte meinen Körper eng an seinen, während seine Augen konzentriert in die Dunkelheit starrten. Wassertropfen, die aus seinen Haaren rannen, tropften mir kalt auf die Stirn.

Ich war wie gelähmt. Was tat er hier? Hatte er nach mir gesucht? Aber warum? Warum interessierte gerade er sich für mich, wo er doch keine Gelegenheit ausließ, um mich zu piesacken? Wieso?

 

Keiner von uns beiden rührte sich. Ich wusste nicht, wie viel Zeit schon vergangen war, seit der Wald wieder in Dunkelheit getaucht war. Nur langsam schienen sich die Regenwolken vor dem schwarzen Himmel zu verziehen und das indirekte Licht des Mondes gab den schemenhaften Konturen der Pflanzen etwas mehr Schärfe.

Vorsichtig verschwand der Druck von meinem Gesicht und ich bemerkte, wie er seine Hand sinken ließ. Kalte, feuchte Luft drang nun wieder in richtigen Mengen in meine Lungen und der Knoten, der sich in meiner Kehle gebildet hatte, schien sich langsam wieder aufzulösen. Mein Atem ging ruhiger und ich spürte erneut, wie die Kälte über meinen Körper kroch und die heiße, fiebrige Panik vertrieb.

 

„Sie sind weg.“ Obwohl er nur flüsterte, klang seine raue Stimme ungewöhnlich laut in der Stille dieses Ortes und ein wenig Angst beschlich mich, dass die Männer uns doch noch irgendwie hören konnten.

Bevor ich etwas sagen konnte, fühlte ich, wie sein Griff um meinen Körper sich lockerte und er von mir weg rutschte. Das weiche Gefühl an meinem Rücken verschwand und sofort übernahm die Kälte wieder die Oberhand. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, wie unangenehm die nasse Kleidung an meiner Haut klebte.

Ich hörte das Geräusch seiner Schritte auf dem nassen Waldboden. Mein Blick war starr auf den Boden gerichtet, ohne wirklich etwas zu sehen. Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Brust. Ein leichtes Ziehen begleitete jeden Schlag. Ich konzentrierte mich voll und ganz darauf, mich zu beruhigen. Versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, wie knapp ich eben dem Tod entronnen war. Schon wieder.

 

Erst ein heftiger Ruck an meinen Oberarmen riss mich aus meinen Bemühungen einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Kopf schoss hoch und ich sah, dass Jaden direkt vor mir kniete. Seine Knie waren tief in den matschigen Untergrund gesunken, als er sich in meine Richtung gebeugt hatte. Wie Schraubzwingen umschlossen seine Hände meine Oberarme.

„Was hast du dir bloß dabei gedacht?“ Seine Stimme klang leise und bedrohlich. Etwas wie … Wut funkelte in seinen Augen. Am liebsten wäre ich zurück gewichen, doch sein Griff hielt mich an Ort und Stelle. „Verdammt! Du kannst doch nicht einfach so abhauen! Um ein Haar hätten die Typen dich durchlöchert! Wie einen Schweizer Käse!“ Ich blickte ihn an. Sah die Wut, die in ihm brodelte, doch innerlich war ich leer. Ich spürte keine Traurigkeit, kein Verletztsein und auch keinen Drang, sich verteidigen zu müssen. Nur die unumstößliche Erkenntnis, dass er recht hatte.

„Ich fass es nicht! Liegt dir eigentlich gar nichts an deinem Leben? Wieso habe ich dich denn damals gerettet? Du machst wirklich nur …!“

„Warum bist du hier?“ Er stoppte, als ich ihm ins Wort fiel. Ich war plötzlich so ruhig innerlich. Seltsam ruhig.

„Was?“ Die Wut aus seinen Augen war beinahe verschwunden. Verdutzt hob sich eine seiner Augenbrauen.

„Warum bist du überhaupt gekommen, wenn du mich so Leid bist? Warum hast du mich schon wieder gerettet und mich nicht einfach meinem Schicksal überlassen, wenn ich dir nur zur Last falle?“ Ich hielt seinem Blick stand. Im Grunde machte mir sein Starren überhaupt nichts aus. Ich war merkwürdig gelassen. Beinahe so, als hätte ich mit der Tatsache, dass ich innerhalb weniger Tage schon mehrfach an der Schwelle zum Tod stand, meinen Frieden gefunden. Warum war das so?

„Laber doch keinen Müll.“ Er ließ sich ein Stück zurück sinken, ließ meine Oberarme aber nicht los. Ich spürte seine warme Haut selbst durch den Stoff meines Pullovers. „Du bist zwar eine Heulsuse, machst absolut nicht das, was du tun sollst, und schaffst es ständig, dich unnötig in Gefahr zu bringen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich dich sterben sehen will. Also hör auf immer in Selbstmitleid zu versinken und mach endlich das Beste aus deiner Situation! Dank dir haben wir endlich die Möglichkeit, auf die wir schon so lange gewartet haben! Es gibt endlich die Chance diesen Typen heimzuzahlen, was sie getan haben!“ Der Blick seiner blauen Augen war so intensiv, dass sie im seichten Mondlicht beinahe leuchteten. Jeder kleine Wassertropfen in seinen kupferroten Haaren schimmerte wie die zahllosen Sterne am Nachthimmel.

Und doch …

„Ich bin nicht wie du. Ich kann das nicht.“ Ich schüttelte kaum merklich meinen Kopf. Ein leichtes Brennen kündete die nahenden Tränen an und ich hatte keine Kraft, um dagegen zu kämpfen. „Ich bin nicht so mutig wie du. Mir ist das alles zu viel. Ich habe Angst. Möchte einfach nur nach Hause zu meinen Eltern und meinen Freundinnen und all das hier vergessen. Ich will nicht kämpfen. Ich kann nicht …“

Die Ruhe hatte mich vollkommen erfüllt. Doch langsam dämmerte mir, dass diese Ruhe trügerisch war. Sie war bodenlos. Ich schlang meine zitternden Arme um meinen Oberkörper und krallte die Finger in den durchweichten Stoff meines Pullovers. Ich hatte das Gefühl, als ob ich mich nur so zusammenhalten konnte. Ich wollte nicht auseinander brechen. Das Zittern wurde stärker, die Tränen brannten heiß in meinen Augen. Die Welt um mich herum schien in Dunkelheit zu versinken.

 

„Hey, hör auf damit. Ist doch alles gut-“

„Nein, nichts ist gut!“, fuhr ich ihn an. Das Gefühl des Fallens mischte sich mit einer lodernden Wut; einer Wut auf die Welt und auf mich selbst. „Du hast absolut keine Ahnung! Ich mach alles immer nur kaputt! Ich bin an allem Schuld! Ich bin keine Heldin, wie die, die in den Filmen vorkommen! Nein. Noch nie habe ich irgendwas richtig gemacht! Ich habe immer nur so getan, als wäre ich stark. Als wäre das alles okay. Mein ganzes Leben war ich alleine. Meine Eltern waren manchmal nur ein paar Stunden am Wochenende Zuhause. Immer musste ich die Große, die Starke sein. Doch das war ich nie. Angst und Unsicherheit hatten mich immer im Griff. Man darf mir nicht vertrauen, nein. Nein! Es ist alles meine Schuld! Ich habe sogar meinen eigenen kleinen Bruder auf dem Gewissen!“ Mein hysterisches Schluchzen raubte mir den Atem. Wie Säure brannten die Tränen, die mein ganzes Gesicht bedeckten. Wie lange war es her, dass ich an ihn gedacht hatte? Wie lange war er nun schon weg? Und es war alles meine Schuld …

„Amelina?“ Ich nahm seine leise Stimme kaum wahr. Die Dunkelheit hatte mich vollkommen verschluckt.

„Nur wegen mir … Nur, weil ich nicht besser auf ihn aufgepasst habe, ist er … Ich kann nicht kämpfen! Ich kann einfach nicht …“

„Hör mir zu! Amelina, hör zu, verdammt!“ Er zischte mich an und schüttelte meinen Körper, sodass einige Gelenke knackend protestierten. Doch langsam wurde ich aus der Dunkelheit gezogen und mein Blick wieder klarer. „Du hast recht. Ich weiß nicht, was genau vorgefallen ist und ich habe auch nicht das Recht dir zu sagen, dass du keine Schuld an dem trägst, was dir passiert ist. Ich weiß nur eins: du musst auch nicht mehr kämpfen“, meinte er dann, in plötzlich in viel sanfterem Ton. Etwas, das so gar nicht zu ihm zu passen schien. Eine Hand fasste unter mein Kinn und brachte mich so dazu, aufzusehen. Ein leichtes Lächeln umspielte sein Gesicht. „Das verlangt niemand von dir. Überlasse das einfach mir. Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts passiert.“

Wie bitte?

 

„Linchen! Gott sei Dank bist du okay!“ Ich zuckte zusammen, als eine laute Stimme hinter mir ertönte und fuhr erschrocken herum. Gerade in dem Moment schälte sich eine Person aus dem Schatten eines Baumes und kam auf uns zu.

Es dauerte einige Sekunden, ehe ich das haselnussbraune Haar, das im Licht des Mondes die Farbe von Milchkaffee angenommen hatte, wiedererkannte.

„Adelio?“, keuchte ich beinahe unhörbar, total überrascht darüber, ihn hier zu sehen. Ehe ich richtig reagieren konnte, spürte ich bereits den nassen Stoff seiner Weste auf meinem Gesicht, als er mich in eine Umarmung zog. Ich konnte die Wärme seiner Haut durch seine Kleidung wahrnehmen, was meinen steifen Körper erschaudern ließ. Nur Sekunden später packte er meine Oberarme und schob mich ein Stück von sich weg. Seine braunen Augen musterten mich.

„Du kannst doch nicht einfach so weglaufen! Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht! Du hättest dich verletzen oder verlaufen können! Zum Glück sind wir hier kilometerweit von der Zivilisation entfernt.“ Ich war noch immer zu überrascht, um ihm zu antworten und brachte nicht mehr, als ein dämliches Starren zustande.

 

„Soviel zu dem Thema, nicht wahr, Adelio?“ Der Griff an meinen Oberarmen verstärkte sich unangenehm, als sich der Körper des Braunhaarigen bei Jadens Worten anspannte. „Du hast ja wirklich toll auf sie aufgepasst! Wie gut, dass gerade du diesen Job übernommen hast.“ Auch, wenn mein Hirn noch ein wenig von der gerade erst abgeebbten Panik umnebelt war, fiel mir die Veränderung in der Stimme des Rothaarigen sofort auf. Ich wandte meinen Kopf in seine Richtung und bemerkte, dass er sich bereits vom nassen Boden erhoben und an einen Baum gelehnt hatte. Mit bloßen Händen versuchte er gerade die gröbsten Flecken von seiner Lederjacke zu entfernen. Seine Augen blitzten im Licht des Mondes.

Auch Adelio richtete sich nun auf und bot mir seine Hand an, um mir aufzuhelfen. Vorsichtig nahm ich sie und zwang meine wackeligen Beine dazu, mein Körpergewicht zu tragen. Ein wenig nervös blickte ich zwischen beiden Jungs hin und her.

„Reg dich nicht so auf. Wir haben sie doch gefunden. Sie ist nur ein bisschen durchgefroren. Hier draußen konnte ihr doch überhaupt nichts Schlimmes passieren.“ Ich zuckte zusammen, als die Momente, in denen ich dachte sterben zu müssen, wieder durch meine Gedanken spukten. Wenn Adelio erst erfahren würde, was eben passiert war, dann …

„Ja, zum Glück betritt den Wald so weit draußen niemand.“ Ich stutzte. Was? Doch gerade, als ich etwas sagen wollte, trafen sich unsere Blicke und alles, was mir auf der Zunge lag, blieb mir im Hals stecken. Das leichte Kopfschütteln war kaum wahrzunehmen, wenn man nicht drauf geachtet hätte. Aber warum? „Hat das Prinzesschen einen kleinen Spaziergang bei Mondschein gemacht. Dann können wir nun alle glücklich ins Bett fallen. Und jetzt lasst uns gehen. Ich muss versuchen meine teure Lederjacke zu retten.“ Er warf einen weiteren, kurzen Blick auf mich und Adelio und verschwand gleich darauf im grünen Dickicht.

Ich war verwirrt. Das machte doch keinen Sinn. Wieso erzählte er ihm nicht, was passiert war? Warum verschwieg er, dass er mir gerade das Leben gerettet hatte? Ich kapierte es einfach nicht.

„Pah, wiedermal typisch. Er denkt echt nur an sich“, grummelte der Braunhaarige hinter mir. Erst, als ich seine Hand an meiner Schulter spürte, sah ich ihn an. „Aber der Spinner hat recht. Dir ist doch bestimmt kalt, nicht wahr? Und Hunger hast du garantiert auch. Immerhin wurde unser Frühstück etwas jäh unterbrochen. Die Spiegeleier dürften mittlerweile kalt sein.“ Ich hörte ihn lachen, ihn versuchen, die Stimmung zu heben. Doch ich konnte und wollte mich nicht darauf einlassen. Nicht jetzt.

„Ja, wir sollten gehen.“

Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, zwängte ich mich an der Stelle zwischen zwei Ästen hindurch, an der Jaden vor wenigen Sekunden verschwunden war und ließ mich geräuschlos von der Dunkelheit verschlucken.

Andenken

War ich auf dem Hinweg wirklich auch so viel gelaufen? Es kam mir vor, als irrten wir schon eine halbe Ewigkeit durch dieses Labyrinth aus Bäumen, Pflanzen und Felsbrocken. Das Schweigen, das zwischen Adelio und mir eingetreten war, hielt seit unserem Aufbruch an. Er hatte mich lediglich schnellen Schrittes eingeholt und die Führung übernommen. Er meinte, er wüsste genau, wo es lang ging.

Ansonsten gab es nichts, worüber ich mit Adelio reden wollte, und er schien das zu akzeptieren. In meinem Kopf hingen noch immer die Gedanken und drückten schwer auf mich. Jaden hatten wir seit unserem Aufbruch nicht wieder gesehen. Er war wohl schon längst zurück im Bergwerk. Er schien nicht zu glauben, dass die Männer noch einmal zurückkommen könnten, sonst wäre er nicht einfach so gegangen, was mich innerlich doch etwas beruhigte.

Eine schwere Müdigkeit hatte sich auf mich gelegt, als die Angst verflogen war, und sich in allen Gliedern eingenistet. Es fiel mir schwer auf diesem unebenen Untergrund mit dem Braunhaarigen vor mir Schritt zu halten. Er schien – im Gegensatz zu mir – überhaupt keine Probleme mit dem matschigen Waldboden zu haben. Aber wahrscheinlich war das nicht das erste Mal, dass er nächtliche Ausflüge durch den Wald unternahm. Die Vorstellung, drei Jahre abgeschieden in einem verlassenen Bergwerk zu leben, umgeben von nichts als Bäumen, jagte mir noch immer einen gewaltigen Schauer über den Körper.

 

„Es tut mir so leid.“ Erschrocken riss ich meinen Blick von dem hügeligen Boden los und sah Adelio an. Dieser war nur wenige Schritte vor mir stehen geblieben und blicke nun in meine Richtung. Ein tiefer Ausdruck von Traurigkeit lag in seinen braunen Augen und die sonst so quirligen, kleinen Locken, klebten nass und schwer an seinem Kopf.

Bis jetzt kannte ich ihn nur gut gelaunt und fröhlich. Diesen beinahe verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht, weckte den nur schwer unterdrückbaren Drang in mir, ihn in den Arm zu nehmen und trösten zu wollen.

„Ich hatte versprochen auf dich aufzupassen“, fuhr er mit leiser Stimme fort. „Und dann habe ich dich in so eine Situation gebracht. Dir hätte sonst was passieren können und es wäre meine Schuld gewesen! Bitte entschuldige.“ Der Kloß in meinem Hals blockierte die Worte, die ich so gerne sagen wollte. Nein, das war nicht seine Schuld! Er konnte ja nicht wissen, was passieren würde! Es sollte doch nur ein fröhliches, gemeinsames Frühstück werden! Er hatte es doch nur gut gemeint!

Doch anstatt ihm das zu sagen, konnte ich nur stumm meinen Mund öffnen und wieder schließen. Ich war verwirrt; mein Kopf tat weh. Außerdem saß tief in mir immer noch diese allesverzehrende Angst vor dem Tod, die sich mittlerweile in meinem Kopf verankert hatte. Ich konnte ihn nicht trösten und ihm sagen, dass alles gut sei. Ich konnte noch nicht mal mich selbst trösten …

 

Für einen Moment schloss er seine Augen und atmete tief ein. Sah er mein Zögern? Was schlussfolgerte er daraus? Glaubte er wirklich, dass ich ihm die Schuld gab?

Doch plötzlich zuckte ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel, was mich vor Schreck die Luft anhalten ließ. Jegliche Traurigkeit war in einem Augenblick aus seinem Blick verschwunden.

„Nächstes Mal pass ich einfach besser auf, versprochen! Wenn du mich lässt, würde ich gerne weiterhin in deiner Nähe bleiben. Immerhin bist du doch meine kleine Freundin.“ Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen. Es war im Vergleich zum Rest meines eisigen und nassen Körpers eher ein Brennen. Unbeholfen nickte ich zur Antwort und das Lächeln in seinem Gesicht breitete sich aus.

„Super! Danke, Linchen!“ Noch während er das sagte, nahm er meine Hand in seine und zog mich weiter. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir bereits wenige Meter vor dem Minengelände gestanden hatten. Ich hatte die dunklen Gebäude vor dem immer noch schwarzen Himmel nicht sehen können. Doch jetzt begann die Sonne sich langsam über den Horizont zu schieben und die ersten, höher gelegenen Konturen bekamen einen farbigen Kranz aus Licht.

 

Schnellen Schrittes zog Adelio mich über ein Stück besonders ramponierten Beton. Ich hatte Mühe, allen Schlaglöchern auszuweichen, die scheinbar urplötzlich vor mir auftauchten. Sträucher streiften meine erdige Jeans und immer, wenn ich in eines der Löcher trat, spritzte nasser Schlamm auf meine ehemals hellblauen Stoffschuhe. Meine Füße fühlten sich sowieso schon wie Eisblöcke an und dieses Wetter machte es bloß noch schlimmer …

 

Adelio führte mich zu einer kleinen Eisentür, neben der noch ein weitaus größeres Tor in der Wand prangte, dessen Flügel jedoch fest verschlossen waren. Sofort, nachdem wir durch die Tür getreten waren, erkannte ich den Gang wieder. Ein leichtes Gefälle führte tiefer in den Berg hinein und auf der linken Seite konnte ich den Eingang zur Küche und dem Aufenthaltsraum entdecken.

Doch nun lag hier alles im Dunkeln. Kalt und still. Alles lag verlassen da und auch der Duft nach Essen war dem muffigen Geruch nasser Erde gewichen. Aber das war mir ganz recht so. Wenn es zu sehr nach Essen gerochen hätte, hätte sehr wahrscheinlich mein verkrampfter Magen rebelliert. Der Appetit war mir irgendwie komplett vergangen.

Niemand war zu sehen. Wahrscheinlich noch nicht. Es war noch viel zu früh am Morgen. Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen und die Menschen lagen garantiert noch in ihren Betten. Eine Woge der Erleichterung durchflutete meinen Kopf. Auf aufmunternde Gespräche von anderen war ich gerade nicht vorbereitet.

Adelio schien meine Anspannung zu bemerkten, denn er beschleunigte plötzlich seine Schritte, um den Gang schnellstmöglich hinter uns zu lassen. Das Knirschen der Steine unter unseren Füßen hallte unheimlich laut von den Felswänden wider und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass dieses Geräusch die gesamte Anlage aufwecken könnte und es jeden Moment um uns herum von Menschen nur so wimmeln würde. Das war Unsinn und das wusste ich auch.

Doch erst, als wir den kleinen Seitengang betraten, aus dem ich wenige Stunden zuvor erst herausgetreten war, atmete ich einmal tief durch und versuchte mein wild schlagendes Herz zu beruhigen.

 

Ich war wirklich peinlich. Ich benahm mich wie ein kleines Kind! Ständig bekam ich Panikattacken, heulte wie ein kleines Mädchen oder lief einfach weg, wenn mir etwas nicht gefiel. Ich war nicht so wie diese Menschen hier. Die, die diese Situation akzeptiert und es sich zum Ziel gemacht hatten, etwas mehr dagegen zu tun, als sich nur heulend in die Ecke zu setzen.

Wieso konnte ich das nicht? Wieso war ich immer nur am jammern? Wieso war ich so ein verdammter Feigling?

Schon wieder wurden meine Augen feucht und am liebsten hätte ich laut rumgeschrien und mich bei Adelio ausgeheult. Denn das war es ja anscheinend, was ich am besten konnte. Doch ich zwang mich mit aller Macht, nicht schon wieder auszurasten. Ich hatte genug für mein ganzes Leben. Und ich glaubte jeder andere in meiner Nähe auch.

 

Der Tunnel mündete abrupt in einen Größeren und ich wäre beinahe gegen die gegenüberliegende Wand gelaufen, bevor ich die Kurve richtig nehmen konnte, als direkt vor uns eine Tür auf der rechten Seite aufsprang und Stimmen durch den engen Gang hallten, als einige Männer heraus traten. Verdutzt blieben Adelio und ich stehen und beobachteten die Gruppe, die uns ebenfalls Sekunden später entdeckt hatte und innehielt.

Bis auf diesen einen jüngeren Mann, dessen dunkelblonde Haare durch Haargel in alle Richtungen abstanden und ihm so ein jugendliches Aussehen verliehen, waren die Herren alle schon weit jenseits der 50 Jahre, was ihre komplett ergrauten Haare mir verrieten (Jedenfalls so fern sie überhaupt noch Haare auf dem Kopf hatten). Zwei davon hatten eine sehr dunkle Haut und machten einen etwas jüngeren Eindruck. Trotzdem schienen sie alle ungefähr das gleiche Alter zu haben. Aber irgendwie machte der junge Blonde den Eindruck, als würde er nicht in diese Reihe passen.

Und was ich noch viel merkwürdiger fand … Aus irgendeinem Grund schien meine bloße Anwesenheit ihn nervös zu machen. Er wich meinem Blick aus und scharrte mit den Füßen über den Steinboden. Die Hände in den Taschen versenkt, murmelte er still vor sich hin. Wo hatte ich ihn bloß schon Mal gesehen?

 

„Adelio. Amelina“, grüßte uns der stattliche Mann in vorderster Reihe und bedachte uns mit einem Nicken, das ihm die übergroße Brille beinahe von der Nase rutschen ließ. Der Rest der Gruppe tat es ihm gleich.

„Elias. Wenn sich der Rat heimlich still und leise so früh am Morgen trifft, dann steht doch wieder eine größere Mission an, hab ich recht?“ Adelio stemmte die Hände in die Hüften und blickte misstrauisch drein. Seine Gegenüber waren verdächtig intensiv darauf bedacht, keine Emotionen zu zeigen.

„Du weißt, dass wir über solche Dinge nicht reden dürfen. Außerdem irrst du dich. Wir haben lediglich ein kurzes Statusmeeting abgehalten.“ Die Stimme des Mannes war ungewöhnlich hoch und wenn er nicht direkt vor mir gestanden hätte, hätte ich die Stimme für die einer Frau gehalten. Schweißtropfen standen auf seiner breiten Stirn, die nur spärlich von Haaren bedeckt war und er nutzte den Ärmel seines Hemdes, um diese zu vertreiben. Aber wieso schwitzte der Mann überhaupt? Warm war es hier in diesen Gängen wirklich nicht, und so heiß schon gar nicht.

„Ein Statusmeeting, natürlich.“ Ich konnte Adelios Sarkasmus beinahe riechen und auch den Männern schien das nicht zu entgehen. Ihre Blicke verdunkelten sich unübersehbar.

„Du solltest deine Nase nicht überall reinstecken, Di Lauro. Das könnte dir eine Menge Ärgern einbringen.“ Bei dem Klang seines Nachnamens versteifte sich Adelios Körper merklich. Beinahe, als machte er sich für einen Angriff bereit. Die Drohung des Mannes in vorderster Front war nicht zu überhören gewesen …

„Wie nett, dass du dir Sorgen um mich machst, Elias Huxley. Das wäre zwar das erste Mal überhaupt, aber allein der Gedanke zählt, nicht wahr?“

War es hier schon immer so eisig, oder ist die Temperatur in der letzten Sekunde um mindestens zehn Grad gefallen? Wenn Blicke töten könnten … Das freudlose Lächeln, was sich dann auf dem Gesicht des Mannes ausbreitete, war kälter als Eis. Es schüttelte mich.

„Ich weiß eben, bei wem sich die Anstrengung lohnen würde und bei wem nicht. Wenn du uns dann bitte entschuldigen würdest?“

 

Ein letztes Mal fiel ihr Blick auf uns, bevor sich die Gruppe geschlossen umdrehte und in die Dunkelheit der Bergwerkstollen zurückzog. Wobei … alle, bis auf einen.

„Amelina?“ Die Nervosität in seiner Stimme machte auch mich etwas hibbelig, doch ich versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben.

„Ja?“ Der blonde, junge Mann kam einige Schritte auf mich zu. Seine linke Hand in einer Hosentasche vergraben.

„Ich wollte dir das hier wieder geben.“ Mir blieb die Luft weg, als ich den glänzenden Gegenstand in seiner Handfläche entdeckte und ich streckte ihm meine Hand entgegen. Aber woher …? „Das gehört dir und ich schätze, du hättest es gerne wieder?“

„A-aber das …?“ Natürlich erkannte ich es sofort. Wie könnte ich es jemals vergessen? Die fragilen, silberfarbenen Glieder ruhten angenehm kühl auf meiner Haut. Die drei Anhänger waren noch schöner als ich sie in Erinnerung hatte. Die Tränen, die nun im meinem Augen standen, waren ausnahmsweise keine Tränen der Trauer. „D-Danke“, brachte ich mühsam hervor und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. „Aber warum?“ Der junge Mann kratzte sich unbeholfen am Kopf. So, als würde ihm die Antwort auf meine Frage ungewöhnlich schwer fallen.

„Die … Die hatten wir aus deiner Wohnung mitgenommen. Wegen der Spuren, du weißt schon … “ Daher kannte ich ihn! Natürlich! Wie konnte ich das bloß übersehen? Das war einer der Männer, die bei mir Zuhause gewesen waren! Sofort ahnte ich, dass der Teil, weswegen er so nervös war, uns noch bevor stand. „Ich wollte dir das Armband schon am Morgen geben, aber als dann plötzlich … Na, du weißt schon.“ Er atmete einmal tief durch und blickte mir direkt in die Augen. Sein Blick war plötzlich kristallklar. „Ich wollte mich bei dir für Emilys Verhalten entschuldigen. Natürlich war Patriks Tod …“, er stockte kurz, „nicht deine Schuld gewesen. Das weiß sie auch. Es ist wirklich bedauerlich, dass ihn diese Kugel so unglücklich getroffen hatte … Ich bin schon lange mit den beiden befreundet und hatte mich daher für diese Mission gemeldet … Ich bin mir sicher, dass ihr die ganze Sache schon unheimlich leid tut. Sie kann es dir im Moment nur einfach nicht sagen. Darum mache ich es. Bitte verzeih, dass sie dich so sehr verletzt hat.“

Ich wusste im ersten Moment nicht, was ich sagen sollte. Eine erdrückende Stille hatte sich über uns drei gelegt und auch, wenn ich Adelio gerade nicht sehen konnte, da er ein paar Schritte hinter mir stand, spürte ich seinen Blick auf mir. Er und dieser junge Mann warteten auf eine Antwort meinerseits. Und auch, wenn ich sie bereits parat hatte, fiel es mir schwer sie in Worte zu fassen.

„Ich … kann sie verstehen.“ Meine Stimme war kaum noch lauter als ein Flüstern, doch die Steinwände schrien mir die Worte regelrecht entgegen. „Es war nie meine Absicht, dass jemand … Es tut mir wahnsinnig leid. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und all das hier ungeschehen machen.“ Der unsinnige Traum eines kleinen, verängstigten Mädchens.

„Das wünschen wir uns alle.“ Adelios Hand lag plötzlich schwer auf meiner Schulter, doch ich wagte es nicht ihn anzusehen. Ich heftete meinen Blick auf das selbst im kalten Licht der Leuchtstoffröhren wie Juwelen funkelnde Armband in meiner Hand. Es war beinahe, als könnte ich bei seinem Anblick die Stimmen meiner Freundinnen nach mir rufen hören.

Ich wusste in diesem Moment, dass ich am Ende meiner Kräfte war.

 

„Hey Seb. Sag mal“, begann der Braunhaarige plötzlich und beendete damit indirekt das unangenehme Gespräch zwischen dem Blonden und mir. Ich war ihm unendlich dankbar dafür. Der Druck seiner tröstenden Hand war verschwunden. „Weißt du, was hier los ist? So geheimnistuerisch tun sie doch sonst nicht. Und wo sind die beiden Angeber? Die sind doch normalerweise auch bei ihren kleinen Gesprächsabenden dabei.“

„Du weißt, dass ich mit dir nicht darüber sprechen darf.“ Plötzlich wuchs die Anspannung in dem jungen Mann erneut und ich sah aus den Augenwinkeln, wie er nervös seine Hände knetete. Ich hatte das Gefühl, als führte er einen inneren Kampf mit sich selbst, ob er nun besser gehen oder bleiben sollte. Er hatte wahrscheinlich das erledigt, weshalb er gekommen war. Doch irgendetwas schien ihn am Gehen zu hindern.

„Sebastian. Natürlich weiß ich das. Und ich weiß auch, dass wir beide uns schon seit Kindestagen an kennen und wir immer ehrlich zueinander waren. Wie sollen wir hier sonst überleben, wenn nicht einmal wir uns vertrauen können?“ Der leidende Klang in Adelios Stimme weckte in mir erneut das Bedürfnis ihn in meine Arme zu nehmen, ihm tröstende Worte á la ‚Alles wird gut!’ ins Ohr zu flüstern und ihn beruhigend über den Kopf zu streicheln. Beinahe so, als wäre er ein kleines Kind und nicht schon einige Jahre älter als ich. Ich trat lieber heimlich einen Schritt von ihm weg, ehe ich mich gar nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Auch bei dem jungen Mann schienen die Worte die richtige Wirkung erzielt zu haben. Er überlegte noch kurz, seufzte dann aber und trat näher an uns heran. Die Stimme nur noch ein Flüstern.

„McSullen und Jaden sind mit ein paar hohen Tieren aufgebrochen. Geheime Mission oder sowas. Jetzt, wo es anscheinend die ersten Spuren gibt, wollen sie Nägel mit Köpfen machen.“ Jaden? Auf Mission? „Ganz genau weiß ich auch nicht Bescheid. Durfte nur die letzten zehn Minuten an der Runde teilnehmen, um meinen eigenen Bericht abzugeben. Aber ich weiß, dass das alles schon gestern Abend hätte beginnen sollen, doch nachdem Jaden einfach abgehauen ist, musste das Ganze auf heute früh verschoben werden.“ Ich zuckte zusammen. Was?

„Gestern Abend? Du meinst, Jaden ist trotz anstehender Geheimmission einfach so getürmt?“ Adelios Stimme klang seltsam hoch. Er schien überrascht.

„Oh ja. Es gab wohl deswegen einen riesigen Streit. McSullen soll ihn sogar geschlagen haben!“ Ich sog scharf die Luft ein und ein seltsames Geräusch drang aus meiner Kehle. „A-aber das weiß ich nicht genau!“, verteidigte sich der Junge sofort. Die ganze Sache wurde ihm immer unangenehmer. „Das wurde mir nur erzählt.“

„Und jetzt? Wo sind die alle hin?“

Er zuckte ratlos mit den Schultern.

„Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich sind sie gleich heute früh aufgebrochen. Jaden …“, er stockte. Seine Augen wurden leicht milchig. So, als würde er sich vor seinem inneren Auge lebhaft an etwas erinnern. „Ich bin ihm noch begegnet. Er hat mich nicht angesehen. Ist nur stur an mir vorbei gerannt. Wenn ich nicht ausgewichen wäre, waren wir sogar zusammengestoßen.“

 

Woher kam dieser hartnäckige kalte Schauer, der sich in regelmäßigen Wellen über meinen Rücken ergoss? Hatte mein nasser, eisiger Körper endlich begriffen, dass er eigentlich frieren müsste? Kam auch daher dieses schmerzende Zittern in meinen Knochen?

„Das ist doch alles sehr verdächtig. Was haben die bloß rausgefunden, was eine solch dringende Geheimmission erfordert? Sehr merkwürdig, das alles.“ Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Adelio die Hände hinter seinem Kopf verschränkte und wunderte mich beinahe, dass seine Ellenbogen nicht gegen die niedrige Tunneldecke stießen.

„Merkwürdig, ja.“, sagte Sebastian leise, ohne dass er geistig anwesend war. „Ich muss dann wirklich los. Amelina, Adelio.“ Er warf noch einen kurzen Blick auf uns, nickte jedem zum Abschied zu und schob sich neben mir an der Tunnelwand entlang. Es dauerte nur Sekunden, ehe einer der Seitengänge ihn verschluckte.

 

Ich sah ihm noch kurz hinterher und wandte mich erst wieder um, als ich hörte, dass sich der Braunhaarige neben mir in Bewegung gesetzt hatte.

Nachdenklich betrachtete ich meine schlammverkrusteten Schuhe und beobachtete, wie sie sich scheinbar automatisch Meter um Meter bewegten. Ich haderte sehr mit mir, doch da war dieser eine, hartnäckige Gedanke, der beinahe schmerzhaft gegen meinen Kopf drückte. Ich musste ihn einfach fragen!

„Adelio?“, fragte ich leise. Sei gemurmeltes „Hm?“ nahm ich als Zeichen weiter zu reden. Auch, wenn ich wusste, dass er mit seinen Gedanken wahrscheinlich selbst gerade ganz weit weg war. „Meinst du, diese Mission wird gefährlich? Denkst du, dass sie alle wieder zurückkommen werden?“ Von der letzten Mission, die eigentlich als so ungefährlich galt, dass selbst ich mitkommen durfte, sind nicht alle wieder lebend zurückgekommen. Müssen dieses Mal auch wieder Menschen ihr Leben lassen? Unschuldige, die einfach nur friedlich und in Ruhe leben möchten? War die Begegnung mit Jaden im Wald das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte?

„Amelina?“ Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben war. Ein wenig verdutzt richtete ich meinen Blick auf den jungen Mann, der nun direkt vor mir stand. Seine gebräunte Haut verschmolz beinahe mit der dunklen Erde des Bergbautunnels. Vereinzelte Regentropfen glänzten noch in seinem welligen Haar und ich sah, wie seine haselnussbraunen Augen mich fixierten. Ein mitleidiger Ausdruck glänzte in ihnen, der mich schwer schlucken ließ.

„Mach dir nicht so viele Sorgen! Es wird schon alles gut gehen!“ Ein aufmunterndes Lächeln umspielte seine Lippen. Wie in Trance beobachtete ich, wie er einen Schritt auf mich zu kam und langsam die Hand hob. Sacht strichen seine Finger über meine Wangen und von einer Sekunde auf die andere wurde mir heiß. Dort, wo er mich berührte, hinterließ er ein kribbeliges Brennen. In diesem Moment spürte ich meinen Körper nicht mehr. Stocksteif stand ich da und sah ihn an.

Als er seine Hand wieder zurückzog, war sein Lächeln breiter als zuvor.

„Und um den rothaarigen Chaoten brauchst du dir erst recht keine Sorgen zu machen. Der Typ ist unverwüstlich. Den kriegt nichts und niemand klein. Glaub mir. Ich kenne ihn schon lange genug, um das zu wissen.“ Er grinste mich immer noch an. Ich starrte perplex zurück. „Also bitte weine nicht, ja?“

Ich zuckte zusammen. Fast schon automatisch berührte meine Hand die Wange und ich fühlte noch die restliche Feuchtigkeit der Träne, die Adelio eben weggewischt hatte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich weinte. Doch mir war das auf einmal seltsam egal. Es war mir egal, dass er mich so sah. Sie wussten alle, dass ich schwach war. Nur ein kleines, ängstliches Mädchen war. Mein Körper war von Wunden übersät. Die lange Narbe an meinem Unterarm brannte pochend, als sich der Matsch mit all seinen Bakterien einen Weg in die kleinste, noch nicht verheilte Öffnung suchte. Meine Kleidung war verdreckt, die Haare nass und zerwühlt. Ich sah sowieso schon mehr als mitleiderregend aus. Dann war das jetzt auch egal.

 

„Ich möchte in mein Zimmer.“ Ich war selbst überrascht, wie kalt meine Stimme klang. Adelio machte sich Sorgen um mich, und was tat ich? Ich stieß ihn so vor den Kopf.

Wann war ich bloß so ein Mensch geworden? Einer, denen das eigene Wohlbefinden über das anderer ging? Oder war ich schon immer so und hatte es nur nie bemerkt? Hatte ich mich all die Jahre nur selbst belogen?

„Aber klar, komm! Es ist nicht mehr weit.“ Das Lächeln in seinem Gesicht schwand nicht, was das kleine, unterschwellige Stechen in meiner Brust nur noch verstärkte. Doch ich sagte nichts und folgte ihm stumm.

 

Wir mussten nur noch zweimal um eine Ecke biegen und schon erkannte ich den mir bereits wohlbekannten Gang. Automatisch beschleunigten sich meine Schritte, als die Sicherheit versprechende Tür meines Zimmers zwischen den Felsen auftauchte.

„Ruh dich aus“, meinte er, als er die Tür aufstieß, die mit einem lauten Quietschen protestierte. „Ich werde gegen Abend mal nach dir sehen, okay? Wenn irgendwas ist, kannst du dich jederzeit bei Aurelia melden. Du weißt ja bereits, wo ihr Zimmer ist, oder?“ Ich nickte und schob mich an ihm vorbei in die Dunkelheit des Raumes. „Sehr gut“, lachte er und betätigte den Lichtschalter direkt neben ihm. „Mach dir nicht so viele Sorgen. Auch um mich nicht. Es wird alles gut, okay?“ Ich erschrak bei seinen Worten, doch als ich mich zu ihm umdrehte, hatte sich die Tür bereits geschlossen, sodass ich keinen Blick mehr auf ihn erhaschen konnte.

Ich war wieder allein. Und das machte die Tatsache, dass Adelio mich anscheinend komplett durchschaut hatte, nicht besser. Wieso war er also trotzdem so nett zu mir? Verdammt!

 

Das Bett, das nur wenige Schritte von mir entfernt stand, erschien mir plötzlich unheimlich weit weg. Ich fühlte mich, als wäre mit einem Mal alle Kraft aus meinem Körper gewichen. Ohne weitere Vorwarnung gaben die Beine unter mir nach und ich rutschte an der nahen Wand entlang, bis ich das kalte Gestein unter meinem Körper spürte.

Ich vergaß, dass meine Kleidung total durchnässt und schlammverkrustet war. Ich vergaß, dass ich am ganzen Körper zitterte. Und ich wollte nur noch vergessen, was alles geschehen war.

Ich zog meine Beine ganz dicht an meinen Brustkorb heran, schlang die Arme um sie und vergrub das Gesicht darin. Der Geruch von nasser Erde kroch penetrant in meine Nase, doch ich ignorierte es. Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass die Erschöpfung endlich gewann.

 

 

„Lina, los jetzt! Sie werden es auch nie erfahren!“ Vehementes Kopfschütteln.

„Mama hat nein gesagt! Wir sollen hier im Haus bleiben, solange sie weg sind!“

„Ach komm schon, Lee! Du bist doch sonst viel cooler!“ Flehende Augen. Ich kenne diesen Blick.

„Nein, nein und noch mal nein. Mama hat mir erlaubt heute auf dich aufzupassen! Ich bin schon ein großes Mädchen, hat sie gesagt!“ Stolz in meiner Stimme. Groß, hat sie gesagt!

„Du bist auch nur zwei Jahre älter als ich! Und jetzt komm, stell dich nicht so an!“ Trotzig verschränke ich die Arme vor der Brust. „Mach doch, was du willst. ICH werde draußen spielen!“, schrie er als Antwort darauf. Wütende Schritte auf dem Holzboden. Das Knallen der Haustür. Der Schrei seines Namens, als weitere Schritte hinter ihm her eilten.

 

Eisige Kälte. Schmerzen, als wenn zehntausende Nadeln auf mich einstechen würden. Ein schweres Gefühl umklammert mich. Ich kann mich nicht bewegen. Es zieht mich immer weiter hinunter. Ich kriege keine Luft! Immer tiefer, immer tiefer. Ich bin so müde …

Ein starker Druck an meinem Körper. Ich fliege! Ich fühle mich so leicht!

Luft. Endlich wieder Luft! Husten, würgen, wahnsinnige Schmerzen, aber … Luft? Ein Mann, den ich nicht kenne. Er ist nass. Er sieht mich so seltsam an.

„Was ist …?“ Nur ein Krächzen. Husten. Schmerzen.

„Es wird alles wieder gut, hörst du mich? Alles wird gut!“ Warum? Warum sagt er das? Wo ist … Wo ist er?

„Mein Bruder! Wo ist mein …?“

 

Ein Schrei. So laut, dass meine Ohren platzen. Mein Schrei. Ich sehe ihn. Diesen kleinen Körper, der von einem anderen Mann getragen wird. Die schlaffen Arme, die bei jedem Windstoß wie Papierbänder flatterten.

Ich sah sie. Diese Augen, die ins Nichts starrten.

 

Nein, nein. Das kann nicht sein, nein! Diese Arme, die mich jetzt drückten. Das Schluchzen, dicht an meinem Ohr. Stimmen, die mit mir redeten. Ich kannte sie. Doch das war so falsch. Nein! Sie sollten nicht hier bei mir sein! Mein Bruder! Sie mussten ihm helfen! Er …! Ich …! Ich war doch …! Ich sollte doch …! Nein!

 

Sie hatten mir vertraut, doch mir konnte man nicht vertrauen. Ich war Schuld. Nur ich. Ich habe etwas Schreckliches getan. Da ist Blut an meinen Händen. Ich habe meinen kleinen Bruder getötet.

 

Mama? Papa? Wie könnt ihr mich bloß immer noch lieben?

Regenbogenfarben

„Viele Fragen und Geheimnisse beschäftigen die Menschheit schon seit Jahrtausenden: Wie genau ist die Erde entstanden? Wie sind die Dinosaurier ausgestorben? Warum sind wir Menschen hier? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es einen Gott? Gibt es anderes Leben im Universum? Und wo ist das Ende des Universums? Wie lange wird es noch bestehen?

Die Neugierde des Menschen kennt keine Grenzen. Und jeden Tag kommen neue Fragen dazu. Fragen, die dringend einer Antwort benötigen, um das, was um uns herum passiert, richtig verstehen zu können.

Doch gibt es diese Antworten überhaupt? Und wenn ja, wer kann uns diese geben?

 

Wissenschaftler – Menschen wie ich – haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Hintergründe der größten Geheimnisse der Menschheit zu erforschen und sich langsam an die Lösung aller Fragen heranzuarbeiten.

Denn genauso sehr, wie die Fragen nach dem Anfang der Menschheit, beschäftigt uns das Thema der Segenssteine.

 

Jeder Mensch wird mit einem Edelstein in seiner linken Hand geboren, der ihn das ganze Leben lang begleiten wird. Für uns ist das zur Selbstverständlichkeit geworden. So selbstverständlich, dass selbst die Frage nach dem Grund beinahe in Vergessenheit geraten war.

Jedoch wird uns diese Fragestellung ein Leben lang begleiten. Woher kommen die Edelsteine? Wieso ist das Leben eines Menschen so eng mit ihm verwoben? Was bestimmt die Art der Steine? Wie kommen Farbton, Größe und die vielen charakteristischen Eigenschaften zueinander?

 

Die Wissenschaft steht bis heute vor einem Rätsel. Viele Theorien ranken sich um das Thema und genauso viele Diskussionen gibt es über deren Richtigkeit.

Viele glauben, dass die Seele eine bestimmte Farbe hat. Richtet sich der Farbton des Edelsteins daran aus? Bestimmen die Farben unsere Handlungsweise, unser Denken? Ist dies auch Grundlage dessen, welchen Schmuck- oder Edelstein der Einzelne zugewiesen bekommt?

Spricht die Farbe Rot von mutigen, leidenschaftlichen und aktiven Menschen? Und sind diejenigen, die mit einem Aquamarin gesegnet wurden, wirklich friedliebend und intellektuell?

Lässt sich so schon in aller frühster Kindheit bestimmen, wie ein Kind sich entwickelt und welchen Lebensweg es einschlagen wird?

Wie ist es dann auf der anderen Seite aber zu erklären, dass diese Eigenschaften nur selten in der Familie vererbt werden und Kinder völlig andere Edelsteine besitzen, als ihre Eltern es tun?

 

Art, Farbe, Größe. Könnte es uns das Leben erleichtern, wenn wir die Bedeutung dieser Eigenschaften erkennen und verstehen könnten? Könnten wir so sogar uns selber besser verstehen?

 

Ein Mysterium, welches sich zu lösen lohnt.“

 

Das Buch wog plötzlich schwer in meiner Hand. Wenn ich nicht gesessen und meine Knie als Stütze gehabt hätte, wäre ich in diesem Moment wohl unter der Last dieser Worte zusammengebrochen.

All diese Thesen und Theorien über Segenssteine lösten in mir ein merkwürdiges Gefühl aus. Alles und jeder könnte Einfluss auf die Entwicklung der Steine und damit auch der Menschen haben, denen sie gehören. Doch ob diese Geheimnisse jemals von Menschen gelöst werden können, stand auf einem ganz anderen Blatt Papier.

 

Seufzend und plötzlich wieder unendlich müde, ließ ich das Buch neben mich auf das Bettzeug fallen. Die weiche Matratze bog sich unter der Last dieses Wälzers. Ich spürte noch immer das kratzige Gefühl der vielen vergilbten Seiten auf meiner Haut.

Jeder einzelne Kratzer und jedes einzelne Eselsohr schrie mir das entgegen, was ich eigentlich vergessen wollte. Wie es meinen Eltern wohl ging? Und was machten meine Freundinnen Mary und Tala? Gingen sie zur Schule? Konnten sie konzentriert dem Unterricht folgen, um sich für die bald anstehenden Abschlussprüfungen vorzubereiten? Oder ließ sie mein Verschwinden nicht mehr los?

Selbst wenn es nur Spekulationen waren; ich hasste den Gedanken anderen Menschen Sorgen zu bereiten. Das war nun wirklich nicht das, was ich wollte.

 

Ich schwang meine Beine über die Bettkante und spürte den weichen Teppich unter meinen besockten Füßen. Ich ließ meinen Oberkörper nach hinten sinken, bis das grüne Bettzeug mich einhüllte. Bewegungslos starrte ich an die Decke.

Kleine, verschiedenfarbige Äderchen zogen sich durch das dichte, graue Gestein und hier und da sah man einen glitzernden Punkt, der sich je nach Blickwinkel unterschiedlich im Licht der Deckenlampe brach.

Verborgene Mineralien, die noch immer schlummernd im Berg ihr Dasein fristen. Zu klein und unbedeutend, um mühsam und kostspielig aus dem Stein gehauen zu werden. Einfach achtlos beiseite geräumt und nicht weiter beachtet …

 

Ein lautes Pochen riss mich aus meinen Gedanken. Schwerfällig richtete ich mich auf und erst, als das zweite Mal das Geräusch ertönte verstand ich, dass jemand an die Metalltür klopfte. Schnell fuhr ich mir mit den Händen grob durch die Haare, ehe ich mit einem etwas lauteren „Herein!“ dem Besucher Eintritt gewährte.

Es überraschte mich wenig, dass Adelios Lockenkopf im Türrahmen auftauchte.

 

„Hallo Linchen! Lust auf einen kleinen Spaziergang?“ Sein Angebot verwunderte mich. Ich warf einen kurzen Blick auf den batteriebetriebenen Wecker neben mir.

„Abends um kurz nach halb Zehn?“ Ich zog eine Augenbraue hoch. Hatte ich wirklich den ganzen Tag gelesen? Oder zumindest den Teil, den ich nicht verschlafen oder mit Duschen zugebracht hatte?

„Um diese Uhrzeit kann man das Spazierengehen viel besser genießen, weißt du? Nicht so viel Verkehr und neugierige Blicke.“ Hatte er mir gerade zugezwinkert? Meine Wangen waren anscheinend der Meinung, denn plötzlich fing mein Gesicht an zu glühen. Ich atmete schnell einmal tief durch, um das verräterische (und inzwischen wirklich nervende) Rot zu vertreiben. Wieso war ich bloß ständig so nervös in seiner Gegenwart?

Auch, wenn ich mich am liebsten für immer unter dem Bett verkrochen hätte, war mir klar, dass das alles nur noch schlimmer machen würde. Ich würde hier in diesem Zimmer kaputt gehen. Also zögerte ich nicht lange.

„Okay, ich komme mit.“ Die Bettfedern quietschten, als mein Gewicht nicht länger auf die Matratze drückte. Einige Gelenke protestierten knackend, als ich sie belastete. Ich saß wirklich schon zu lange herum. Demonstrativ streckte ich alle meine Knochen, um mich ein wenig zu lockern. Schnell schlüpfte ich in die bereits geschnürten Turnschuhe, die friedlich neben dem Nachtschränkchen ruhten und wandte mich meinem Besucher zu. „Los geht’s.“

 

Adelios helles Lachen erklang, als er die Tür so weit öffnete, dass ich problemlos hindurchgehen konnte, ehe er sie hinter mir erneut schloss. Ich wartete, bis er die Führung übernahm und ich ihm durch die verwinkelten Gänge folgen konnte.

„Gibt es irgendein bestimmtes Ziel?“, fragte ich nach einigen Metern, um das Schweigen zwischen uns zu brechen.

„Um ehrlich zu sein, ja.“ Er drehte seinen Kopf in meine Richtung und lächelte mich aufgeregt an. „Es gibt da etwas, dass dir echt gefallen könnte.“ Fragend legte ich den Kopf schief, doch ich ahnte, dass ich mehr nicht erfahren würde, bis wir direkt davor standen, also beschloss ich, ihm zu vertrauen und folgte leise.

 

Bereits nach wenigen Schritten und einigen Biegungen bemerkte ich eine stetige Veränderung. Die eben noch so präzise geformten Gänge, wurden plötzlich unebener und die Luft noch feuchter. Die Wände nahmen natürlichere Formen an. Diese Gänge waren nicht von Menschen geschaffen worden, sondern lediglich begehbar gemacht. Säulen aus massivem Gestein ragten mittig des Weges auf und ich musste mich stark verrenken, um nirgendwo gegenzustoßen.

Ein wenig Neid keimte in mir auf, als ich bemerkte, wie lässig Adelio sich durch die engen Gänge und deren niedrige Decken schlängelte. In solchen Momenten wurde mir wieder bewusst, wie lange er schon hier leben musste, und das ließ meinen Magen immer ein wenig verkrampfen.

 

Rinnsäle aus Wasser zogen sich über die rauen Felsbrocken und hinterließen farbige Ablagerungen. Eine dunkle, schwarze Schicht bedeckte einen Großteil davon und als ich neugierig meine Finger danach ausstreckte, heftete das Zeug plötzlich klebrig an meiner Haut. Angewidert wischte ich mir die Fingerkuppen so gut es ging an der Hose ab und beschloss von nun an in der Mitte des Wegs zu bleiben. So weit von den Felsen weg, wie möglich.

Je weiter wir liefen, desto dunkler wurde es. Jeder Schritt führte uns tiefer in den Berg und es wurde immer schwieriger nicht auf dem nassen und abfallenden Weg auszurutschen. Kurz bevor wir aus dem letzten Lichtkegel in die völlige Dunkelheit vordrangen, nahm Adelio eine sehr alt aussehende Fackel aus einer Halterung und zündete diese mit einem Feuerzeug an, welches er danach sofort zurück in seine Hosentasche gleiten ließ.

Wie eine Tänzerin in Rot und Gold gekleidet, zuckte die Flamme auf der Spitze des Holzes und malte verzerrte Schatten an die Wände. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, die nicht nur von der hier unten herrschenden Kälte kommen konnte …

 

Gerade, als ich fragen wollte, wie lange wir noch gehen wollten, hielt der Braunhaarige plötzlich inne. Neugierig blickte ich an ihm vorbei, doch die Dunkelheit schien so dick, dass ich schwören könnte, dass man sie mit einem Messer hätte zerschneiden können.

Von irgendwo her drang das ferne Tropfen von Wasser an mein Ohr.

 

„Da wären wir.“ Adelios Gesicht strahlte beinahe vor freudiger Erwartung. Eine gewisse Selbstsicherheit lag in seinen Augen, so, als ob er sich sicher wäre, dass mir das, was er zeigen wollte, unheimlich gefallen würde. Da schien er keinen Zweifel dran zu haben.

„Und WO wären wir?“, fragte ich noch einmal nach und versuchte immer noch vergeblich in der Schwärze vor uns etwas zu erkennen.

 „Geduld, Geduld! Bevor ich es dir zeige“, er grinste mich verschwörerisch an, „musst du erst einmal deine Augen schließen!“ Ich spürte beinahe, wie mir die Kinnlade herunter klappte. War das wirklich sein ernst?

„Bitte, was? Vergiss es! Das ist doch total albern und kindisch!“, protestierte ich lautstark und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Blut in meinen Ohren rauschte.

„Ach komm schon, Linchen! Ein bisschen kindisch sein hat noch niemandem geschadet!“ Adelio schien mein kleiner Gefühlsausbruch köstlich zu amüsieren, was meinen Mädchenkopf automatisch in den Stur-Modus schaltete.

„Nein. Definitiv nicht!“ Nie im Leben würde ich dieses Spielchen mitspielen! Ich würde doch nicht blind durch ein vermodertes Bergwerk stiefeln, nur weil der Braunhaarige das so wollte! Dabei war er doch der Ältere und eigentlich Vernünftigere von uns beiden!

 

Als plötzlich sein lautes Lachen ertönte, ahnte ich bereits Schlimmes, doch es war schon zu spät. Ein überraschter Aufschrei ertönte, als ich den Boden unter meinen Füßen verlor und auf einmal Kopfüber von Adelios Schulter baumelte. Seine freie Hand – in der anderen hielt er nach wie vor die Fackel - umklammerte meine Beine, die vor seinem Körper bloß nutzlos zappelten, um mich oben zu halten.

Mit meinen Händen trommelte ich protestierend auf seinem breiten Rücken herum; nicht ohne die ziemlich nahe Höhlendecke keine Sekunde aus den Augen zu lassen.

„Adelio! Lass mich runter! Was soll denn das?“ Das Blut fing bereits an sich in meinem Kopf zu sammeln.

„Wenn du endlich still halten würdest, könnte ich dich auch schneller wieder runterlassen.“ Seufzend gab ich auf. Immerhin sah uns hier niemand. Und eine andere Wahl hatte ich auch nicht. Seine schweren Schritte hallten plötzlich ungeheuer laut in der Umgebung wieder. Das Knirschen der Steine unter seinen Füßen und das immer wiederkehrende Hallen von Wassertropfen, die auf einer flüssigen Oberfläche auftrafen, mischten sich unter unsere schweren Atemzüge. So tief unten im Berg fiel das Atmen schwerer, als ich das gedacht hätte.

 

Neugierig blickte ich mich um, doch aufgrund meiner Lage konnte ich nicht viel erkennen, was wohl vorrangig an meinen Haaren lag, die mir nun ständig vor den Augen hingen und ich sie mit den Händen kaum zähmen konnte. Dazu kam noch, dass Adelio die Fackel vor sich her trug, weshalb alles hinter ihm sogleich im Dunkeln verschwand. Wie ein Vorhang, der sich nach dem Durchgehen sofort wieder zu zog. Nur das kleine Stück hellen Gesteins, welches links und rechts wie eine Art Steg von Wasser umgeben war, konnte ich erkennen. Fasziniert blickte ich auf die dunkle Flüssigkeit. Sie war absolut still. Die Oberfläche wirkte so, als wäre sie aus feinstem Glas. So, als würde sie zerbrechen, wenn man ihr zu nahe kam.

Doch es dauerte nicht lange, bis der Braunhaarige ruckartig stehen blieb und es mir ermöglichte, von seiner Schulter zu rutschen. Mir fiel ein kleiner Stein vom Herzen, als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Gerade, als ich zu einer Standpauke ansetzen wollte, bemerkte ich den abwesenden Blick des jungen Mannes. Das Feuer tanzte wild in seinen haselnussbraunen Augen, doch ich wusste, dass er mich in diesem Moment gar nicht beachtete. Wahrscheinlich nicht mal sah.

Mit wild schlagendem Herzen wandte ich mich in die Richtung, in die auch Adelio starrte und hielt augenblicklich inne. Das war einfach …

 

Wie ein Wasserfall in allen nur erdenklichen Farbtönen, flossen Spuren von Mineralien die zerklüfteten Gesteinsbrocken entlang. Millionen kleiner farbiger Punkte flackerten synchron mit dem Licht des Feuers.

Wie ein Spiegel reflektierte das Wasser eines kleinen unterirdischen Sees die Farbenpracht der Felsen. Nur ein schmaler Steg aus Gestein, der mich stark an den Rücken einer Gebirgskette erinnerte, zog sich knapp über der Wasserkante entlang und bot uns so die Möglichkeit die Schönheit dieser Höhle aus ihrer Mitte heraus zu betrachten.

Das Flackern der Flamme erweckte den Eindruck, als würden die bunten Rinnsale aus Mineralien langsam in Richtung der Wasseroberfläche fließen. So, als würden sie das Schwarz des Wassers in Regenbogenfarben erstrahlen lassen wollen.

„Das ist … wunderschön.“ Meine Stimme war leiser als ein Flüstern. Doch lauter zu reden fühlte sich im Augenblick einfach falsch an.

 

„Wusstest du, dass das hier einer der Gründe war, weshalb diese ganze Geschichte rund um das Bergwerk überhaupt erfunden wurde?“ Ich schüttelte verneinend den Kopf. „Vor gut 30 Jahren“, fuhr Adelio ebenso leise fort, „stand dies alles hier kurz vor seiner Vernichtung. Die Betreiberfirma dieses Bergwerks war drauf und dran das gesamte Gebiet hier bis auf den letzten Stein auszubeuten.“ Ein Schaudern durchfuhr mich. „Doch Mortimer Charles, ein sehr anerkannter Geologe, der bereits seit Gründung dieser Grabungsstätte zum Team gehörte, war gegen die Machenschaften der Obigen. Er befürchtete, dass dies alles hier“, er zeichnete mit den Händen die Umrisse der Landschaft nach, „dem Wahn des Geldes zum Opfer fallen würde. Dass das Ökosystem irreparabel geschädigt werden könnte.“

„Das wäre wirklich schlimm“, murmelte ich leise wie in Trance. Ich beobachtete, wie eine Gruppe rötlicher Steine direkt vor mir im Schein der Fackel durch sämtliche Rot-, Orange- und Gelbtöne durchwechselte. Ich konnte mich nur schwer davon abhalten, die Hand danach auszustrecken, obwohl ich wusste, dass gute fünf Meter zwischen mir und der Wand lagen.

„Darum hatte Charles sich ein Herz gefasst und einen cleveren Plan ausgetüftelt. Er und zwei sehr vertraute Kollegen haben einen Giftgasunfall simuliert. Dafür haben sie sogar ihren Tod vorgetäuscht.“ Beeindruckend. „Die Menschen, die beobachtet hatten, wie eine wabernde Wolke aus hellem und eigentlich harmlosem Gas durch die Gänge zogen, sind geflohen und nie zurückgekommen. Es hieß, das Gelände sei noch immer vergiftet und dass jeder, der es betritt, sterben würde. Das hatten die Drei untermalt, in dem sie Oskar verdächtig ihren Tod vorgetäuscht hatten. Die angeblichen Leichen wurden nie geborgen.“

„Und wo sind die Drei jetzt?“

„Man könnte sagen … Sie sind irgendwie hier geblieben. Für immer.“ Es war nicht schwer zu verstehen, was er damit meinte. Sie haben ihr Paradies gefunden … „Sie hatten bereits begonnen das Bergwerk an ihre Bedürfnisse anzupassen, um die letzten Jahre ihres Lebens in geeignetem Maße hier leben zu können. Ein Enkel hat kurz vor dem Tod von Charles von diesem Versteck hier erfahren und ist dann selbst hergekommen, als er dringend fliehen musste. Irgendwie sind seitdem immer mehr Menschen hierhergekommen und geblieben.“

 

Hier bleiben? Konnte ich das auch? War ich auch in der Lage mein altes Leben hinter mir zu lassen und ein komplett neues anzufangen? Konnte ich die Welt, wie ich sie kannte, gegen eine in Dunkelheit und Enge tauschen?

Plötzlich schien mich etwas ungeheuer Schweres an meinen Gliedern in Richtung Boden zu ziehen, auch wenn ich wusste, dass dort nichts war. Adelio stand noch immer neben mir und blickte auf einen Ort, den ich nicht sehen konnte.

Es schüttelte mich und ich bemerkte, dass ich trotz des Pullovers unheimlich fror. Es war richtig kalt hier unten. Und wegen der hohen Luftfeuchtigkeit fühlte meine Kleidung sich bereits klamm an.

 

„Wir sollten gehen. Es ist spät.“ Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, hatte er sich von mir abgewendet und lief bereits den schmalen Gesteinsweg entlang zurück zum Eingang der Höhle. Mit gemischten Gefühlen folgte ich ihm sogleich und versuchte weder auf den nassen Steinen auszurutschen, noch über irgendetwas zu stolpern und so im Wasser zu landen.

Doch kurz bevor wir die Höhle durch den engeren Gang verließen, überkam mich die Neugier. Ich hockte mich dicht an den Rand des Sees und fasste vorsichtig, beinahe so, als würde ich den Wasserspiegel durch eine Berührung zerbrechen, in das flüssige Nass. Eine Kälte, die wie tausend Nadeln stach, drang über meine Fingerspitzen in meinen Körper. Sofort begann ich heftig zu zittern und schlang den freien Arm um meinen Oberkörper.

Und trotzdem. Ich beobachtete, wie sich die kleinen Wellen, die von meinen Fingern verursacht worden waren, immer weiter ausbreiteten und die Farben des Regenbogens sich wie in einem Strudel auf der Wasseroberfläche vermischten. Fasziniert beobachtete ich den Teil des Wassers, der noch von der Fackel erhellt wurde, ehe ich die Hand zurück zog, mich aufrichtete und zu Adelio hinüber ging, der am Tunneleingang auf mich wartete. Kurz vor ihm blieb ich stehen und blickte ihn von unten herauf an.

„Danke, dass du mir das hier gezeigt hast. Das ist wirklich einmalig schön.“ Er lächelte still und ich konnte sehen, wie seine Augen freudig glänzten. Ohne ein weiteres Wort bedeutete er mir mit einem Nicken, ihm zu folgen, was ich ohne zu zögern tat.

Zusammen ließen wir das farbenprächtige Paradies hinter uns und uns von den Felsen verschlucken.

 

Der Weg zurück war deutlich anstrengender. Erst hier fiel mir auf, wie viel Gefälle es in diesen Gängen überhaupt gab. Unbarmherzig zwang uns der Berg mit jedem Zentimeter weiter in Richtung Erdoberfläche und so dauerte es nicht lange, bis ich vor Anstrengung keuchte. Aber wenigstens war mir nicht mehr so kalt.

Ich wusste nicht, wie spät es eigentlich schon war. Ich hatte in der Höhle jegliches Zeitgefühl verloren. Aber die Tatsache, dass ich ständig ein Gähnen unterdrücken musste, ließ mich vermuten, dass es schon bald Mitternacht sein musste. Lief Adelio deshalb so schnell? Ich konnte seinem Tempo nur schwer folgen, doch ich wusste, dass ich mich verlaufen würde, wenn ich ihn verliere.

Noch immer orientierte ich mich voll und ganz am Schein der Fackel, denn obwohl in diesen Gängen bereits elektrische Lampen verlegt waren, lag trotzdem alles im Dunkeln vor uns. Um diese Uhrzeit war wahrscheinlich niemand mehr hier unterwegs und sie sparten deshalb den wertvollen Strom.

 

Immer wieder strichen meine Hände über Gestein und Beton, wenn ich mich haltsuchend abstützte oder so einfach vermeiden wollte, irgendwo anzuecken. Doch schon bald wurde der Boden wieder ebener und ich ahnte, dass wir den Schlafquartieren immer näher kamen.

Ein wenig Vorfreude keimte in meinem Magen auf, als ich an das weiche Bett dachte und prompt entwich mir ein erneutes Gähnen. Müde rieb ich mir meine Augen.

„Wir sind gleich da“, hörte ich Adelio lachen und ich versuchte gar nicht meine Müdigkeit zu leugnen.

„Das klingt gut.“ Erneut erklang sein Lachen und ich lächelte still in mich hinein. Es schien beinahe, als wohnten zwei Menschen in ihm. Der liebenswerte, immer fröhliche Adelio und der streitsüchtige, ernste. Freundlich, fürsorglich, stark und mutig. Es war beeindruckend, wie vielfältig dieser junge Mann war. So jemand wie er war mir in meinem Leben noch nie begegnet.

 

Ein weiterer Gang tat sich vor uns auf und inzwischen waren wieder so viele Lampen in Betrieb, dass wir die Fackel nicht länger benötigten. Direkt vor uns stand ein altes Holzfass gefüllt mit Wasser und daneben standen weitere Fackeln in etwas, was mich sehr an einen Regenschirmständer erinnerte. Ein lautes Zischen ertönte, als die Fackel ins Wasser getaucht wurde und augenblicklich erlosch die Flamme. Der Wasserdampf, der aus dem Fass aufstieg, war schon verflogen, ehe Adelio die Fackel zu den anderen stellen konnte.

Ich vermutete, dass wir nicht mehr weit von meinem Zimmer entfernt waren. Ich bildete mir ein den Gang wiederzuerkennen.

 

Lautes, aufgeregtes Stimmengewirr brachte uns dazu innezuhalten. Verwundert blickten wir uns um und entdeckten eine Tür auf der rechten Seite, die nicht ganz geschlossen war. Obwohl der Spalt nur gut zwei Zentimeter maß (die Tür war wohl nach dem Schließen wieder aufgesprungen), drangen die Stimmen klar und deutlich nach draußen.

Bevor ich überhaupt blinzeln konnte, klebte Adelio bereits mit dem Rücken an der Wand und lugte durch die schmale Öffnung. Bläuliches Licht blitze immer wieder in den Gang hinaus und vermischte sich mit dem hellen weißen Licht, das ebenfalls aus dem Raum drang. Ich fragte mich, was so einen Farbwechsel verursachen konnte.

In mir regte sich eine Mischung aus schlechtem Gewissen, einer üblen Vorahnung und auch ein klein wenig Neugier. Doch anstatt mich ebenfalls gegen den Beton zu pressen, blieb ich einige Schritte hinter dem Braunhaarigen stehen und versuchte so leise wie möglich zu sein. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, als würde mein wild schlagendes Herz mich verraten.

 

„Das kann doch nicht dein ernst sein!“ Eine aufgebrachte, weibliche Stimme. Irgendwie kam sie mir bekannt vor.

„Doc, tu doch was! Er stirbt sonst!“ Ich zuckte zurück. Sterben?

„Die Wunde ist tief! Ich mach schon so gut ich kann!“

„Wir müssen ihn da rausholen! Ihn und die zwei anderen! Wir können sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, Keith!“

„Du weißt genauso gut wie ich, dass das unmöglich ist, Scarlett!“ McSullens raue Stimme ertönte und schlagartig wurde mir auch bewusst, wer die Frau war. „Er wusste, worauf er sich da einließ. Es war seine eigene Entscheidung, als er-“

„Hör auf so ignorant zu reden, Keith! Es ist immerhin Jaden über den wir hier sprechen! Und nicht sonst wer! Du hast ihn die letzten Jahre wie deinen eigenen Sohn aufgezogen und plötzlich ist es dir egal, dass er in den Händen einer Mörderbande ist?!“

 

Wieso war es plötzlich so leise in meinem Kopf? Wo war das Geräusch meines schlagenden Herzens hin? Wieso bekam ich plötzlich keine Luft mehr?

„Jaden wurde gefangen genommen?“ Ein lautes Quietschen und eine weitere Stimme erhob sich, was alle anderen zum Schweigen brachte. „Was ist passiert? Ist die Mission schiefgegangen?“

„Adelio?“ Erst beim Klang seines Namens fiel mir auf, dass der Braunhaarige nicht mehr neben mir stand. Er hatte die Tür aufgerissen und starrte nun mit bleichem Gesicht in den Raum hinein. Ich rührte mich nicht vom Fleck.

„Antwortet! Was ist los? Wo sind alle?“ Seine Stimme schwoll an und hallte beinahe unerträglich laut von den Wänden wider. Ich widerstand dem Drang mir die Ohren zuzuhalten.

„Du solltest überhaupt nicht hier sein. Das geht dich nichts an.“ Ich brauchte McSullen nicht zu sehen, um den Ausdruck auf seinem Gesicht zu erahnen.

„Das geht mich nichts an? Ist das dein ernst? Jaden ist mein Freund!“ Er betonte das letzte Wort besonders. „Und auch die anderen kannte ich alle! Erzähl mir nicht, das mich das nicht zu interessieren hat!“

„Adelio …“ Scarletts Stimme erklang. Sie sprach plötzlich um einiges leiser und ruhiger, doch ihren eigenen Ärger konnte sie nicht ganz verstecken. „Der Plan ist gescheitert. Sie haben unsere Leute entdeckt. Carlos hier“, ich vermutete, dass sie auf denjenigen zeigte, den der Doc gerade behandelte, „wurde mit einem Messer niedergestochen. Der Doc versucht ihm gerade das Leben zu retten. Er konnte gerade noch entkommen.“ Im Hintergrund nahm ich plötzlich ein stöhnendes Geräusch und das Rascheln von Stoff wahr. Ich konnte das Blut beinahe riechen. „Die anderen sind …“

„Was?“, forderte Adelio.

„Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich wurden sie ebenfalls gefangen genommen. Doch wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt noch leben …“ Ich spürte ihn. Den Kloß in meinem Hals. Er schnitt mir die Luft ab. Alles verschwamm vor meinen Augen. Oder waren das Tränen? Ich lehnte meine Schulter gegen die Wand und versuchte nicht zusammenzubrechen. Jaden war vielleicht … tot?

„Sie haben sie … gefangen genommen?“ Der Braunhaarige klang plötzlich, als würde er ebenfalls ersticken. „Diese Dreckskerle … Und was machen wir jetzt? Wir müssen sie da rausholen!“ Ein tiefes Brummen erklang.

„Wir tun gar nichts. Sie wussten, worauf sie sich einließen. Es würde alles gefährden, wenn wir noch mehr Leute verlieren würden.“ Eine bleischwere Stille legte sich plötzlich auf die Anwesenden. Nur das Stöhnen des Verletzten war noch zu vernehmen. Mein Mund war so trocken, als hätte ich seit Wochen nichts mehr getrunken. Mein Körper zitterte so stark, dass die rechte Schulter unangenehm an der Betonwand schabte, doch das nahm ich kaum wahr.

 

„Das ist ja wohl nicht wahr …“ Adelios Hände ballten sich zu Fäusten und sein Körper zitterte ebenfalls. Doch nicht wie bei mir aus Schock und Angst, sondern vor Wut. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und das Blut stieg in sein eben noch blasses Gesicht. Er sah aus, als würde er gleich auf jemanden losgehen. „Jaden ist dein Sohn, du Dreckskerl! Du bringst ihn seit Jahren in diese lebensgefährlichen Situationen, damit er dir deine ach so wertvollen vier Buchstaben rettet und wenn er dich mal braucht, lässt du ihn einfach im Stich?!“ Wie Donner schallten seine Worte durch den Gang und ich zuckte unwillkürlich vor ihm zurück.

„Adelio, bitte …“ Scarletts Stimme erklang, doch er ignorierte sie völlig.

„Reicht es dir nicht, dass du deine Frau und die beiden Töchter auf dem Gewissen hast? Willst du jetzt auch noch deinen Adoptivsohn zur Hölle jagen?“

 

Ich verstand nicht, was dann passierte. Obwohl ich es mit meinen eigenen Augen sehen konnte, verstand ich es nicht. Wann hatte McSullen den Raum verlassen? Woher kam dieses ganze Geschrei? Und warum lagen Adelio und er auf dem Fußboden?

Blut verteilte sich über das mehrfarbige Gestein, als eine Faust den jungen Mann im Gesicht traf. Ich schrie entsetzt auf, als ich endlich kapierte, was sich dort abspielte. Und das zog mir endgültig den Boden unter den Füßen weg. Ich rutschte an der Wand entlang und kauerte mich so eng wie möglich hin. Ich schloss meine Augen und vergrub den Kopf zwischen den Armen und Beinen und versuchte verzweifelt wieder Luft zu bekommen.

 

Der Tumult um mich herum war entsetzlich laut. Immer wieder das dumpfe Geräusch von Schlägen auf festem Fleisch, die verzweifelten „Stopp!“-Rufe der anderen Anwesenden und das gequälte Stöhnen eines sterbenden Mannes. Das sollte aufhören!

 

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als nur noch mein gelegentliches Schluchzen erklang. Ich wagte es nicht aufzusehen, um den Ausgang des Kampfes zu erfahren. Erst, als jemand eine Hand auf meine Schulter legte, schien etwas Gefühl in meinen tauben Körper zurückzukehren. Noch immer öffnete ich meine Augen nicht.

„Amelina. Es ist alles okay, hörst du? Komm, ich bring dich zurück in dein Zimmer.“ Scarlett. In diesem Augenblick war es mir egal, dass ich mich in ihrer Anwesenheit immer ein wenig unwohl fühlte. Sie war die wunderschöne, kluge und starke Frau und ich das kleine, heulende Mädchen. Das Angebot, was sie mir machte, war gerade das einzige, was zählte.

Unter dem Protest meines Körpers rappelte ich mich mühsam auf, um auf die Beine zu kommen. Die ganze Zeit über hielt ich meinen Blick gesenkt und sah sie nicht an. Vor meinen Augen lag ein milchiger Schleier, der es mir erschwerte, überhaupt etwas zu erkennen. Darum war ich dankbar für die leichte Berührung an meinem Ellenbogen, mit der sie mich die letzten Meter zu meinem Zimmer brachte.

 

Sie öffnete mir die Tür und ich trat ohne ein weiteres Wort hinein. Nur die kleine Nachttischlampe, die jemand schon vorher angeschaltet haben musste (oder hatte ich vergessen diese auszuschalten?), erhellte die eisige Dunkelheit und noch bevor ich das Klicken der schließenden Tür hören konnte, brach ich auf dem Teppich zusammen.

Die Kälte kroch durch die dünnen Fasern des Bodenbelags und lähmte meine zitternden Muskeln. Und doch schloss ich nicht für eine Sekunde meine Augen. Ich war nicht mehr müde. Es kam mir so unendlich falsch vor auch nur ans Schlafen zu denken.

Jaden war irgendwo da draußen. In den Händen einer kriminellen Bande, die selbst vor dem Tod Unschuldiger nicht zurückschreckte. Und niemand wusste, ob er überhaupt noch am Leben war. Und trotzdem. Irgendetwas sagte mir, dass es noch nicht zu spät war. Ich glaubte, dass er noch nicht tot war. Nein. Ich glaubte das nicht nur, ich wusste es. Ich konnte nicht sagen, woher diese Gewissheit kam, aber ich war mir sicher, dass sie da war. Sie schien jede Faser meines Körpers auszufüllen.

Er war noch nicht tot. Es gab noch eine Chance ihn zu retten. Und diese Chance musste ich einfach nutzen.

 

Die Energie, die schlagartig in meinen Körper zurückkehrte, kribbelte wie hunderte Ameisen auf meiner Haut. In mir kochte plötzlich eine Entschlossenheit, wie ich sie bei mir nicht kannte. Dies war meine Chance, alles wieder gut zu machen. Irgendwie.

Ich griff nach der schwarzen Übergangsjacke, die über der Stuhllehne hing, und mit wenigen Schritten hatte ich die Tür erreicht. Der Gang lag still und verlassen da. Mit schnellen, leisen Schritten schlich ich mich durch den schwach beleuchteten Flur, während seine Worte immer wieder durch meinen Kopf hallten:

„Ich weiß nur eins: du musst auch nicht mehr kämpfen. Das verlangt niemand von dir. Überlasse das einfach mir. Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts passiert.“

Entschlossenheit

Ich musste zugeben, ich war ein wenig beeindruckt von mir selbst. Ich hatte tatsächlich den gesuchten Ausgang gefunden und mich dabei nur zweimal verlaufen. Ich vermutete, dass das ganze Adrenalin, welches gerade durch meinen Körper gepumpt wurde, sowohl positive als auch negative Auswirkungen hatte. Aber immerhin hatte es meinen Orientierungssinn angeschmissen und mir geholfen dorthin zu kommen, wo ich hin wollte.

 

Doch es dauerte nicht lange, ehe sich Ernüchterung in mir breit machte. Was sollte ich nun machen? In wenigen Schritten würde ich das Bergwerk verlassen und nur noch das verfallene Firmengelände vor mir haben. Ich war schon einmal ungesehen über den Hof gelangt – wobei ich da nur vermute, dass mich niemand gesehen hatte, oder ich war einfach zu schnell gerannt, als dass mich jemand hätte abfangen können - und würde das auch diesmal irgendwie schaffen, aber was dann? Wo sollte ich hingehen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie ihn gefangen hielten! Wo also sollte ich nach ihm suchen?

Direkt vor der nach draußen führenden Eisentür blieb ich stehen. Eine kleine Öllampe hing über ihr und war damit die einzige Lichtquelle weit und breit. Durch die Ritzen zwischen dem Metall drang bereits die lauwarme Luft des bald heranbrechenden Morgens. Zögerlich streckte ich meine Hand nach der dreckverkrusteten Klinke aus und versuchte mich selbst zu beruhigen. Erst mal musste ich von hier verschwinden, dann würde ich weitersehen.

Doch noch bevor ich das Metall berühren konnte, kam mir plötzlich etwas anderes zuvor. Ich sprang erschrocken zurück und stieß einen kleinen Schreckenslaut aus. Was war das? Eine Schlange?

Aber als ich zur Seite blickte, sah ich einen leicht angeschlagenen Adelio neben mir stehen, dessen Finger auf seiner blutigen Lippe lag, um mir zu zeigen, dass ich still sein sollte. Verwundert musterte ich ihn. Auf seiner einen Wange zeichnete sich bereits ein größerer, blauer Fleck ab und zahlreiche Kratzer zierten seine Haut. Seine noch nassen Haare waren nach hinten gekämmt und nur langsam kräuselten sie sich in ihre ursprüngliche, lockige Form. Er trug eine dunkle Stoffhose und eine ebenfalls schwarze Jacke, die ihn beinahe mit der Dunkelheit verschmelzen ließen. Was machte er hier?

 

„Zwei Dumme, ein Gedanke, stimmt’s?“ Ein kleines Lächeln lag auf seinen Lippen und ich verstand, dass er aus demselben Grund hier stand, wie ich.

„Wir müssen es einfach versuchen!“, flüsterte ich unnötigerweise ebenso leise zurück, doch ich sah bereits an seinem Blick, dass er zu diesem Entschluss schon selbst gelangt war. Er nickte entschlossen.

„Ich denke, ich werde dich nicht davon abbringen können zu gehen, darum spare ich mir das Theater lieber gleich. Aber zumindest weiß ich ungefähr wo wir anfangen können zu suchen.“

„Und ich weiß genau, wo wir hingehen müssen.“ Wir zuckten beide beim Klang einer weiteren Stimme zusammen, bevor wir herum wirbelten und eine Gestalt aus der Dunkelheit treten sahen. Ihre blonden Haare leuchteten selbst in diesem Moment wie Gold.

„Was machst du denn hier?“, zischte Adelio, der sich nicht sonderlich über den Neuankömmling zu freuen schien.

„Du glaubst doch wohl nicht, dass ich nur hier sitzen und Däumchen drehen werde! Ich kenne Jaden jetzt schon seit Jahren und ich werde nicht zulassen, dass die was weiß ich was mit ihm anstellen!“ Aurelia verschränkte ihre Arme vor der Brust, sodass der Stoff ihrer Sweatjacke raschelte, und warf Adelio einen entschlossenen Blick zu. Es sah nicht so aus, als wäre sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Ich sah im schwachen Licht der Lampe, wie der Braunhaarige die Augen rollte. Seufzend gab er sich geschlagen.

„Okay, okay. Mach hier jetzt bloß keine Show, Blondie. Also, wo ist er?“ Sichtlich stolz auf ihren Sieg erhellte sich Aurelias Gesicht sofort.

„Ich habe ein wenig rumgeschnüffelt, als die ganze Sache hier losging und mir niemand was sagen wollte. Aufgrund der neuen Erkenntnisse konnten wir ihre Spuren zu einem alten Krankenhauskomplex zurückverfolgen.“

„Bitte? Ein Krankenhaus? Verdienen die sich jetzt ihr Geld mit Doktorspielchen?“

„Keinem richtigen Krankenhaus.“ Sie schüttelte seufzend ihren Kopf. „Das Gebäude steht schon seit mindestens 25 Jahren leer und niemand kümmert sich um das Gelände. Es ist ähnlich wie mit unserem Bergwerk. Der Betreiber hat die Klinik, die vor bereits 150 Jahren erbaut wurde, in die Pleite gewirtschaftet und nach zahlreichen versuchen mit dem Gebäude noch etwas anzustellen, wurde es irgendwann aufgegeben und zerfällt gerade langsam zu Staub.“ Ich stutzte. Ein verlassenes Gebäude? Dann war deren Versteck gar nicht so anders als unseres. „Nun nutzen sie es als ein Lager, aber für was genau wissen wir nicht. Aber weil deren Stützpunkt nur gut acht Kilometer von hier entfernt ist, bekamen die alten Herren Panik und schickten die Truppe viel zu übereilt los. Die ganze Sache war zu unüberlegt gewesen und dafür musste Jaden jetzt bezahlen. Er war sowieso von Anfang an dagegen.“

„Aber wieso? Wieso kommen die plötzlich alle hier nach Summer Hills? Die ganzen letzten Jahre hat sich hier nie jemand blicken lassen! Da stimmt doch was nicht. Irgendwas ist hier im Busch. Ob die wissen, dass wir hier sind?“ Adelio rieb sich mit der Hand über die Schläfen. So, als hätte er wahnsinnige Kopfschmerzen und versuchte, diese weg zu massieren.

„Ich weiß es nicht. Aber wir können nicht länger tatenlos rumsitzen! Irgendwas geht da vor sich und wenn wir nicht aufpassen, gucken wir uns bald alle die Radieschen von unten an!“

 

Ich erschauderte. Ein Gefühl, als ob hunderte Spinnen über meine Haut liefen, kroch in Zeitlupe in jede noch so kleine Ecke meines Körpers. Bis vor ein paar Tagen hatte ich noch überhaupt keine Ahnung gehabt, was hier vor wirklich sich ging. Da hätte ich mir das alles noch gar nicht in meinen schlimmsten Albträumen überhaupt vorstellen können! Und nur, weil ich bei der Geburt aus irgendeinem Grund diesen seltenen Edelstein bekommen hatte, hatte ich überhaupt von alldem erfahren.

Ganz von selbst wanderte meine Hand an die Stelle, an der mein roter Diamant ruhte. Eine kleine, sehr gut versteckte Innentasche der Jacke. Ich hatte es nicht über das Herz gebracht, ihn zurückzulassen, auch wenn es wohl das Beste gewesen wäre. Doch ich konnte es nicht. Er gehörte zu mir, also musste ich nun hoffen, dass niemand einen Grund (und die Gelegenheit) haben würde, in meiner Jacke rumzuwühlen.

 

Das plötzliche Klirren von Metall ließ uns drei herum fahren. Obwohl es noch einige Meter weit weg sein musste, war das kleine Licht am Ende des Fahrzeugtunnels schon gut zu sehen. Irgendjemand kam da ziemlich schnell in unsere Richtung.

„Erwartest du noch wen?“, fragte Adelio scherzhaft, doch seine Stimme klang gepresst. So, als wüsste er die Antwort bereits.

„Laber keinen Müll. Los kommt!“ Schon bevor ich mich umgedreht hatte, war Aurelia bereits wieder in den Schatten verschwunden. Schnell – und so leise wie möglich - folgte ich ihr in die Richtung, in der ich sie vermutete. Das kaum hörbare Quietschen einer Tür erklang seitlich neben mir und eine Hand zog mich mit einem Ruck hinterher.

Das Quietschen ertönte wieder und ich bemerkte, dass sich die Geräusche unserer Schritte plötzlich anders anhörten. Wir hatten wohl einen kleinen Nebenraum betreten. Als der schwache Lichtstrahl der dort immer noch hängenden Öllampe durch den winzigen Spalt der Tür schien und dabei auf einen alten Mopp fiel, wusste ich auch genau, was für ein Raum das hier war. Schnell drückte ich mich zwischen dem Mopp und einem alten, verstaubten Regal voller Putzmittelflaschen an die Wand.

Draußen knirschten Schritte und ein leises Pfeifen hallte durch den Gang bis in unser Versteck. Da ich nicht sehen konnte, was da vor sich ging, lauschte ich auf jedes Geräusch. Ein schwerer Gegenstand, der auf dem Boden abgestellt wurde. Das Öffnen der Tür, gefolgt von den nächtlichen Geräuschen des umliegenden Waldes. Ein leises Fluchen, als etwas zu Boden fiel. Das Rascheln von Plastik, ehe die Tür wieder in ihre Angeln fiel. Der Mann war weg.

 

„Louis.“ Selbst flüsternd, klang Adelios Stimme laut in meinen rauschenden Ohren. Er hatte uns nicht gesehen. „Gut, dass er sich wieder einmal verbotenerweise im Dienst mit seinem Handy beschäftigt hat. Glück für uns.“

„Mal sehen, wie lange die Glückssträhne noch anhält. Los jetzt, bevor uns noch mehr vor die Füße latschen!“

 

Jetzt ging alles ganz schnell. Adelio übernahm die Führung, gefolgt von mir und Aurelia bildete das Schlusslicht. Möglichst geräuschlos schlüpften wir durch die Tür. Das schwache Licht des Mondes umhüllte uns, sobald wir einen Schritt aus dem Gebäude taten. Ich fühlte mich beinahe wie auf dem Präsentierteller. Mitten im Scheinwerferlicht.

Ich hielt die Luft an, als wir uns in Richtung des Zauns bewegten, der das Gelände umgab. Ich traute kaum mich umzusehen, aus Angst, jemanden zu entdecken. Oder besser, dass uns jemand entdeckte. Nur Schemen waren zu erkennen. Ein kurzer Blick in den dunklen Himmel verriet mir, dass einige Wolken aufgezogen waren und nun den Mond und die Sterne zum großen Teil verdeckten. Nur hin und wieder trafen fleckige Lichtstrahlen auf den Boden, die wie Glühwürmchen im Dunkeln tanzten, und gaben uns eine ungefähre Ahnung, wo wir langgehen mussten. Doch selbst das erwies sich als schwierig, weil ständig überall Müll, Trümmer und alte Werkzeuge verstreut herum lagen, die bei der kleinsten Berührung ein unglaubliches Getöse machten. Für einen kurzen, blöden Moment fühlte ich mich stark an das Märchen von Hänsel und Gretel erinnert, die aus dem Lebkuchenhaus flohen, um von der Hexe nicht verspeist zu werden. Ich schüttelte meinen Kopf, um die Gedanken zu vertreiben.

Ich konzentrierte mich wieder voll und ganz auf den Braunhaarigen vor mir. Hinter mir hörte ich das leise, zitternde Atmen von Aurelia, die versuchte mit uns Schritt zu halten. Ständig ertönten von überall her irgendwelche Geräusche und ich rechnete jede Sekunde damit, Schreie zu hören. Das Signal, dass wir entdeckt wurden.

Und als wir ruckartig hinter einigen verbeulten Metallfässern in Deckung gehen mussten, weil zwei Männer nur Zentimeter von uns entfernt Patrouille liefen, blieb mir beinahe das Herz stehen. All der Mut, den ich eben noch in mir verspürt hatte, war wie weggeblasen. Am allerliebsten wäre ich umgekehrt und hätte mich unter der grünen Bettwäsche verkrochen. Doch das wäre feige gewesen. Einfach nicht richtig. Ich wusste, weshalb ich das hier auf mich nahm und das war es mir wert. Ich war es ihm schuldig.

 

Als uns das dichte Blätterdach der nahen Bäume empfing, atmeten wir alle drei erst mal ganz tief durch. Das war schon kein kleiner Stein mehr, der mir in diesem Augenblick vom Herzen fiel …

Doch wir hielten keine Sekunde lang inne. Sofort gingen wir tiefer in den Wald, um möglichst schnell möglichst viel Raum zwischen uns und das Bergwerk zu bringen. Die Angst entdeckt zu werden, ließ uns auch nicht mehr los, als wir alle drei vor Entkräftung eine Pause machen mussten.

Erschöpft lehnte ich meine Arme gegen einen nahestehenden Baum und ließ den Kopf ebenfalls dagegen sinken. Der Geruch von nasser Baumrinde kitzelte in meiner Nase. Die Jacke schütze meine Haut davor, von der scharfen Rinde aufgescheuert zu werden. Meine Hände zitterten so stark, dass ich die Finger zu Fäusten zusammenballen musste, um mich wieder auf das Luftholen konzentrieren zu können. Meine Brust schmerzte und mein Atem ging flach. Ich hörte das Blut ohrenbetäubend laut in meinem Kopf rauschen.

 

„So, nun sind wir hier irgendwo in der Walachei und haben keine Ahnung, wie wir jetzt weitermachen sollen, hab ich Recht?“ Ich blickte noch immer auf die Rinde des Baumes vor mir und konnte deshalb ihr Gesicht nicht sehen, doch ihre Stimme verriet mir genug, um ihre Stimmung einschätzen zu können. Auch sie rang immer noch nach Atem.

„Du meintest wir müssen zu diesem alten Krankenhaus. Das liegt doch in der Nähe von Lobingen, oder? Dann gehen wir eben dahin.“ Adelio räusperte sich. Wahrscheinlich war sein Mund auch so trocken wie meiner. Wir hätten etwas zu trinken mitnehmen sollen.

„Gehen? Sollen wir uns echt acht Kilometer durch den Wald schlagen? Was denkst du, wie lange das dauert? Wir haben keine Zeit für einen Spaziergang!“

„Ach, das gefällt dir nicht, Blondie? Jammer schade, dass mein persönlicher Hubschrauber grade in der Wartung ist!“

„Nenn mich nicht immer Blondie, du Muttersöhnchen! Ich habe keine Lust mehr mich von dir beleidigen zu lassen! Als ob du der größte Held von allen wärst! Pah! Dabei machst du dir doch selber gerade vor Angst in die Hose, stimmt’s?“

„Du wagst es wirklich …!“

 

„Hört auf, es reicht!“ Ihre Stimmen verstummten, als mein kratziger Schrei ihr Gespräch unterbrach und ich mich langsam zu ihnen umdrehte. Ihre Köpfe waren in meine Richtung gewandt, doch ich konnte alles nur unscharf erkennen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich angefangen hatte zu weinen, doch nun ließen die Tränen meinen Blick verschwimmen. Schnell fuhr ich mit dem Handrücken über die Augen, um das Nass daraus zu vertreiben. „Hört gefälligst auf damit! Wir haben grade keine Zeit für so was, verdammt noch Mal! Jaden ist schon seit Stunden in der Gewalt von Mördern und ihr verplempert die kostbare Zeit mit kindischen Streitereien!“

Ein leises Schluchzen drang aus meiner Kehle und ich spürte erneut eine Flüssigkeit auf meiner Wange. Haltsuchend umklammerte ich meine Oberarme.

„Wir haben doch keine Zeit … Wir müssen ihn finden. Wir müssen Jaden finden, bevor er … Bevor …“ Ich kämpfte gegen den Gedanken an und versuchte mich zu beruhigen. Ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Nicht jetzt!

 

„Amelina …“ Ich bemerkte Adelio ernst, als sich seine Hand auf meine Schulter legte. Ich blickte auf und sah ihn durch meinen Tränenschleier an. „Entschuldige. Du hast natürlich Recht. Wir werden keine Sekunde mehr verschwenden und werden ihn finden, versprochen.“ Der wütende Unterton war wieder komplett aus seiner Stimme verschwunden und seine sanfte Seite hatte erneut die Oberhand gewonnen. Ich nickte ihm zu und vertrieb nun die letzten Tränen aus meinen Augen.

„Und was machen wir jetzt?“ Aurelia hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt und sah mit einem starren Blick zu uns hinüber. Beinahe erschrak ich vor dem leeren Ausdruck in ihren Augen. So … kalt hatte ich diese noch nie gesehen.

„Laufen dauert zu lange, also müssen wir fahren. Und mir fällt grade ein, wie wir das machen können. Los, kommt.“ Seine Hand verschwand von meiner Schulter und er übernahm erneut die Führung unserer kleinen Gruppe. Aurelia folgte ihm sofort ohne ein weiteres Wort und ich zwang meine tauben Beine es ihr gleich zu tun.

 

Der Weg durch den Wald war beschwerlich. Obwohl wir uns beeilten, verhinderten umgekippte Bäume, Pflanzen und dichtes Geäst ein schnelleres Vorankommen. Ich hatte das Gefühl, als kämen wir überhaupt nicht vorwärts. Mein Herz begann zu rasen, als sich ein Gedanke in meinem Kopf einnistete und wie Säure mein Gehirn zerfraß. Was, wenn wir nicht rechtzeitig ankamen? Wenn der Weg einfach zu weit war? Wer weiß, wie viel Zeit ihm noch blieb? Was sollten wir bloß tun, wenn Jaden schon … Wenn es bereits zu spät war?

Ich umfasste mit meinen Händen einen Teil meiner Haare und zog so kräftig daran, dass es schmerzte. Nein, daran durfte ich nicht denken. Es war nicht zu spät, das wusste ich genau. Wir waren auf dem Weg zu ihm und wir würden ihn retten. Uns blieb keine andere Wahl. Ohne Jaden waren wir alle verloren.

 

Ein lautes Brummen mischte sich unter unsere regelmäßigen Atemzüge und ein helles Licht blitzte zwischen den Bäumen auf. Obwohl der Morgen sich bereits ankündigte, hing noch immer die tiefe Nacht über dem Wald. Darum erschreckte mich das Licht umso mehr. Waren das Taschenlampen? Waren die Männer der letzten Nacht zurückgekommen? Sofort setzte mein Herz für ein paar Sekunden aus und ich musste es zwingen seinen Dienst wieder aufzunehmen. Nein, das war viel zu hell gewesen für eine Taschenlampe. Das musste etwas deutlich Größeres gewesen sein.

 

Ein paar Schritte später merkte ich, wie sich plötzlich der Boden unter mir veränderte. Der weiche Waldboden ebnete sich mehr und mehr und an seine Stelle traten Kieselsteine, die das Laufen deutlich erleichterten. Einen Moment später lichteten sich die Bäume und eine breite Schneise verlief mitten durch den Wald. Der graue Steifen, der den Boden nun überzog, ließ mir kurz den Atem stocken. Eine Straße! Doch weit und breit war kein Auto zu sehen. Was hatte Adelio vor?

„Ich glaube, ich weiß, wo wir sind. Wir müssen nur noch ein paar Meter die Straße rauf. Also los. Keine Müdigkeit vorschützen!“ Sofort machte der Braunhaarige sich wieder auf den Weg und folgte der geraden Straße auf dem Seitenstreifen entlang.

 

Der Himmel begann langsam seine dunkle Farbe abzulegen und ein intensives Orange schwebte dicht über dem Horizont. Die hellen Wolken, die sanft über uns hinweg zogen, zeigten kein Anzeichen von baldigem Regen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis die sommerlichen Temperaturen wieder zu spüren wären. Ich bemerkte jetzt schon, dass die Schweißtropfen auf meiner Stirn nicht alle vom Laufen kommen konnten.

Es dauerte nicht lange, ehe wir auf eine Kreuzung stießen und ich endlich das entdeckte, was Adelio zu suchen schien. Schlagartig dämmerte mir seine Idee und ein kleiner Funken Hoffnung in mir vertrieb die schlechten Gedanken. Wir konnten es immer noch schaffen!

„Eine Bushaltestelle?“ In Aurelias Stimme klang sowohl eine gewisse Skepsis, als auch etwas, was ich als Bewunderung beschreiben würde, mit. „Woher wusstest du, dass hier eine ist?“ Ein wissendes Lächeln trat auf das Gesicht des jungen Mannes.

„Wenn du dich nicht immer im Bergwerk verschanzt hättest und Mal mit uns rausgegangen wärst, wüsstest du von dieser Bushaltestelle, Aurelia.“ Er zwinkerte mir zu. „Und wenn ich richtig liege, müsste es in ein paar Minuten weitergehen“, meinte er und ging die letzten Schritte hinüber zur Haltestelle. Sein Blick fiel auf einen in einem Schaukasten ausgestellten Zettel, den ich als Fahrplan identifizierte. Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr, die bis eben verborgen unter seiner Jacke geruht hatte, und ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Perfekt! In sechs Minuten kommt der Fünf-Uhr-Bus! Und der fährt auch noch in die richtige Richtung! Zum Glück habe ich mein Portemonnaie noch schnell eingesteckt.“

Ich zuckte kurz zusammen. Ich hätte mich in diesem Moment innerlich ohrfeigen können! An so etwas Banales wie Geld hatte ich nicht eine Sekunde lang gedacht! Ich war wirklich absolut unfähig alleine zurechtzukommen …

 

Als ob plötzlich sämtliche Muskeln aus meinen Beinen verschwunden wären, sackte ich auf der Metallbank zusammen. Dass diese nass war und damit meine Hose durchweichte, war mir in diesem Moment völlig egal. Hauptsache sitzen. Ein seltsames Kribbeln meldete sich in meinen Oberschenkeln und ich rieb mit den Händen darüber, um meine Beine wieder zu beruhigen. Ich hätte mich doch nicht immer vor dem Sport drücken sollen.

Wir warteten schweigend, bis tatsächlich ein Bus in der Ferne zu sehen war und dieser direkt auf uns zusteuerte. Beinahe mühsam richtete ich mich auf und stellte mich zu Adelio und Aurelia an die Stelle, an der der Busfahrer anhielt.

Während Adelio uns Fahrkarten besorgte, liefen Aurelia und ich durch den menschenleeren Bus. Außer uns und dem Fahrer war niemand zu sehen. Auf den Plätzen hinten im Bus ließen wir uns nieder. Der Wagen fuhr an, noch ehe der Braunhaarige sich zu uns setzen konnte. Abwesend blickte ich aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen.

 

Auch die Fahrt über sagte niemand ein Wort. Wir alle waren stumm in Gedanken versunken. Wahrscheinlich dachte jeder darüber nach, wie er in einem Stück aus der Sache wieder rauskommen konnte. Auch in meinem Kopf spukten diverse Fragen herum, die ich alle nicht beantworten konnte.

Ich war nicht allein. Das war ein größerer Trost, als ich gedacht hatte. Doch waren wir drei wirklich in der Lage es mit einer gefährlichen Bande von Dieben und Mördern aufzunehmen? Was konnten wir ihnen schon entgegensetzen?

Doch zwischen all den Fragen und Zweifeln gab es immer dieses eine Bild. Dieses Bild, was mich von innen her zerriss. Leere Augen. Ein See aus Blut, in dem die kupferroten Haare wie auf Wasser schwebten. Eine riesige Wunde. Das durfte nicht passieren! Nein. Nein, er durfte nicht …

 

Als sich Adelios Hand kurz auf meine Schulter legte, schreckte ich auf. Die beiden waren bereits zur hinteren Tür gegangen und ein kleines Licht auf der Anzeige verriet mir, dass jemand den Halteknopf betätigt hatte und wir an der nächsten Station aussteigen wollten.

Schnell schob ich mich über die Sitze und in genau dem Moment begann der Fahrer abzubremsen. Meine Hände umklammerten das kalte Metall einer Haltestange, damit ich das Gleichgewicht besser halten konnte. Erst als die Tür aufschwang ließ ich diese los und verließ nach den beiden den Bus.

Inzwischen hatte sich die Dunkelheit komplett verzogen und ein vorwiegend hellblauer Himmel machte es möglich die Umgebung zu erkennen. Ich bemerkte, dass auch die Luft sich seit unserem Aufbruch deutlich erwärmt hatte. Ich ahnte, dass unsere Jacken sehr bald lästig werden könnten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite streckten sich zahlreiche Felder bis zum Horizont. Nur eine kleine Straße trennte diese und führte scheinbar geradewegs zu einem kleinen Dorf, dessen Häuser in neblige Schwaden getaucht waren.

Auf dieser Seite erstreckte sich erneut ein großer Wald, der ebenfalls von einer breiten Straße durchzogen war. Das Ende des Weges war nicht zu sehen, da ein Hügel die Sicht versperrte, doch ein altes, großes Schild bewies uns, dass wir auf der richtigen Spur waren.

„‘Schwarzhügel Klinik‘? Sieht nicht besonders einladend aus“, meinte Aurelia skeptisch.

„Kein Wunder, dass es die nicht mehr gibt. Erholung suchte man hier wohl vergeblich“ Adelio legte den Kopf schief. Seine Lippen waren zu einem engen Strich zusammengepresst. „Aber uns bleibt keine andere Wahl. Wir sollten endlich von dieser Straße runter, bevor wir noch von den falschen Personen entdeckt werden.“

 

 Schnell huschten wir ins Unterholz und begannen wieder uns einen Weg durch die trockene Vegetation zu schlagen. Tannennadeln und abgebrochene Äste säumten den rissigen Boden. Die Kronen der Bäume und Tannen schützen uns zumindest etwas von der gleißenden Hitze des Sommers. Mein Herz schlug bei jedem Schritt heftig gegen meinen Brustkorb und ich bildete mir ein überall Geräusche und Stimmen zu hören. Sie durften uns nicht finden! Das wäre unser Todesurteil …

Wir eilten etliche Minuten durch den Wald, bis sich zwischen den zahllosen Bäumen graue Gebäude abzeichneten. Ehe wir die letzten Pflanzen hinter uns ließen, erkundeten wir aus unserem Versteck heraus die Umgebung.

 

Sofort übermannte mich ein eiskalter Schauer. War ich abergläubisch? Glaubte ich an Übernatürliches? Bisher hätte ich definitiv ‚nein‘ gesagt, aber der Anblick, der sich uns in diesem Moment bot, ließ die Vermutung, dass es so etwas wie Geister wirklich gab, gar nicht mehr so abwegig klingen.

Wie ein dunkler Koloss aus Holz, Pflastersteinen und Beton ragte das Gebäude vor uns auf. Die ehemals graue Außenfassade, war übersät von Flecken, Wasser und Dreck, sodass von der eigentlichen Farbe kaum noch etwas zu erkennen war. Die abgerundeten, roten Fenster, die einstmals die Zimmer und Flure mit Licht versorgt und von den Wetterbedingungen der Außenwelt beschützt hatten, waren nun entweder zerschlagen oder gänzlich mit Brettern vernagelt. Wie ein dunkler Schlund kam mir das Schwarz hinter den gesprungenen Scheiben vor. So, als ob hinter ihnen eine andere Dimension läge.

Der zerfallene Eingang, der einmal eine von vier Säulen getragene Überdachung besaß, erweckte nun keinen einladenden Eindruck mehr. Moos und Pflanzen hatten die ehemals gepflegten Rasenflächen vor dem Gebäude zurückerobert und auch die Straße war ihnen zum Opfer gefallen.

Die wenigen Bäume, die den Naturgewalten bisher trotzen konnten, ragten wie die Finger des Teufels in den Himmel. Als ein Windstoß durch die ehemalige Klinik pfiff, bildete ich mir ein Menschen schreien zu hören. Mein Atem stockte.

Nur der Maschendrahtzaun, der, ähnlich wie bei unserem Bergwerk, das Gelände umschloss, trennte uns noch von dem unheimlichen Ort. Mein Körper schrie mir innerlich zu, diese letzte, sichere Grenze nie zu überschreiten, obwohl er wusste, dass ich es doch tun musste.

 

Was mich jedoch noch mehr beunruhigte, als der Anblick dieses Jahrhunderte alten Gebäudes, war die hier herrschende Stille. Kein Geräusch schien bis hierher vorzudringen. Kein Brummen von auf der Landstraße fahrenden Autos, kein Zwitschern eines Vogels und erst recht kein Anzeichen von menschlichem Leben.

Wo waren die schwarzen Männer? Waren sie da wirklich drin? Wenn ja, wo? Hatten sie uns schon entdeckt? War unsere Rettungsmission bereits gescheitert, bevor sie richtig begonnen hatte?

Ich richtete meinen Blick auf Adelio, der nur einen Schritt von mir entfernt um einen Baum herum lugte. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt und er schien tief in Gedanken zu sein. Auch in Aurelias Zügen konnte ich die Anspannung deutlich sehen. Ich selbst sah wahrscheinlich nicht viel besser aus. Vom Gefühl her war nicht ein Tropfen Blut mehr in meinem Gesicht. Ich musste aussehen wie eine Leiche.

 

Ich spürte Adelios Blick auf mir und wandte mich ihm zu. Ohne ein Wort zu sagen bedeutete er uns, ihm zu folgen. Wenn mein Herz bis eben noch nicht gänzlich in meine Füße gerutscht war, dann war es das spätestens jetzt. Ich zwang meine Beine sich in Bewegung zu setzen und folgte dem Braunhaarigen am Rand des Waldes entlang. Eine Weile liefen wir parallel zum Zaun und folgten einem seitlich zum Haupthaus verlaufenden Trakt, ehe wir endlich das entdeckten, was wir suchten: Ein Loch im Zaun.

Zum Glück war die Stelle durch Büsche und Bäume soweit von eventuellen Blicken abgeschottet, dass wir es wagten uns durchzuschlängeln. Auf der anderen Seite angekommen, huschten wir so schnell und leise wie möglich zu dem Gebäude hinüber und pressten uns gegen die Wand. Um nicht gesehen zu werden, duckten wir uns und suchten einen Weg hinein.

Ich hatte den Atem angehalten, sodass mein Blick langsam verschwamm. Doch ich wagte es nicht, den dringend benötigten Sauerstoff in meine Lungen zu lassen, aus Angst, man könnte es hören und uns entdecken.

 

Als wir hinter zahlreichen Büschen eine Treppe entdeckten, die sich in die Erde grub, musste ich mich stark zusammenreißen, um nicht sofort dahin zu hechten. Schnell verschwanden wir zwischen den Betonmauern, möglichst ohne das völlig durchgerostete Geländer zu berühren. Rote Rostflusen stoben von den moosbedeckten Stufen auf, als wir diese hinunter eilten. So wie es aussah, war diese Treppe schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden.

Am unteren Ende erwartete uns eine ehemals dunkelgraue Metalltür, die sich beinahe unsichtbar in die ebenfalls graue Wand schmiegte. Ein widerlicher Gestank von verschimmeltem Laub und verwesenden Tieren drang aus dem im Beton eingelassenen Abfluss. Ich gab mir große Mühe, meine letzte Mahlzeit in meinem Körper zu behalten.

Vorsichtig streckte Adelio die Hand nach der Klinke aus und drückte diese herunter. Keiner von uns schien wirklich überrascht darüber, dass die Tür nicht sofort aufschwang. Doch davon ließ sich niemand abschrecken. Mit einem kleinen Metallstück, das vom Geländer stammen musste, stocherte der Braunhaarige einige Zeit in dem alten Schloss herum und diesmal waren wir tatsächlich verwundert, als ein leises, schon fast zaghaftes, Klicken ertönte und das Metall uns Einlass gewährte.

Vor uns herrschte absolute Dunkelheit. Nur durch das Öffnen der Tür war es möglich zu erkennen, dass sich ein langer Gang vor uns erstreckte. Sobald diese jedoch wieder geschlossen sein würde, wäre die Hand nicht mehr vorm Auge zu erkennen. Etwas, was mir so gar nicht behagte. Eine Welle aus furchtbar heißer und stickiger Luft raubte mir beim Betreten kurz den Atem.

 

Doch wir durften nicht trödeln, also betraten wir drei das alte Gebäude, ehe die Tür hinter uns leise ins Schloss fiel. Tatsächlich war es stockdunkel und ich ging so weit an den Rand des Flurs, dass ich mich an der Wand entlangtasten konnte.

Staub und Dreck knirschten bei jedem meiner Schritte. Unser aufgeregtes Atmen erklang zischend in der Dunkelheit und verriet mir so ungefähr den Aufenthaltsort meiner Begleiter. Schritt für Schritt wagten wir uns tiefer hinein, ohne zu wissen, was auf uns zukommen würde.

Ich weiß nicht, wie lange wir in diesem schier endlosen Gang herum irrten und uns tastender Weise um Ecken und Abbiegungen herum schlängelten, bis ein dumpfes Licht unscharfe Umrisse zeichnete. In wenigen Metern schien dieser pechschwarze Gang endlich ein Ende zu nehmen. Die Schemen von rostigen Türen und zerfallenen Schränken zeichneten sich im Licht einiger weniger Fenster und Lampen ab und ich seufzte erleichtert auf. Es würde uns bestimmt ein wenig helfen, wenn wir wenigstens die Hand vor Augen sehen konnten. Doch leider würden uns so auch andere Leute einfacher entdecken können …

 

Etwas, das sich wie eine Schraubzwinge um meinen Oberarm schloss, zog mich urplötzlich zur Seite. So schnell, dass ich die Umrisse um mich herum nicht mehr klar sehen konnte. Ich sah nur einen Wirbel aus gedämpften Farben, ehe ich so schwungvoll gegen eine Betonwand knallte, dass mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Erschrocken keuchte ich auf.

Im Licht einer bereits flackernden Glühbirne, die einige Meter entfernt leuchtete, lag ihr Gesicht in verzerrten Schatten. Das Blitzen in ihren grünen Augen war mir trotzdem nicht entgangen. Doch dieses Funkeln hatte keine Freude, kein Glück in sich. Nein. Es erinnerte mich eher an das Aufblitzen eines tödlichen Messers.

 

„Hör zu, Kleine.“ Aurelia stand nun direkt vor mir. Mit ihren Händen hatte sie meine Handgelenke umschlossen und drückte diese nun neben meinem Kopf gegen die Mauer. Ich war nicht in der Lage mich zu bewegen. Selbst, wenn ich nicht durch die panische Angst in meinem Inneren wie gelähmt gewesen wäre. Ich hatte noch nie so viel Hass in einer menschlichen Stimme gehört. „Ich weiß nicht, was du hier für eine Show abziehst …“, fuhr sie im Flüsterton fort. Doch jedes Wort stach auf mich ein wie die Klinge eines Messers. „Aber es reicht mir wirklich. Du bist nur eine unbedeutende Nervensäge, die Jaden aus purem Verantwortungsbewusstsein gerettet hat, und mehr nicht, kapiert? Seit du hier aufgetaucht bist, ist alles völlig aus dem Ruder gelaufen! Das kleine, süße, unschuldige Mädchen muss doch beschützt werden!“ Sie spie mir die Worte wie Säure ins Gesicht. „Du bist einfach widerlich. Spielst hier die große Heldin! Aber lass dir eins gesagt sein … Jaden gehört mir, ist das klar? Ich kenne ihn schon deutlich länger als du und bin schon eine gefühlte Ewigkeit mit ihm zusammen! Ich liebe ihn! Er gehört mir! Also hör auf weiterhin diese Nummer abzuziehen! So ein kleines, verwöhntes Gör wie dich hat so jemanden wie Jaden überhaupt nicht verdient!“ Ich spürte ihren erhitzten Atem auf meiner schweißnassen Haut, doch mir war, als würde ich innerlich erfrieren. Meine Augen waren so weit aufgerissen, dass es bereits wehtat. „Ich dulde dich nur, um ihn zu finden und weil ihm anscheinend wirklich etwas an dir liegt. Blöder Beschützerinstinkt. Wenn er wieder da ist, kannst du von mir aus zur Hölle fahren!“

 

Ich keuchte. So, als hätte sie eben wirklich auf mich eingestochen. Ein Wimmern, wie das eines kleinen Kindes, entfleuchte meiner Kehle und meine Knie zitterten so stark, dass ich glaubte, ich wäre zusammengebrochen, wenn Aurelia mich nicht an die Wand genagelt hätte.

„Verstanden?“, zischte sie und ich konnte nur unmerklich nicken. „Gut.“ Der Druck an meinen Gelenken verschwand, und ich spürte nur, wie meine Arme wie nasse Säcke an beiden Seiten herunterfielen. Sie schienen gar nicht mehr zu meinem Körper zu gehören. Wenn die Wand in meinem Rücken mich nicht gestützt hätte, hätten meine Beine wahrscheinlich ebenfalls nachgegeben. „Das will ich dir auch geraten haben.“

 

„Amelina? Aurelia? Wo seid ihr?“ Obwohl Adelio nur flüsterte, erschrak ich bei seinen Worten fürchterlich. Unsere Aufmerksamkeit richtete sich auf den jungen Mann, dessen Blick wieder in den Gang gerichtet war, in dem wir noch standen. Er hatte von unserem … Gespräch anscheinend überhaupt nichts mitbekommen. Ich wollte ihm antworten, doch brachte kein Wort zustande. Was sollte ich ihm auch sagen?

„Wir kommen sofort. Wir haben uns nur kurz ausgeruht. Hast du schon etwas entdeckt?“ Bei den letzten Worten hatte sie sich bereits in Bewegung gesetzt, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich bekam keine Luft. Es war, als würde sie noch immer vor mir stehen und mich gegen die Wand drücken. Mein Körper war so wahnsinnig schwer. Der Kloß in meinem Hals ließ mich würgen.

Ich hatte es gewusst, ich war ja nicht blind. Ich wusste, was er ihr bedeutete. Aber hatte ich mich wirklich so sehr in ihr getäuscht? Ich hatte wirklich geglaubt, dass sie eigentlich ganz nett sein konnte. Doch jetzt hatte ich es begriffen. Sie war gefährlich …

„Lina? Kommst du? Wir müssen uns beeilen!“ Einen kurzen Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte. Sollte ich ihm erzählen, was gerade passiert war? Oder würde dadurch alles nur noch schlimmer werden? Konnte ich es überhaupt richtig machen?

 

Ich schaltete meinen Kopf ab. Das war alles, was ich tun konnte. Ich stieß mich von der Wand ab und schüttelte kurz die Hände aus, während ich meinen Atem zwang, sich wieder zu normalisieren. Mit wenigen Schritten ging ich auf Adelio zu und lief langsam an ihm vorbei, ohne ihm ins Gesicht zu sehen.

„Entschuldige. Ich war wohl wirklich etwas erschöpft. Geht aber schon wieder.“ Meine Stimme war leise aber fest. Ich konnte mich von Aurelia nicht davon abbringen lassen, weshalb ich hierhergekommen war. Egal was sie für ihn empfand und egal, was er über sie dachte. Ich war es ihm schuldig ihn hier rauszuholen und nicht ihr. „Lasst uns weiter und das hier schnell hinter uns bringen.“ Der Blonden, die an der nächsten Tür bereits ungeduldig auf uns wartete, schenkte ich keine Beachtung. Wenn sie mich nicht leiden konnte, schön! Dann eben nicht! Denn ich konnte sie ebenfalls noch nie leiden!

 

Und wie sagt man so schön? Wer braucht schon Feinde, wenn er solche Freunde hat?

Feinde

Ich weiß nicht, was genau ich erwartet hatte, aber als ich die Tür leise öffnete und sich nur ein neuer, fast leerer Gang vor mir erstreckte, war ich ein wenig enttäuscht. Vielleicht hatte ich erwartet von einem Kreuzfeuer empfangen zu werden oder ähnliches. Wahrscheinlich hatte es mich einfach gewundert, dass wir so weit gekommen und tatsächlich noch nicht entdeckt worden waren. Und sogar noch am Leben waren.

Adelio trat an mir vorbei und übernahm erneut die Führung. Im Gegensatz zum letzten Gang gab es hier tatsächlich Licht. Durch einige der kaputten Oberlichter drangen neben ein wenig Helligkeit auch Dreck, Erde und Blätter, die sich wie ein Teppich über die ehemals weißen Fliesen legten. Es war wie in einem Horrorfilm. Oder einem dieser Spiele, in dem der Spieler durch verlassene Irrenhäuser lief, immer auf der Flucht vor dem sicheren Tod. Es war unglaublich, dass es solche Orte wirklich gab. Dass das keine Einbildung oder Fantasie von gelangweilten Autoren war, denen die Wirklichkeit zu öde war.

Der ehemals graue Linoleum-Boden war von Dreck und Erde verkrustet. Zahlreiche Fußspuren in dem Zentimeter dicken Staub, zeugten von erst kürzlich dagewesenen Besuchern. Waren das Zeichen der Anwesenheit dieser Verbrecherbande? Oder einfach nur Hinterlassenschaften von Fans verlassener Orte? Ich hatte selbst schon viele Bilder und Artikel im Internet über Exkursionen zu diesen sogenannten „Lost Places“ gesehen und es hatte mich auch immer ein wenig interessiert, auch, wenn ich es nie unter solchen Umständen hatte ausprobieren wollen …

Die Wände waren mit weißen und bunten Fliesen bedeckt, die jedoch unter mehreren Schichten Graffiti beinahe verschwanden. Nicht erst jetzt war ich mir sicher, dass das Gebäude seine besten Tage schon längst hinter sich hatte.

Abgeblätterte Farbe und Überreste der Gipsdecken säumten den Boden. Rostige Türen standen zum Großteil sperrangelweit offen, sodass ich im Vorbeigehen problemlos einen kurzen Blick hindurchwerfen konnte. Die meisten Räume lagen im Dunkeln. Die Oberlichter waren zugewachsen oder von Dreck verkrustet. Nur unscharfe Konturen von Rohren, Regalen, alten Krankenhausbetten, deren Bezüge so zerschlissen und verdreckt waren, dass ich mir einbildete, dass die rote Farbe nicht nur Rost sein konnte, und aussortiertem Medizinequipment zeichneten sich im Dunkeln ab. Die zwei oder drei Räume, die tatsächlich von einfallenden Sonnenstrahlen erhellt wurden, waren größtenteils leer.

Nur in einem Raum – ein ehemaliger Operationssaal, wie ich vermutete - hatte sich unter einer Patientenliege eine Wasserlache gebildet, die nun den hellen Boden in einem unheimlichen Grün erstrahlen ließ.

 

Wir schlichen leise durch die Gänge und wichen alten, vergilbten Beistelltischen und beschmierten, rostigen Spinden aus, ehe einige Meter vor uns plötzlich eine Glastür den Weg versperrte. Dahinter schien ein größerer Raum zu liegen. Sofort schlug das Herz mir wieder bis zum Hals und eine Nervosität, die beinahe schon an Panik grenzte, ließ meinen Magen verkrampfen.

Bisher hatten wir noch keinen der schwarzen Männer hier gesehen. Waren sie also überhaupt hier? Oder waren wir die ganze Zeit auf dem Holzweg gewesen? Hatten wir die wertvolle Zeit sinnlos verplempert? Oder würden wir ihnen gleich gegenüber stehen? Hatten sie uns schon bemerkt? Würden sie auf uns schießen, wenn wir den Raum betraten?

So viele Fragen blockierten meinen Kopf und ließen meinen Atem rasen. Mein Brustkorb verkrampfte und ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper, um mir eine trügerische Sicherheit vorzuspielen. Ich schaffte das. Ich konnte das schaffen! Egal, was gleich passieren würde, wir hatten noch nicht verloren! Es war möglich, dass unser Vorhaben gelang! Es musste einfach!

 

Um nicht sofort gesehen zu werden, drückten wir uns mit dem Rücken an eine der Wände und schlichen in Richtung der Glastür. Mit jedem Schritt spannte sich mein Körper mehr an. Bereit zu fliehen, bereit zu kämpfen. Je nachdem, was nötig war.

Es war schon von weitem zu erkennen, dass auch diese Glasscheiben bereits zerschlagen worden waren und nur noch einzelne Teile des durchsichtigen Materials in der Holzkonstruktion steckten. Die anderen Scherben knirschten unter unseren Schuhen.

Ich horchte auf jedes noch so kleine Geräusch. Alles kam mir verdächtig vor: das Kratzen von Büschen an den Resten der Fensterscheiben, das Tropfen von Wasser in eine der zahlreichen Pfützen oder das Rascheln alter Vorhänge. Doch unser einfaches Atmen schien alles zu übertönten.

 

Ein plötzlicher Knall ließ uns alle drei zusammenzucken. Panisch drückten wir uns enger an die Wand und sahen uns nach der Ursache des Geräusches um. Doch weit und breit war nichts zu sehen.

Ein wenig Staub und Dreck fiel von der Decke und rieselte auf uns herab. Simultan wandten wir unseren Kopf nach oben. Über uns ertönten Schritte und das wütende Gemurmel eines Mannes drang durch die zerborstenen Scheiben der Tür.

Für wenige Sekunden traf ich Aurelias Blick und sie machte gerade den Eindruck, als wäre sie jetzt lieber überall, nur nicht hier. Ich hatte selten eine solche Angst in den Augen eines Menschen gesehen. Das letzte Mal hatte die Person die Situation nicht überlebt …

Links neben mir stand Adelio stocksteif an die Wand gelehnt da. Sein Blick war durch die Holztür auf den Raum dahinter gerichtet. Wir hatten bereits erkannt, dass es sich dabei um einen Treppenaufgang handelte, von dem aus drei Gänge in die verschiedensten Teile der Anlage verzweigten. Wenn wir diese Treppe hochgehen würden, kämen wir im Erdgeschoss heraus. Ein gefährliches Unterfangen.

Noch immer waren die Schritte über unseren Köpfen zu vernehmen. Die Männer schienen dieselbe Route immer auf und ab zu gehen. Was sollten wir jetzt tun?

 

Wir standen schon etliche Minuten reglos da, ehe plötzlich etwas passierte. Das Geräusch von berstendem Glas erklang ganz in unserer Nähe und mein Herz setzte kurz aus. Es dauerte einige Sekunden, ehe ich den Stein in Adelios Hand bemerkte, den er schwungvoll durch die Reste der Glastür beförderte. Erneut ertönte ein Klirren und noch mehr Scherben breiteten sich über den Boden aus.

Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt und gefragt, was genau die Aktion sollte, doch noch bevor ich mich gefangen hatte, worden die Stimmen über uns lauter und Schritte näherten sich dem Treppenhaus. Sie kamen … hierher.

Eine Hand packte mein Handgelenk und zog mich mit sich. Ich stolperte verwirrt hinterher und wenige Sekunden später stieß Aurelia mich auch schon in einen der nahen Abstellräume. Als ich in das stickige Dunkel stolperte und mich zu ihr umdrehte, war sie auch schon wieder weg. Doch sie brauchte mir nicht sagen, was das alles sollte. Ich verstand auch so.

Schnell hockte ich mich in die Ecke hinter der Tür und schloss die Augen. Der muffige Gestank von Schimmel und nasser Vegetation kroch mir in die Nase und ich musste sie rümpfen. Gespannt lauschte ich auf die Geräusche vor der Tür und betete, dass keinen von beiden etwas passierte. Ich hatte noch nie in meinem Leben gebetet und so abwegig ich das auch fand, in diesem Moment wollte ich alles tun, was ich konnte, um zu helfen. Selbst, wenn ich es mir bloß einbildete.

 

Die Worte „Wer ist da?“ hallten durch die Tür zu mir hinüber. Ich kannte die Stimme nicht und machte mich sofort noch kleiner. Ich registrierte jedes Geräusch und versuchte mir vorzustellen, was geschah. Das Knirschen von Glas, berstendes Holz. Stöhnen und Fluchen. Das dumpfe Aufschlagen eines schweren Gegenstandes, gefolgt von einem lauten Schaben. So, als ob etwas - oder jemand – über den Boden rutschte. War jemand zu Boden gegangen? Einer von uns oder einer von denen? Die Spannung zerriss mich innerlich.

Ein weiteres Fluchen und das Klicken von Metall. Oh Gott. Die waren bewaffnet. Ich kniff die Augen noch weiter zusammen und wartete auf den Knall eines Schusses. Doch dieser kam nicht. Ein weiteres Stöhnen und ein schleifendes Geräusch, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, der die Wand erzittern ließ.

Und dann: Stille. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Wer hatte jetzt gewonnen? Die Guten oder die Bösen? Ich hielt die Ungewissheit kaum noch aus.

 

„Lina komm. Die Luft ist rein. Wir müssen weiter.“ Die geflüsterten Worte direkt von der anderen Seite der Tür, ließen einen Stein von meinem Herzen fallen. Ein Glück.

Mit zitternden Beinen richtete ich mich auf und verließ das muffige Versteck so schnell wie möglich. Draußen auf dem Gang erkannte ich das Ausmaß des Kampfes. Zwei schwarz gekleidete Männer mittleren Alters lagen auf dem Fußboden. Einer lag ausgestreckt in der Mitte des Flures. Eine dunkelrote Blutlache breitete sich wie ein Kranz um sein schneeweißes Gesicht aus und färbte seine dunkelbraunen Haare schwarz. Der andere saß zusammengesunken gegen die Wand, nicht weit von der Tür zu meinem Versteck entfernt. Ein großer Bluterguss bildete sich auf seiner Wange und aus einigen Schnittwunden drangen feine Blutrinnsale.

Adelio, der keinen Kratzer abbekommen zu haben schien, untersuchte gerade den sitzenden Mann und zog eine kleine Waffe aus seinem Hosenbund. Aurelia, deren Jacke die meisten Verletzungen abgefangen zu haben schien, stand bereits wartend vor dem Treppenaufgang. Ihr Blick in unerreichbare Ferne gerichtet.

Ich schluckte hart.

„Sind sie …?“ Ich ließ die Frage offen in der Luft hängen, doch ich war mir sicher, dass der Braunhaarige wusste, was ich meinte.

„Nein. Sie leben noch. Wir haben sie nur außer Gefecht gesetzt.“

Auch wenn ich nicht wusste warum, ein wenig erleichtert war ich schon. Es hatte schon zu viele Tote gegeben. Diese Männer hatten wahrscheinlich auch Familie. Es wäre nicht richtig, sie zu töten. Es musste doch einen plausiblen Grund geben, weshalb sie sich für diesen Weg entschieden hatten! Auch wenn mir bei bestem Willen keiner einfallen wollte.

 

„Seht mal, was hier ist.“ Aurelia hatte sich hinabgebeugt und betrachtete nun einen vergilbten Zettel, der schon reichlich zerknittert war. Einer der Männer hatte ihn wahrscheinlich fallen gelassen. Sofort gesellten wir uns zu ihr und sahen über ihre Schulter. Schwarze Namen auf weißem Grund. Einige davon waren durchgestrichen. Mortimer Hyu, Kevin Landfield, Paulina Hinrich, Tomáš Horák, Jaden Davis, Indra De Souza, …

„Was zum Teufel? Warum steht Jadens Name da auf dem Zettel?“ Sofort huschte mein Blick zurück auf den Namen. Jaden Davis? Das war unser Jaden? Sein Name war ebenfalls durchgestrichen, doch bei ihm sah das irgendwie anders aus. Unter dem blauen Strich befand sich noch ein anderer, älter aussehender, der dieselbe schwarze Farbe hatte, wie auch der geschriebene Name.

„Dieser Name … war bereits durchgestrichen worden. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie ihn schon einmal verfolgt und für Tod erklärt hatten.“ Mein Atem stockte. „Das hatte er mir damals erzählt“, fuhr Aurelia fort. „Kurz nachdem wir uns kennenlernten. Seine Eltern starben beide bei dem Angriff. Nur Jaden konnte dank McSullen entkommen.“ Der Knoten in meinem Magen zog sich fester zusammen. Ein schlechtes Gewissen überfiel mich. Ich hatte ihn immer für einen arroganten Kerl gehalten, der Spaß am Kämpfen hatte. Nie hatte ich ihn gefragt, warum er das alles eigentlich tat.

Langsam wurde es mir immer mehr bewusst: Ich kannte diesen Jungen gar nicht.

 

Doch ich verfolgte den Gedanken nicht länger, drängte die aufsteigenden Schuldgefühle zurück in die hinterste Ecke und widmete mich wieder dem Zettel. Hinter Jadens Namen waren noch einige Zeichen gemalt, deren Farbe noch besonders kräftig war. Ein Pfeil und ein Kreuz.

„Das Kreuz. Oh Gott. Er ist tot.“, Aurelia schlug sich eine Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, das in ihrer Kehle aufstieg. Die Hand, in der sie das Papier hielt, zitterte plötzlich wie wild, sodass ich nichts mehr erkennen konnte.

„Aurelia, dass weißt du doch noch gar nicht. Das kann auch …“, begann der Braunhaarige, doch sie blockte sofort ab.

„Laber doch nicht! Wofür sollte das Kreuz denn sonst stehen? Das Kreuz bedeutet, er ist tot. Sie haben ihn ermordet!“ Obwohl sie flüsterte klang ihr Klagen unheimlich laut. Jedes Wort wurde von den Wänden tausendfach wiedergegeben und brummte nun in meinem Kopf.

 

Obwohl mich ihr Gefühlsausbruch sehr mitnahm, blieb ich selbst ganz ruhig. Erklären konnte ich mir das nicht, aber ich glaubte das nicht. Irgendwas übersahen wir.

Ich streckte meine Hand aus und nahm ihr den Zettel aus der Hand. Sie ließ mich gewähren und würdigte mich keines Blickes. Im Gegenteil. Sie ging ein paar Schritte von mir weg in einen dunkleren Teil des Flures und verschwand so beinahe aus meinem Sichtfeld. Adelios Blick, den er über meine Schulter auf das Papier warf, spürte ich noch immer.

Wieder sah ich auf das zerknitterte Blatt. Wieder überflog ich die gut 50 auf dem Computer geschriebenen Namen. Wieder kam mir der Gedanke, dass sie alle wahrscheinlich tot waren.

Dana Simmons, Yusuf Bayraktar, Deniz Bayraktar, Chen Lu Sūn, … Doch sie alle waren …

 

„Nein. Jaden ist nicht tot.“ Ich begriff selber erst nach einigen Sekunden, dass diese Worte aus meinem Mund kamen. Das Schluchzen aus der Dunkelheit verstummte.

„Wie kommst du darauf?“

„Dies scheint ein Teil der Liste ihrer Opfer zu sein. Die meisten Namen sind durchgestrichen.“ Ich zeigte auf das Kreuz. „Doch bei Jaden gibt es noch dieses Symbol. Sein Name war bereits einmal durchgestrichen und wurde jetzt erneut gekennzeichnet. Der Strich hat dieselbe Farbe wie das Kreuz, aber eine andere, als die meisten anderen. Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, seinen Tod extra einzuzeichnen. Die anderen Menschen auf dieser Liste sind wahrscheinlich ebenfalls ermodert worden und niemand von ihnen bekam ein Kreuz“, erläuterte ich.

„Ich verstehe, worauf du hinaus willst, aber wofür soll das Kreuz dann sonst stehen?“ Aus Adelios Stimme war deutlich zu hören, wie es in seinem Kopf ratterte.

„Eine Kirche.“

„Eine Kirche? Wie bitte?“ Aurelia war aus dem Schatten getreten und hatte sich nun wieder neben mich gestellt. Ein kurzer Blick auf ihr Gesicht offenbarte mir die gerade geweinten Tränen. Ihre Augen hatten noch immer einen sehr feuchten Glanz.

„Ich … Ich habe zwar keine Ahnung von der Baukunst von vor über 100 Jahren, aber selbst heute werden in Kliniken noch Kirchen, oder besser Kapellen, gebaut, um den Kranken Halt zu geben. Wahrscheinlich gibt es hier auch eine Art Gebetsraum. Das könnte der Ort sein, an dem sie Jaden gefangen halten.“ Ergab meine Theorie Sinn? Oder war das nur reines Wunschdenken? Doch etwas in mir sagte, dass ich recht hatte. Jaden lebte und wir würden ihn finden.

„Das hast du dir doch bloß aus den Fingern gesaugt! Es gibt keine Beweise dafür, dass das wirklich stimmt! Du hast doch gar keine Ahnung von dem, was hier vorgeht! Du kannst dich ja nicht mal selbst verteidigen!“ Das brachte das Fass zum Überlaufen. Innerlich brannte die Wut.

„Wie sollte ich auch? Die Tage, an denen ich bisher um mein Leben fürchten musste, kann ich an einer Hand abzählen!“, zischte ich sie an. „Und Karate hatten sie in der Schule leider nicht zur Auswahl!“

„Aurelia. Es stimmt, was sie sagt. Woher soll sie all das können? Sie wurde nicht jahrelang darauf vorbereitet, so wie wir!“ Adelios schlichtender Tonfall schien ihr inneres Feuer bloß noch mehr anzuheizen.

„DU hältst mal schön deine Klappe! Ich weiß nicht, wie oft ich dir das schon gesagt habe, aber es interessiert mich nicht, was du-!“

 

„Nein, jetzt hältst du mal die Klappe!“, zischte ich und Aurelia verstummte. Ihre grünen Augen funkelten mich giftig an. „Hast du vergessen, warum wir hier sind? Wenn auch nur noch der kleinste Funken Hoffnung besteht, dass Jaden noch lebt, sollten wir handeln und nicht hier stehen und uns gegenseitig angiften! Verdammt, es geht um nichts Geringeres als sein Leben! Wenn er dir wirklich so viel bedeutet, wie du immer tust, solltest du das auch endlich mal zeigen! Entweder kommst du mit in die Kirche oder du gehst am besten gleich! Aber hör endlich auf uns zu behindern!“

War das wirklich ich, die da sprach? Woher kam diese Selbstsicherheit? Woher kam diese innerliche Ruhe? Warum war ich plötzlich so auf Krawall gebürstet? Nicht, dass sie es nicht verdient hätte, aber … Ich wusste es nicht. Doch eines war mir in diesem Moment klar: Ich mochte diese neue Seite an mir. Sehr sogar.

 

„Adelio? Wir gehen!“, sagte ich ihm dann direkt ins Gesicht und wandte mich anschließend der Treppe zu. Ich vernahm die Schritte des Braunhaarigen hinter mir. Ich hörte ihn erheitert drucksen, was er aber eher schlecht als recht durch ein leises Hüsteln verstecken wollte.

Noch bevor ich den Treppenansatz erreicht hatte, mischten sich weitere Fußstapfen zögerlich unter die von Adelio und mir, doch ich drehte mich nicht um. Das würden wir später regeln.

 

Die morschen und zerfurchten Treppenstufen zu erklimmen (und das möglichst lautlos), war wirklich nicht besonders einfach. Adelio hatte wieder die Führung übernommen; die Waffe starr vor sich gerichtet. Bereit, sie jederzeit einzusetzen. Ein kalter Schauer rann über meinen Rücken, wenn ich nur daran dachte.

Nach genau 26 Treppenstufen erreichten wir das Erdgeschoss. An die Wand gedrückt, lugte Adelio um die Ecken, ehe er uns mit einem Winken bedachte, ihm zu folgen. Wir traten durch eine weitere Holz/Glastür, die an derselben Stelle saß, wie die im unteren Stockwerk und betraten so einen neuen Gang, der ebenso marode und verdreckt war, wie alles hier. Doch einen Unterschied gab es. An den Wänden hingen keine weißen und bunten Fliesen, sondern verschiedene Tapeten. Wie Hautfetzen schälte sich das Papier herunter und offenbarte das feuchte, schimmlige Holz darunter.

Eine einzelne Lampe baumelte leblos von der Decke. Die Glühbirne lag zerschmettert auf dem Boden.

 

Noch bevor wir ein paar Schritte machen konnten, fiel mir plötzlich etwas ins Auge. Ohne auf die anderen zu achten, lief ich auf die andere Seite des Gangs und betrachtete den großen Aushang an der Wand. Eine Karte! Das Glas davor war bereits vergilbt und mit Dreck beschmiert, was das Lesen etwas erschwerte, aber das Wichtigste war noch erkennbar. Meine Augen überflogen das Papier und bereits nach wenigen Sekunden hatte ich das Gesuchte entdeckt.

„Da, eine Kirche!“, flüsterte ich freudig. Ich hatte also wirklich recht!

„Erster Stock links, dann den Gang bis zum Ende durch.“ Adelio war hinter mich getreten und betrachtete nun ebenfalls die Karte. „Ein Glück. Wir sind ganz in der Nähe! Dann los. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

 

Sofort machten wir auf dem Fuß kehrt und eilten zurück zur Treppe. Wir hatten zwar die beiden Wachen hier ausgeschaltet, aber das hieß noch lange nicht, dass wir sicher waren. Ich fragte mich sowieso, wie lange die beiden da unten liegen bleiben würden, bevor sie aufwachten und Verstärkung riefen.

Die Treppe knirschte unter unseren Schritten. Da drei Stufen beinahe komplett rausgebrochen waren, mussten wir uns an dieser Stelle an die Wand drücken, um nicht runterzufallen. Dabei konnte ich einen kurzen Blick durch eines der zerbrochenen Fenster auf den Himmel werfen. Schwarze Wolken säumten den Horizont und lugten über die im leichten Wind wogenden Wipfel der Bäume. Ich bildete mir sogar ein, einen Blitz in der Ferne zu erkennen. Es würde nicht mehr lange dauern, ehe ein Unwetter auch die letzten Strahlen der Sommersonne ablösen würde. Und damit hoffentlich auch die Hitze in diesem alten Gemäuer, die mir immer mehr Schweißperlen auf die Stirn trieb.

 

Es war so ruhig. Wieso war niemand hier? Das Rascheln von Blättern und heruntergefallener Tapete mischte sich unter das näherkommende Donnergrollen. Ansonsten war so gut wie nichts zu hören.

Auch der nächste Stock war leer. Durch die zerschlagen Fenster drangen vereinzelte Strahlen der Sonne ein und malten verzerrte Schatten auf den verschmutzten Untergrund. Ein Patientenbett lag umgekippt quer im Gang und das schmuddelige Metall glänzte dumpf im goldenen Licht. Jedes Mal, wenn sich ein Ast vor einem Fenster bewegte und einen der Lichtstrahlen unterbrach oder etwas draußen knirschte oder knackte, zuckte ich kurz zusammen. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Doch das Gebäude schien wirklich menschenleer zu sein.

 

Wegweiser zeigten uns die Richtung. Sämtliche Türen in diesem Stock waren geschlossen und niemand von uns wagte es, eine dieser zu öffnen. Unser Ziel war die Kirche und laut der kaum noch lesbaren Schilder, die vereinzelt die fleckige Tapete zierten, sollte sie nicht mehr allzu weit entfernt sein. Dann würden wir endlich wissen, ob ich richtig lag oder nicht. Bitte. Bitte, lass mich dieses eine Mal recht haben!

So dauerte es tatsächlich nicht lange, bis wir sie entdeckten. Ein großes, hölzernes Tor thronte am Ende des Flurs. Kunstvoller Eisenbeschlag zierte das dunkle Holz, das trotz seines Alters in erstaunlich guter Kondition war. Das Kreuz aus Buche über der Tür zierte eine angelaufene Messingfigur von Jesus, der leidend seinem Schicksal entgegenblickte.

 

Als wir näher kamen bemerkte ich, dass die Tür einen spaltbreit offen stand. Ein merkwürdiges Gefühl der Aufregung überfiel mich und ich konnte es kaum erwarten, sie endlich zu erreichen. Woher diese Hektik plötzlich kam, wusste ich selber nicht genau, doch sie trieb meinen Puls deutlich in die Höhe. Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren übertönte selbst das knirschende Geräusch meiner Schritte.

Ich drückte mich seitlich an Adelio vorbei, damit ich nun mit ihm auf einer Höhe war. Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Tür und ich konnte bereits die Staubfusseln im Schein einiger Sonnenstrahlen sehen, die in den Kirchenraum fielen. Doch ein leises Grollen, das immer öfter die Fundamente der Klinik erzittern ließ, kündete vom baldigen Verschwinden dieser.

Nur noch ein paar Zentimeter … Ich zählte in Gedanken die Schritte … Zehn … Neun … Acht … Mein Herz schlug mir bis zum Hals und gefühlt noch deutlich weiter. Alles, hing von diesem Moment ab. Alles, was ich bisher erlebt hatte, war nichts gegen diesen Augenblick.

 

Adelio lehnte sich an die geschlossene Seite der Tür. Die Waffe in der einen, die Kante des Türflügels in der anderen Hand. Ich hielt die Spannung kaum aus, als der Braunhaarige die Tür lautlos weiter aufzog.

„Wir müssen vorsichtig sein. Die Kerle könnten überall sein.“ Doch ich beachtete seine Worte kaum. Ich wusste nicht, was zuerst ausgesetzt hatte. Mein Herz, mein Atem oder mein Kopf. Denn ich sah bereits das, was wir suchten.

Dort, am Ende der langen Reihen von Kirchenbänken, direkt vor dem Altar, saß Jaden auf einem alten Stuhl. Sein Kopf hing auf seiner Brust und seine Hände waren hinter seinem Rücken zusammengebunden. Seine Kleidung war von Blut und Dreck verkrustet.

 

Ich hörte, dass Adelio meinen Namen rief, aber mein Körper reagierte ganz von selbst. Ich bemerkte erst, dass ich losgelaufen war, als ich die Hälfte der Kirche bereits hinter mir gelassen hatte. Ich sah die morschen Holzbänke nicht, die teilweise umgekippt aufeinander lagen. Ich bemerkte die eisige Temperatur nicht, die die Wände aus Gestein in diesem Raum bewahrt hatten. Mein Blick war nur auf ihn gerichtet und etwas eisiges umklammerte mein Inneres.

Kaum war ich bei ihm, gaben meine Beine unter mir nach und ich sackte vor dem Stuhl zusammen. Kniend legte ich meine Hände an seine Oberarme und schüttelte ihn. Mein Blick war starr auf sein bleiches Gesicht gerichtet. Seine Augen waren geschlossen.

„Jaden? Jaden, hörst du mich? Wach auf!“, piepste ich. Meine Kehle war staubtrocken. Der Kloß in meinem Hals verhinderte das Atmen. „Jaden!“, zischte ich lauter, als die Tränen wie heiße Säure über mein Gesicht liefen. Hatten wir ihn verloren? Waren wir zu spät gekommen? War alles umsonst gewesen?

„Ame-lina?“ Konnte man vor Erleichterung sterben? Zumindest schien es ein Gefühl zu geben, dass diesem sehr ähnlich war. Ich hätte beinahe aufgeschrien, als seine schwache Stimme an mein Ohr drang und seine Augenlider zitterten. „Was machst du denn … hier?“

Nur Augenblicke später blickten seine eisblauen Augen in meine. Tränen der Freude nahmen mir fast gänzlich die Sicht.

„Ein Glück, du lebst.“ Ein Lächeln umspielte meine Lippen und ich dachte, es würde meine Gesichtsmuskeln zerreißen. Es fühlte sich an, als hätte ich ewig nicht so gelacht.

 

„Jaden? Du bist tatsächlich noch am Leben!“ Aurelia war neben uns aufgetaucht und machte sich sofort an dem dicken Seil zu schaffen, dass den Rothaarigen am Bewegen hinderte. Ich nahm meine Hände von seinen Armen und rappelte mich mühsam auf. Doch meine Beine zitterten so stark, dass ich Angst hatte, mich nicht halten zu können.

Als seine Hände frei waren, rieb er sich die aufgescheuerten Handgelenke und schob sich einige Haare aus dem Gesicht. Irgendwie schien er immer noch ein wenig neben sich zu stehen, was meine Freude deutlich trübte.

„Dass du dich auch immer in Schwierigkeiten bringen musst.“ Adelio war neben mich getreten und streckte eine Hand in Richtung des Rothaarigen aus, der diese mit einem leichten Lächeln im Gesicht annahm.

„Ich kann mich ja nicht so wie du immer feige Zuhause verkriechen, oder?“ Auch, wenn er ebenfalls ein wenig unsicher auf den Beinen war, schien es ihm doch deutlich leichter zu fallen, stehen zu bleiben, als mir. Ich war nur unglaublich froh, dass er noch lebte.

 

Jadens Blick wanderte durch die Runde. Ich sah, dass Aurelia sich wirklich Mühe geben musste, ihm nicht gleich um den Hals zu fallen. Ein wenig Wut brodelte in meinem Magen.

„Aber was zum Teufel macht ihr hier? Verdammt, das ist gefährlich!“ Das Lächeln auf seinem Gesicht war verschwunden und dieser tadelnde Unterton hatte sich wieder in seine Stimme geschlichen.

„Darum haben wir auch keine Lust länger hierzubleiben. Wir sollten schnellstmöglich verschwinden.“

 

„Da sind sie!“ Ein lauter Aufschrei hallte durch die dunkle Kirchenhalle und ließ uns alle zusammenzucken. Dort, an der gut 15 Meter entfernten Holztür waren drei Männer aufgetaucht und trotz des schummrigen Dämmerlichts, das nun in dem Raum herrschte, erkannte ich einen von ihnen sofort. Mein Blut gefror in meinen Adern. Das war der Typ, den Adelio vorhin außer Gefecht gesetzt hatte! Der Typ an der Wand!

Ich konnte kaum einmal blinzeln, als auch schon die ersten Schüsse die Luft zerrissen. Eine Hand packte mich am Oberarm und zog mich mit sich. Eine Sekunde später kauerten wir vier hinter dem alten Holzaltar. Eine Vase zersprang, als ein Schuss diese traf und Glasscherben regneten auf uns nieder. Ich hob die Arme über den Kopf, um mich wenigstens etwas davor zu schützen.

„Hier! Nimm!“ Ich konnte gerade noch sehen, wie Aurelia Jaden eine Waffe reichte (wahrscheinlich die des anderen Mannes), ehe die beiden Jungs sich um die Holzkonstruktion beugten, um ebenfalls auf die Angreifer zu schießen. Das Knallen der Schüsse machte mich beinahe taub.

„Wir müssen hier weg!“, meinte Adelio, als er sich wieder zurückbeugte und uns aus steinharten Augen ansah.

„Hinter dem Altar“, die Blonde zeigte auf das reich dekorierte Konstrukt aus Holz, Gold und Eisen, in dessen Mitte die Kanzel und ein lebensgroßer, gekreuzigter Jesus hingen, „muss es einen Ausgang geben! Kirchen sind oft so angelegt!“ Und tatsächlich war von unserer Position aus zu erkennen, dass die Wand um einige Zentimeter abstand und es dort tatsächlich begehbaren Platz geben musste.

„Geh du vor. Ich gebe dir Deckung!“ Und dann ging alles ganz schnell. Adelio schoss genau in dem Moment in Richtung des Eingangstores, als Aurelia in die linke Ecke der Kirche lossprintete. Erst jetzt bemerkte ich die vielen Holzkisten, die entlang des Podests gestapelt waren und nun für die Blonde als Feuerschutz dienten. Nur eine Sekunde später folgte Adelio ihr und ließ Jaden und mich damit alleine. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und mir war plötzlich furchtbar schlecht.

„Wir müssen auch“, war der kurze Kommentar des Rothaarigen, als ich Aurelia dabei beobachtete, wie sie von ihrem Versteck aus hinter das hölzerne Gebilde verschwand. Ich nickte steif. Als Adelio der Blonden hinterher eilte und somit Platz für uns schuf, sprintete Jaden zuerst los, doch gerade, als ich ebenfalls loslaufen wollte, zischte ein Schuss durch die Luft und traf eine der Kisten frontal.

Das letzte, was ich sah, war ein wahnsinnig helles Licht und ich hörte diesen ohrenbetäubenden Knall, bevor mein Körper auf dem Boden aufschlug und alles Schwarz wurde.

Verrat

Ich spürte ein Gewicht bleischwer auf mich drücken. Der Knall echote immer noch in meinen Ohren. Ein fürchterlicher Schmerz zuckte durch meinen Kopf und nahm mir beinahe alle Sinne.

Mein Körper fühlte sich taub an. Ich konnte nur schwer sagen, ob noch alle Gliedmaßen an ihrem richtigen Platz saßen, weil ich die meisten davon kaum spürte. Sie schienen nicht mehr zu mir zu gehören. Ich blickte in nichts als Schwärze und auch in meinen Ohren war nichts außer dem Rauschen der Detonation.

Was war passiert? Ich wusste es nicht. Die letzten Minuten in meinem Kopf schienen wie ausgelöscht. Alles, an was ich noch denken konnte, war dieser wahnsinnige Schmerz in meinem linken Bein.

Mühsam versuchte ich die Augen zu öffnen, sah jedoch nichts weiter, als Berge aus Schutt, Staub und Dreck, der sich auch in meinen Lungen einnistete. Ich konnte das Husten nicht unterdrücken, als ich meinen Oberkörper aufrichtete, indem ich mich auf meine Ellenbogen stützte, und blickte an meinem Körper entlang. Mir blieb beinahe der Atem weg, als ich den Grund für die Schmerzen entdeckte. Der weiße, massive Altartisch war umgekippt und hatte nun mein Bein unter sich begraben. Das Blut, das unter dem Altar hervorsickerte und sehr wahrscheinlich von mir stammte, ignorierte ich so gut es geht, um nicht endgültig die Nerven zu verlieren.

 

Ich musste hier weg. Soviel war klar. Ich durfte hier keine Sekunde länger mehr bleiben. In diesem Zustand konnte ich mich nicht wehren. Ich wäre tot, bevor ich auch nur blinzeln konnte.

Mein Körper schmerzte. Meine Ohren rauschten von der Explosion. Ich richtete mich ein Stück mehr auf und versuchte mich so zu drehen, dass ich den Tisch von mir herunter schieben konnte, doch mein eingeklemmtes Bein verhinderte dies. Ich zog an der dreckigen Decke und hörte, wie nun auch die letzte Blumenvase am Boden zerschmetterte. Was sollte ich bloß tun? Wo waren die anderen? Ich konnte sie nicht rufen! Die anderen Männer würden sofort auf mich aufmerksam werden!

Doch ich konnte nicht klar denken. Ganz in meiner Nähe schlugen sekündlich Teile der beschädigten Kirchendecke auf und es war nur eine Frage der Zeit, ehe mich einer dieser Betonbrocken traf.

 

Verzweiflung packte mich und Tränen brannten erneut in meinen Augen. Panisch versuchte ich mein Bein zu befreien, doch die Schmerzen waren zu viel für mich. Mir wurde sogar kurz schwarz vor Augen, als ich mit der Hand gegen das Holz drückte, um es zu verschieben.

Es war sinnlos. Alleine konnte ich das nicht schaffen. Ich war einfach zu schwach …

Das Knirschen von schnellen Schritten auf dem staubigen Boden ließ mich aufhorchen. Mein Herz schlug plötzlich kräftig gegen meinen Brustkorb. Wer war das? Durch den noch immer in der Luft hängenden Staub, war kaum etwas zu erkennen. Nur langsam schälte sich ein Schatten aus der Wolke; kam immer näher an mich heran. Ich hielt die Luft vor Anspannung an. Und als ich die Person erkannte, konnte ich mir ein erleichtertes Seufzen nicht verkneifen.

„Aurelia! Hilf mir!“, flehte ich leise, als sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt stand. Ihre grünen Augen direkt auf mich gerichtet. Doch so schnell der kleine Funken Hoffnung in mir aufgekeimt war, so schnell verschwand er auch wieder, als ich den Ausdruck in ihrem Gesicht deuten konnte.

„Ich habe dir gesagt, dass du die Finger von ihm lassen sollst.“ Sie sprach die Worte beinahe lautlos aus, doch mir schien es, als würde sie mir diese direkt ins Gesicht schreien. Schwarzer Rauch drang in meine Kehle ein und verhinderte so, dass ich überhaupt einen Ton rausbrachte. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand sie erneut in der Staubwolke und ließ mich zurück. Der Geruch von verbranntem Holz lag in der Luft und ließ mich würgen.

 

Ich konnte es nicht fassen. Wie konnte ein Mensch nur erst so freundlich tun und dann doch so kalt sein? Wie konnte sie mich bloß einfach so zurücklassen?

„Du Vollidiot!“ Eine Männerstimme hallte von den Steinwänden wider. „In dieser Kiste waren auch Teile unseres Plastiksprengstoffs! Du kannst doch da nicht einfach drauf losballern!“ Schritte mischten sich unter die Worte und kamen immer näher. „Die Gören sind wahrscheinlich alle zerfetzt worden. Los, sieh nach, du Hornochse!“

 

Mein Körper erschlaffte und ich spürte die kalten Steinfliesen auf meinem Gesicht. Nein. Ich war nicht tot, nicht zerfetzt. Der Altar und meine lange Kleidung hatten mich wahrscheinlich vor dem größten Teil der Explosion geschützt. Aber ich konnte hier nicht weg. In wenigen Augenblicken würden sie mich finden. Und das war es dann.

So oft hatte ich den Tod bereits ausgetrickst, aber diesmal hatte ich wohl verloren. Der Tod bekam immer das, was er haben wollte …

 

Ein schmerzvolles Stöhnen entwich mir, als sich das Gewicht auf meinem Bein plötzlich bewegte.

„Los, jetzt!“ Ich erkannte seine Stimme sofort und zögerte keine Sekunde mein Bein darunter hervorzuziehen. Schwer atmend rollte ich mich auf den Rücken und versuchte meinen tauben Körper zu zwingen, aufzustehen. Aber es war sinnlos.

Ein dumpfes Auftreffen von Holz auf Stein und noch ehe ich reagieren konnte, verlor mein Körper plötzlich den Kontakt zum Boden. Ich keuchte auf, als Schmerzen durch jeden Muskel zuckten und ich verstand, was passiert war. Jadens Arme stützen mich, während er mich vor seiner Brust trug. Ich war zu erschöpft, um Scham zu empfinden und war einfach unendlich dankbar, dass er mich nicht hier liegen ließ. Nach wenigen Schritten tauchten wir in das Dunkel der Altarwand ab. Der Gang dahinter war gerade groß genug, dass wir hindurch passten. Wir brauchten einen Moment, um in all dem schwarzen Dunst die Tür zu finden, die aber zum Glück bereits offen stand.

Jaden trat heraus und wir fanden uns auf einer sehr schmalen, spiralförmigen Feuertreppe wieder.

„Amelina, Jaden! Ein Glück!“ Adelio tauchte hinter der Tür auf und ich konnte gerade noch erkennen, wie er die Waffe in seiner Hand sinken ließ, bevor er die Tür hinter uns schloss und mit einem Holzbalken versperrte.

Ohne zu zögern lief Jaden mit mir auf dem Arm die Treppe hinunter. Dicht gefolgt von Adelio. Aurelia stand auf dem ersten Treppenabsatz und wirkte sichtlich überrascht mich zu sehen. Ich wandte den Blick von ihr ab und krallte meine Hände stärker in Jadens Lederjacke. Ich konnte sie nicht ansehen. Ich hatte Angst vor ihr …

 

Der Himmel war pechschwarz und Blitze durchzuckten die Wolken. Donner grollte und brachte das wackelige Stahlgestell zum Beben. Ich hörte den Regen, wie er auf die Blätter und Pflanzen prasselte, auch wenn ich ihn noch nicht spürte.

Nach zwei weiteren Treppenabsätzen hatten wir wieder erdigen Boden unter den Füßen und sogleich empfing uns der eiskalte Regen. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, ehe wir völlig durchnässt waren.

Jaden lief um das Gebäude herum, stockte jedoch, als sich unter die zuckenden Blitze noch eine andersfarbige Lichtquelle mischte. Blaues und rotes Licht malte verzerrte Schatten auf alles, was es berührte. Dutzende Stimmen drangen zu uns herüber. Adelio wagte sich bis an die Ecke des Gebäudes vor und lugte vorsichtig um die Kante. Sofort zuckte er zurück.

„Polizei!“, zischte er und mein Herz sank wieder einige Etagen tiefer. Wieso musste eigentlich alles schiefgehen?

„Hinten raus!“, kommandierte Jaden und wandte sich der hinteren Grundstücksgrenze zu. Doch mit mir auf dem Arm kamen wir auf diesem hügeligen Untergrund einfach nicht schnell genug voran.

„Ich kann laufen. Lass mich runter!“, meinte ich und versuchte mich aus seinem Griff zu wenden. Zu meiner Überraschung hielt er sofort inne und setzte mich ab. Als meine Beine auf der harten Oberfläche aufkamen, durchzuckte mich ein wilder Schmerz, der mir kurzzeitig den Atem raubte. Ich spürte, wie die warme Flüssigkeit über meine Haut rann. „Es geht schon, es geht schon“, keuchte ich, ehe jemand was sagen konnte. Dennoch ließ der Rothaarige mich nicht los, sondern umfasste meine Taille, um mich zu stützen. Dicht an dicht bahnten wir uns einen Weg in Richtung Zaun. Zum Glück entdeckten wir schon von weitem eine Stelle, an der der Zaun bereits so verrostet war, dass ein umgefallener Baum eine große Schneise reingeschlagen hatte.

 

Ein leiser Schrei, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag, erklang hinter uns und ließ uns innehalten. Ich drehte mich um und sah Aurelia auf dem Boden sitzen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, als sie sich den linken Knöchel hielt.

„Aua! Ich hab mir den Knöchel angeknackst! Jaden, hilf mir!“ Ein Gefühl von grimmiger Genugtuung kroch in mir hinauf, vor dem ich sofort zurückschreckte. Nein. Ich war nicht wie sie. Ich konnte niemanden zurücklassen! Egal, was derjenige vielleicht Mal getan hatte und wie sehr ich denjenigen auch verabscheute. Ein Leben war ein Leben. Daran gab es nichts zu rütteln.

Ich umfasste Jadens Hand und löste meine eigene, damit er zu ihr gehen und helfen konnte, doch anstatt loszulassen, wurde sein Griff nur stärker. Verwundert sah ich in sein Gesicht.

„Es ist nicht schön, wenn man Hilfe benötigt und niemand einen Finger rührt, habe ich recht?“ Seine Stimme war kälter als Eis. Meine Augen wurden groß, als ich begriff, was er meinte.

„W-was meinst du? Jaden?“ Plötzlich waren die Anmut und der Stolz, die die Blonde immer wie eine Aura umgeben hatten, einfach verschwunden. Stattdessen sah ich das erste Mal die junge Frau, die hinter der taffen Fassade steckte. Ein kleines, zerbrechliches Mädchen.

„Ich habe alles gesehen, Aurelia. Alles. Du hast Amelina einfach ihrem sicheren Tod überlassen!“ Flüsterte er oder schrie er schon? Ich konnte es nicht sagen. „All die Jahre, in denen ich dich als meine beste Freundin bezeichnet hatte, habe ich nie geahnt, was für eine falsche, eigensinnige Schlange du bist!“ Ihre Gesichtszüge entgleisten völlig. Ein aufflammender Blitz direkt über uns, ließ ihre versteinerte Miene wie tot wirken. Die ehemals giftgrünen Augen, hatten nun die Farbe von schwarzem Schlamm. „Wage es ja nicht mehr, Amelina und mir zu nahe zu kommen, hast du das verstanden?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte der Rothaarige sich wieder in Bewegung und zog mich dabei mit sich. Seine gute Freundin ließ er verletzt zurück. Ich warf noch einen Blick zurück, doch das Mädchen, was dort auf dem Boden saß, kannte ich nicht mehr. Sie hatte jeglichen Glanz verloren, jegliche Menschlichkeit. Sie war innerlich in Millionen Teile zerbrochen.

 

 Ich stöhnte, als ich über den umgefallenen Baum klettern musste und mein linkes Bein unsanft auf dem Boden aufkam. Es waren höllische Schmerzen, doch ich zwang mich weiterzulaufen. Nur nicht stehen bleiben. Die Männer waren uns wahrscheinlich noch auf den Fersen und der Polizei konnten wir auch keine befriedigende Geschichte erzählen, wieso wir hier waren und mit Waffen auf andere schossen.

Adelio trat rechts neben mich, nahm mich mit einer Hand am Ellenbogen, um mir so über einen weiteren umgestürzten Baum zu helfen. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, den er mit einem vorsichtigen Lächeln quittierte.

Ein weiterer Donnerschlag zischte über uns hinüber und ein Blitz erhellte die Wipfel der Bäume. Es würde noch dauern, ehe wir den Wald wieder verlassen und uns einen Weg zurück ins Bergwerk suchen konnten. Auch, wenn ich nie gedacht hätte, das einmal zu sagen, freute ich mich wahnsinnig auf die engen Gänge, die stickige Luft und mein klammes Bettzeug. Einfach auf mein … Zuhause.

 

„Amelina?“ Als mein Name ertönte, fror mein Körper augenblicklich ein. Auch die beiden Jungs neben mir wurden stocksteif. Wie in Zeitlupe wandte ich mich um und erblickte einen jungen Mann, dessen muskulöse Gestalt sich wie ein Riese in der Dunkelheit erhob. Zum wiederholten Male an diesem Tag weigerte sich mein Herz weiterzuschlagen.

Adelios Griff verschwand von meinem Arm und noch ehe ich blinzeln konnte, stand er bereits vor mir; die Waffe auf den Schatten gerichtet.

„Wer bist du? Was willst du?“ Auch Jaden griff mit seiner freien Hand nach der in seinem Hosenbund steckenden Waffe, um sie im Notfall gegen die Person richten zu können.

 

Nur ich rührte mich nicht. Ich hatte das Gefühl einen Geist zu sehen. Einen Geist, der mich heimsuchte. Mein schlimmster Albtraum. Das durfte nicht sein, nein! Nein, bitte! Löse dich einfach in Luft auf! Bitte! Wieso war gerade er hier? Wieso nur?

Wie Gift schmeckte sein Name auf meiner Zunge, als ich ihn heiser herauswürgte.

Damian?“

 

Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich gesagt, dass es in diesem Wald plötzlich noch ruhiger geworden wäre, als es ohnehin schon war. Die beiden Jungs ließen ihre Waffen sinken, als ihnen bewusst wurde, dass ich den Neuankömmling kannte. Wassertropfen spiegelten sich in seinem kurzen Haar und liefen ihm in die Stirn. Der verdreckte Stoff seiner Uniform hing nass und schwer über seiner kräftigen Statur. Natürlich wusste ich, wer das war. Auch, wenn ich wünschte, ich hätte es nicht getan …

„Amelina! Du bist es tatsächlich! Bist du verletzt? Was ist passiert? Kannst du mir Mal verraten, was du hier an diesem Ort machst? Weißt du eigentlich, dass Tala, deine Eltern und alle anderen sich wahnsinnige Sorgen um dich machen? Du kannst doch nicht einfach so ohne ein Wort verschwinden! Und wer sind eigentlich diese Typen da?“ Seit ich ihn kannte, hatte ich ihn noch nie so viel am Stück reden gehört. Seine dunkle Stimme war laut, kräftig und vor allem: bestimmt. Noch nie hatte er mir gegenüber diese Art von Autorität entgegen gespiegelt. Er war beinahe ein anderer Mensch.

Doch was sollte ich jetzt machen? Er würde allen erzählen, dass er mich hier gesehen hatte! Dann würden sie mich suchen und selber noch in Gefahr geraten! Und alles wäre meine Schuld. Ich war kurz davor zu hyperventilieren.

„Glaubst du, ich mache den Menschen, die ich liebe, mit Absicht solche Sorgen? Glaubst du, das macht mir Spaß?“ Von allen Gedanken und Wörtern, die in meinem Kopf herumspukten, waren das die, von denen ich am wenigsten erwartet hätte, dass ich sie aussprechen würde. Ich trat einen Schritt vor, sodass ich meinem Freund direkt gegenüber stand. Unsere Blicke trafen sich. „Glaub mir, das mache ich nicht. Ich kann dir nicht sagen, was ich hier mache und was los ist. So gerne ich es auch tun würde, es geht nicht. Damit wärt ihr alle nur in weitaus größerer Gefahr.“ Das Wort schien sofort bei ihm die inneren Alarmglocken schrillen zu lassen.

„Gefahr? Lina, was ist los?“ Doch ich setzte nur ein freudloses Lächeln auf.

„Versteh mich doch, Damian. Ich kann es dir nicht sagen. Aber bitte hör mir zu. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich dich um etwas bitten muss. Vergiss, dass du mich gesehen hast.“ Seine Augen weiteten sich und ein erschrockener und verwirrter Ausdruck trat in sein Gesicht, der seine kantigen Züge plötzlich weich erschienen ließ. „Vergiss dieses Gespräch hier. Tu so, als hättest du nichts gesehen. Nur so sind alle, die uns beiden so sehr am Herzen liegen, in Sicherheit. Bitte vertrau mir! Nur dieses eine Mal!“ Tränen brannten heiß in meinen Augen und ich wischte sie mit dem Ärmel meiner Jacke weg. „Ich werde einen Weg zu euch zurück finden, das verspreche ich. Gib mir noch ein wenig Zeit. Alles wird wieder gut, hörst du? Bitte. Bitte, pass auf meine Freunde und meine Familie auf. Du bist der einzige, der das kann.“

 

Wieder trat Stille zwischen uns ein, die nur durch das Knistern von Feuer durchbrochen wurde. Selbst hier aus dem Wald waren die Flammen und die riesige Rauchwolke über den Baumwipfeln deutlich zu erkennen. Der eben noch schwarze Gewitterhimmel, leuchtete nun knallig orange. Selbst die Blitze schienen im hellen Schein des Brandes ihre Farbe gewechselt zu haben.

Ein lauter Donner ertönte, der den Boden des Waldes erzittern ließ. Erst, als sich Damians gerufener Name einen Weg durch die Pflanzen bahnte, rührten wir uns wieder.

„Lina! Wir müssen weg! Jetzt!“ Ich spürte Jadens Anwesenheit in meinem Nacken und fühlte einen sanften Druck an meinem von Stoff bedeckten Ellenbogen. Ja. Jetzt oder nie.

„Amelina?“ Damian trat einen Schritt auf mich zu, doch ich wich zurück. Er stoppte.

„Bitte! Bitte vertrau mir! Sag niemandem etwas! Es wird alles gut, das verspreche ich! Pass für mich auf Tala und die anderen auf, ja?“ Schnell wandte ich mich ab und schlug eine Hand vor meinen Mund, als meine Stimme wegzubrechen drohte. Ich senkte den Blick und lief so schnell mich mein verletztes Bein tragen konnte an Jadens Seite durch den Wald. Zwei paar Füße verfolgten mich, doch auf ein drittes Paar lauschte ich vergebens.

 

Obwohl ich wusste, warum ich das alles tat, schrie alles in mir, dass ich umdrehen und zu ihm laufen sollte. Gedanken schlichen sich in meinen Kopf, die dort nicht sein sollten, und trotzdem kostete es mich unendlich viel Mühe, sie zu verdrängen.

 

Mein lautes Schluchzen ging im Grollen eines Donners unter.

 

+++++

 

Der Boden war nass. Ich spürte, wie die Feuchtigkeit sich durch meine Hose fraß und langsam aber sicher auch durch die anderen Kleidungsstücke drang. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht auf den Waldboden setzen sollen, doch meine Beine hatten in der Sekunde nachgegeben, in der es hieß, dass wir hier warten sollen.

Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon so dasaß – die Beine an die Brust gezogen, die Arme darum geschlungen und den Kopf irgendwo dazwischen vergraben -, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit.

Adelio war immer noch am telefonieren. Ich konnte seine leise Stimme bis zu meinem Platz hören, auch wenn ich kein Wort von dem, was er sagte, verstand. Zum Glück hatte er daran gedacht sein Smartphone mitzunehmen. Er würde wahrscheinlich jemanden organisieren, der uns hier abholte. Wo auch immer „hier“ war.

Wir waren tief in den Wald geflohen. Dorthin, wo uns niemand so schnell finden würde. An einer verlassenen Forststraße hatten wir dann Halt gemacht und warteten nun darauf, dass etwas passierte.

 

Aurelia war etliche Minuten nach uns an der Straße angekommen. Da sie die letzten Meter jedoch der Straße gefolgt war, und nicht so wie wir direkt aus dem Wald kam, vermutete ich, dass sie ein ganzes Stück weiter weg auf den Weg gestoßen war und uns gesucht hatte.

Sie hatte noch ein paar Mal versucht mit Jaden zu reden, der sich aber auf kein Gespräch einließ. Er machte sofort kehrt, wenn sie auch nur den Mund öffnete. Ich hatte einmal gewagt zu ihr hinüber zu sehen. Ihre grünen Augen wirkten plötzlich matt und leer. Die ehemals goldenen, voluminösen Haare kamen mir jetzt eher platt und matschig vor. Ihre Kleidung war verdreckt. Schweiß bedeckte ihre Haut und ließ ihr Gesicht unnatürlich glänzen.

Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass sie mir leid tat. Auch wenn sie hinterhältig, verlogen und furchtbar egoistisch war, hatte sie eine solche Behandlung nicht verdient. Sie schien Jaden wirklich zu lieben.

 

„Wieso bist du gekommen?“ Ich sah nicht auf, als die Stimme neben mir erklang und ich hörte, wie sich jemand neben mich auf den steinigen Boden setzte. Nachdem Jaden die letzten Minuten immer auf und ab gegangen war, hatte er sich nun anscheinend entschieden, sich Mal einen Augenblick lang hinzusetzen. Ein Regentropfen schälte sich von einem der Bäume über mir und tropfte genau in meinen Nacken. Ich erschauderte.

„Du hast mich schließlich auch schon mehr als einmal gerettet. Ich konnte doch nicht einfach tatenlos rumsitzen und wissen, dass niemand etwas tun würde.“ Ich seufzte leise und schloss die Augen. Ich drückte meine Beine noch näher an mich heran, um meinen Kopf tiefer darin zu vergraben.

„Du hättest schwer verletzt werden können! Oder noch schlimmeres.“ Es war immer noch erstaunlich, dass der Rothaarige so etwas wie eine nette Seite haben sollte. Ich hatte ihn als unhöflichen Kerl kennen gelernt und er hatte auch alles dafür gegeben, sein Image aufrecht zu erhalten. Bis zu dieser wirren Nacht im Wald, die mir vorkam, als wäre sie schon ewig weit weg. Kaum zu glauben, dass das erst zwei Tage her sein sollte.

„Und du hättest tot … sein können.“ Bei dem Wort ‚tot‘ versagte meine Stimme. Sofort drängten sich die Erinnerungen an Patrik in meinen Kopf und setzen sich hartnäckig in vorderster Reihe fest. „Was ist eigentlich … mit den anderen passiert?“ Erst jetzt, wo mein Kopf wieder klarer war, erinnerte ich mich daran, dass von mehreren vermissten Personen die Rede gewesen war. Doch ich ahnte bereits, was er sagen würde.

„Die sind tot. Sie haben bloß mich am Leben gelassen, weil sie sich von mir wichtige Informationen erhofft hatten. Die Kerle wissen, dass ich in die wichtigsten Entscheidungen eingespannt bin.“ Ich zuckte zusammen. Wichtige Informationen? Aber, die glaubten doch wohl nicht wirklich, dass Jaden so etwas ausplaudern würde, oder? Doch ich war nicht so naiv um nicht zu wissen, wie Menschen zum Kooperieren gebracht werden. Das erste Mal seit einer halben Ewigkeit hob ich meinen Kopf und sah ihn direkt an.

Er trug noch immer die Lederjacke und die Jeans, die er damals im Wald getragen hatte. Ein schmutziges, beiges T-Shirt blickte aus dem offenen Reißverschluss hervor. Seine Haut war nicht mehr so blass, wie sie war, als wir ihn gefunden hatten. Seine zerkratzen Wangen zierten nun ein kräftiges Rot. Die verdreckten Haare klebten strähnig vom Schweiß an seinem Kopf. Doch ich sah auch Blut. Altes, trockenes Blut, das an einigen Stellen seiner Kleidung durchgesickert war. Die Lederjacke wies mehrere Schnitte und Löcher auf und von seiner Stirn führte eine dunkelrote Spur in Richtung Boden.

„Das heißt … die haben dich … gefoltert?“ Ich drohte zu ersticken, als ich das Wort über meine Lippen zwang. Sofort wurde mir unsagbar übel und ich befürchtete gleich aufspringen und in den Wald laufen zu müssen. Ein leichtes Brennen in meinen Augen kündigte von der aufkeimenden Verzweiflung in mir. Jaden schien meinen Stimmungswandel zu bemerken. Er hob seine Hand und wuschelte mir einmal durch meine Haare. Ein kleines Lächeln umspielte dabei seine Lippen.

„Es geht mir gut, hörst du? Es ist nichts Schlimmes passiert. Wir waren zu einem Zeitpunkt dort eingebrochen, an dem sie uns nicht erwartet hatten. Darum war auch eben das Gebäude so verlassen. Die meisten sind für längere Zeit ausgeflogen und tun gerade wer weiß was. Es ist alles gut.“ Ich schluckte schwer, während er immer noch so merkwürdig freundlich lächelte.

 

„Er war dein Freund, hab ich recht? Dieser Junge?“ Ich nickte schwer. Mein Kopf fühlte sich plötzlich an, als wäre er aus Blei.

„Ein sehr guter sogar. Er ist der Seelenpartner einer meiner besten Freundinnen.“ Ein Knoten bildete sich in meinem Magen, als ich an meinen Verrat dachte. Ja, Verrat. Ich hatte meine Freunde, meine Familie verraten, als ich einfach so verschwunden war. Ich habe ihnen mehr als nur Sorgen bereitet.

„Das tut mir leid. Aber glaub mir, du hast das Richtige getan.“

 

Ich wandte mich von ihm ab und legte meinen Kopf auf die auf den Knien liegenden Arme. Mein Blick starr in den Wald gerichtet, ohne wirklich etwas zu sehen.

„Der Schlag auf deinen Kopf scheint dir nicht so gut bekommen zu sein.“

„Wieso?“ Ich hörte tatsächlich eine leichte Verwunderung aus seiner Stimme. Ich biss mir auf meine Lippe, um das Lächeln zu unterdrücken.

„Du bist auf einmal so seltsam freundlich. Das ist unheimlich.“ Einen Moment lang blieb es still, ehe plötzlich ein lautes Lachen neben mir ertönte. Im ersten Moment war ich erschrocken, fing mich aber schnell wieder.

„Was denn? Magst du das Arschloch etwa lieber?“ Erheitert kaute ich weiter auf meiner Lippe.

„Das passt irgendwie besser zu dir.“

„Na, Dankeschön.“ Er lachte wieder. „Ist ja gut zu wissen, was du von mir hältst. Dann werde ich dich eben weiter piesacken. Alles, was das Prinzesschen sich wünscht.“ Das war’s. Ich hob meinen Kopf ein wenig an, zog einen Arm darunter hervor und schlug ohne hinzusehen nach ihm. Ein Lächeln erschien nun auch auf meinem Gesicht.

„Was war das denn?“, fragt er, als ich ihn am Oberarm getroffen hatte. „Wolltest du mich kitzeln? Damit kannst du nicht mal eine Ameise umbringen.“

„Du Blödmann. Dir helfe ich nochmal.“ Das Lächeln in meiner Stimme ließ die Worte weit weniger verärgert klingen, als ich es beabsichtigt hatte. Er lachte erneut.

„Danke, Prinzesschen.“ Ich zuckte zusammen, als er mir wieder durch die Haare wuschelte und sich anschließend erhob. Ich wollte sein Gesicht sehen, doch als ich zu ihm hochblickte, hatte er mir bereits den Rücken zugedreht. Meine Wangen glühten.

 

„Louis holt uns gleich ab. Wir sollen ihm ein wenig entgegen gehen.“ Adelio kam gerade aus dem Gebüsch geklettert und ich sah, wie er sein Handy zurück in die Hosentasche gleiten ließ. Ich streckte meine Beine, sodass die Gelenke knackten und richtete mich mit einigen Schwierigkeiten auf. Sofort tanzten bunte Lichter vor meinen Augen und ich musste den Wunsch unterdrücken, mich gleich wieder hinzusetzen.

Ich bemerkte Adelios besorgten Blick auf mir und lächelte ihm kurz aufmunternd entgegen. Gleich darauf sah er ein bisschen beruhigter aus.

 

Wir gingen ein Stück die Straße entlang. Links und rechts neben mir beobachteten die Jungs aufmerksam den Wald. Beinahe so, als würden sie immer noch auf einen Angriff warten. Die Waffen trugen sie in ihrem Hosenbund, wie an der Wölbung unter ihrer Kleidung deutlich zu sehen war. Ich durfte an diese Teufelsdinger nicht einmal denken, sonst beschlich mich wieder dieses unangenehme Gefühl.

Hinter uns hörte ich entfernte Schritte. Doch auch ohne mich umzusehen wusste ich, wer das war. Aurelia trottete beinahe geräuschlos mit einigen Metern Abstand hinter uns her. Ich bildete mir ein ihre Blicke auf meinem Rücken zu spüren.

 

Zeitnah erreichten wir eine Kreuzung und beschlossen, dort zu warten. Keine fünf Minuten später schlängelte sich ein dunkelblaues Auto über die hügelige Straße, das einmal kurz die Scheinwerfer aufblendete, als der Fahrer uns entdeckt hatte.

Die Reifen knirschten auf dem Untergrund, als der Wagen vor uns bremste. Adelio öffnete mir die hintere Tür und da Jaden schon dabei war das Auto zu umrunden, ging ich davon aus, dass ich den mittleren Platz bekommen sollte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Blonde den vorderen Sitz nahm.

Also rutschte ich in die Mitte, schloss den Gurt und einen Augenblick später fuhr der Wagen wieder an. Der Mann, der hinter dem Lenkrad saß, sah durch den Rückspiegel zu uns und ich vermutete, dass das derjenige war, der uns erst vor wenigen Stunden beinahe beim Abhauen erwischt hatte. Zumindest hatte Adelio damals seinen Namen genannt.

Sofort begann der Mann irgendwas zu erzählen, doch ich hörte ihm nicht zu. Ich bemerkte, wie meine Augenlider immer schwerer worden und gab den Kampf dagegen bald auf. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Stütze der Rückbank und ließ die Müdigkeit Oberhand gewinnen.

 

Ich vermutete, dass ich sehr bald eingeschlafen war. Mein Körper schien plötzlich so leicht und die Schmerzen waren vergessen. Alles, was passiert war, erschien auf einmal wie ein Traum. Und doch wusste ich, dass dem nicht so war.

„Wieso hast du das alles für mich getan?“ Die Stimmen waren leiser als ein Flüstern, darum war ich mir nicht sicher, ob ich mir das nicht alles einbildete.

„Du weißt, dass McSullen keinen Finger rühren wollte, um dir zu helfen, oder?“ Eine kurze Pause folgte.

„Natürlich. Das hatte er mir von Anfang an klar gemacht.“

„Pah, widerlich. Ihr und eure kleinen Psychospielchen. Bekloppt. Das konnte ich doch nicht einfach so hinnehmen! Nur weil euch beiden eure Mission vor dem Leben anderer kommt, muss ich da noch lange nicht mitspielen.“

„Verdammt, ihr hättet sterben können! Wir können von Glück reden, dass die Kerle gerade nicht Zuhause waren! Als wir dort ankamen hat es nur so von denen gewimmelt.“ Ich erschauderte bei dem Gedanken. „Die ganze Aktion war viel zu unüberlegt gewesen. Wir sind aufgeflogen, weil wir keine Ahnung hatten, wonach wir wo suchen sollten. Aneta ist durch eine der morschen Decken in einen ihrer Aufenthaltsräume gefallen und so wurden wir entdeckt.“ Ein Seufzen erklang. „Euch hätte es genauso ergehen können! Und wieso habt ihr Lina mitgenommen? Sie kann sich nicht einmal verteidigen!“ Ach ja. Das kleine Mädchen war zu schwach für so etwas, stimmt’s?

„Du unterschätzt sie, Jaden. Sie war diejenige, die uns auf die richtige Spur gebracht hat. Und das mehr als einmal. Wenn ich nicht durch Zufall ihren kleinen Ausbruchsversuch gesehen hätte, wäre sie wahrscheinlich alleine losgezogen. Du solltest ihr dankbar sein. Jemanden wie sie hast du eigentlich gar nicht verdient.“

Jemanden wie mich?

Doch ich konnte nicht denken. Ich driftete tiefer in das schwarze Nichts und wehrte mich auch nicht dagegen. Die leisen Stimmen um mich herum wurden mit jeder Sekunde noch leiser.

„Das weiß ich. Denk bloß nicht, dass ich das nicht weiß.“

 

Danach versank alles in unendlicher Dunkelheit.

Geschichten

Als ich aufwachte grüßte mich ein altbekanntes Gefühl. Ich ahnte, wo ich mich befand, verstand aber nicht, wie ich hierhergekommen war. Mein Kopf war durch dieses Zuckerwatte/Wackelpudding-Gefühl lahmgelegt, auch wenn ich diesmal rein gar nichts Schönes daran erkennen konnte. Automatisch streckte ich meinen Arm aus und stieß gleich gegen eine hölzerne Oberfläche. Ich tastete mich an ihrer Kante entlang, bis ich auf das gesuchte Stück Metall stieß. Einen Moment später wurde der Raum in gelbes Licht getaucht.

Ich musste ein paarmal blinzeln, ehe ich halbwegs klar sehen konnte. Mit meinen Fingern wischte ich die letzten Reste der Nacht aus meinen Augen, bevor ich meine Arme wieder seitlich neben mich auf das Bett legte.

 

Eine Zeit lang lag ich einfach nur da. Doch mit jeder Sekunde wurde das Pochen in meinem Bein penetranter. Erst dieses Gefühl des dumpfen Schmerzes erinnerte mich an die letzten Stunden. Jede Sekunde schlich sich erneut in meinen Kopf und ließ sie mich dort noch einmal erleben.

Mit großer Mühe richtete ich meinen Oberkörper auf, in dem jeder Muskel vor Erschöpfung protestierte. Doch die Schmerzen in meinem Bein wurden immer heftiger. Ich schwang die verschwitzte Decke zurück und das erste, was ich sah, war dieselbe verdreckte Kleidung, in der ich zu unserem nicht gerade ungefährlichen Abenteuer aufgebrochen war. Nur der linke Teil der Jeans war nicht mehr vorhanden. Eine ausgefranste Naht zeugte von der Methode, mit der sie dem Stoff zu Leibe gerückt sein mussten. Die Jeans hatte der Schere nicht viel entgegenzusetzen gehabt.

Doch es gab etwas viel Wichtigeres, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Erneut bedeckte ein großer, weißer Verband meinen Unterschenkel. Blut und Wundsekret hatten sich bereits an einigen Stellen durch das Material gedrückt und hinterließen an den Stellen dunkle Schatten.

Teile eines Blutergusses lugten über den Rand hinaus und ich sah, wie er unter der verbliebenen Jeans verschwand. Nach einer kurzen Berührung meines oberen Schenkels wusste ich, dass der Bluterguss nicht nur den untersten Teil des Beins betraf.

 

Innerlich blieb ich (zu meiner eigenen Überraschung) komplett ruhig. Jemand hatte sich um die Wunde gekümmert. Wahrscheinlich gleich bei unserer Rückkehr, die ich wohl komplett verschlafen hatte. Aber wenigstens waren sie so nett gewesen, meine Kleidung nicht weiter zu zerschneiden. Meine Mundwinkel zuckten bei dem Gedanken, auch wenn ich nicht wusste, warum ich das so witzig fand.

Ich zog den dreckigen Pullover über meinen Kopf, sodass ich nur noch ein T-Shirt trug und meine verschwitze Haut an die frische Luft kam (sofern man die Luft in einem fensterlosen Raum unter der Erde noch „frisch“ nennen konnte). Erschöpft ließ ich mich zurück in die Kissen sinken und legte meinen Arm über die Augen. Ich spürte, wie der Schorf der Wunde, die ich mir damals bei dem Busunfall zugezogen hatte, über meine Haut schabte und seufzte.

Schon seit ich klein war verging selten ein Tag, an dem ich mal keinen Kratzer, blauen Fleck oder sonstige Verletzungen an meinem Körper hatte, doch so schlimm wie die letzten Tage war es noch nie gewesen. Es gab kaum eine Stelle, die ich nicht besonders intensiv spürte. Es war beinahe so, als würde ich mich selbst das erste Mal richtig wahrnehmen.

 

„Na, wieder wach, Prinzesschen?“ Ich wunderte mich eigentlich gar nicht, dass ich ihn hörte. Nicht nach der Standpauke, die er mir nach seiner Rettung gehalten hatte. Ich hatte schon vermutet, dass er früher oder später hier auftauchen würde. Es wunderte mich nur, dass er erst so spät etwas sagte, obwohl ich eigentlich schon eine Weile wach war. Ich bedeckte meine Augen weiterhin und sah ihn nicht an.

„Und dich haben sie schon wieder zusammengeflickt?“ Nun schielte ich doch unter meinem Arm hervor und sah verschwommen, dass er auf dem Stuhl am anderen Ende des Raums saß.

„Da gab es nichts zum Zusammenflicken. Das waren nur Kratzer.“ Ein leiser Zweifel schlich sich in meinen Kopf und ich hob den Arm soweit hoch, dass ich einen richtigen Blick auf ihn werfen konnte.

Jaden saß lässig auf dem einzigen Stuhl in diesem Zimmer und hatte ein schiefes Grinsen im Gesicht. Schmutz, Dreck und Schweiß waren von Haut und Haaren verschwunden und stattdessen war ein Großteil seiner Haut unter weißen Verbänden und Pflastern verschwunden. Und das war nicht zu übersehen, da er nur Shorts und ein T-Shirt trug. Ich erschauderte.

„Und dein Kälte- und Wärme-Empfinden haben sie gleich mit abgeklemmt, oder?“ Schon beim Hinsehen begann ich zu frieren und spielte mit dem Gedanken, mir die Bettdecke wieder über den Kopf zu ziehen. Warm oder gar heiß war es hier nun wirklich nicht.

„Mit so einem Kleinkram halte ich mich bestimmt nicht auf.“ Ich hörte das Schmunzeln in seiner Stimme und konnte das Seufzen nicht mehr zurückhalten. Erneut legte sich mein Arm über die Augen und ich genoss die Schwärze. Eine ganze Weile schwiegen wir einfach nur.

 

„Du traust mir immer noch nicht wirklich, hab ich recht?“ Ich zuckte zusammen. Schwerfällig richtete ich mich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Meinen Blick hatte ich auf die Hände in meinem Schoß gerichtet. Seine Stimme war ruhig und ich hörte weder Wut, noch einen Vorwurf heraus. Trotzdem fühlte ich mich ertappt und hatte das starke Bedürfnis mich zu Verteidigen.

„Jemandem zu vertrauen, fällt mir derzeit etwas schwer. Vor allem wenn ich sehe, wie hier mit Menschenleben umgegangen wird.“ Ich war mir sicher, er verstand den Wink in Richtung Aurelia und McSullen. Wieso sollte ich jemandem trauen, wenn den meisten hier nur ihre eigenen Ziele wichtig waren? Plötzlich erschien es mir wieder wie ein Fehler hierhergekommen zu sein.

„Meine Eltern sind vor zwei Jahren gestorben. Direkt vor meinen Augen“, begann er, ohne auf meine Worte eingegangen zu sein. Warum erzählte er mir das plötzlich einfach so, nachdem ich ihn bei unserem ersten Treffen beinahe zwingen musste, damit er mir wenigstens seinen Namen verriet? „Wir hatten gemeinsam im Wohnzimmer gesessen und uns einen Film angesehen. Einfach als kleine Feier, weil mein Vater gerade zum Polizeikommissar befördert worden war. Wir hatten es nie besonders leicht gehabt. Meine Mutter hatte als Kind einen schweren Unfall gehabt und konnte deshalb nicht arbeiten gehen und die Familie meines Vaters hatte sich von uns abgewandt. Wir waren immer auf uns alleine gestellt.“

Ich saß ganz still da. Wagte es nicht mich zu bewegen. Ich wäre sowieso nicht in der Lage dazu gewesen. Mein Körper fühlte sich an wie aus Stein.

„An diesem Abend hörten wir plötzlich ein lautes Geräusch aus der Küche. Wie klirrendes Glas. Natürlich ging mein Vater sofort dorthin, um nachzusehen, doch noch bevor er seine Waffe holen konnte, wurde er erschossen. Meine Mutter bekam Panik und schrie mich an, ich solle zur Hintertür verschwinden. Ich war vor Angst wie gelähmt, erinnerte mich aber an die vielen Übungen, die ich zusammen mit meinem Vater gemacht hatte. Es war immer mein Traum gewesen ein so toller Polizist zu werden, wie er es war.“

Der Traum eines Jungen, der seinen Vater wohl innig geliebt und bewundert hatte. Plötzlich sah ich Jaden in einem ganz anderen Licht.

„Noch bevor ich in den Garten fliehen konnte, ertönte der Schrei meiner Mutter. Sie konnte sich wegen ihrem Handikap nicht so schnell bewegen. Sie hatte keine Chance. Ich wusste sofort, dass nun auch sie tot war. Ich wusste, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte und lief einfach weiter. Verzweifelt versuchte ich den Fluss zu erreichen, der an unseren Garten grenzte. Ich bildete mir ein, dass sie mich im Wasser nicht treffen konnten, doch soweit kam es gar nicht.“

 

Ich schreckte auf, als ein weiteres Gewicht die Matratze beschwerte und schielte durch meine Haare hindurch. Der Rothaarige saß am Fußende des Bettes und zum ersten Mal sah ich ihn: seinen Segensstein. In einem Band aus Leder, das er an seinem rechten Oberarm trug, war ein tiefschwarzer, runder Stein, der mit dutzenden farbigen Einschlüssen durchzogen war, eingelassen. Die Punkte glänzten in allen nur erdenklichen Farben des Regenbogens. Es war ein wunderschöner, schwarzer Opal. Etwas in mir wollte diesen Stein unbedingt berühren. Seine glatte Oberfläche spüren. Die vielen, einzelnen Einschlüsse genauer betrachten und alle Farben, die sie besaßen, zählen.

Doch bevor ich mich gegen diesen Drang überhaupt wehren konnte, umfasste er mit seiner anderen Hand das Lederband, öffnete den Verschluss und hielt es zwischen seinen Fingern. Mir stockte der Atem, als ich sah, was darunter lag. Eine große, runde Narbe hatte sich dort tief in sein Fleisch gefressen. Die Haut war an dieser Stelle etwas dunkler, als auf dem Rest seines Körpers und ich erkannte einige Dellen und Erhebungen. Nach seiner Geschichte musste ich nicht lange überlegen, was diese Verletzung verursacht hatte.

„Ich hatte das Gewässer noch nicht erreicht, als ein weiterer Schuss durch die Luft schoss und mich zum Glück nur am Oberarm traf. Doch der Schmerz raubte mir alle Sinne und ich fiel einige Meter einen Abhang hinunter, ehe ich im Fluss landete. Die Strömung war stark gewesen an diesem Tag. Es hatte vorher immer wieder heftig geregnet, was den Pegel hatte steigen lassen. Ich war zu schwach gewesen, um mich dagegen zu wehren und wurde sehr bald von der Strömung mitgerissen und unter Wasser gedrückt.“

Ich hielt den Atem an und spürte eine eisige Gänsehaut auf meinem Körper. Obwohl ich wusste, dass er nicht gestorben sein konnte, weil er gerade neben mir saß, ließ sich die aufkeimende Übelkeit in meinem Magen nur schwer unterdrücken.

„McSullen muss alles beobachtet haben. Als ich aufwachte, hatte er mich bereits hierher in das Bergwerk gebracht. Der Doc konnte die Wunde versorgen und heute kann ich den Arm wieder problemlos bewegen. Die Leichen meiner Eltern wurden am nächsten Tag von der Polizei entdeckt. Ihre Segenssteine fehlten jedoch.“

 

Das erste Mal, seit wir beide hier zusammen saßen, sah er nun in meine Richtung. Ich wusste nicht, was er in meinem Gesicht sehen konnte, doch was es auch war, er ging nicht darauf ein.

„Du darfst ihm seine Art nicht übel nehmen. Er ist eigentlich ein guter Mensch, der aber schon viel Schlimmes erlebt hat. Er hat seine Familie und viele Menschen sterben sehen. Seitdem ist er versessen darauf das Blutvergießen endlich ein für alle Mal zu stoppen. Er hat schon einige Kämpfe selbst bestritten und ist mehr als einmal dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen. Er hat sich stark verändert in der Zeit, in der ich ihn kenne. Manchmal macht der Krieg Menschen zu etwas, was sie vorher nie hätten werden können.“

 

Der Kloß in meinem Hals ließ mich würgen. Er schien mir beinahe alle Luft zu rauben. Jadens blaue Augen blickten direkt in meine. Trotz der Horrorstory, die er mir gerade erzählt hatte, waren sie ruhig und unbewegt. Er zeigte seine Gefühle nicht, auch wenn ich ahnte, dass sie da waren.

Im Gegensatz zu mir konnte er das. Mir war das alles zu viel. Diese Geschichten … Dieses Leid … Wie konnten sie bloß alle weitermachen als wäre nichts gewesen? Warum konnten sie dennoch kämpfen, obwohl sie bereits so viel in diesem Kampf verloren hatten?

 

Wieso hatte ich das Gefühl, ich würde ertrinken?

 

Ich schlug meine Hände vor das Gesicht und begann hemmungslos zu schluchzen. Ich spürte wie mein Körper bebte und heiße Tränen meine Haut benetzten. Bilder von glücklichen Familien, die plötzlich ohne Vorwarnung für immer auseinander gerissen worden, flammten vor meinen Augen auf.

Das war ungerecht, so ungerecht!

 

Die Tür öffnete sich, doch ich bemerkte es kaum. Auch, dass das Deckenlicht eingeschaltet wurde, sah ich nicht. Nur die Stimme des Neuankömmlings erkannte ich, doch ich blickte nicht auf. Ich sackte noch weiter in mich zusammen.

„Lina? Lina, was ist denn los? Hey!“ Seine Hände umfassten meine Handgelenke, wahrscheinlich, um sie ein Stück von mir wegzuziehen, doch ich zuckte vor seiner Berührung zurück, weshalb er wieder von mir abließ.

„Jaden, du Hornochse! Was zum Geier hast du mit ihr gemacht?“ Die Wut in seiner Stimme war kaum zu überhören.

„Geh nicht gleich durch die Decke, Di Lauro. Ich habe gar nichts gemacht.“

„Ach wirklich? Und sie sitzt nur da apathisch rum und heult sich die Augen aus, weil es ihr Spaß macht, ja?“

„Gut möglich.“

 

Ich hörte die beiden streiten und ich konnte mir nicht erklären warum, doch das Geräusch ihrer Stimmen beruhigte mich allmählich. Als ich wieder Luft bekam, ließ ich – unbemerkt von den Jungs – die Hände sinken und wischte mir mit dem T-Shirt-Saum die Tränen von den Wangen. Meine Augen brannten, als ich mich hinter dem Vorhang aus schwarzen Haaren versteckte. Meiner sicheren Festung.

„Ich habe damals meinen Bruder verloren und es war meine eigene Schuld.“ Obwohl ich mir selbst nicht sicher war, ob überhaupt ein Ton meine Lippen verlassen hatte, stoppte das Streitgespräch augenblicklich. Ich sah nicht zu ihnen hinüber, sondern schloss meine Augen, als all die Erinnerungen erneut auf mich einströmten. „Wir waren noch Kinder. Meine Eltern mussten sehr kurzfristig verreisen. Sie hatten keinen Babysitter mehr für uns auftreiben können, also überließen sie das Aufpassen mir. Natürlich war ich stolz, dass sie mir das zutrauten, doch ich hatte auch Angst vor der Verantwortung. Wir wussten alle, dass mein Bruder ein ziemlicher Rabauke war und gerne Unsinn anstellte. Doch sie waren sich sicher, dass das schon gehen würde, wenn wir einfach nur das Haus nicht verließen. Kurz darauf brachen sie auf.“ Ich schluckte schwer. Mein Körper begann erneut zu zittern, doch zumindest die Tränen konnte ich zurückhalten.

„Mein Bruder war kaum zu bändigen gewesen. Selbst Erwachsene hatten Schwierigkeiten damit, und ich war erst recht überfordert. Und als er dann auch noch darauf beharrte draußen zu spielen, wurde mir das alles zu viel. Ich verbot es ihm, doch er hörte nicht. Ich lief ihm noch hinterher, war aber nicht schnell genug. Er fiel von einer Brücke, auf dessen Geländer er kletterte, und wurde von dem Gewässer verschluckt. Er konnte nicht schwimmen. Ich war gerade erst dabei gewesen, es zu lernen. Trotzdem sprang ich hinterher. Anwohner hatten alles beobachtet und kamen uns zur Hilfe. Durch für meinen Bruder war es zu spät. Ich überlebte, er nicht.“

 

Noch nie hatte ich jemandem diese Geschichte erzählt. Nicht einmal meinen besten Freundinnen. Ich hatte mich immer dafür geschämt, was für ein grauenvoller Mensch ich war. Ich hatte Angst, dass jeder mich hassen würde, wenn er davon erfuhr.

Doch plötzlich … kam ich mir lächerlich vor.

„Aber … Wenn ich die Geschichten eurer Vergangenheit so höre, komme ich mir wirklich blöd vor. Ihr habt alle so viel mehr verloren, so viel Schlimmeres erlebt. Ich habe eine Familie, Freunde und ein Zuhause. Und ich bin noch am Leben. Ich habe gar keinen Grund …“

 

„Hör auf!“, unterbrach mich Jaden so scharf, dass ich zusammenzuckte. Ein wenig eingeschüchtert blickte ich auf und wandte mich ihm zu. Er saß noch immer neben mir. In seinen Augen lag ein harter Ausdruck und ich sah an seinen Gesichtszügen, dass er wirklich wütend war. „Hör auf so zu tun, als wäre dein Verlust gar nichts! Du hast deinen Bruder geliebt und durch einen Unfall verloren! Natürlich wünscht du dir, du hättest mehr tun können und natürlich trauerst du ihm heute noch nach! Nur weil deine Eltern noch leben macht das die ganze Sache nicht weniger schlimm!“ Erneut sammelten sich Tränen in meinen Augen, als Jadens Worte zu mir durchsickerten. Doch der Kloß in meinem Hals weigerte sich zu verschwinden. Ein weiteres Gewicht drückte plötzlich auf die Matratze und ich bemerkte, wie sich Adelio auf meiner anderen Seite niederließ und seine Hand auf meinen Arm legte. Ernst sah er mich an.

„Jaden hat recht, Lina. Jeder geliebte Mensch ist es Wert um ihn zu trauern. Du und deine Eltern werdet deinen Bruder nie vergessen und das ist gut so.“ Er lächelte leicht. „Aber deine Eltern lieben dich. Und darum ist es jetzt umso wichtiger dieser Bande von Verbrechern schnellstmöglich das Handwerk zu legen, damit sie nicht auch noch dich verlieren. Dein Bruder würde nicht wollen, dass du deine Familie und Freunde alleine lässt. Ich bin mir sicher, er wäre froh, dich noch eine ganze Weile nicht wiedersehen zu müssen. So sind kleine Brüder eben!“

 

Was war dieses angenehme Gefühl, das mein Herz in diesem Moment umschloss? Dieses wohlig warme und vertraute Gefühl?

Ich schloss meine Augen und sah ihn vor mir. Wie er mir fröhlich zuwinkte und meinen Namen rief. Sein helles Lachen erklang, als er mir vorwarf mal wieder zu langsam gewesen zu sein.

Ja. Mein Bruder war ein lebenslustiger Mensch gewesen. Er hätte es nicht gewollt, dass ich einfach so aufgab, wenn es mal ein kleines Problem gab. Er wäre sofort voran geprescht und hätte die Sache erledigt. Das war mein kleiner Bruder.

Und ich werde ihn nie vergessen. Ich werde für ihn leben. Für ihn und all die Menschen, die ich liebe.

 

Noah.

 

+++++

 

Obwohl meine Augen geschlossen waren, spürte ich das Brennen in ihnen. Wahrscheinlich sah ich aus, als hätte ich zu lange im salzigen Meerwasser rumgeplantscht. Rot und angeschwollen, wie ich war. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen, ehe ich sie vorsichtig öffnete.

Das Licht neben mir war ausgeschaltet. Die Jungs waren wohl gegangen, denn außer meinen eigenen regelmäßigen Atemzügen, war nichts zu hören. Die Stille war beinahe schon etwas unheimlich.

 

Ich drehte mich auf die Seite und beschloss einfach weiter zu schlafen, als meine Hand gegen etwas Hartes stieß. Erst da fiel es mir wieder ein. Jaden hatte es dagelassen, bevor ich eingeschlafen war, doch ich war zu müde gewesen, um in diesem Moment etwas damit anzufangen. Darum hatte ich das kleine metallische Ding einfach neben mich gelegt und dann völlig vergessen. Tastend suchte ich nun zwischen all dem Stoff nach dem kleinen Gerät und als ich es zu fassen bekam, erwachte es zum Leben.

Das helle Licht blendete meine verschlafenen Augen und ich musste ein paar Mal blinzeln, ehe ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Eine lange Zeit sah ich es einfach nur an. Mein Smartphone. Das Bild von einer roten Rose leuchtete mir entgegen. Nur verdeckt von der aktuellen Uhrzeit. 02:34. Es war mitten in der Nacht. Hier unten in der Dunkelheit des Berges verschwammen die Grenzen zwischen Tag und Nacht zu einem untrennbaren Brei. Ich versuchte schon lange nicht mehr meinen Tagesrhythmus wiederzufinden. Ich wusste, dass das keinen Sinn hatte.

 

Gerade, als das Display erneut in den Ruhemodus ging, berührte ich die Menütaste erneut und entsperrte das Gerät. Mit ein paar schnellen Bewegungen war ich im Bilderordner gelandet und wurde von den lächelnden Gesichtern meiner Freundinnen begrüßt.

Sofort schnürte sich meine Kehle zu und ich musste schwer schlucken, als ich die Fotos betrachtete. Auf einem der neuesten Bilder posierten Mary, Tala und ich hinter einem riesigen Berg aus Eiscreme. Wir hatten die Arme umeinander geschlungen und lächelten in die Kamera. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie Noel auf einmal nach meinem auf dem Tisch liegenden Handy gegriffen und bestimmt hatte, dass er nun ein Foto von uns machen würde. Augenblicklich war Mary aufgesprungen und hatte sich direkt hinter Tala und mich gestellt. Ihre Arme lagen über unseren Schultern.

 

Ich konnte kaum fassen, dass das alles bloß wenige Tage her sein sollte. Damals, als ich noch dachte, ich hätte einfach nur wieder blödes Pech gehabt und dass sehr bald wieder alles gut werden würde.

 

Ich musste die Augen abwenden. Mit einem Wisch scrollte ich durch die Galerie. Bilder von Mary, Tala und mir, gefolgt von einem grimmig drein guckenden Damian, einem cool posenden Noel (mit und ohne Mary), ein unscharfes Bild meiner Eltern in meiner Küche, zahllose Fotos meiner Wohnung im Baustellenzustand, Blumen, Tiere und so viel mehr huschten vor meinen Augen vorbei. Jedes Bild ließ die Erinnerungen wie Wellen auf mich einstürzen.

Und jedes Mal tat es weh. Das Stechen in meiner Brust war kaum zu ignorieren. Doch ich würde es ertragen. Denn das war alles, was ich tun konnte. Ich wusste, dass die Menschen, die mir etwas bedeuteten, ebenfalls litten. Aber das war der Preis, den wir zahlen mussten, um unser Leben weiterleben zu können.

Ich konnte nur hoffen, dass dem Ganzen bald ein Ende gesetzt werden würde.

 

Seufzend schloss ich die Augen. Automatisch drückte ich den Menüknopf des Smartphones, um die Bilder verschwinden zu lassen und es zu sperren. Ich drehte mich um und versuchte das Gerät vorsichtig auf den Nachttisch zu legen. Zunächst hatte ich die leise Befürchtung es neben das Schränkchen zu packen und damit auf den harten Boden fallen zulassen, doch mit ein wenig herumtasten, ertönte gleich das leise Geräusch, als der Gegenstand das Möbelstück berührte. Und auch darauf liegen blieb.

Ich starrte noch einige Momente in die undurchdringliche Dunkelheit und genoss es, dass mein Kopf absolut leer war. Kein Gedanke verirrte sich mehr in die wirren Verwickelungen meines Gehirns. Und so blendete ich alles weitere aus und ließ mich wieder tiefer in den Schlaf sinken.

 

Doch noch ehe ich die Grenze zwischen Traum und Realität überschritten hatte, hörte ich plötzlich ein leises, beinahe lautloses Klicken gefolgt von einem Quietschen und vor meinen geschlossenen Augenlidern wurde es auf einmal heller.

Verwundert öffnete ich meine Augen und blickte in Richtung Tür. Mein Herz schlug auf einmal wie wild und meine Hände krallten sich fest in das Bettzeug. Wer bitte hatte einen Schlüssel für mein Zimmer und kam mich nachts um kurz vor drei Uhr besuchen? War das Jaden? Nein. Aber es gab doch nur zwei Schlüssel für diese Tür und einer hing sehr wahrscheinlich friedlich an seiner Aufhängung an der Wand! Irgendwas war doch faul!

 

Wie in Zeitlupe schien sich die schwere Metalltür zu bewegen. Millimeter um Millimeter öffnete sie sich wie das Maul eines wilden Tieres. Aus dem Spalt drang gedämpftes Licht in das Zimmer, das dunkelgraue Konturen aus der Dunkelheit hervorstechen ließ.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte, doch mein Körper schrie plötzlich nach Sauerstoff. Aber ich wagte es nicht zu atmen. Der Kloß in meinem Hals schnürte mir die Kehle zu.

 

Erst, als die Tür sich geöffnet hatte und mit einem leisen Rums gegen die Wand sackte, sah ich eine Person im Gang stehen. Doch ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder umso beunruhigter sein sollte.

 

„Colin?“, hauchte ich tonlos.

 

Ich traute meinen Augen kaum. Aber trotz des sehr schummrigen Lichts war ich mir sicher, dass er es war. Doch was wollte er mitten in der Nacht in meinem Zimmer? Mein Magen verkrampfte. Das konnte nichts Gutes bedeuten …

Gerade als ich ihn fragen wollte, ob etwas passiert sei, erklang seine Stimme wie ein tonloses Hauchen in der Dunkelheit.
 

„Ame-lina. Lauf … weg.“

Menschenleben

Ich nahm gerade noch dieses schmerzvolle Stöhnen und Gurgeln wahr, alles andere war in diesem Moment nicht mehr existent. War diese unmenschliche Stimme wirklich von Colin gekommen? Dieses … geisterhafte Stöhnen?

Doch ich hatte keine Sekunde Zeit darüber nachzudenken. Ein Ruck ging durch ihn hindurch und wie ein nasser Sack sackte der Mann plötzlich in sich zusammen. Sein Körper blieb wie in einem Knäul mit seltsam verrenkten Gliedmaßen auf dem Boden liegen. Trotz des schummrigen Lichts waren seine verdrehten Augen selbst von meiner Position aus zu erkennen. Eine rote Flüssigkeit fraß sich unaufhörlich durch den hinteren Teil seines Hemdes.

 

Im nächsten Moment saß ich aufrecht auf meinem Bett. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich mich hingesetzt hatte, doch mein Körper war in diesem Moment schneller, als mein Verstand. Ein Bild des Schreckens brannte sich in meine Augen: Colin war tot … und sein Mörder stand direkt vor mir.

Ich hatte kaum verstanden, wer der Kerl in dem schwarzen Anzug sein musste, da hatte er schon den halben Weg zu mir zurückgelegt. Panisch versuchte ich meine Beine aus dem Gewirr von Stoff zu befreien und stolperte unbeholfen aus dem Bett. Ich wollte fliehen, um Hilfe rufen, doch eine starke Hand packte meine Handgelenke und drückte mich gegen den Spind. Das scharfe Metall schnitt unangenehm in meine nackten Oberarme und ich bekam keine Luft mehr.

„Loslassen!“, keuchte ich und versuchte meine Arme zu befreien. Ich zwang meinen zitternden Körper dazu, sich zu bewegen und versuchte krampfhaft mich von ihm loszureißen. Doch erst, als der Mann keuchte und sein Griff lockerer wurde, bemerkte ich, dass ich ihm gegen das Schienbein getreten haben musste. Ich warf mich mit aller Kraft in seine Richtung, was ihn so unerwartet getroffen hatte, dass er tatsächlich rückwärts taumelte und mich mit sich zu Boden riss. Ich hörte einen dumpfen Aufschlag und hoffte, dass er mit dem Kopf so hart aufgekommen war, dass er kurz weggetreten war. Doch ich wagte es nicht auch nur eine Sekunde abzuwarten.

So schnell meine tauben Muskeln es zuließen, krabbelte ich von ihm herunter und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Ich musste mich an dem Stuhl abstützen, um wieder aufrecht stehen zu können. Ich hörte, wie das Möbelstück umfiel, als ich mich davon abstieß und in Richtung Tür hechtete.

Die Schmerzen in meinem Bein schienen beinahe verschwunden, doch ich ahnte, dass das nur an dem Adrenalin lag, was sich heiß durch meine Adern pumpte. Als ich auf ihn zusteuerte – diesen leblosen Körper – begannen sich erneut Tränen in meinen Augen zu sammeln. Ich wusste, dass ich nicht hinsehen durfte, sonst würde ich auf der Stelle zusammenbrechen und das würde auch meinen Tod bedeuten.

 

Ich sah ihn nicht an, als ich meinen Fuß hob, um über ihn zu steigen. Ich redete mir ein, dass er nur schlief. Ohnmächtig war. Doch ich konnte mich nicht belügen. So sah niemand aus, der nur bewusstlos war. Nein. Nicht so.

Mein Körper war schwer wie Blei, als ich über den Leichnam kletterte und lief, ohne darüber nachzudenken, nach links den Gang herunter. Irgendwo musste doch irgendwer sein! Jemand musste mich hören! Also rief ich ihn. Den ersten Namen, der mir einfiel. Die Person, der ich hier am meisten vertraute.

„Jaden!“ Die Luft wurde aus meinen Lungen gepresst, als mich etwas von hinten mit der Wucht einer Abrissbirne traf. Ungebremst knallte ich auf den Steinboden und keuchte auf vor Schmerz. Etwas Schweres saß auf meinem Rücken und zwang mich liegen zu bleiben. Die Panik wuchs und ich wollte erneut um Hilfe schreien, als ich plötzlich etwas Kaltes an meinem Hals spürte. Eine Sekunde später brannte es dort an meiner Haut. Wie zu Eis erstarrt hielt ich inne.

„Keinen Mucks mehr! Eine Bewegung und ich schlitze dir deinen hübschen Hals auf!“ Ich wusste, dass ich etwas tun musste. Ich spürte das scharfe Messer an meiner Haut, doch die Panik hatte mich gelähmt. Mich bewegungsunfähig gemacht. Ich würde sterben. Sterben. „Komm einfach artig mit und ich lass dich am Leben. Vorerst. Und versuche keine krummen Tricks oder du siehst deine Eltern nicht lebend wieder, verstanden? Sie sind in unserer Gewalt, also hör gefälligst auf das, was ich dir sage, du kleine Mistgöre, wenn du nicht an ihrem Tod die Schuld tragen willst!“

War das mein Herz, das aufgehört hatte zu schlagen? Wieso fühlte ich mich plötzlich so leer? War ich tot? Hatte er mich doch umgebracht? War das die Hölle? Ja, das musste sie sein. Das Leben konnte einfach nicht so grausam sein. Bitte. Bitte nicht!

Ich hatte meinen Kampfeswillen verloren. Da war nichts mehr in mir, was zum Kämpfen bereit war. Meine Eltern. Sie waren in der Gewalt von Mördern. Und ich wusste die ganze Zeit von nichts! Ich dachte, meine Flucht hätte ihnen geholfen! Dass sie in Sicherheit wären!

Doch dem war wohl nicht so. Ich hatte sie in Lebensgefahr gebracht. Ich hatte alles nur noch schlimmer gemacht …

 

Ich nickte stumm und unmerklich, doch das Gewicht verschwand sofort von meinem Körper. Ich spürte, wie meine Arme hinter meinen Rücken gedreht und von seiner starken Hand an den Handgelenken zusammengepresst wurden. Er zog mich auf die Füße und ich wollte vor Schmerzen schreien, als er meine Arme dabei beinahe auskugelte, doch kein Laut verließ meine Lippen. Die körperlichen Schmerzen waren nichts, im Gegensatz zu denen, die mein Inneres wie Feuer zerfraßen.

Als meine Beine mich endlich wieder trugen, spürte ich das kalte Metall erneut an meiner Haut. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich hätte freudlos aufgelacht. Hatte er nicht bemerkt, dass er mich nicht mehr bedrohen musste? Sah er nicht, dass es kein Leben mehr in diesem Körper gab? Er hatte mir etwas viel Schlimmeres angetan, als mich zu töten. Es war alles meine Schuld.

 

Obwohl ich merkte, dass wir uns bewegten, registrierte ich nicht, dass meine Beine es ebenfalls taten. Ich ließ den Kopf hängen, so gut das mit einem Messer an der Kehle eben ging, und ließ den Tränen freien Lauf.

„Lass sie los, du Drecksack!“ Ich konnte nicht reagieren, als der Druck an meinen Händen plötzlich verschwand und sich ein heißes Brennen über meinen Hals zog. Nicht in der Lage, mich auf den Beinen zu halten, kippte ich einfach nach vorne und schlug ein weiteres Mal auf dem Boden auf. Ich verstand nicht, was soeben geschehen war und sämtliche Geräusche schienen miteinander zu verschmelzen. Erst das laute Klirren von Metall auf Gestein brachte mich dazu aufzusehen.

Wie Feuer loderte sein rotes Haar im schwachen Licht einer Glühbirne und ich fragte mich, ob ich wach war oder immer noch träumte. Alles verschwamm vor meinen Augen, als sich Tränen der Erleichterung unter meine Verzweiflung mischten. Ich sah verschwommen den Tanz aus Schatten und Farben, aber ich registrierte nicht, dass dieser Tanz auch tödlich enden konnte. Mein Herz wusste nicht, ob es weiter schlagen oder tot bleiben sollte.

Ich sah den Kampf nicht, der sich vor meinen Augen abspielte. Sah die Tritte, Schläge und Verletzungen nicht. Der Abgrund unter mir schien mich mit jedem Augenblick weiter zu verschlucken.

 

Doch ich hörte ihn. Jemand rief meinen Namen und gleich darauf tauchten vertraute, braune Locken vor meinen verweinten Augen auf. Er musste sich hingehockt haben und sprach auf mich ein. Doch die Worte, die seine Lippen verließen, ergaben einfach keinen Sinn.

Ich spürte, wie er seine Arme um mich schlang und mich an seinen Oberkörper drückte und ließ es geschehen. Solange er mich festhielt, konnte ich nicht weiter in die bodenlose Dunkelheit fallen.

 

„Lina? Lina!“ Erneut mein Name. Ich sah auf. Jaden hockte vor mir. Neue dunkle Flecken und Kratzer bedeckten sein Gesicht. Ein Schnitt in der Farbe seiner Haare, prangte auf seiner Wange. Meine Hand bewegte sich, doch sie gehörte nicht mehr zu mir. Das Blut. Ich wollte es abwischen. Doch er kam mir zuvor und schloss seine Finger um meine. „Lina! Bist du verletzt?“

Verletzt? Nein. Nicht wirklich. Ich schüttelte den Kopf. Aber …

„Meine Eltern.“ Fast lautlos kamen diese zwei Worte über meine Lippen, ehe der Rothaarige etwas sagen konnte.

„Was?“, fragte er besorgt.

„Sie haben meine Eltern.“ Meine Stimme brach bei dem letzten Wort und Stille umfing uns. Es war so ruhig, dass die Schritte der neuen Anwesenden in meinen Ohren schmerzten.

 

„Jaden? Was ist passiert?“ Das war unverkennbar McSullens Stimme. Doch Jaden, der noch immer meine Hand hielt, machte keine Anstalten ihm zu antworten. „Jaden!“ Erst nach der erneuten Aufforderung richtete der junge Mann seine Aufmerksamkeit auf seinen Ziehvater.

„Sie haben uns gefunden.“ Seine Stimme klang mechanisch und als wäre sie ganz weit weg. „Der Kerl da“, er machte eine unpräzise Handbewegung in die Richtung, in der ich einen verschwommen schwarzen Haufen auf dem Boden entdeckte, „ist irgendwie hier rein gekommen. Colin ist tot. Erstochen. Ich habe Amelina schreien gehört. Habe sie dann hier gefunden. Der Typ wollte sie verschleppen.“ Ich sog scharf die Luft ein. Das alles noch einmal erzählt zu bekommen, machte die ganze Sache irgendwie realer. Adelio zog mich enger zu sich. „Keith.“ Erst jetzt ließ er meine Hand los, die kraftlos zurück in meinen Schoß fiel, und erhob sich. Nur ein Stück von uns entfernt stand eine ganze Gruppe von Menschen. Ich erkannte außer McSullen noch Scarlett, den Dicken mit der Glatze und der Brille und Doktor Martens, der bei dem Wort „tot“ sofort große Augen bekam. Obwohl ihre Gesichter weitestgehend im Schatten lagen, schien ihre blasse Haut beinahe zu leuchten. „Das geht langsam wirklich zu weit. Wir dürfen nicht mehr zögern! Wir müssen sofort dahin und -“, fuhr Jaden fort, doch McSullen unterbrach ihn.

„Die sind hier reingekommen? Verdammt! Woher-? Scarlett!“ Er richtete damit das Wort an die rothaarige Frau neben ihm. Doch diese blickte nur erschrocken zurück. „Weck sofort alle auf! Wir müssen nachsehen, ob noch mehr von denen hier sind! Sieh nach den Wachen! Wir müssen unsere Linie weiter verstärken! Es darf nicht noch einer von diesen Mistkerlen hier eindringen!“

„J-ja“, kam es als leise Antwort von ihr zurück.

„Aber ...!“, protestierte Jaden, doch der Glatzköpfige schien in seiner Ansprache kaum Notiz von ihm zu nehmen.

„Elias! Wir müssen sofort herausfinden, woher die von unserem Versteck wissen! Ruf den Rat zusammen und wir treffen uns im Kontrollraum, um …“

 

„Keith!“ Erst jetzt wandte der muskulöse Mann sich um und sah den Rothaarigen direkt an. Seine Augen waren stumpf und ich verkrampfte innerlich. „Wir müssen etwas tun! Wenn sie bemerkten, dass wir ihren Mann haben, werden sie Amelinas Eltern etwas antun!“ Doch ich kannte seine Antwort bereits. Es war nicht schwer seinen Ausdruck zu deuten, wenn man ihn kannte. Und ich war mir sicher, dass Jaden das auch wusste.

„Wir können nichts tun. Wir wissen nicht einmal, wo sie sind. Unsere erste Sorge sollte den Menschen hier gelten. Hier sind dutzende Leben in Gefahr! Verdammt, Jaden, Colin ist tot!“ Die letzten Worte brüllte er beinahe. Das schien das Zeichen für den Doc zu sein, zu dem leblosen Körper, der noch immer vor meiner Tür lag, zu eilen. Ich sah noch, wie er sich zu ihm hinab beugte, doch dann wandte ich meinen Blick ab. „Wir müssen uns um unser eigenes Leben kümmern!“ Natürlich. Sie kannten meine Eltern nicht. Sie gehörten nicht dazu. Sie gehörten nicht hierher.

„Das ist doch nicht dein ernst! Sollen wir einfach tatenlos zusehen, wie Unschuldige umgebracht werden?!“ Ein hohes Wimmern entfuhr mir und meine Zähne begannen leise zu klappern, so sehr zitterte ich. Ich hörte, wie Adelio „Shhh“- Laute an mein Ohr machte, doch ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Immer wieder schluchzte ich leise, was jedoch niemand beachtete. Sie standen alle wie angewurzelt da.

„Wir können nicht dutzende Leben riskieren, um sie in eine schier aussichtslose Rettungsmission zu schicken! Das wäre glatter Selbstmord! Sobald wir das Bergwerk gesichert haben, knöpfen wir uns den Kerl da vor und versuchen den Standort der Geiseln herauszufinden.“

„Und dann? Willst du mir erzählen, dass du dein angebliches Selbstmordkommando dann losschickst, wenn du weißt, wo sie hingehen sollen? Genauso wie bei der Aktion im Krankenhaus?“ Jadens Stimme überschlug sich beinahe und das erste Mal, seit ich ihn kannte, sah ich puren Hass in seinen Augen. Nicht einmal Aurelia hatte er mit einem solch dunklen Blick angesehen, als er sie als falsche Schlange bezeichnet hatte.

„Ich habe nein gesagt, Jaden. Und du hast das zu akzeptieren. Wir werden nichts unternehmen. Opfer müssen manchmal gebracht werden.“

 

Dass ich aufgestanden und durch den Gang gerannt war, bemerkte ich erst, als ich die Tür hinter mir ins Schloss knallen ließ. Das Geräusch hallte unheimlich laut von den Wänden wider.

Wie von Sinnen versuchte ich den Schlüssel, der gerade noch neben der Tür an der Wand gehangen hatte, in das plötzlich viel zu kleine Schlüsselloch zu stecken. Meine zitternden Finger waren kaum in der Lage die Tür zu verriegeln, sodass ich beinahe vor Verzweiflung aufgeschrien hätte, ehe ich das erwartete Klicken vernahm. Ich rannte hinüber zu dem Tisch und dem bereits umgefallenen Stuhl und schmiss diesen ebenfalls mit lautem Getöse um, nur, damit er einen Moment später die Tür blockierte.

Mit wenigen weiteren Schritten hatte ich den beleuchteten Raum durchquert und ließ mich auf das Bett fallen. Erst nach und nach war ich in der Lage meine zitternden Glieder wieder halbwegs unter Kontrolle zu bringen.

 

Über die Frage, warum eigentlich das Licht in meinem Zimmer brannte, machte ich mir keine Gedanken, doch ein Teil von mir vermutete, dass der Doc das Licht gebraucht hatte, um den toten Körper des Wissenschaftlers wegzuschaffen. Sofort stieg wieder eine gewaltige Übelkeit in mir auf.

Ich presste mein Gesicht in das Kissen und schrie. Schrie mir einfach nur die Seele aus dem Leib. Die Tränen rannen meine Wangen runter und ich drohte zwischen all dem Stoff zu ersticken.

Ich hatte gedacht, ich könnte das schaffen. Dass das alles nur eine Frage der Einstellung war. Das jemand Klitzekleines wie ich es mit einer organisierten Verbrecherbande aufnehmen konnte. Ich hatte wirklich geglaubt, dass alles wieder so werden konnte wie früher. Ein ruhiges, langweiliges Leben in dem es meine größte Sorge war, mit 18 Jahren noch keinen Freund zu haben. Ich dachte, dass es das schlimmste Gefühl war, jeden Abend allein zu sein.

Es war kaum zu glauben, wie falsch ich mit alldem lag. Ich war nur ein kleines, verwöhntes Kind, das mehr besaß, als es eigentlich verdient hatte.

 

Das Klopfen an der Tür ignorierte ich. Ich hörte sie meinen Namen rufen. Ich hörte, wie sie an der Türklinke rackelten, um herein zu kommen. Doch ich wollte niemanden sehen. Alle sollten verschwinden und mich einfach nur alleine lassen.

Dennoch riefen sie immer wieder meinen Namen. Minutenlang. Bis ich es nicht mehr aushielt.

„Lasst mich endlich in Ruhe!“, brüllte ich mit kratziger Stimme, griff ohne richtig hinzusehen nach irgendwas auf meinem Nachttisch und warf es mit voller Wucht in Richtung Tür. Mit einem lauten Knall traf der Gegenstand auf das Metall und landete anschließend auf dem umgeworfenen Tisch.

Die Geräusche verstummten. Plötzlich war es ganz still. Kein Klopfen, kein Rufen mehr. Nur noch mein verzweifeltes Schluchzen.

 

Ich wusste nicht, wie lange ich noch so da lag, bis dieser ungeheure Druck endlich von meiner Brust verschwand. Kopfschmerzen überrannten mich und ich drehte den Kopf zur Seite, um gierig wieder Luft in meine Lungen zu pumpen. Meine Augen brannten und mein Körper war steif vom Verkrampfen.

Müde ließ ich den Blick durch den Raum schweifen, um mich richtig zu beruhigen. Mein Herz schlug immer noch schmerzhaft gegen meine Brust und meine Muskeln krampften bei jedem Schlag.

 

Fühlte ich mich jetzt besser? Nein. Im Gegenteil. Ich hatte es verstanden. Endgültig. Ich war nicht stark. Da war nichts auch nur annähernd Starkes in mir. In Büchern und Filmen konnten die Hauptpersonen immer über sich hinauswachsen und so plötzlich und unerwartet zu Helden werden. Doch das war gelogen. Alles gelogen. Niemand konnte sich so stark verändern. Niemand war in der Lage vom verängstigten, kleinen Mädchen zur großen Heldin zu werden.

Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, als ich Jaden alleine retten wollte? Wie bin ich überhaupt darauf gekommen, dass ich in der Lage war, bewaffneten Männern gegenüber zu treten? Jaden hatte recht. Ich war lebensmüde. Es war unverschämtes Glück, wenn nicht gar ein Wunder, dass wir diese Sache lebend überstanden hatten.

Und doch … Ich bereute es nicht. Die Tatsache, dass dieser junge Mann, der bereits mehrmals sein Leben für mich riskiert hatte, irgendwo hier herumlief (nach dem Kampf wahrscheinlich noch etwas lädierter als sowieso schon) und am Leben war, durchflutete mich nach wie vor mit einer Welle der Erleichterung.

Menschen sollten nicht aus einer Laune anderer heraus sterben. Auch, wenn niemand wusste, was die wahre Bedeutung seines Lebens, seines Daseins, war, jeder war aus einem bestimmten Grund hier, daran wollte ich glauben. Jede Begegnung, jede Aktion hatte ihren Sinn. Alles war ein großes Ganzes.

Doch manchmal kam man auch von dem richtigen Weg ab und verlief sich in eine der Nebenstraßen. Manche Menschen schafften es nicht zurück und blieben für immer verloren. Sie gerieten in Panik und waren es am Ende selbst, die sich den Rückweg versperrten.

Ein Mensch konnte nicht alles erreichen, was er sich vornahm. Das war nichts weiter als eine große Lüge.

 

Langsam versuchte ich mich wieder aufzurichten. Mit zusammengebissenen Zähnen ignorierte ich jede schmerzende Stelle, so gut es eben ging. Mein Bein pochte wie wild und ich war froh, dass der Verband es bedeckte und ich die Wunde nicht sehen musste. Wahrscheinlich war sie beim Laufen wieder aufgerissen.

Ich wischte mir die Reste der letzten Tränen aus den Augen und versuchte mit meinen Fingern meine Haare zu ordnen. Nach einigen sinnlosen Versuchen erinnerte ich mich an die Bürste, die in dem Spind liegen musste. Sobald meine Füße den Fußboden berührten, drang eine eisige Kälte durch meine verdreckten Socken, und schoss durch meine Glieder. Ich begann zu zittern und beschloss bei der Gelegenheit gleich meine Kleidung zu wechseln.

Der Schrank stand nicht mehr dort, wo er vor einigen Stunden noch gestanden hatte. Er war ein wenig verdreht und auf der einen Seite etwas von der Wand abgerückt. Getrocknetes Blut klebte an der einen Kante, die sich in meine Haut geschnitten hatte.

Ich wandte meinen Blick ab und öffnete die Tür. Mit einigen wenigen Handgriffen hatte ich ein Outfit zusammengesucht und begann mich schnellstmöglich umzuziehen. Auf der einen Seite war es furchtbar kalt in diesem Zimmer und auf der anderen konnte ich es kaum erwarten die verdreckten Kleider loszuwerden. Ich wollte nicht mehr die Kleidung tragen, die dieser Kerl berührt hatte …

 

Die Jeans war mir ein wenig zu groß, wodurch sie am Bauch ein wenig abstand. Also suchte ich in einer der am Boden gestapelten Kisten nach einem Gürtel und wurde sogar fündig. Schnell fädelte ich das Leder durch die vielen Schlaufen, um der Hose Halt zu geben.

Das graue Tanktop, dessen unteren Teil ich in die Hose steckte, passte gut unter den dunkelgrünen Kapuzenpullover, dessen Rückseite ein Muster aus schwarzen Linien zierte.

 

Sofort ging es mir besser. Ich fühlte, wie die eisige Umklammerung sich langsam von mir löste und etwas Leben in meine tauben Muskeln zurückkam.

Meine Hand griff nach der Bürste und ich versuchte die unzähligen Knoten heraus zu bekommen. Nach einigem Fluchen und dutzenden ausgerissenen Haaren hatte ich das Gefühl endlich wieder menschlich zu sein. Noch schöner wäre zwar eine Dusche gewesen, aber ich traute mich nicht mit Seife an die unzähligen offenen Wunden heran. Zudem müsste ich den Verband und die Pflaster abmachen und mir neue besorgen und jemandem zu begegnen war gerade nicht das, was ich wirklich tun wollte.

Mit einigen schnellen Handgriffen hatte ich meine schwarze Mähne in einen geflochtenen Zopf verwandelt und griff nach einem Haargummi, um diesen festzuhalten. Ich legte die Bürste zurück in den Spind und schloss die rostige Metalltür. Erschöpft drehte ich mich um und lehnte mich mit dem Rücken dagegen.

Für eine Sekunde fühlte ich mich an die Szene von vor wenigen Stunden erinnert, doch ich schob das beklemmende Gefühl einfach von mir weg. Ich war alleine. Die Tür war wieder abgeschlossen. Niemand war da, also brauchte ich keine Angst zu haben.

 

Mein Blick heftete sich an das Chaos, das ich verbreitet hatte. Der dreckige Kleiderstapel neben dem Schrank. Ein zerwühltes Bett. Den Nachtisch hatte ich ebenfalls verschoben und meine Tasche war herunter gefallen. Stuhl und Tisch waren beide umgekippt und lagen direkt vor der verschlossenen Tür. Und auf dem Tisch entdeckte ich den Gegenstand, den ich eben durch den Raum geschleudert hatte. Sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen, als ich ihn als das geschenkte Buch meiner Eltern identifizierte.

Ich ging hinüber und beugte mich über das eine Tischbein, um es vorsichtig aufzuheben. Der erste Blick war ernüchternd. Zu den sowieso schon zahlreichen Knicken und Rissen im Papier waren noch einige mehr hinzugekommen. Seiten waren umgeknickt und eingerissen. Ein Dutzend hatte sich sogar komplett aus dem Buchrücken gelöst. Der Einband hatte ziemlich gelitten und wie mir ein kurzer Seitenblick auf die Tür zeigte, hatte diese das ebenfalls. Doch diese kleine Delle würde wahrscheinlich niemanden stören.

 

Mit meiner freien Hand hob ich den Stuhl vom Boden auf und stellte ihn wieder auf seine Beine, um mich daraufsetzen zu können. Mit zittrigen Fingern strich ich über die Seiten und versuchte den Schaden etwas zu reduzieren. Doch hinten am Einband löste sich sogar das Papier schon von dem Leder und die blanke Innenseite des Buches wurde sichtbar. Mit ein bisschen Kleber würde das wahrscheinlich wieder zu retten sein –

Doch plötzlich fiel mir etwas ins Auge. Da, hinter dem Einband … Was war das?

 

Auf einmal schlug mein Herz wieder bis zum Hals, als meine Finger etwas hinter dem abgerissenen Einband ertasteten. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich sogar, dass die Pappe an dieser Stelle schon einmal ab gewesen und wieder angeklebt worden sein musste.

Einen Moment später zog ich ein gefaltetes DinA4-Blatt heraus und konnte kaum glauben, was darauf in verschnörkelter Schreibschrift geschrieben stand.

 

„Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr.

 

Wenn Sie diese Zeilen hier lesen, werde ich bereits tot sein, denn ich weiß, dass mir jemand nach dem Leben trachtet.

Aus diesem Grund werde ich nun hier niederschreiben, auf welche blutige Katastrophe die Menschheit zusteuert. In der Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist, eine bessere Zukunft zu erschaffen.

 

Mein Name ist Professor Doktor Ludwig Ernst von Zettlitz. Schon seit mehreren Jahren bin ich ein anerkannter Wissenschaftler im Bereich der Segenssteine und habe bereits das eine oder andere Werk zu dem Thema veröffentlicht. Eines davon halten Sie gerade in den Händen.“

 

Wie in Trance schlug ich das Buch auf der vordersten Seite auf und war trotz der Ankündigung überrascht, als der Name des Autors Schwarz auf Weiß vor meinen Augen auftauchte. Prof. Dr. Ludwig E. von Zettlitz. Derselbe Name.

 Das war einfach unglaublich.

 

„Ich bin mir bewusst, dass diese Zeilen wahrscheinlich niemand je zu Gesicht bekommen wird und dennoch sitze ich hier an meinem Schreibtisch und schreibe sie nieder, auch wenn mir die Zeit nur so durch die knochigen Finger rinnt. Ich habe das Gefühl, dass ich es tun muss. Dass dies hier meine einzige Chance ist einen Teil der schlimmen Dinge wieder gutzumachen, die ich in meinem knapp 70-jährigen Leben begangen habe.

Der Tod sitzt mir bereits im Nacken. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Wahrscheinlich ist das Schreiben dieses Briefes das letzte, was ich in dieser Welt tue.

 

Doch ich kann dieses Geheimnis nicht länger für mich behalten und schon gar nicht mit ins Grab nehmen! Ich muss es für die Nachwelt festhalten. Hier auf diesem schlichten weißen Blatt.

 

Offiziell bin ich Forscher am Harold Winkler Institut für naturwissenschaftliche Phänomene. Dort lernte ich bereits früh mein Handwerk und bin nun Leiter eines 20-köpfigen Teams aus jungen, engagierten und talentierten Forschern.

Unser Ziel ist die Erklärung für die Geburt der Segenssteine. Wieso gibt es dieses Phänomen bloß bei den Menschen? Wann wurde der erste Segensstein geboren? Wie finden Mensch und Edelstein zueinander?

So viele wichtige Fragen, die es zum Wohl aller zu lösen gilt.

 

Und trotzdem. Der Ruf der Macht hat auch mich nach all den Jahren verführt. Diese Frage … Diese eine Frage, die niemand wagte zu stellen. Niemand außer Ihm. Er – der lediglich Boss genannt wird und dessen Namen ich bis heute nicht kenne – hat herausgefunden, dass ich mir selbst diese Frage gestellt habe.

 

Ist es möglich einen Menschen mit seinem Segensstein zu manipulieren?

 

Ist der Mensch wirklich so eng mit seinem Edelstein verbunden, dass es durch gezielte Experimente mit eben diesem möglich ist, Gedanken und Gefühle zu steuern und nach Belieben zu manipulieren?

 

Eine interessante Frage, der ich im Schatten dieser Organisation, versteckt vor der Öffentlichkeit, nachgegangen bin. Über 20 Jahre lang. Ich hielt es selbst für unmöglich, ja beinahe absurd, und doch … Wir haben sie gefunden. Die Antwort auf diese Frage.

Doch der Preis, der dafür gezahlt werden muss, ist viel zu hoch. Ich war naiv gewesen. Hatte nicht bedacht, was diese Methode bedeuten konnte, wenn sie in die falschen Hände geriet. Viel zu spät habe ich bemerkt, dass es bereits seit langer Zeit zu spät war. Diese Hände hatten schon lange ihre gierigen, blutbefleckten Finger darum geschlungen und ich wusste, dass sie nie wieder loslassen würden.

 

Darum musste ich handeln. Ich bin in das System eingedrungen und habe viele der Daten gelöscht. Doch es waren bei weitem nicht alle. Ich befürchte sogar, es waren zu wenig, um die Forschung daran ganz zum Erliegen zu bringen. Doch ich hoffe, ich konnte es hinauszögern. Das ist meine letzte Hoffnung.

Ich höre sie. Ich höre ihre Schritte in diesem Moment über mir. Sie sind bereits in meinem Haus. Sie werden es anzünden; dem Erdboden gleich machen. Zu vieles, was sich hier befindet, könnte ihrem teuflischen Plan schaden. Sie wissen, dass ich keine Kopie der gelöschten Daten hier aufbewahre. Also haben sie keinen Grund, das Haus zu durchsuchen.

 

Doch dieses Buch sollen sie nicht finden. Es ist das erste Exemplar meines erfolgreichsten Buches. Ein Schriftstück, das mir sogar einen hoch renommierten Preis eingebracht hat. Ich werde es verstecken und hoffen, dass jemand Mutiges, Tapferes diese Zeilen hier findet und in der Lage ist, zu handeln.

Menschenleben stehen auf dem Spiel. Die ganze Welt ist in Gefahr, wenn die geheimsten Gedanken der mächtigsten Menschen der Welt plötzlich in den Händen von Verbrechern und Mördern sind!

 

Ich trage eine große Mitschuld an dem, was gerade passiert und darum werde ich diese Welt nun verlassen.

Ich kann nur beten, dass es noch Menschen da draußen gibt, die das Herz am rechten Fleck haben.

 

Mir bleibt nur noch der Menschheit viel Glück zu wünschen.

Es tut mir unendlich leid.

 

Hochachtungsvoll,

L. von Zettlitz“

Asche

Ich starrte auf die Zeilen vor mir, als würde ich das erste Mal in meinem Leben etwas lesen. Wieder und wieder überflog ich die letzten Worte eines Mannes, der sein Leben einer Frage gewidmet hatte, die besser nie gestellt worden wäre.

Ein eisiger Schauer brachte meinen Körper zum Beben, als ich über die schlimmen Folgen nachdachte, die diese Art von Manipulation über die Menschheit bringen würde. Geheimnisse wären nicht mehr sicher, die mächtigsten Menschen der Welt würden plötzlich von anderen kontrolliert werden und das Militär könnte aufgrund falscher Aussagen Unruhen oder sogar Kriege anzetteln. Das würde den sinnlosen Tod Unzähliger mit sich führen und vielleicht sogar ganze Länder von der Weltkarte tilgen!

 

Doch war das wirklich möglich?

Ich hob meinen Blick. Dort, neben dem Schrank, lag die Jacke, die ich am gestrigen Tag noch getragen hatte. Der muffige Geruch von Rauch und nasser Erde hatte sich bereits im Zimmer verteilt und mit der abgestandenen Luft vermischt. Dort, gut versteckt im Inneren, musste er immer noch sein. Ich stand auf und legte in derselben Bewegung das Buch hinter mich auf den Stuhl. Den Brief behielt ich fest in meiner Hand. Es waren nur wenige Schritte, bis ich mich bücken und das Knäuel aus Stoff aufheben konnte. Zielsicher suchten meine Finger die geheime Tasche und ich seufzte erleichtert, als ich ihn wirklich darin spürte.

Nur einen Moment später ruhte der Stein auf meiner Hand und die Jacke glitt erneut geräuschlos zu Boden. Still und harmlos lag er da, eingefasst in der Halterung der Kette. War es wirklich möglich, mit einem bloßen Edelstein einen Menschen zu kontrollieren? Ihn dazu zu bringen, etwas zu tun oder zu sagen? Standen wirklich neue Kriege bevor?

 

Mein Körper zitterte. Bilder spukten durch meinen Kopf, die schlimmer waren als alles, was ich mir je hätte vorstellen können. Das Bestehlen und Ermorden der Menschen in Summer Hills war überhaupt nicht das Schlimmste an dieser ganzen Situation. Das war alles nur Tarnung gewesen! Diese Kerle haben unter dem Deckmantel der Habgier gehandelt, um etwas viel Größeres auf die Beine zu stellen. Etwas, was die Welt, wie wir alle sie kannten, völlig auf den Kopf stellen würde! Mir war plötzlich unglaublich schlecht.

Einer Eingebung folgend richtete ich meinen Blick erneut auf das zerknitterte und doch so kostbare Papier. Zielsicher suchte ich das Dokument ab und blickte auf das kleine Datum, welches oben rechts in der Ecke niedergeschrieben war. Der 05.02.2014. Der Februar dieses Jahres ... Dieser Brief war kaum sechs Monate alt! Der ganze Spuk war also noch immer in vollem Gange! Gerade jetzt in diesem Moment saßen irgendwo Wissenschaftler daran das Geheimnis, welches der Professor noch hatte schützen wollen, erneut zu entschlüsseln! Und dieses Mal würde es gewiss nicht so lange dauern, wie bei ihrem ersten Versuch.

 

Das war doch einfach … unfassbar.

Kraftlos sackte ich auf dem Boden zusammen. Durch die groben Fasern des schmutzigen Teppichs kroch die Kälte wie tausende Messerklingen unter meine Haut. Doch das, was sich in meinem Inneren festgesetzt hatte, war noch viel Kälter als die Luft hier tief unter dem Berg.

Der Zettel rutschte mir aus der Hand und landete neben mir. Aus jedem dieser handgeschrieben Buchstaben sprach das Bewusstsein eines Professors heraus. Und wenn es nur daran lag, dass manche Worte in kaum leserlicher Schrift geschrieben waren.

Doch aus dem Augenwinkel entdeckte ich noch etwas anderes. Dort am äußersten Rand stand noch etwas geschrieben, was da augenscheinlich nicht hingehörte. Die Farbe dieser Worte war eine andere, als die des restlichen Briefes. Wo die einen Buchstaben ein sattes Tintenfüller-Blau besaßen, hatten diese hier eine mattgraue Farbe, die mich an die Mine eines Bleistiftes erinnerte. Sie war so hell, dass das Geschriebene auf dem verschmutzten Papier kaum zu sehen war. Ich nahm den Zettel ein weiteres Mal in die Hand, legte ihn quer und las den schräg geschriebenen Satz.

 „Die größten Geheimnisse sind am tiefsten vergraben.“ Dahinter folgten zwei sehr lange Kommazahlen, die durch die Kürzel LG und BG gekennzeichnet waren. Auch, wenn ich mit diesem Gebiet in meinem Leben noch nicht viel zu tun hatte, brauchte ich nicht lange zu überlegen, bis ich wusste, was ich dort vor mir hatte.

Obwohl ich ahnte, dass es keinen Zweck hatte, hechtete ich - trotz schmerzendem Bein – durch den Raum zum Nachttisch hinüber. Dort, knapp über der Kante schwebend, lag mein Smartphone. Schnell ließ ich das Display wieder zum Leben erwachen und öffnete das Menü. Mein Finger schwebte eine Weile unschlüssig über der Taste zum Einschalten der Datenverbindung, doch die Neugier siegte und im nächsten Moment berührte meine Fingerkuppe den Touchscreen.

Doch es war, wie ich es vermutet hatte. Hier unter der Erde hatte ich absolut keinen Empfang. Ich musste also an die Oberfläche …

 

Ich verdrängte die Gefühle in meinem Kopf, die mich davon abhalten wollten, meinen sicheren Zufluchtsort zu verlassen. Diese Gefühle, die mir beinahe entgegenschrien, dass es dort draußen gefährlich war. Dass es Menschen gab, die Unschuldige entführten, umbrachten und sie ihres wertvollsten Besitzes beraubten.

Aber, wenn diese Zahlen wirklich Koordinaten waren, mussten sie eine wichtige Bedeutung haben! Vielleicht gab es jemanden, der mit dieser Information etwas anfangen konnte! Jemanden, der dem Spuk ein Ende setzen konnte, bevor es zu spät war …

Ich hatte einfach keine Zeit Angst zu haben! Wenn es etwas gab, was ich tun konnte, musste ich es doch wenigstens versuchen! Ich würde es mein ganzes Leben lang bereuen, wenn ich diese Chance auf ein friedliches Dasein einfach ignorieren würde! Die Chance darauf, überhaupt ein Leben zu haben …

 

Mit einer schnellen Handbewegung faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn in die hintere Hosentasche der Jeans. Auch die Kette verstaute ich dort, wo sie hingehörte: nah an meinem Herzen. Ich weigerte mich darin eine Waffe zu sehen! Diese Menschen hatten kein Recht mit uns zu spielen, wie es ihnen gerade in den Kram passte!

Ich behielt das Handy in der Hand, während ich durch das Zimmer huschte. Ich schob den Tisch nur soweit von der Tür weg, damit ich daran vorbeigehen konnte. Ich öffnete die Tür und machte mir nicht einmal die Mühe das Licht auszuschalten. Mein Blick war starr auf das Smartphone gerichtet, als ich durch die Gänge hetzte. Mit jedem weiteren Schritt spürte ich die Schmerzen in meinem Bein heftiger, doch mehr, als ein leises Stöhnen gönnte ich mir nicht.

Ein Gang folgte dem Nächsten. Ich wusste nicht, wo ich war, doch anhand der größer und breiter werdenden Wege ahnte ich, dass ich der Oberfläche näher kommen musste. Ich wusste, dass dies nicht der Weg nach draußen war, den ich kannte, aber das war mir egal. Ich brauchte nur Zugang zum Internet. Irgendwie.

Ich blieb erst keuchend stehen, als sich vor mir eine Betontreppe auftat, die in eine normale Holztür mündete. Verdutzt starrte ich die Stufen hinauf. Wo war ich denn hier gelandet?

 

Obwohl meine Beine schwer wie Blei waren und kribbelten, als würden mir hunderte Ameisen über die Haut laufen, zwang ich mich die zehn Stufen zu erklimmen, bis meine schweißnasse Hand die Klinke berührte. Ohne große Anstrengung glitt die Öffnung auf und ich fand mich in einem mit grau geflecktem Teppich ausgelegtem Flur wieder. Weiße Tapete bedeckte die Wände, die in regelmäßigen Abständen von Glastüren unterbrochen wurden und Lampen hingen in Reih und Glied von der Decke.

Wenn nicht alles von einer dicken Staubschicht bedeckt gewesen wäre hätte ich schwören können, dass hier vor ein paar Minuten noch Menschen gewesen waren. Doch mir war klar, dass das unmöglich war. Diese Anlage war seit Jahren verlassen und die letzten hier arbeitenden Menschen vor einer gefühlten Ewigkeit Hals über Kopf geflohen.

Eine unheimliche Stille umgab mich, als ich langsam durch die stickigen Gänge wandelte. Sofort bildeten sich Schweißtropfen auf meiner Haut und ich bereute es den – wenn auch dünnen – Pullover angezogen zu haben. Ich kam an unzähligen Räumen vorbei, die mit einer wahrscheinlich typischen Büroausstattung aus dieser Zeit vollgestellt waren. Merkwürdige Gebilde, die ich als Computer identifizierte, thronten auf den Schreibtischen und selbst alte Schreibmaschinen waren noch auf vielen Tischen vertreten.

 

Die meisten Türen waren verschlossen, weshalb ich nicht in diese Räume gelangen konnte. Die späte Abendsonne schien durch die zersplitterten Fenster und tauchte alles in intensive Farben. Schon bald würde ich hier im Dunkeln stehen.

Tatsächlich fand ich gleich um die Ecke ein offenes Büro und nutzte die Chance. Die Drehstühle standen Kreuz und Quer und viele waren sogar umgekippt. Kaffeetassen und Büromaterialien lagen unter einer dicken Staubschicht begraben. Alte Kalender und ausgeblichene Infozettel bedeckten die Wände an den Stellen, die ausnahmsweise nicht mit von Akten übersäten Regalen zugestellt waren. Einige Papiere lagen quer auf dem Boden verteilt, viele davon – besonders die in Fensternähe – wiesen Wasserflecken auf. Wahrscheinlich hatten heftige Winde, die durch die zerbrochenen Glasscheiben ins Gebäude eingedrungen waren, dieses Chaos verursacht.

 

Langsam näherte ich mich dem Fenster; mein Blick starr auf das Display gerichtet. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als sich die kleinen Empfangsbalken rasch vermehrten. Es dauerte nur Millisekunden, ehe das vertraute Geräusch eingehender Nachrichten laut in meinen Ohren fiepte. Die einzelnen Töne verschwammen zu einem einzigen Geräusch und ich ignorierte die Gefühle, die sich wie eine Schlinge um meinen Hals legten.

Unschlüssig starrte ich auf das nun wieder schwarze Display. Was sollte ich bloß tun? Ich konnte ihnen nicht antworten, nein. Aber durfte ich einen kurzen Blick auf die Meldungen werfen?

Mir war bewusst, dass meine Freunde sehen konnten, dass ich die Meldungen aufgerufen hatte. Das war heute Gang und Gebe. Doch welche Schlüsse würden sie daraus ziehen? Würden sie denken, dass ein Fremder mein Handy gefunden und eingesteckt hatte? Würden sie denken, ich sei nur bestohlen worden und mir ginge es gut? Oder glaubten sie dann, dass ich irgendwo leblos in einem Wald liegen würde und mein Mörder nach all der Zeit nun meine Nachrichten durchging?

Oder würde es ihnen Erleichterung bringen? Würden sie glauben, dass ich noch lebte und einfach nur nicht zu ihnen zurückkam oder mich bei ihnen meldete? Aber warum? Warum hätte ich beschließen sollen einfach zu gehen und sie zu ignorieren? Würden sie glauben, dass ich sie nun hasste?

 

Nein, das konnte ich nicht tun. Ich hatte ihnen schon genug wehgetan, da durfte ich sie einfach nicht noch mehr quälen. Das wäre nicht fair. Ich würde sie im Unklaren lassen müssen und hoffen, dass Damian nichts gesagt hatte. Dass er mir wirklich dieses eine Mal vertraute. Denn …

 

In der Unwissenheit wohnt die Hoffnung. In der Gewissheit das Leid.

 

Ich ließ das Display wieder zum Leben erwachen und achtete tunlichst nicht auf die Benachrichtigungen, die nun dort standen. Ich sah die Buchstaben, doch verstand ihren Sinn nicht.

Schnell suchte ich nach der Karten-App, die mir sofort standardmäßig auf meinen Wohnort sprang. Ohne groß darüber nachzudenken, suchte ich nach dieser bestimmten Funktion, die ich zum Glück auch recht schnell fand.

Ich zog den Brief aus meiner Hosentasche und gab die langen Zahlen in die dafür vorgesehenen Kästchen ein. Ich kontrollierte die Werte dreimal, ehe ich auf den Suchen-Button drückte.

Ein erschrockenes Keuchen drang aus meiner Kehle, als ich wusste, dass ich Recht hatte. Es handelte sich tatsächlich um Koordinaten! Die letzte Mitteilung, die Prof. Dr. Ludwig von Zettlitz vor seinem Ableben der Nachwelt überbringen wollte, waren Koordinaten eines bestimmten Ortes, die ihm wohl als ausgesprochen wichtig erschienen. Aber … Dieser Ort … Warum wollte er gerade darauf aufmerksam machen? Was sollte es dort schon Wichtiges geben? Ich … Ich wusste es nicht.

 

Wie viel Zeit vergangen war, seit ich hierhergekommen war, konnte ich nicht sagen. Erst die sich abkühlende Luft und das Verschwinden der Sonne bedeuteten mir, dass der Tag sich dem Ende geneigt hatte. Ich hob meinen Blick und sah aus den teils dreckigen, teils kaputten Fenstern. Dunkelheit hatte sich über das Gelände gelegt und Wolken zogen harmlos am Himmel vorbei. Vereinzelt flackerten die Lichter der nahen Städte und Dörfer über den Wipfeln der Bäume auf und erweckten den Eindruck, als seien sie sich im Meer spiegelnde Sterne. Der Rest der Welt lag still und verlassen da.

Doch grade, als ich meinen Kopf abwenden und gehen wollte, bemerkte ich im Augenwinkel etwas Seltsames. Etwas, was da nicht hinzugehören schien. Obwohl sie beinahe von den grauen Wolken verschlungen wurde, sah ich sie jetzt umso klarer. Eine kleine, dunkle Rauchwolke schlängelte sich hinter einem nahen Lagerhaus empor. Ab und zu hatte ich den Eindruck, etwas Helles aufblitzen zu sehen.

 

Aber was war das? Die Leute hier waren immer darauf bedacht, möglichst unauffällig zu sein! Wieso also diese auffällige Rauchsäule? Was gab es dort in diesem scheinbar abgesperrten Bereich?

Meine Hände zitterten noch immer von den Neuigkeiten, die ich in den letzten Minuten erfahren hatte. Das Rascheln des Papiers in meiner Hand mischte sich unter das Pfeifen des Windes, der sich durch die Ritzen der langsam verfallenden Büroruine zwängte.

Das Handy in meiner Hand war längst wieder in den Ruhemodus gewechselt und hatte die so wichtige Information wieder unter den Mantel des Schweigens gekehrt.

 

Jemand musste davon wissen! Ich musste das, was ich entdeckt hatte, unbedingt jemandem sagen! Bloß wem? Wem konnte ich wirklich vertrauen in diesem Haufen mir unbekannter Menschen? Doch ich musste mir eingestehen, dass ich nicht lange über diese Frage nachdenken musste. Ich hatte sie mir bereits selbst beantwortet.

Mechanisch ließ ich den Bildschirm ein letztes Mal aufflackern, gerade so lange, damit ich das Gerät wieder in den Ruhemodus bringen konnte, steckte es dann in meine rechte und das gefaltete Blatt zurück in die linke Hosentasche und wandte mich von der Fensterfront ab. Ich folgte dem dunklen Gang, bis eine noch intakte Glastür zu einem Treppenhaus führte. Da ich dem wackeligen Geländer nicht traute und ich auch kaum etwas erkennen konnte, hangelte ich mich an der Wand entlang bis zu dem Stockwerk, an dem sich die Buchstaben ‚EG‘ in der Dunkelheit abzeichneten. Tatsächlich musste ich bloß aus dem Treppenhaus heraustreten, um bereits die Tür nach draußen zu erspähen. Wahrscheinlich längst verstorbene Menschen blickten mich aus ihren Gemälden an, als ich den Gang entlang eilte und mich durch die Drehtür nach draußen drückte. Zum Glück standen die einzelnen Glasflügel so, dass ich auch ohne Strom und großes Verdrehen des Gestells hindurch passte.

 

Ein bewölkter Himmel empfing mich und ein frischer Wind zupfte an meiner Kleidung. Von dieser Stelle hatte ich direkten Blick auf die sich emporkringelnde Rauchwolke. Nur ein großer Zaun und das Ende eines Lagerhauses versperrten mir den Blick auf die genaue Ursache.

Ich hatte bereits unbewusst den halben Weg zurückgelegt, als mir etwas Merkwürdiges auffiel. Hatte McSullen nicht vor ein paar Stunden erst erwähnt, dass er das Bergwerk besser abriegeln wollte? Gehörten da nicht auch noch mehr Wachen dazu? Wieso also war niemand hier? Und außerdem … Wieso war mir eigentlich überhaupt niemand auf meinem Weg hierher begegnet? Wo waren alle hin? Waren sie etwa evakuiert worden? War niemand mehr hier? Niemand außer mir? Aber … Sie konnten mich doch nicht zurückgelassen haben! Auch wenn ich … wenn ich jeden, der vor meiner Tür stand, weggescheucht hatte …

War das wirklich möglich?

 

Ich hatte den Zaun erreicht, der wie ein unförmiges Gebilde in der Dunkelheit der sternenlosen Nacht aus dem Boden aufragte. Meine Finger legten sich um das poröse Material des Maschendrahtzauns, als ich nach einem Eingang suchte. Nicht weit von meiner Position entfernt befand sich ein Durchgang, dessen Tür scheinbar nur lose im Schloss hing.

Ich schlüpfte durch einen kleinen Spalt hindurch und stand nun direkt vor einem verschlossenen Eisentor. Auch hier schienen vor einigen Jahren einmal größere Geräte und Maschinen hindurch geschafft zu worden zu sein, da mich die bloßen Maße des Eingangs bei weitem überragten. Doch ich war lange genug hier, um zu wissen, dass es in jeder größeren Tür auch eine Kleine gab. Wie erwartet entdeckte ich diese ein Stück weiter auf der rechten Seite und als sich meine Finger um das Metall legten, schwang sie widerstandslos auf, um mir Einlass zu gewähren.

Drinnen sah ich zunächst nichts, außer noch mehr Schwarz. Doch schon nach wenigen Sekunden entdeckte ich flackernde Lichter, die sich in dem blanken Material der gegenüberliegenden Tür spiegelten. Neugierig durchquerte ich die anscheinend leere Halle und warf einen Blick durch den offenen Spalt.

 

Was ich dann sah, ließ mir den Atem stocken. Mein Gehirn bestreikte seinen Dienst und mein Körper war plötzlich seltsam leicht. Und trotzdem … Ich verstand sofort …

Ich sah sie. Die 30 Menschen, die mir ihren Rücken zugewandt hatten. Die stumm und regungslos auf den brennenden Haufen alter Holzplanken starrten, der nur wenige Meter von einem anderen Gebäude errichtet worden war. Der Geruch von verbranntem Holz brannte in meinem Hals, doch ich nahm natürlich auch diese andere Note darin wahr. Und ich sah auch seine Quelle. Diese längliche Gestalt, die gerade von den Flammen verzehrt wurde.

Das Letzte, was ich sehen konnte, bevor die Flammen endgültig den leblosen Körper verschlungen hatten, war das reine, kristallklare Himmelsblau dieses – wahrscheinlich nicht sehr wertvollen, dafür aber wunderschönen – Topas, der ihm nicht nur sein ganzes Leben lang zur Seite gestanden hatte, sondern das nun auch im viel zu führen Tod tun würde. So, wie es der Brauch war, würden sie von nun an auch im Jenseits unzertrennlich sein. Ich spürte die Tränen heiß in meinen Augen brennen, als ich ihn noch einmal in meinem Geist sah. An dem Tag, als wir uns kennengelernt hatten.

Diese Stille, die über der Gesellschaft von Colins Beerdigung lag, war erdrückend. Nur das Knistern des Feuers, das von den Windböen immer wieder angefacht wurde, war zu hören. Meine Beine zitterten mehr denn je und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Weglaufen und mich wieder einschließen? Nein. Damit verdrängte ich nur die unaufhaltsame Wirklichkeit, aber ändern würde das nichts. Es gab etwas, das ich tun konnte, um diesem grausamen Mord einen Sinn zu geben. Ihn nicht unbedeutend wirken zu lassen. Und ich hatte sie bereits entdeckt. Diese Menschen, bei denen ich jetzt sein wollte. Den Menschen, denen ich vertrauen konnte.

 

So leise, als würden meine Füße den Betonboden überhaupt nicht berühren, ging ich Schritt für Schritt auf sie zu. Sie hatten mich nicht bemerkt. Ihre glasigen Augen waren auf den Tanz der Flammen gerichtet, in dem gerade ein guter Freund von ihnen für immer verschwunden war. Niemals mehr würden sie ihn wiedersehen. Niemals mehr würde er die Seelensteine erforschen. Das, was er über alles liebte, war am Ende der Grund dafür, dass er so jung gehen musste.

Lautlos tauchte ich in die Mitte meiner beiden Freunde ab und nahm je eine ihrer Hände in meine. Ich blickte nicht auf, als sich unsere Finger berührten, doch ich spürte den kleinen Ruck, der durch ihre Körper ging. Doch ansonsten bewegten sie sich nicht. Stumm betrachteten wir die immer kleiner werdenden Flammen im Gedenken an einen lieben Menschen, den ich leider nie richtig kennenlernen konnte.

 

Ich wusste weder, wie lange wir dort Hand in Hand standen, noch wie viel Zeit seit meiner Ankunft vergangen war. Das einzige, woran ich den Lauf der Zeit messen konnte, war das Aufbrechen der Trauergäste. Ich erkannte aus den Augenwinkeln die junge Frau und ihr Baby, der ich sehr kurz nach meiner Ankunft hier im Bergwerk begegnet war, und auch ein älteres Ehepaar, welches ich vom Sehen kannte. McSullen, Scarlett, Doktor Martens und selbst Sebastian und Emily, die die Zeremonie ebenfalls reglos betrachteten. Auch die Männer rund um Elias Huxley, gingen nur wenige Zentimeter an uns vorbei, doch ich würdigte sie keines Blickes. Und sie uns wahrscheinlich auch nicht.

Sehr bald waren wir alleine. Das Feuer war heruntergebrannt und lediglich ein glühender Haufen schwarzen Staubs glimmte noch als Mahnmal in der Dunkelheit.

„Ich hatte dich abholen wollen, doch du hattest mich weggeschickt. Ich dachte … du wärst gerne dabei gewesen.“ Adelios Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich wusste, dass er mich nicht ansah und das war in diesem Moment auch gut so. Keiner von uns dreien hatte etwas gegen ein bisschen Zeit für sich selbst einzuwenden.

„Ich muss mit euch reden“, sagte ich, doch meine Stimme war mir selbst fremd. Ich umfasste ihre Hände stärker und zog sie ein Stück an die Seite. Dort, von wo aus Colins letzte Ruhestätte  wegen einer Hauswand nicht mehr zu erkennen war, stand eine Reihe von Kisten, zu denen ich sie führte. Dort angekommen ließ ich sie los und setzte mich auf das kalte, feuchte Holz, um nicht länger Angst haben zu müssen, zusammenzubrechen.

Hier in diesem Hinterhof, der uns von allen Seiten her von der Außenwelt abschirmte, wähnte ich mich soweit in Sicherheit, dass ich ihnen meinen Fund zeigen konnte.

 

Ich wühlte in meiner Tasche und zog den zerknitterten Zettel heraus. Zitternd hielt ich ihn Jaden entgegen, der zusammen mit Adelio vor mir stehengeblieben war. Ganz automatisch griff der Rothaarige nach dem Gegenstand, fasste mit der anderen in seine Hosentasche und hielt wenige Sekunden später sein Handy griffbereit. Kurz darauf beleuchtete die eingebaute Taschenlampe die nahe Umgebung.

Erst in diesem Moment konnte ich die Jungs richtig sehen. Sah die schneeweiße Haut, was bei dem gut gebräunten Adelio ziemlich merkwürdig aussah. Sah die Reste der Tränen, die sie vergossen hatten. Und ich sah den Schmerz in ihren Augen.

Sie konnten nach außen hin so ruhig rüberkommen, wie sie wollten. Ich wusste es besser. Ich sah, was in ihrem Inneren vor sich ging. Und es zerriss mich schmerzlich.

 

Jaden entfaltete den Brief und begann zu lesen. Der Braunhaarige tat es ihm Gleich, indem er seinem etwas kleineren Freund über die Schultern sah. Ihre Augen weiteten sich mit jedem Wort, welches sie lasen. Die Trauer in ihren Augen wich einer Erkenntnis, die sogleich in Wut und Verzweiflung umschlug. Gerade, als sie den Brief zu Ende gelesen hatten und nun auf die mit Bleistift geschriebenen Zahlen starrten, fand ich meine Stimme wieder.

„Ja. Das sind die Koordinaten ihres Hauptquartiers“, meinte ich voller Überzeugung. Ich wusste nicht, wann ich beschlossen hatte, diesem Gedanken zu glauben, doch ich war sicherer denn je, dass es genauso sein musste. „Und es liegt hier in Summer Hills. Direkt in dem berühmten fünf-Sterne-Luxushotel ‚Lifetime Palace‘.

Familie

Das Knistern des Feuers war längst verstummt. Die Tiere im Wald hatten sich in ihren Unterschlupf zurückgezogen und warteten nun auf das Erwachen eines neuen Tages. Es war so still, dass ich glaubte, Autos auf der weit entfernten Landstraße fahren zu hören.

Die ungläubigen Gesichter der beiden jungen Männer direkt vor mir, jagten mir fast ein wenig Angst ein. Ihre Augen waren plötzlich so leer, dass es mich beinahe an Colins Gesichtsausdruck erinnerte, als er mit starrem Blick in seinem eigenen Blut vor mir lag …

 

„Woher hast du das?“ Jaden war der Erste, der das Wort nach langem Schweigen wiederfand. Sein Blick lag jetzt wieder auf mir. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich bestimmt über seinen dämlichen Gesichtsausdruck lachen müssen.

„Meine Eltern“, ich schluckte schwer bei diesem Wort, „hatten mir zum Geburtstag ein Buch über die Wissenschaft der Segenssteine geschenkt. Wahrscheinlich hatten sie es irgendwo auf einem Flohmarkt gefunden. Als wir dann in meiner Wohnung waren und ich es da auf der Kommode liegen sah … Ich habe erst gemerkt, dass ich es mitgenommen hatte, als wir bereits vor dem Haus waren. Und hinten im Einband war dann dieser Brief versteckt. Ich habe ihn auch nur entdeckt, weil ich es … gegen meine Zimmertür geworfen hatte.“ So, wie sich das Ganze ausgesprochen anhörte, kam ich mir gleich wieder wie ein kleines, verwöhntes Kind vor. Das zeigte mal wieder, dass das körperliche Alter nichts mit dem geistigen zu tun hatte. Zumindest bei mir nicht.

„Das war dann wohl meine Schuld“, meinte Adelio monoton und ich hatte die Vermutung, dass das einer seiner üblichen Witze hätte werden sollen, wenn er nicht gerade so absolut mies gelaunt gewesen wäre. Darum ging auch niemand weiter auf seinen Kommentar ein, sodass er fortfuhr. „Ich hatte dich eigentlich hierher abholen wollen.“ Sofort überflutete mich mein schlechtes Gewissen, als ich daran denken musste, wie er sich wohl dabei gefühlt hatte. Eine Angelegenheit, die ihm so nahe ging, und was tat ich? Rumheulen und auf den Gefühlen anderer herumtrampeln. Was war ich bloß für ein großartiger Mensch!

„Entschuldige, dass wusste ich-“, begann ich, doch verstummte, als der Braunhaarige kaum merklich mit dem Kopf schüttelte.

„Wir müssen diesen Brief McSullen zeigen. Er ist zwar ein Dickkopf, aber das kann selbst ihn nicht kalt lassen.“

„Nein, das hat keinen Zweck, Adelio. Ich habe es schon versucht. Doch in all der Zeit, in der ich ihn nun kenne, war er nie so stur gewesen.“ Wut kehrte seine Stimme zurück, als der Rothaarige an das Gespräch mit seinem Ziehvater dachte. „Er hat sich komplett in seinen Idealen verrannt und versteht nicht, dass Angriff die beste Verteidigung wäre. Aber er ist der Meinung, dass es wichtiger wäre, dieses Bergwerk abzuriegeln. Dabei wäre es nicht so schwer die Menschen hier zu evakuieren. Doch er glaubt, dass wir überall sonst dem Tod geweiht wären. Aber das wir auch hier bald überrannt werden und dem kaum etwas entgegenzusetzen haben, sieht er anscheinend nicht.“ Er seufzte und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Den Brief hielt er noch immer in den Händen.

„Ihr müsst wissen …“, begann er wieder und sah plötzlich unheimlich müde aus, „McSullen hat schon einiges durchgemacht. Aber sein Leben geriet völlig aus der Bahn, als er damals mit seiner Frau und seinen beiden sechsjährigen Zwillingstöchtern in ihrem Lieblingsrestaurant essen waren. Die beiden Mädchen wären in der nächsten Woche eingeschult worden. Das wollten sie feiern. Doch gerade, als Keith auf die Toilette gegangen war, detonierte eine Bombe im Speisesaal und riss viele Menschen in den Tod. Die schwarzen Männer kamen und stahlen von den Menschen Geld und Segenssteine. Alle, die den Angriff überlebt hatten, töteten sie noch an Ort und Stelle. Keith war währenddessen auf der Toilette von Trümmern begraben. Als er sich schwer verletzt befreit hatte und in den Speisesaal zurückgekommen war, war seine Familie längst tot gewesen. 22 Menschen verloren damals ihr Leben. So viele Menschen wurden einfach so aus ihrer Existenz gerissen. McSullen hat nur durch einen blöden Zufall überlebt. Er flüchtete damals einfach vom Tatort und wankte einige Tage ruhelos durch die Stadt. Das war auch der Zeitpunkt, an dem er den Überfall auf meine Familie mitbekommen hatte. Damals, als er mich vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, hat er beschlossen, diesen Kerlen den Krieg zu erklären. Darum ist er heute so, wie er ist. Und jetzt hat er hier Freunde und …“

Als ob plötzlich kein einziger Muskel mehr in meinem Nacken wäre, sackte mein Kopf nach vorne und ich starrte nichtssehend auf den dreckigen Betonboden unter mir. Ich verstand plötzlich, warum McSullen so handelte, wie er es tat.

„Er hat schon einmal seine Familie verloren, weil er sie nicht beschützen konnte, und er will das nicht noch mal durchmachen müssen …“ Meine Stimme klang gepresst und obwohl ich sehr leise sprach, war sie in der unheimlichen Stille dieser Nacht erdrückend laut. Ja, ich verstand, warum McSullen das Risiko eines Angriffs nicht eingehen wollte. Er hatte Angst diejenigen, die ihm nun ein Zuhause gaben, ungeschützt zurückzulassen. Selbst Jaden, den er lange Zeit wie einen Sohn behandelt hatte, hätte er dafür aufgegeben. Er stellte nun das Allgemeinwohl über das einzelner Menschen.

Doch das war nicht richtig! So würde dieser Schrecken nie ein Ende finden! So würden immer mehr Menschen leiden müssen und nie wieder in Frieden leben können!

 

Das ich aufgestanden war, bemerkte ich erst, als ich aus nächster Nähe in die verdutzen Gesichter der beiden Anwesenden sehen konnte.

„Ich verstehe, warum er so handelt, aber ich bin auch gerade dabei meine Familie zu verlieren! Meine Eltern sind alles, was ich noch habe! Meinen Bruder konnte ich nicht retten, obwohl ich ihm in das eisige Flusswasser hinterher gesprungen bin! Ich hatte seinen Arm zu fassen bekommen, doch konnte ihn nicht festhalten! Ich wurde gerettet, mein kleiner Bruder jedoch …“ Ich schluckte schwer. „Ich werde nicht noch einmal zusehen, wie ein geliebter Mensch stirbt! Sie wollen mich, nicht meine Eltern! Sonst hätten die sich nicht die Mühe gemacht, mich aus der Basis ihrer Feinde entführen zu wollen! Sie wollen mich! Nein, besser gesagt, meinen Seelenstein …“ Meine Hand verkrampfte sich vor meiner Brust. An der Stelle, an der er hing. Ich spürte ihn durch den dünnen Stoff meiner Kleidung hindurch. „Aber ich … bin keine Heldin. Ich bin schwach und ängstlich. Am liebsten würde ich zurück in mein Zimmer gehen, mich unter der Bettdecke verkriechen und nie wieder herauskommen. Was soll ich denn bloß ausrichten? Ich kann ihnen nicht helfen, auch wenn ich es so gern tun würde. Ich will loslaufen, doch meine Beine sind schwerer als Blei. Ich will jeden einzelnen dieser Männer ins Gesicht schlagen, doch meine Arme sind so taub, als gehörten sie nicht zu meinem Körper. Ich möchte ihre Namen rufen, meinen Eltern sagen, dass alles gut wird, doch ich bekomme keinen Ton heraus …“

Die Schwerkraft riss plötzlich so stark an mir, dass ich aufhörte mich dagegen zu wehren und sackte auf dem harten Boden zusammen. Die Kälte fraß sich gleich durch den dünnen Stoff bis zu meiner Haut und lief mich am ganzen Körper erschaudern.

Was sollte ich denn tun? Es war purer Zufall, riesiges Glück und das Werk von anderen, dass ich überhaupt so lange überlebt hatte! Ich konnte nicht kämpfen. Ich war keine Heldin.

 

„Du weißt aber schon, dass Helden immer gute Freunde an ihrer Seite haben, die ihnen, egal was auch passiert, zur Hilfe eilen, oder?“ Es war so lange ruhig gewesen, dass ich ein wenig zusammenzuckte, als Adelios Stimme ganz nah bei mir erklang. Ich hob meinen Kopf und blickte ihm direkt in sein Gesicht. Das kleine Lächeln, das auf seinen Lippen lag, ließ mich stutzen. Er kniete nun vor mir auf dem Boden und sah mich aus ruhigen Augen an.

„Lina, wir können dir helfen! Es ist noch nicht zu spät deine Eltern zu retten! Gib die Hoffnung nicht auf, hörst du? Auch ich habe, seit ich hier bin, schon viele meiner Freunde sterben sehen. Menschen, die mich jahrelang begleitet hatten, und mir wichtiger waren, als meine eigene Familie, waren plötzlich einfach nicht mehr da. Das Blutvergießen muss endlich aufhören! Und jetzt, wo wir so kurz vorm Ziel sind, werden wir nicht einfach aufgeben, verstanden?“

Ich konnte ihn nur perplex anstarren. Seine Worte schienen sich in meine Seele zu brennen. Aufgeben? War ich wirklich gerade dabei das Leben meiner Eltern einfach aufzugeben?

„Die wandelnden Spaghetti haben recht, Prinzesschen. Wir sind auch noch da. Wir können auch ohne McSullen und die anderen etwas ausrichten.“ Mein Blick streifte Jadens Gesicht, das im Licht der Handylampe Weiß hervorstach. Die Trauer war aus seinen Zügen gewichen und eine Entschlossenheit war an dessen Stelle getreten, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Doch auch seine Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen. Aber das war keine Freude, die sich dort zeigte. Das war der unbändige Kampfgeist, der in ihm brodelte.

„Nenn mich nicht Spaghetti, Rotschopf“, zischte Adelio aus dem Mundwinkel und ich hätte beinahe grinsen müssen. Wahrscheinlich hätte ich das auch getan, wenn nicht noch immer Tränen in meinen Augen gestanden wären. „Geh wen anders nerven. Ich versuche Linchen grade aufzumuntern.“

„Oh, oh, oh. Ich merke, wenn ich nicht erwünscht bin“, sagte Jaden und das Grinsen wurde breiter. Jetzt hatte er wieder diesen so vertrauten Charme … Jung und arrogant. Das war der Jaden, wie ich ihn kennengelernt hatte.

„Dann verzieh dich auch.“

„Wieso denn? Willst du ihr jetzt grade deine Zuneigung gestehen?“ Ich zuckte zusammen und Blut erhitze meine eben noch eisigen Wangen. Ich war zu perplex, um ihn zu fragen, was dieser blöde Spruch jetzt sollte.

„Ja, genau das.“

 

Hatte mein Herz eigentlich zwischenzeitlich schon wieder geschlagen, oder war es immer noch so still da drin? Anhand Jadens ziemlich geschocktem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass ich mich grade nicht verhört hatte. Adelio bekam von der Reaktion des Rothaarigen nichts mit, denn sein Blick lag direkt auf mir. Ich tat währenddessen einfach gar nichts.   

„Lina, hör zu. Du bist mir wirklich sehr wichtig geworden. Ich verstehe deine Angst und ich verspreche dir, dass ich auf dich aufpassen werde, okay? Ich werde deine Eltern da rausholen und den Typen ein für alle Mal den Harn abdrehen! Dann brauchst du nie wieder zu leiden, das verspreche ich dir.“ Ich war zu verwirrt, um überhaupt etwas zu denken, oder zu fühlen. Nur am Rande nahm ich wahr, dass mein Mund aufgeklappt war und mir plötzlich ganz heiß wurde. Was zum …?

Mein steifer Blick lag kurz auf dem Rothaarigen neben mir und ich bemerkte einen komplett neutralen Ausdruck in seinem Gesicht. Plötzlich fühlte ich mich unwohl. So … emotionslos und steif hatte ich ihn noch nie gesehen. Bevor ich irgendetwas tun konnte, fuhr Adelio fort.

„Es gibt da etwas, was ich dir schon lange einmal zeigen wollte. Doch die Gelegenheit hat sich nie wirklich ergeben.“ Der Braunhaarige erhob sich und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Er öffnete langsam den Verschluss seiner grauen Weste und ich konnte mich gerade noch davon abhalten aufzuspringen und panisch wegzurennen. Es dauerte einige lange Momente, ehe ich begriff, was genau er da tat. Mir stockte der Atem.

„Das … Das ist doch …?!“, stotterte ich und mein Körper verkrampfte.

„Wir beide sind uns ähnlicher, als du denkst.“

Ich hörte das Lächeln aus seiner Stimme heraus, doch ich konnte meinen Blick nicht von seiner Gürtelschnalle nehmen. Dort, in der viereckigen, versilberten Schnalle, die mit einigen silberfarbenen Ranken verziert war, prangte in der Mitte ein zitronengelber Stein, dessen Facetten selbst im schwachen Licht der Sterne so hell funkelten, dass sie mich beinahe blendeten. Die markante Form ließ sofort auf die Art des Steins schließen. Es war das erste Mal, dass ich einen anderen außer meinem eigenen sah. Einen Diamanten.

„Der ist zwar lange nicht so wertvoll wie deiner“, meinte Adelio dann, „aber zumindest stimmt die Art.“ Er lachte.

Ich öffnete für einen Moment meinen Mund, doch es kam kein Ton heraus. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.

Bevor ich jedoch meine Sprache wieder finden konnte, ließ mich das Geräusch eines lauten Knalls zusammenzucken. Direkt neben mir war nun genau dort eine kleine Delle in der Metallwand, wo Jaden eben einen Stein gegengetreten hatte.

„Es ist zwar wirklich süß euch beiden hier zuzusehen, aber darf ich euch daran erinnern, dass wir etwas Wichtiges zu tun haben? Ihr könnt später weiter turteln.“ Obwohl sein Gesicht noch immer keine Gefühle verriet, war mir so, als wäre in seiner Stimme neben der offensichtlichen Ungeduld auch eine Spur Wut mitgeschwungen. Aber ich konnte mich auch geirrt haben. Ich war mir in diesem Augenblick mit gar nichts mehr sicher.

Wieso tat dann plötzlich meine Brust so weh?

 

Adelio warf seinem Freund einen sehr finsteren Blick zu, was dieser aber gar nicht bemerkte, da er sich bereits abgewandt hatte. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen lief er zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

„Mistkerl“, murmelte der Braunhaarige so leise, dass das wahrscheinlich nicht für meine Ohren gedacht war. Doch bei dieser Totenstille war es nicht zu überhören gewesen. „Okay, dann lass uns losgehen. Wir werden das schon irgendwie schaffen, glaub mir!“ Sein Lächeln stimmte mich tatsächlich etwas zuversichtlicher, aber die Hand, die er mir anbot, schlug ich aus.

„Ich komme gleich nach“, sagte ich bloß und hoffte, dass er den Sinn hinter meinen Worten verstand. Und tatsächlich nickte er mir kurz zu, stand auf und lief Jaden hinterher.

 

Und plötzlich war ich wieder alleine.

Ich spürte, wie mein Herz unangenehm gegen meinen Brustkorb schlug. Den Rest von mir hingegen nahm ich kaum wahr. Es vergingen einige Sekunden, in denen ich mich nur auf meinen Atem konzentrierte, um das Klingeln in meinen Ohren zum Schweigen zu bringen. Die Tränen waren versiegt, doch meine Augen brannten. Auch das Wegwischen der letzten Flüssigkeit, verbannte nicht dieses klamme Gefühl von meinen Wangen. Meine Hände zitterten, als ich mir vorsichtig durch das Haar ging, um es zu ordnen.

Ich verstand nicht, was die letzten Stunden geschehen war. Für mich war das, was in meinem Kopf war, keine Erinnerung, sondern nur Szenen, die ich in einem schlechten Low-Budget-Actionfilm gesehen hatte. Ich verband das alles nicht mit mir. So etwas konnte mir gar nicht passiert sein!

 

Doch die Zweifel waren weg. Sorgsam im hintersten Teil meines Kopfes eingeschlossen. Dort, wo sie nie wieder hervorkommen sollten.

Ja, das Ganze war ein Selbstmordkommando. Jeder, den ich kannte, hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mich gefragt, ob ich noch ganz dicht sei. Und mir war bewusst, dass sie damit absolut recht hatten.

Trotzdem war dies meine einige Chance. Sie hatten meine Eltern in ihrer Gewalt und drohten, ihnen etwas anzutun. Wenn ich jetzt nicht handelte, wären sie so gut wie tot. Ich würde sie nie wieder sehen. Damals hatte ich versucht meinen Bruder zu retten, doch es war mir nicht gelungen, weil ich einfach noch zu klein gewesen war. Vielleicht war dies meine letzte Chance es wieder gut zu machen. Vielleicht konnte ich wenigstens sie retten. Und selbst wenn ich bei dem Versuch sterben würde, wüsste ich, dass ich alles, was ich hatte, gegeben habe.

Auf McSullen konnte ich nicht zählen. Ich hatte nicht viele Freunde, die mir bei dieser Aktion helfen konnten. Doch die, die mitkommen würden, hatten ihre eigenen Gründe dafür. Gründe, diesem sinnlosen Massaker ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.

Unser Ziel war edel. Doch ob uns diese selbstsüchtige Handlung verziehen wird, würden wir vielleicht nie erfahren …

 

Als ich die beiden wieder traf, standen sie etwas seitlich des Maschendrahtzauns, durch den ich eben noch geschlüpft war. Ihr Gespräch verstummte, als sie mein Näherkommen bemerkten.

„Ich bin fertig mit Heulen. Wir können los“, meinte ich so selbstsicher und zickig wie möglich. Die beiden sollten ruhig merken, dass ich auf dieses Thema nicht angesprochen werden wollte. Das würde auf beiden Seiten viel Ärger ersparen.

Im Moment musste ich so tun, als wäre ich stark. So, als könnte ich die Dinge schaffen, die ich mir vorgenommen hatte. Ob das eine Lüge war, oder doch der Wahrheit entsprach, würde ich erst noch feststellen müssen. Doch im Moment wollte ich diese Tatsache erst einmal so gut es ging verdrängen. Ich hätte vor Erleichterung beinahe aufgeseufzt, als Jaden tatsächlich darauf einging.

„Ich weiß, wie wir dorthin kommen. Wir müssen zwar vorsichtig sein, damit niemand uns entdeckt, aber sobald wir hier raus sind, nehmen wir eins der Autos.“ Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Adelio mir einen seltsamen Blick zuwarf, doch ich wagte es nicht ihn direkt anzusehen und zum Glück beließ er es zunächst dabei.

„Ein Auto? Und wie bitte soll das funktionieren? Du weißt schon, dass jede einzelne Fahrt erst von McSullen genehmigt werden muss, oder?“ Doch Jaden ließ sich von Adelios Einwand nicht beeindrucken. Er grinste ihm sogar direkt ins Gesicht.

„Tja, ich bin eben gut vorbereitet. Ich habe mir schon vor einiger Zeit heimlich in der Stadt einen Ersatzschlüssel für einen der Wagen anfertigen lassen. So kann ich ihn mir Mal ohne betteln ausleihen“, lächelte der Rothaarige und zog einen kleinen, schwarz/silbernen Gegenstand aus seiner Hosentasche.

„Nicht dumm, Davis, nicht dumm. Das muss ich wirklich zugeben.“ Adelio nickte ihm zu. Nicht ohne ein wenig Bewunderung für die gute Idee mit in diese Geste zu legen.

„Aber wie kommen wir zu dem Auto hin? Sind nicht überall Wachen aufgestellt?“, wandte ich ein. McSullen hatte grade noch rumgeprahlt, die Wachen um ein Vielfaches zu erhöhen! Und jetzt, da die Beerdigung schon seit Stunden vorbei war, würden diese garantiert ihre Posten bezogen haben! Wir hatten es damals nur mit Mühe, Not und ganz viel Glück geschafft, ungesehen abzuhauen und da war es noch deutlich einfacher gewesen!

„Das sollte nicht das Problem sein. Ich kenne von meinen eigenen Schichten einen toten Winkel zwischen zwei der Gebäude. Da werden wir bestimmt durchschlüpfen können.“ Jadens Blick wurde starr und ich vermutete, dass er schon alles vor seinem geistigen Auge sah.

„Toter Winkel? Sollten die anderen davon nicht erfahren, bevor einer unserer Feinde diesen auch entdeckt?“, äußerte Adelio den Gedanken, der auch in meinem Kopf rumspukte.

„Nein, nicht zwingend. Von außen lässt der sich nicht so leicht ausnutzen.“ Er schüttelte den Kopf. Seine kupferroten Haare wirkten im schwachen Licht noch heller als sonst. „Kommt einfach mit und vertraut mir, dann werdet ihr schon sehen.“

 

Meine Gedanken waren ganz weit weg. Ich achtete kaum darauf, wohin wir gingen, wohinter wir uns versteckten oder durch welchen Spalt wir uns zwängten. Hätten Adelio und Jaden mich nicht das eine oder andere Mal zurückgezogen, wäre ich bestimmt der einen oder anderen Wache direkt vor die Füße gelaufen und hätte uns längst auffliegen lassen. Tatsächlich bemerkten wir an jeder Ecke Wachposten. Die Waffen in ihren Händen schienen meinen Blick wie Signalfeuer auf sich zu lenken. Meine Glieder wurden schwer, als ich an diese Momente dachte, als der Lauf einer Pistole direkt auf mich gerichtet gewesen war. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass das tatsächlich schon mehrmals passiert war.

Ich versuchte wirklich, mich zusammenzureißen, doch es fiel mir unglaublich schwer. Alles in meinem Kopf war so dickflüssig wie diese Smoothies, die es gerade an jeder Ecke zu kaufen gab. Zäh krochen Worte und Gedanken durch mich hindurch, ohne irgendetwas Sinnvolles zu ergeben.

Was sollten wir bloß tun? Was konnten wir drei gegen eine Bande von Verbrechern ausrichten? Und wie sollten wir sie erst einmal finden? Was würden die Koordinaten uns zeigen? So viele Fragen und auf keine gab es eine Antwort. Wir liefen blind in einen dichten Nebel ohne die Richtung und das Ziel zu kennen …

 

Es dauerte nicht lange, ehe wir durch den blinden Fleck ungesehen das Bergwerksgelände verlassen hatten und uns nun im Schutz des Waldes bewegten. Der Himmel über den Baumwipfeln hatte schon das gewohnte Hellblau des herangebrochenen Tages angenommen. Die Wolken der letzten Nacht hatten sich größtenteils in harmlose Dunstschleier verwandelt und ließen das warme Licht der Sommersonne ungehindert durch. Die Blätter an den Bäumen leuchteten in einem frischen Hellgrün, wo die Strahlen sie berührten. Tatsächlich schien es an diesem Tag angenehm warm statt unglaublich heiß zu werden. Die Hitzewelle war wohl erst einmal vorüber.

 

Wir sagten kein Wort, als wir uns durch das dichte Buschwerk schlugen. Die Vögel um uns herum sangen friedlich ihre Lieder und kleine Hasen huschten pfeilschnell durch das Dickicht. Ich bildete mir sogar ein, Eichhörnchen direkt über uns auf einem Ast balancieren zu sehen.

Ich konzentrierte mich auf die beruhigende Atmosphäre des Waldes, atmete den frischen Duft der Natur ein und blendete alles andere völlig aus. Meine Gedanken sollten sich überhaupt nicht auf das Kommende fixieren. Ich war nicht allein. Bei mir waren zwei Menschen, denen ich vertraute. Das war alles, woran ich denken wollte. Ich sah die Bäume, die Büsche und erfreute mich an den kleinen, weißen Blumen, die hier und da den belaubten und vermoosten Waldboden zierten. Wie kleine, helle Inseln überstrahlten sie die Braun-, Grün- und Grautöne der Landschaft und zogen mich völlig in ihren Bann.

Und so bemerkte ich auch nicht, dass wir bereits an unserem Ziel angekommen waren. Ich konnte dem stehengebliebenen Adelio gerade noch ausweichen und stolperte deshalb beinahe über eine aus der Erde herausragende Baumwurzel. Er hatte angehalten und beobachtete, wie Jaden auf einem Seitenstreifen eines Forstwegs ein dunkelgrünes Auto unter zahlreichen Ästen und einer Plane hervor holte. In wenigen Minuten würden wir den Schutz des Waldes aufgeben und zurück in die Stadt gehen. Ein neuer Geschichtsabschnitt, von dem wir das Ende nicht kannten.

 

„Wenn ihr geht, werden wir mitkommen.“ Ich schrak so heftig zusammen, dass ich unbewusst ein paar Schritte rückwärts sprang. Die anderen reagierten schneller und wandten sich direkt in die Richtung um, aus der wir die Stimme vernommen hatten. Ungläubig starrte ich auf die beiden Figuren, die gerade hinter dem Stamm eines großen Nadelbaumes hervortraten.

„Verdammt! Was soll das? Was macht ihr beide hier?“, zischte der Braunhaarige, als er die beiden Gestalten erkannt hatte. Das erste Mal, seit ich hier in diesem Albtraum gefangen war, sah ich die beiden einfach so, wie sie wirklich waren. Ohne jeden Gedanken an das, was passiert war.

Seine blauen Augen funkelten zwischen den wild abstehenden, blonden Haaren. Sein etwas molliger Bauch – der mir bei unserem letzten Treffen gar nicht aufgefallen war - zeichnete sich unter dem hellblauen T-Shirt ab. Die schwarze Jeans bildete einen starken Kontrast zu dem Oberteil. Auf seiner hellen Haut zeichneten sich erste Schweißperlen ab.

Die Frau neben ihm, die ihre dunkelblonden, mittellangen Haare im Nacken zu zwei Zöpfen gebunden hatte, hatte ihren Pullover bereits ausgezogen und um die Hüfte gebunden, sodass sie nur ein Tank-Top trug. Unter dem kurzen Jeansrock hatte sie knielange, schwarze Leggins gezogen. Ihre braunen Augen passten farblich zu ihrem dunklen Teint. Der scharfe Ausdruck in ihren Augen, der uns durch die blaue, dick umrandete Brille musterte, beeindruckte mich.

„Emily. Sebastian.“, hauchte ich tonlos.

„Wir haben euch wegschleichen gesehen. Uns war sofort klar, dass ihr etwas Großes vorhabt. Und wir wollen dabei sein.“

„Seid ihr jetzt auch komplett verrückt geworden? Das wird kein Angelausflug! Ihr wisst schon, dass ihr dabei draufgehen könntet?“ Adelios Stimme schwoll an, als er seine beiden Freunde zurechtwies. Dass er gute fünf Jahre jünger war, als seine Gegenüber, schien ihn im Moment ziemlich wenig zu interessieren.

„Natürlich wissen wir das. Wir sind nicht blöd“, gab Emily zickig zurück und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Dann verstehe ich euch erst recht nicht! Warum wollt ihr dann euren Hintern riskieren? Das macht die ganze Situation in keiner Weise besser!“

 

„Anstatt euch da so anzukeifen, solltet ihr lieber zusehen, dass ihr endlich einsteigt.“ Noch ehe Adelio seine Tirade fortführen konnte, mischte sich Jaden in das Gespräch ein. Gelangweilt und ein wenig genervt stand er vor der mittlerweile geöffneten Fahrertür des Wagens und sah zu uns hinüber. Als er bemerkte, dass er unsere Aufmerksamkeit hatte, stieg er ein und startete den Motor. Zeitgleich verschwanden beide Fenster mit einem mechanischen Surren im vorderen Bereich innerhalb der Türen.

„Was soll denn das?“, nahm Adelio den Faden wieder auf, richtete seine Worte aber diesmal an den Rothaarigen. „Jetzt willst du die beiden auch noch mitnehmen? Ich wusste ja schon immer, dass du spinnst, aber ich dachte, du hättest noch ein bisschen Grips unter deinen tomatenroten Haaren.“ Der Angesprochene zuckte lediglich mit seinen Schultern.

„Willst du die beiden etwa zurückschicken und uns so auffliegen lassen? Wenn sie mitkommen wollen, sollen sie das eben tun. Ich bin mir sicher, Emily und Sebastian wissen genau, worauf sie sich einlassen.“ Eine seiner Hände hing relaxt aus dem geöffneten Fenster. „Wer mitkommen will, soll jetzt einsteigen, sonst fahre ich alleine!“

 

Die anschließende Stille, die sich über unsere kleine Gruppe legte, wirkte leicht drückend. Adelio schien noch zu überlegen, was er nun tun sollte. Das war nicht zuletzt an seinem Mund zu erkennen, den er immer wieder öffnete, um ihn dann doch ohne ein Wort zu sagen wieder zu schließen. Die anderen beiden hingegen schienen leicht geschockt, aber gleichzeitig auch positiv überrascht zu sein. Sie schienen mit so einer Reaktion nicht gerechnet zu haben. Wahrscheinlich waren sie davon ausgegangen, deutlich mehr Überzeugungsarbeit leisten zu müssen.

Doch merkwürdigerweise sah ich es genau wie Jaden. Die beiden würden die Anlage nicht unbemerkt wieder betreten können, weshalb wir eine gute Ausrede bräuchten. Und ich konnte besonders Emily gut verstehen. Diese Menschen hatten ihren Freund auf dem Gewissen. Ich würde mich wahrscheinlich auch so entscheiden …

 

Ohne ein Wort zu sagen, lief ich ebenfalls zu dem Auto hinüber und öffnete die Beifahrertür. Ich sah Jaden nicht an, als ich den Gurt in seiner Halterung befestigte und noch bevor ich fertig war, öffneten sich die beiden hinteren Türen. Durch den Außenspiegel erkannte ich zwei blonde Haarschöpfe, die sich hinter mir bewegten. Als alle sich hingesetzt hatten, blieb es einen Moment komplett ruhig und ich bekam Angst, dass Adelio es sich nun anders überlegen würde, doch bevor ich mir etwas zurechtlegen konnte, wie ich ihn am besten überzeugen könnte, öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und der Braunhaarige stieg ein.

„Macht doch was ihr wollt“, grummelte dieser leise und ich bildete mir ein aus den Augenwinkeln heraus ein Lächeln auf Jadens Gesicht erkennen zu können.

 

Schon sehr bald würde es sich entscheiden, ob wir nur Träumer mit einem schönen aber dummen Verständnis von Gerechtigkeit waren, oder tatsächlich etwas erreichen und diesen geheimen Krieg endlich beenden konnten.

Die Frage würde nur sein: Wie groß war das Opfer, das wir dafür bringen mussten?

Klischee

Dass dieses Hotel definitiv nicht in meinem Budgetrahmen lag, sah ich nicht erst auf den zweiten Blick. Schon, als wir das erste Mal die Straße entlanggefahren waren – auf der verzweifelten Suche nach einem Parkplatz in der Nähe – hatte mich die schiere Pracht dieses Gebäudes schlichtweg umgehauen.

Natürlich hatte ich die Fassade dieses Hotels bereits vorher schon einmal gesehen. Schon oft wurde über dieses wunderschöne Etablissement in den Zeitungen oder sogar dem Fernsehen berichtet, doch dies war das erste Mal, dass ich ihm direkt gegenüber stand. Nur die vier Fahrbahnstreifen und der hübsch zurechtgemachte und begrünte Mittelstreifen trennten uns noch von unserem Ziel. Bisher hatte es jedoch niemand gewagt das Auto zu verlassen. In Ehrfurcht scannten wir jeden Winkel dieses Prachtbaus mit unseren Augen.

 

Wie bei einem Palast säumten die drei steinernen Rundbögen die gläsernen Eingangstüren. Beleuchtet aus hunderten Lichtern (selbst jetzt bei Tag) ragten die fünf Stockwerke empor, die wie pures Silber glitzerten. Stuck, Ornamente und zahllose Verzierungen säumten jeden Millimeter der Außenfassade und verliehen dem Hotel das Aussehen eines antiken Märchenschlosses. Engelsfiguren, reich verzierte Gesichter, tapfere Ritter auf ihren getreuen Pferden. Ich konnte mich kaum satt sehen und suchte begierig nach weiteren Kleinigkeiten, die ich bisher noch nicht hatte entdecken können.

Doch all das wurde noch gekrönt von den drei majestätisch emporragenden Spitzen, die das eigentliche Gebäude noch bis zu 20 Meter überragten. Sie wirkten wie antike Kirchtürme, deren weiße Farbe mit dem hellblauen Himmel zu verschmelzen schienen.

Es war einfach unglaublich schön.

 

„Das sieht verdammt teuer aus.“ Adelio war der erste, der nach etlichen Minuten seine Sprache wiederfand. Ich konnte nicht anders als zustimmend nicken.

„Da wollen wir wirklich rein? Und wie zum Teufel sollen wir das anstellen? Es ist ja nicht so, als ob wir zum alltäglichen Kundenkreis dieses Hauses gehören und mit offenen Armen empfangen werden würden!“ Es war nicht direkt Wut, die sich in Emilys Stimme schlich, sondern Verzweiflung. Und ich ahnte, was sie dachte: War das hier schon das Ende unserer Reise? Waren wir nur bis hier gekommen, um jetzt zu scheitern?

„Die Koordinaten auf dem Brief zeigen genau auf diese Stelle. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Hotel gemeint ist.“ Jaden, der halb auf dem Lenkrad lehnte, um durch die Frontscheibe zur Seite sehen zu können, hatte wieder diesen tief in Gedanken versunkenen Blick aufgesetzt. Er schien schon fieberhaft nach einer Lösung für unser aktuelles Problem zu suchen.

„Koordinaten?“ Natürlich. Die beiden wussten nichts von dem Brief. Sie waren uns bloß blind gefolgt.

„Nicht so wichtig“, wiegelte der Rothaarige die Frage ab und Emily hakte nicht weiter nach. Vorerst, zumindest.

 

Menschen liefen an dem Gebäude vorbei, nicht ohne einen staunenden Blick darauf zu werfen. Die Bediensteten, die bei der Anreise der erlesenen Gäste sofort die Türen des Wagens öffnen würden, ließen sich davon jedoch nicht stören. Wahrscheinlich hatten sie lange trainieren müssen, bis sie diese starre und doch professionelle Haltung so gut beherrschten.

Das wäre ein Job, dem ich sicherlich nicht gewachsen gewesen wäre.

 

Gerade, als ich einen blonden Bediensteten in seiner aus rotem Samt genähten Arbeitskleidung beobachtete, fiel mir ein kleines Schild ins Auge. Zuerst hatte ich es übersehen, da es zwischen zwei großen Pflanzkübeln beinahe unterzugehen schien, aber nun hatte es meine volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Um besser sehen zu können, ließ ich das Seitenfenster neben mir unter dem leisen Summen des Motors hinuntersausen, und wagte es, meinen Kopf ein wenig weiter vorzustrecken. Natürlich achtete ich darauf, mich nicht zu sehr rauszulehnen, weil die schnell vorbeifahrenden Autos, Busse und LKWs mir im schlimmsten Fall den Kopf abrasiert hätten. Etwas, was ich gerne vermieden hätte.

 

„Heute Abend: Ball zu Ehren des 15-jährigen Jubiläums des ‚Lifetime Palace‘. Beginn 19 Uhr. Ballsaal Süd.“

„Ein Ball? Heute?“ Ich bemerkte erst, dass ich das Schild laut vorgelesen haben musste, als Sebastian die Worte darauf widerholte. „Dann sind noch mehr Menschen anwesend, als sowieso schon! Wir haben keine Chance uns dort ungesehen reinzuschleichen!“ Der Blonde auf der Rückbank klang gequält, beinahe schon leidend, als er seine Gedanken laut zusammenfasste. So, als würde ihm das Denken starke Kopfschmerzen bereiten. Ich gab mir große Mühe nicht in sein Wehklagen mit einzustimmen.

„Wer sagt denn, dass uns niemand sehen darf?“ Obwohl ich ihn in diesem Moment nicht angesehen hatte, konnte ich das Grinsen in Jadens Worten problemlos heraushören. Ich wandte meinen Blick von dem Gebäude ab und war nicht verwundert, als ich meine Vermutung bestätigt sah.

„Bist du jetzt total verrückt geworden? Denkst du, die lassen uns da einfach so zum Gucken reinspazieren? Die werden uns zum Teufel jagen!“ Doch Jaden antwortete nicht auf Emilys Einwand. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde hingegen noch breiter.

„Du willst also, dass wir uns auf die Party schleichen?“ Der Rothaarige warf dem jungen Mann hinter ihm einen Blick durch den Rückspiegel zu. „Das wird aber auch kein Spaziergang. Wir sind nicht gerade die Gruppe von Menschen, die ohne Einladung auf eine Jubiläumsfeier eines Fünf-Sterne-Hotels kommt.“ Mein rebellierender Magen gab Adelio scheinbar recht. Aber ich wusste auch, dass Jaden sich da bestimmt schon etwas zurechtgelegt hatte.

„Dann werden wir wohl erst mal shoppen gehen müssen!“

 

.

 

„Wären wir in einem Actionfilm, wären wir wohl jetzt beim Teil mit dem Fanservice angekommen.“ Adelio lachte laut über seinen Witz. „Immerhin darf in keinem guten Agentenfilm die Szene fehlen, in der sich der Held und die Heldin verkleidet auf eine Party einschleusen müssen. Als Liebhaber der alten Schinken und regelmäßiger Kinogänger wäre ich sonst wirklich enttäuscht.“

„Genauso hab ich dich auch eingeschätzt, Di Lauro. Zu dumm nur, dass es bloß einen Hauptcharakter geben kann.“ Adelio schnaubte, als er Jadens neckendem Tonfall ausgesetzt war.

„Ich muss wirklich zugeben, dass ich auch ziemlich gerne einen dieser sauteuren Designeranzüge in meinem Schrank hängen haben würde. Wieso also hast du jetzt diesen Fummel an deinem knochigen Hintern und nicht ich?“

„Ganz einfach: Ich bin der im Außendienst Erfahrenere von uns beiden. Und ich habe das komplette Vermögen meiner Eltern unserer Sache gestiftet, als ich es noch konnte. Also gehört der sauteure Fummel an meine Knochen. Du würdest sowieso nur Tomatensoße drauf kleckern.“

„Könntet ihr beide auch mal aufhören mit dem albernen Gezanke?“ Sebastians Stimme erklang, bevor der Halbitaliener zum Gegenschlag ausholen konnte, und wirkte dabei längst nicht so gelassen, wie seine beiden Freunde es taten. Im Gegenteil. „Wir stehen kurz vor einem Einbruch, der uns im schlimmsten Fall direkt in die Arme unserer Feinde laufen lässt! Ich finde ihr solltet euch auch dementsprechend benehmen!“

Ein dumpfer Schlag ertönte, gefolgt von einem leisen „Au!“.

„Seb. Wir wissen wie ernst die Lage ist. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir hier alle so Trübsal blasen müssen, wie du es tust. Das hilft uns nämlich auch nur wenig weiter.“ Adelio räusperte sich. „Wir schicken gleich unsere zwei Profigeheimagenten da rein und in Null Komma Nichts ist die Sache hier erledigt“, meinte er voller Zuversicht. Nicht der geringste Zweifel schwang in seinen Worten mit.

 

„Wenn hier Profis am Werk sein sollen, dann frage ich mich wirklich, warum gerade ich hier in diesem unbequemen Ding stecke!“ Die Blicke der Jungs waren sofort auf uns gerichtet, als Emily und ich aus unserem improvisierten Umkleidezimmer (was aus nichts weiter, als einem alten, verdreckten öffentlichen Klohäuschen bestand) traten. Ich sah sofort den Ausdruck in ihren Augen und wusste auch, was sie dort sahen.

Denn ich hatte selbst kaum glauben können, dass diese Frau da in diesem winzigen, schlecht beleuchteten Spiegel wirklich ich sein sollte. Kaum zu fassen, was ein wenig Makeup, ein unbezahlbares Kleid und die super geschickten Hände von Emily so alles anstellen konnten! (Selbst die zahlreichen Wunden, die ich nicht länger unter Pflastern und Verbänden verstecken konnte, hatte sie mit ihrem Puder beinahe unsichtbar gemacht! Ich war wirklich beeindruckt!)

 

Ich hatte diese asiatischen Kleider schon immer geliebt! Und als ich dieses Kunstwerk auf der Schaufensterpuppe gesehen hatte … Bodenlanger, nachthimmelblauer Stoff. Goldene und silberne Kirschblütenzweige rankten elegant an der rechten Seite empor. Ein reich verzierter Drache wand sich majestätisch durch die Muster hindurch und hatte mich mit seinen blutroten Edelstein-Augen sofort gefesselt.

Der eng anliegende Kragen umschmeichelte meinen Hals und bot ausreichend Platz um das goldene Herz mit meinem roten Diamanten tragen zu können (ich musste ihn mitnehmen, um zumindest ein wenig so zu tun, als ob ich viel Geld besäße), während die Ausschnitte auf beiden Seiten der Beine bis weit hinauf auf den Oberschenkel reichten, und mir trotz der silbernen Sandalen mit kleinem Absatz, Bewegungsfreiheit gewährten. Ich sah, wie meine blasse Haut zu dem dunklen Stoff einen starken Kontrast bot, der sich in meinen hochgesteckten, schwarzen Haaren fortsetzte.

Hier hatte Emily ein wahres Kunstwerk gezaubert. Meine langen Haare waren in einer eleganten und asiatisch angehauchten Hochsteckfrisur verschwunden. Goldene Haarnadeln mit dunkelblauen Verzierungen zierten das Geflecht und hielten es an seinem Platz. Einzelne silberne Kirschblüten funkelten geheimnisvoll an auserwählten Stellen auf dem schwarzen Meer aus seidenen Fäden.

Selbst das gedeckte Makeup wirkte nicht fremd an mir (obwohl ich mich sonst nur selten schminkte), sondern rundete das gesamte Outfit perfekt ab. Ich hatte kaum glauben können, was der Spiegel mir zeigte.

 

Und den starren Gesichtsausdrücken meiner Begleiter nach zu urteilen, schienen sie auch nicht so recht zu wissen, was sie von meinem Outfit halten sollten. Obwohl ich schon gute drei Minuten vor ihnen stand, hatte bisher niemand einen Ton gesagt. Ihre Blicke lagen still auf mir und keiner wagte es, sich zu rühren.

Ich spürte die Hitze in meinen Wangen aufsteigen und bekam langsam Panik. Sah ich doch schlechter aus, als ich dachte? War ich etwa zu sehr verkleidet und dadurch unnatürlich? Ich hatte mich eigentlich ganz wohl gefühlt, aber wenn es den anderen nicht gefiel, würde ich wohl doch lieber …

 

„Jetzt steht da nicht so blöd rum! Klappt eure Unterkiefer wieder hoch und sagt endlich, wie ihr es findet!“ Emilys Stimme neben mir ließ die Panik in meinem Inneren etwas abebben. Sie hatte immerhin auch gesagt, dass ihr mein Erscheinungsbild gefiele. Also konnte es doch so schlimm gar nicht sein, oder?

„Linchen? Bist du das wirklich?“ Wäre ich nicht so unfassbar nervös gewesen, hätte ich wahrscheinlich eine dumme Bemerkung zu seiner ebenfalls sinnlosen Äußerung gemacht. Wer sollte ich denn sonst sein? Aber mein Mund war so trocken, als hätte ich gerade einen Wüstenmarathon hinter mir. „Das ist ja der helle Wahnsinn! Jaden! Gib mir gefälligst den Anzug! Du und deine hässliche Visage vermindern bloß ihre pure Schönheit!“ Aus dem leichten Brennen auf meinen Wangen war bereits ein lodernder Brand geworden.

„Erst mal passt du Fettkloß hier überhaupt nicht rein und zweitens lasse ich mir die Gelegenheit, mich mit so einer wunderschönen Prinzessin auf einem Ball blicken zu lassen, doch nicht entgehen.“ Sagte ich Brand? Waldbrand würde wohl besser passen.

Das Lächeln, was nun auf Jadens Gesicht thronte, war anders als alle, die ich bisher bei ihm gesehen hatte. Es war so … voller Wärme und beinahe … Bewunderung. Ich hatte in diesem Moment wirklich das Gefühl, als wäre ich eine Prinzessin, die mit einem Prinzen zu einem wichtigen Schlossball gehen würde … Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

 

„Kommt, eure Hoheit“, meinte der Rothaarige dann und streckte seine Hand nach mir aus. Wie in Trance und ohne zu zögern ergriff ich sie. Dies war das erste Mal, dass ich ihn richtig wahrnahm. Er trug einen eleganten, schwarzen Anzug mit passenden Schuhen und dazu ein weißes Hemd. Ein dunkles Tuch, das in derselben Farbe wie mein Kleid gehalten war, zierte seine Brusttasche. Auch die dunkelblaue Krawatte war mit ihren goldenen Streifen perfekt auf mein Outfit abgestimmt. Seine roten Haare, die nun frisch geschnitten in Form gebracht waren (hatte das etwa Adelio übernommen?), bildeten einen starken, aber angenehmen Kontrast zu seiner restlichen Kleidung.

Ich hatte Jaden bisher nur in Jeans und lässigem T-Shirt gesehen und ihn nie für auffällig attraktiv gehalten. Aber verdammt. So, wie er gerade vor mir stand, sah unheimlich gut aus …!

„Auf geht‘s, Prinzessin.“

 

Die anderen ließen sich – wie geplant – zurückfallen. Ob der Plan, den wir uns schnell provisorisch zusammengeschustert hatten, wirklich funktionieren würde, hing nun ganz von Jaden und mir und unseren Überredungskünsten ab. Nur, wenn wir es schafften, dort hineinzukommen, hatten wir die Möglichkeit, der Botschaft des Professors nachzugehen und womöglich noch … meine Eltern zu retten.

Meine Beine kamen mir vor, als würde Wackelpudding statt Blut durch die Adern fließen. Ich war sowieso nicht besonders geübt darin, hochhackiges Schuhwerk zu tragen, aber unter diesen Umständen konnte man das, was ich tat, kaum noch als „Gehen“ bezeichnen. Da es sich so gehörte, hatte ich mich an Jadens Arm eingehakt, was sich nun als nützlich erwies. So konnte ich mich wenigstens etwas bei ihm abstützen.

„Das wird schon. Sei einfach so natürlich wie möglich“, hörte ich den Rothaarigen sagen, worauf ich bloß schnaubte.

„Natürlich bin ich natürlich.“ Schlechter Wortwitz. „Merkt man das nicht?“ Ich vermied es tunlichst ihn anzusehen und richtete meinen Blick starr nach vorn. Da die Sonne langsam hinter den Hochhäusern verschwand und der Himmel sich dunkler färbte, brannten bereits die ersten Straßenlaternen. Und die Außenbeleuchtung des Hotels war schon aus weiter Ferne zu erkennen gewesen (Und sie war schlicht unglaublich! Beinahe jeder Zentimeter der Fassade war in goldenes und silbernes Licht getaucht! Jedes Detail der zahllosen Verzierungen war prunkvoll in Szene gesetzt! Einfach wunderschön!) Jaden lachte.

„Doch, doch, du bist die Ruhe selbst. Und wenn du dich in deinem absolut natürlichen Verhalten schon so an andere Leute Arme festklammerst, dann will ich gar nicht wissen, was passiert, solltest du einmal nervös sein. Meine Finger spüre ich jedenfalls jetzt schon nicht mehr.“

Ich war zwar wirklich unheimlich nervös, aber diese Anspielung seinerseits brachte mich trotzdem fast auf die Palme. Doch um keinen Streit vom Zaun zu brechen, lockerte ich einfach meinen Griff etwas und schwieg schmollend. Den amüsierten Laut, der aus seiner Kehle drang, versuchte er vergeblich in einem Räuspern zu verstecken.

 

Wir näherten uns unaufhörlich dem Eingang zum Hotel. Überall tummelten sich Menschen in schicken Kleidern und sogar Paparazzi hatten sich vor einer, wahrscheinlich extra dafür errichteten, Fotowand versammelt, um die Berühmtheiten zu fotografieren.

Ich jedoch machte mir nicht die Mühe die Menschen zu beachten und herauszufinden, wer eigentlich wer war. Ich hatte keinen Kopf für irgendwelche Promis. Ich würde wahrscheinlich sowieso niemanden erkennen.

Dass die Fotowand ein wenig seitlich des Eingangs aufgebaut war, erwies sich als Glück für uns. Die meisten Angestellten und Security-Männer richteten ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Meute von Journalisten und ließen den Eingang beinahe unbewacht. Natürlich stand auch hier geschniegeltes Personal herum, aber so war die Anzahl derer, die wir von uns überzeugen mussten, deutlich geringer.

 

Doch noch ehe wir überhaupt in die Nähe der Tür kamen, wurden meine Hoffnungen jäh zerstört.

„Entschuldigung. Darf ich ihre Einladung sehen?“ Ein mittelalter Mann im schwarzen Anzug und breiten Schultern war zu uns herübergekommen, als er uns entdeckt hatte. Seine kurzen, schwarzen Haare waren mit reichlich Haargel feinsäuberlich nach hinten gekämmt worden, was ihn einige Jahre älter erscheinen ließ, als er eigentlich sein konnte. Wenn ich einen Ton rausgebracht hätte, hätte ich ihm für die nächste Veranstaltung von dieser Frisur abgeraten. So tat ich das, was Jaden mir vorher befohlen hatte: Klappe halten und hübsch lächeln.

„Wissen sie. Leider besitzen wir nicht direkt eine Einladung für ihre Veranstaltung. Da es aber äußerst wichtig für uns ist, hier Kontakte zu knüpfen, hatten meine Freundin und ich gehofft, dass sie dieses eine Mal eine Ausnahme machen könnten.“ Ich war ganz erstaunt, wie höflich und wohlerzogen Jaden wirken konnte. Er trug ein äußerst charmantes Lächeln auf den Lippen. Seine Haltung war grade und wirkte den Umständen entsprechend angemessen. Bei der Begrüßung hatte er sich sogar leicht verbeugt.

Doch den Türsteher schien das eher weniger zu beeindrucken.

„Es tut mir leid, mein Herr. Dies ist eine Veranstaltung für geladene Gäste. Ich bin nicht befugt jemanden ohne Einladung passieren zu lassen.“ Auch seine Haltung war stramm und vorbildlich, doch bei ihm wirkte das Ganze nicht so natürlich, wie bei Jaden.

„Das verstehe ich natürlich, aber diese Angelegenheit ist für uns von großer Wichtigkeit! Leider bin ich noch zu jung, um selber eine Einladung zu erhalten, aber meine verstorbenen Eltern – Gott habe sie selig – hatten mich oft auf derart Veranstaltung mitgenommen. Mein Vater, Polizeikommissar Jonathan Davis, besaß sogar einen Ehrenschlüssel der Stadt.“ Ehrenschlüssel der Stadt? Langsam wunderte ich mich wirklich nicht mehr, über die Charakterzüge des Rothaarigen. Sein Vater schien alles und noch mehr an ihn weitergegeben zu haben!

„Polizeikommissar Jonathan Davis war ein sehr guter Freund meines Vaters. Mein Beileid für ihren tragischen Verlust. Sein Ableben hatte auch mich tief erschüttert.“ Tatsächlich hatte sich ein wenig Traurigkeit in seine Miene geschlichen. Doch diese verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. „Doch das ändert leider nichts an der Tatsache, dass ich ihnen beiden hier keinen Zutritt gewähren darf. Bitte sein sie so freundlich und verlassen das Gelände.“

Eigentlich wollte ich ihn darauf hinweisen, dass dies noch ein öffentlicher Gehweg war und er uns von hier aus nicht vertreiben durfte, doch ich schluckte den Kommentar herunter und versuchte ihn mit einem Dackelblick zu überzeugen. Doch der Kerl beachtete mich überhaupt nicht.

 

„Ach, ein so reizendes, junges Paar, das die Welt der Diplomaten und Geschäftsleute kennenlernen möchte! Welch schöner Anblick!“ Ich zuckte zusammen, als ich dicht hinter mir eine laute Stimme hörte. Im nächsten Moment hatten sich scheinbar aus dem Nichts zwei ältere Herrschaften zu uns gesellt. Der korpulente, ältere Mann, dessen Glatze nur noch von einem kleinen Ring aus grauen Stoppelhaaren verziert wurde, trug einen weinroten Anzug und ein beigefarbenes Hemd. Die Anzugjacke musste er jedoch geöffnet lassen, da sein ausladender Bauch das Schließen anscheinend verhinderte.

Die Dame neben ihm musste – wie er – Mitte 50, Anfang 60 sein. Ihre weißgrauen Haare hatte sie zu einem strengen Dutt zusammengebunden, der so gar nicht zu ihren freundlichen Augen passte. Über dem apfelgrünen, knielangen Kleid trug sie ein weißes Jäckchen aus Spitze, welches die Art ihrer Schuhe wieder aufgriff.

Beide Gesichter zierte ein freundliches Lächeln und ich hätte schwören können, dass der Mann mir eben zugezwinkert hatte.

„Lord und Lady Gloucestershire. Es ist mir eine Freude sie wiederzusehen“, meinte der schwarzhaarige Mann und verbeugte sich tief vor den Anwesenden. Erst jetzt wurde mir klar, dass diese beiden wohl sehr bekannt waren und nur von unserer Seite aus das Hotel betreten wollten, um nicht durch das Blitzlichtgewitter gehen zu müssen.

„Haben sie vielen Dank, junger Mann. Ich freue mich sehr, einmal wieder Gast in ihrem bezaubernden Hotel zu sein! Aber ich bitte sie. Lassen sie die Kinder doch ruhig hineingehen.“ Ich war mir bewusst, dass mein Gesicht gerade nicht besonders ladylike aussehen konnte, aber ich war nicht in der Lage meinen Unterkiefer wieder zuzuklappen. Sein Blick wanderte genauestens über unsere Gesichter, doch ich wusste nicht, was er darin suchte. „Die beiden werden schon nichts anstellen, glauben sie mir. Sagen sie ihrem Chef einfach, sein alter Kumpel William hatte ihnen das erlaubt. Ich übernehme die volle Verantwortung.“

Einen kurzen Moment zögerte der Türsteher noch, doch dann sagte er das, womit ich nie im Leben gerechnet hätte.

„Sehr wohl, Lord Gloucestershire. Wie ihr wünscht.“ Das schallende Lachen des Lords erklang.

„Habt Dank, junger Freund!“ Dann wandte er sich an uns. „Kommt mit. Es wird Zeit für eine richtige Party!“

 

Der Lord und seine Frau betraten den auf dem Asphalt ausgerollten Teppich zuerst. Sie bestiegen die wenigen Stufen, um anschließend zwischen zwei randvoll mit weißen Rosen gefüllten Vasen durch die Glastür zu treten. Vier Bedienstete begrüßten sie augenblicklich mit einer Verbeugung.

Noch ehe ich in irgendeiner Weise reagieren konnte, zog Jaden schon an meinem Arm. So schnell wir (ich) konnten, folgten wir dem Ehepaar durch die Glastür und wurden ebenfalls freundlich von dem Personal begrüßt.

„Herzlich Willkommen! Es ist uns eine Freude sie bei uns begrüßen zu dürfen!“, sangen alle im Chor und ich nickte nur unbeholfen und ein wenig beschämt zurück. Der Anblick des Foyers hatte mir den Atem verschlagen. Ein Meer aus Lichtern und Farben empfing uns, als wir die riesige Halle betraten. Der Boden war aus feinstem Marmor. Weiße und rote quadratische Fliesen bildeten harmonische Muster, die sich über die komplette Fläche streckten. Die Decke war über und über mit weißem Stuck bedeckt. Ein gewaltiger Kronleuchter, der aus unzähligen glitzernden Kristallen bestand, hing direkt über unseren Köpfen.

Sehr imposant wirkte dazu noch die offene Empore, die sich u-förmig um uns herum erstreckte und entweder über die mit rotem Samtteppich ausgekleideten Treppen oder wahlweise mit den geräumigen Fahrstühlen direkt daneben zu erreichen war. Weiße Verzierungen und ein goldenes Geländer funkelten im Glanz der Lichter. Und überall standen Pflanzen in vergoldeten Vasen oder luden breite Ledersessel zum Verweilen ein.

Die Rezeption konnte ich im linken Teil der Halle erkennen und auf der anderen Seite tummelten sich bereits die reichen Gäste vor der großen, geöffneten Tür, die direkt zum Ballsaal führte. Leise klassische Musik und die Gespräche der Anwesenden erfüllten die nach Rosen riechende Luft.

 

Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, wie sich der Lord und seine Frau in die Nähe des Ballsaals begaben und sich neben ein weißes Sofa mit goldenen Akzenten stellen, wo eine Kellnerin ihnen sogleich ein Glas Champagner reichte. Durch zwei große, blühende Kübelpflanzen war man dort wahrscheinlich etwas von den Blicken der anderen geschützt.

Diesmal war ich es, die an Jadens Arm zog und ihn in die Richtung der beiden lotste. Noch bevor wir bei ihnen angekommen waren, hatte die Lady uns entdeckt und schenkte uns ein Lächeln, wie nur Großmütter es bei ihren Enkeln taten.

„Beeindruckend, nicht wahr?“, lächelte sie und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Ich nickte voller Ehrfurcht.

„Das ist es wirklich. So etwas Schönes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“

„Du bist noch so jung, mein Kind. Du hast noch so viel Zeit. Mein Mann und ich hingegen haben das Meiste bereits gesehen und erlebt. Doch ich freue mich sehr, dass wir die Ehre hatten, euch zwei kennenzulernen.“ Ein leichter Rotschimmer bildete sich auf meinen Wangen.

„Vielen Dank.“

 

„Ja, das ist meine Rosie!“ Das Lachen des Lords erschallte und ich bemerkte, dass sein Glas bereits geleert war. Sofort winkte er eine braunhaarige Kellnerin heran und tauschte es gegen ein volles. Die goldene Flüssigkeit darin perlte friedlich vor sich hin. Jaden und ich hingegen lehnten dankend die angebotenen Getränke ab. „Die Rosemary, an die ich vor so vielen Jahren mein Herz verloren habe! Gütig, wie eh und je.“ Er lachte wieder. Seine Frau hatte ein zartes Lächeln auf ihren rosigen Lippen, das die Falten auf ihrem Gesicht weicher erscheinen ließ.

„Nun sei nicht so, William. Du bringst mich in Verlegenheit.“

Es war wirklich niedlich die beiden anzusehen. Sie hatten schon den Großteil ihres Lebens miteinander verbracht und schienen verliebt, wie am ersten Tag zu sein. Das war es, was ich mir für mich immer gewünscht hatte.

 

„Lord Gloucestershire. Ich danke ihnen vielmals für ihre Hilfe!“, ergriff Jaden daraufhin das Wort. „Ohne sie hätten wir es nie geschafft.“ Ich sah, wie Jaden sich neben mir verbeugte und machte ebenfalls einen (etwas unbeholfenen) Knicks.

„Ja, vielen Dank!“, fügte ich dabei hinzu und hörte, wie der Lord amüsiert lachte.

„Gern geschehen, ihr zwei.“

„Aber …“, setzte Jaden erneut an. „Bitte verstehen sie mich nicht falsch, wir sind ihnen wirklich dankbar dafür, dass sie ein gutes Wort für uns eingelegt haben, aber ich begreife nicht, warum sie das getan haben.“ Das war etwas, was ich mich auch fragte. Was hatte er davon? Einfach so fremde Menschen auf die Party zu schleppen? Wir könnten ihn wirklich in Schwierigkeiten bringen!

Doch der Lord lachte erneut. Er zog ein weißes Tuch aus seiner Anzugjacke und tupfte sich kurz die Schweißperlen von seiner Stirn.

„Ich weiß, dass ihr zwei nicht hierher gehört. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass die junge Damen auf dieser Art von Schuh kaum laufen kann.“ Er zwinkerte mir zu und ich errötete wie eine Tomate. „Aber ihr zwei seht aus, als ob ihr etwas sehr Wichtiges vorhabt. Ich war auch einmal jung und rebellisch, wisst ihr? Ich hätte alles dafür gegeben einmal so eine Chance wie die eure zu bekommen! In so jungen Jahren auf solch einen prachtvollen Ball zu gehen!“ Er machte eine auslandende Handbewegung, um unsere Aufmerksamkeit auf die prachtvolle Halle zu lenken. „Auch, wenn ich das Gefühl habe, dass ihr dieser Party nicht lange beiwohnen werdet. Was auch immer ihr tut – Und sagt mir das besser nicht. Dann kann ich auch nichts verraten. – seid vorsichtig und erinnert euch immer daran, wo die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft. Es wäre eine Schande, zwei so liebe und wundervolle junge Menschen auf die schiefe Bahn geraten zu sehen.“

Etwas Warmes, Sanftes durchströmte meinen Körper, als die Dankbarkeit, die ich für den Lord empfand, mein Herz auf die doppelte Größe anschwellen ließ. Dieser Mann war einfach unglaublich. Dass es solche Menschen überhaupt noch gab …!

„Vielen Dank für eure Worte, Lord Gloucestershire. Sein sie versichert, dass wir diese Worte immer in unseren Herzen behalten werden.“ Plötzlich fiel es mir leicht, mich zu entspannen. Der ungeheure Druck, der auf meinen Schultern gelastet hatte, war verschwunden. Jetzt war es nicht mehr unmöglich für mich, wirklich natürlich zu sein. Die erste Hürde zur Rettung meiner Eltern war gemeistert.

„Viel Erfolg, Kinder“, lächelte die Dame und hakte sich unter den Arm ihres Mannes und nach einem kurzen Lächeln verschwanden sie inmitten der Menschenmasse. Nur wir blieben in der dunklen Ecke des Foyers zurück.

 

„Es wird Zeit, Prinzesschen. Zeit deine tief vergrabenen, „Oscar“-reifen Schauspielkünste zu wecken.“ Ich ließ ein freudloses Lachen erklingen.

„Na endlich. Ich kann mich schon kaum noch zurückhalten. Lass es uns bloß schnell hinter uns bringen …“

(Miss-)Erfolg

Wir machten uns nicht einmal die Mühe, den Ballsaal überhaupt zu betreten. Normalerweise hätte es mich brennend interessiert, wie es dort wohl aussah. Vor allem, da der Eingang bereits so überwältigend war. Wie sah es dann wohl erst da drinnen aus?

Doch wir wandten uns von den goldenen Glastüren ab und versuchten uns möglichst unauffällig unter die Menschenmasse zu mischen. Ich achtete nicht auf die Gespräche. Ich sah ihre Gesichter nicht. Irgendwo in diesem Gebäude, hatte sich wahrscheinlich eine ganze Bande von Dieben und Mördern verschanzt, um von hier aus ihr Unwesen zu treiben. Wie auch immer sie das unentdeckt tun konnten.

 

Fotos im Internet hatten uns ungefähr verraten, wo die vielen Lieferanteneingänge waren. Heute, wo so viel gekocht und serviert werden musste, war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass eine davon offenstand und – hoffentlich - sogar unbewacht war. Das würde der Punkt sein, an dem die anderen wieder zu uns stießen. Dann könnten wir endlich beginnen, nach dem Versteck zu suchen. Nach meinen Eltern …

Wir schlichen uns an der Rezeption vorbei (und hatten Glück, dass die eine junge Dame mehr daran interessiert war, die Promis zu beobachten und mit einem absolut übertriebenen Lächeln jeden zu begrüßen, und die andere gelangweilt in einem Buch blätterte, da sie sich wohl hinter dem Tresen unbeobachtet fühlte), um in den Personalbereich zu gelangen. Es war nicht zu übersehen, dass das hier nicht für die Augen der reichen Gäste bestimmt war. Einfache Holztüren gewährten Zugang zu kleinen und großen Zimmern, die wahrscheinlich voller wichtiger Utensilien waren, die ein Hotel so benötigte. Die Wände waren mit schlichten, weißen Raufasertapeten bedeckt und der sowieso schon enge Gang war mit allerhand Krimskrams zugestellt. Leere Servierwagen. Zwei Servicewagen, die bis oben hin mit Lappen und Putzmitteln gefüllt waren. Eine ganze Reihe von Stühlen. Sogar ein Haufen mit schmutzigen Handtüchern.

Der Geruch von Essen hing in der Luft und von überall her drangen die Stimmen der Mitarbeiter aus den teilweise geöffneten Türen, doch alle schienen zu beschäftigt zu sein, um Notiz von uns zu nehmen. Und so wandten wir uns weiter den Gang entlang, auf der Suche nach unserem Ziel.

Immer wieder bogen wir ab, versteckten uns und kämpften uns weiter durch dieses Labyrinth und ständig hatte ich das Gefühl beobachtet zu werden. Nervös blickte ich immer wieder hinter mich, doch es war weit und breit niemand zu sehen.

 

„Sorry, dass ich Adelio und dich vorhin bei eurem kleinen Rendezvous stören musste.“ Kaum hatten die Worte Jadens Mund verlassen, fühlte ich mich schon, als würde ich verbrennen. Zum Glück lief der Rothaarige voraus und konnte mein tomatenrotes Gesicht nicht sehen. Doch so konnte ich ebenfalls seinen Gesichtsausdruck nicht sehen.

Wieso sprach er dieses Thema gerade jetzt an? Wollte er mich in so einer Situation wirklich schon wieder ärgern?

„Hör auf damit! Ich habe jetzt keine Lust darüber zu reden!“ Mein Ton klang schärfer, als ich es beabsichtigt hatte, doch die Art und Weise, wie Jaden sich darüber lustig machte, gefiel mir gar nicht. Außerdem wusste ich selber nicht, was ich davon halten sollte.

Hatte ich jetzt endlich einen festen Freund gefunden?

Aber bevor ich den Gedanken überhaupt zu Ende denken konnte, stolperten wir über einen Seitengang, der (wenn man unserem Orientierungssinn glauben konnte) tatsächlich auf der richtigen Seite des Hotels lag. Und ich konnte unser Glück kaum fassen, als sich dort am Ende wirklich ein Ausgang befand! Das war perfekt!

 

„Entschuldigen sie, aber sie dürfen hier nicht sein!“ Das war allerdings weniger perfekt. Aber irgendwie zu erwarten gewesen. Das war mein Stichwort … Wie auf Kommando verzog ich mein Gesicht, so, als hätte ich grade etwas viel zu bitteres gegessen. Ich schlug eine Hand vor den Mund und die andere hielt ich vor meinen Bauch, während ich meinen Körper etwas krümmte.

Erst dann wagte ich es, mich umzudrehen und den Angestellten anzusehen. Seine weiße Schürze und das rote Hemd waren über und über mit Flecken bedeckt. Selbst in seinen kurzen, schokoladenbraunen Haaren waren Spuren von weißem Pulver (wahrscheinlich Mehl) zu erkennen. Er arbeitete also in der Küche.

„Ich bitte sie! Sehen sie nicht, wie schlecht es ihr geht? Sie braucht dringend eine Toilette!“ Jaden schlug einen leidenden und gleichzeitig wütenden Tonfall an, der überraschend überzeugend klang. Der junge Mann sah etwas verunsichert aus.

„Dies ist der Bereich für das Personal. Bitte gehen sie auf eine der Gäste-“

„Sind sie eigentlich verrückt?“, unterbrach Jaden ihn lauthals. Der Küchenjunge zuckte ein Stück zurück. „Soll sie etwa auf ihre vergoldeten Marmorklos kotzen?“ Auf das Stichwort würgte ich besonders laut und krümmte mich noch ein wenig mehr. Langsam bekam der Schwarzhaarige sichtlich Panik. „Hören sie. Sie wissen nicht, wie das ist! Da draußen laufen wichtige Männer rum! Wenn ihr Vater den millionenschweren Deal mit seinem Geschäftspartner heute Abend nicht besiegeln kann, weil jemand sie hat Kotzen sehen, dann machen sie sich darauf gefasst von unserem Anwalt zu hören!“ Ich konnte mir ein Lachen nur schwer verkneifen. Aber immerhin war mir ja richtig schlecht. Also riss ich mich zusammen und legte noch eine Schippe drauf.

Ich zog ungeduldig an Jadens Anzugärmel und nickte mit meinem Kopf in die Richtung einer Tür am Ende des Ganges. Zum Glück war das bronzefarbene Mädchen, welches über dem großen ‚D‘ thronte, selbst aus dieser Entfernung zu sehen gewesen. Der Rothaarige nickte mir gespielt beruhigend zu.

„Oh, das ist …“, begann der Küchenjunge und Schweißperlen säumten nun seinen Haaransatz. Der arme Junge (der höchstens 18 Jahre sein konnte; wahrscheinlich ein Azubi) stand kurz vor einem Herzinfarkt.

„Hören sie. Ich verspreche wir sind gleich wieder weg. Bitte sorgen sie einfach dafür, dass niemand diesen Gang betritt. Hier-“, meinte Jaden und zog einen Fünfziger aus seinem Jackett, „nehmen sie das. Als kleine Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten.“

Der Junge starrte den Geldschein einige Sekunden lang mit glasigem Blick an, ehe er sich entschloss, das Geld zu nehmen. Er nickte uns zu und ging den Weg zurück, den wir eben gekommen waren. Wir bemerkten, dass die lauten Geräusche aus der Küche verstummten. Er musste wohl die Tür hinter sich geschlossen haben.

 

Erleichtert atmete ich auf.

„Das war ja wirklich nicht schlecht. Ich hätte dir beinahe selbst geglaubt, dass du dich auf meine teuren Schuhe übergeben wolltest. Schön, wie du auch deine Gesichtsfarbe entsprechend angepasst hast!“ Die Anspannung fiel wie ein Stein von mir ab. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

„Das ist eben Talent. Aber du warst auch nicht schlecht, muss ich zugeben. Auch, wenn der arme Kerl sich eben garantiert in die Hose gemacht hat.“ Jaden lächelte.

„Der hat bestimmt noch ein Paar zum Wechseln im Schrank. Aber ich sag doch: Hier sind eben Profis am Werk.“

 

„Los jetzt, weiter!“, drängte ich ihn lächelnd und überwand die letzten Meter bis zu der Tür. Ein grünes Notausgangsschild leuchtete darüber, doch ich konnte sehen, dass dies kein einfacher Notausgang war. Die war tatsächlich für das Personal. Und was noch kurioser war: der Schlüssel steckte! Wer bitte war hier denn so leichtsinnig?

„Okay, der Alarm wird wohl nicht losgehen, wenn wir diese Tür öffnen.“ Ich nickte und streckte die Hände nach Schlüssel und Klinke aus. Das kalte Metall fühlte sich merkwürdig auf meiner überhitzten Haut an.

Kühle, frische Abendluft schlug mir entgegen und ich atmete sie begierig ein. Ich öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, damit niemand, der vielleicht draußen war, auf uns aufmerksam wurde. Mehrere Mülltonnen blockierten den Großteil der engen Gasse und mir damit auch die Sicht. Doch das hieß ja, dass uns auch niemand sehen konnte. Glück für uns.

„Jetzt müssen wir nur noch die anderen-“, flüsterte ich, doch kam nicht sehr weit.

„Schon erledigt. Mach mal Platz.“ Eine dunkle Gestalt löste sich aus dem Schatten eines Müllcontainers und drückte sich durch den schmalen Spalt der Metalltür. Gleich darauf kamen zwei andere hinterher. Sebastian und Emily sahen sich etwas nervös um, doch Adelio hatte ein Grinsen auf dem Gesicht. Ich ließ die Tür wieder leise ins Schloss fallen.

„Die Kameras?“

„Die waren kein Problem. Die Laderampe ist weiter hinten. Dort hingen die Meisten. Wir haben uns einfach als Mitarbeiter ausgegeben und immer versucht irgendetwas zwischen unseren Gesichtern und den Kameras zu halten. Hat super geklappt“, berichtete der Braunhaarige, nicht ohne Stolz in der Stimme. „Wir sind dann in diese Seitengasse verschwunden und hatten uns da versteckt. Die Kamera hier ist tatsächlich nur eine Attrappe. Die Angestellten wollten wahrscheinlich auch mal ihre Ruhe haben … Leichtsinnig ohne Ende. Aber genial, dass ihr euch ausgerechnet diese Tür ausgesucht habt!“ Er kicherte amüsiert. Scheinbar war der Braunhaarige völlig hin und weg darüber, dass unser Plan wirklich geklappt hatte.

„Genial, dass es überhaupt funktioniert hat.“ Emily war weit weniger euphorisch und ein wenig Sarkasmus war ebenfalls in ihren Worten vergraben, doch trotzdem sah ich Erleichterung in ihrem Gesicht. Der Klang ihrer Stimme erinnerte mich jedoch an etwas.

„Emily! Meine Kleidung!“ Tatsächlich fiel mir jetzt erst ihr kleiner, schwarzer Rucksack auf, den sie auf dem Rücken trug. Ich hatte darauf bestanden, ihn mitzunehmen. Wortlos setzte sie ihn ab und überreichte ihn mir. „Danke!“, meinte ich und stahl mich in Richtung Toilette davon.

 

„Echt ein Jammer, das du dich umziehen willst. Das Kleid steht dir so hervorragend!“ Mitten in der geöffneten Tür hielt ich inne. Mein Blick wanderte zu Adelio, der tatsächlich ziemlich geknickt aussah. Dass er in dieser Situation …

„Ich kann in diesem Ding“, wunderschönen Ding, wohlgemerkt, „kaum laufen!“ Er seufzte. Jaden grinste.

„Los jetzt, bevor sie uns entdecken!“ Sebastian hatte recht. Schnell verschwand ich in dem düsteren Raum und begann mich unter der einzelnen Glühbirne umzuziehen. Es fühlte sich gut an, die Jeans und den Pullover wieder überziehen zu können und endlich wieder meine gewohnte Bewegungsfreiheit zu haben. Die vielen Wunden und Kratzer, die gefühlt jeden Zentimeter meiner Haut bedeckten, ignorierte ich einfach. In dem schummrigen Licht war das gar nicht so schwierig. Schmerzen spürte ich ebenfalls nicht. Dank der Tabletten, die Adelio immer bei sich trug (Warum und woher er diese hatte, wollte er mir jedenfalls nicht verraten. Sehr verdächtig!).

Mir brach beinahe das Herz, als ich die beiden Haarnadeln aus meiner Frisur zog und diese daraufhin in sich zusammenfiel, bis nur noch wilde, verknotete Locken übrigblieben. Ich musste Emily unbedingt bitten, mir diese Frisur zum Schulabschlussball noch einmal zu machen! Schnell zupfte ich die silbernen Blümchen heraus und verstaute alles in dem schwarzen Rucksack. Ich versuchte das Kleid so gut es ging hineinzufalten, um es nicht zu sehr zu ruinieren. Das wäre einfach zu schade gewesen!

 

An die Toilette schloss sich eine kleine Abstellkammer an, die im Grunde nur aus einem Regal für Putzmittel bestand. Ich nahm den Rucksack und verstaute ihn in einer dunklen Ecke auf dem obersten Regalbrett. Davor drapierte ich zwei schmutzige Eimer, die wohl schon lange niemand mehr benutzt hatte. Danach war er nicht mehr zu sehen.

„Wenn ich das hier überlebe, dann komme ich wieder und bringe dich auf jeden Fall in die Reinigung!“, versprach ich dem Kleid, schloss die Kammertür und verließ das Bad.

 

Die Jungs schienen sich derweil etwas umgesehen zu haben und standen nun am oberen Teil des Gangs, wo sie versuchten, heimlich um die Ecke zu sehen. Emily wartete neben der Toilette auf mich. Sie nickte mir zu und wir schlossen zu den anderen auf.

„Und was machen wir jetzt?“ Obwohl ich nur flüsterte, bekam ich gleich dreimal ein „Shhh!“ zu hören und verstummte augenblicklich. Da ich den angrenzenden Gang nicht sehen konnte, konnte ich nur vermuten, dass die Jungs an dessen Ende jemanden vom Personal gesehen haben mussten.

Jaden und Adelio zogen ihre Köpfe zurück und wandten sich wieder uns zu. In ihren Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck. Adelio strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Tja. Wir sind zwar jetzt hier, wissen aber nicht, was wir nun tun sollen. Das ist eine eher ungünstige Situation. Wonach sollen wir bloß suchen?“

„Wie bitte?“, schnaubte Emily. „Wir brechen in ein Luxushotel ein und riskieren ins Gefängnis geworfen zu werden und wissen dann nicht Mal wonach wir suchen? Warum sind wir dann hergekommen? Seid ihr sicher, dass wir hier überhaupt irgendwas finden können?“

Zum ersten Mal, seit wir drei beschlossen hatten, diesen Hinweisen zu folgen, sah ich einen Ausdruck von Unsicherheit in den Gesichtern der Jungs. Und selbst mir blieben die Worte im Hals stecken. Was sollte ich auch sagen? Immerhin war ich mir auch nicht 100 prozentig sicher, was das hier anging. Doch etwas war da in mir, was mich diesen Weg weiter verfolgen ließ. Etwas, dass mir sagte, dass wir auf der richtigen Spur waren. Nur wie sollte ich das bloß Emily erklären?

 

„Ihr hattet vorhin etwas von Koordinaten gesagt, so war es doch, oder?“ Ich war etwas überrascht, als Sebastian sich plötzlich in die Diskussion einmischte. Er war die ganze Zeit so still gewesen. Ich hatte ihn beinahe vergessen. Jaden war der erste, der darauf reagierte.

„Wir sind in den Besitz eines alten Briefes gekommen. Er scheint von einem Mitglied der schwarzen Kerle geschrieben worden zu sein.“ Das Knistern von Papier erfüllte die Luft. Sebastian warf sofort neugierig einen Blick auf den Zettel. Emily gesellte sich neben ihn und sah ihm über seine Schulter. „Diese Koordinaten am Rand haben uns hierher geführt. Daher sind wir sicher, dass es hier irgendwo etwas geben muss.“ Noch bevor Jaden zu Ende reden konnte, hatte der Blonde bereits sein Handy gezogen und starrte nun auf den Bildschirm. Ich sah von meinem Platz aus, wie seine Finger über das Display glitten und seine Augen immer wieder zwischen seinem Smartphone und dem Brief hin und her huschten.

Sebastian sagte kein Ton, als er plötzlich um die Ecke schielte und dann den Gang in die andere Richtung davon ging, direkt auf die am Ende liegende Metalltür zu. Wir anderen warfen uns kurz einen verwunderten Blick zu und machten uns dann auf, ihm zu folgen.

 

Mein Atem stockte, als der Blonde einfach so die Tür aufstieß. Beinahe hatte ich damit gerechnet, dass plötzlich ein Haufen Sicherheitspersonal auf uns warten würde, doch die Dunkelheit dahinter offenbarte uns lediglich ein verlassenes Treppenhaus. Einer nach dem anderen ließ sich von der Schwärze verschlucken. Der Abschnitt des Hotels, den wir nun betraten, lag still und verlassen da. Selbst das Licht war hier unten ausgeschaltet, sodass wir uns nur an dem Lichtschein der Notausgangsschilder und der Handytaschenlampen von Sebastian und Adelio orientieren konnten.

Im Vorbeigehen erhaschte ich einen kurzen Blick durch den Spalt einer offenen Tür und entdeckte so etwas wie eine hauseigene Reinigung. Dann war es kein Wunder, dass wir hier niemand trafen. Dieser Teil der Belegschaft hatte schon längst Feierabend.

Dazu musste sich hier irgendwo in der Nähe das Zimmer des Hausmeisters (wobei es sehr wahrscheinlich mehrere Personen waren) befinden. Es war teilweise wirklich schwierig, sich an den im Gang herumstehenden kaputten Stühlen, den überdimensionalen Kronleuchtern ohne Glühbirnen und ganzen Kleiderschränken ohne Innenleben vorbeizuquetschen.

Einige der Fahrstühle, die wir passierten, zeigten auf ihren Displays ihre Fahrtrichtung an, doch niemand schien sich für die Servicegänge zu interessieren. Der Einstieg lag wahrscheinlich auf der anderen Seite der Wand. Ich hoffte sehr, dass ein Schlüssel benötigt würde, um dieses Stockwerk zu erreichen. Nicht, dass irgendwelche neugierigen Gäste auf die Idee kamen, hier rumschnüffeln zu wollen …

Aber da hatte ich wohl gut reden …

 

Ein wenig Erleichterung durchströmte mich, als ich auf das Geräusch unserer Schritte auf dem Linoleumboden lauschte und feststellte, dass das wirklich das einzige war, was zu hören war.

„Hier ist es.“ Sebastian hatte uns einen ziemlich verwinkelten Weg entlang geführt und plötzlich Halt gemacht. Verwundert sah ich mich um. Wir schienen in einer Sackgasse gelandet zu sein. Die letzte Tür hatte ich einige Meter weiter hinten gesehen. Hier waren wir nun von Wänden eingekesselt und außer der achtlos aufgestapelten Holzstühle, die – ihrem Deckmantel aus Staub nach zu urteilen – schon seit Jahren nicht mehr bewegt wurden, war weit und breit nichts zu sehen.

„Hier? Aber hier ist doch gar nichts!“, meinte Emily ebenso sehr verwirrt, wie ich es war.

„Doch, es ist hier. Ich habe ein genaues Ortungsprogramm auf meinem Smartphone. An dieser Stelle stehen wir ziemlich genau auf den auf dem Brief angegebenen Koordinaten.“ Noch während der Blonde das erklärte, gab er Jaden den Brief zurück, der ihn erneut faltete und zurück in seine Hosentasche steckte.

„Willst du mir damit sagen, dass ich die Wände abklopfen soll, bis sich irgendwo ein Geheimgang öffnet? Oder an verwunschenen Kerzenhaltern drehen soll? Nichts gegen dich, Seb, aber wir sind hier nicht in einem Film.“ Adelio hatte die Arme vor dem Oberkörper verschränkt und sich gegen eine der Wände gelehnt. Im schwachen Licht der Handytaschenlampen sah ich den frustrierten Ausdruck auf seinem Gesicht.

„Ihr habt diesen Brief aufgetrieben, Adelio, nicht ich. Ich habe euch bloß an die Stelle geführt, die ihr gesucht habt.“ Sebastian ließ sich von Adelios negativen Worten nicht beeindrucken. Ehrlich gesagt hatte er sogar einen so neutralen Gesichtsausdruck, dass ich überhaupt nicht wusste, was er im Moment dachte.

Ich hörte noch, dass Emily sich wieder in das Gespräch einmischte, doch ich ignorierte sie komplett. Ich blendete die Worte aus und starrte auf die Wand, die das Ende des Gangs markierte.

Der Brief … Dies war der Ort, den Dr. Zettlitz uns unbedingt noch mitteilen wollte. Hier musste es etwas geben! Waren wir vielleicht im falschen Stockwerk? War unsere Annahme, dass sich das, was wir suchten im Keller befand, vielleicht doch falsch? Hatte er hier vielleicht sogar ein Zimmer gemietet und dort noch etwas versteckt? Nein. Das konnte es nicht sein. Er hätte doch sonst die Zimmernummer mit dazugeschrieben. Doch was gab es hier, was wir finden sollten? Wir waren doch schon im untersten Stockwerk dieses Gebäudes! Tiefer konnten wir nicht-!

 

Ich stockte. Plötzlich fiel mir etwas ein. Das … Das musste es einfach sein!

Ohne Rücksicht auf ihn zu nehmen, drängelte ich mich seitlich an Sebastian vorbei, der daraufhin mit einem „Hey!“ protestierte. Aber das war mir komplett egal. Ich drängte mich in die äußerste Ecke des Ganges, die nicht von Stühlen und Gerümpel zugestellt war und ging in die Hocke. Ich spürte die glatte, kalte Oberfläche des Fußbodenbelags, als meine Finger über die staubige Kante glitten. Es musste doch hier-!

„Ähm, Lina? Was genau machst du da?“ Doch anstatt Adelio zu antworten, zischte ich bloß zurück und ignorierte ihn. Ich war mir sicher, es musste hier einfach sein!

Nur einen Moment später hielt ich inne. Selbst erstaunt darüber, dass ich recht gehabt hatte (schon wieder!). Das hier war die letzte Botschaft eines sterbenden Mannes.

 

Als ich mich ein kleines Stück zurückzog, behielt ich die lose Ecke des Linoleumbodens, die ich eben entdeckt hatte, in der Hand. Tatsächlich ließ er sich problemlos abziehen. Kein Kleber, kein nichts. Bloß notdürftig unter die hölzernen Fußleisten gesteckt. Plötzlich war es um mich herum unheimlich still.

Die größten Geheimnisse sind am tiefsten vergraben.“, murmelte ich und starrte gebannt auf die unscheinbaren, schwarzen Linien im Fußboden. „Das sind die Worte aus dem Brief. Dr. Zettlitz scheint diese Worte wohl wörtlich gemeint zu haben.“ Die kleine Einkerbung, die von den Linien umschlossen wurde, war erst beim dritten Blick zu erkennen. Und wer nicht danach suchte, würde es auch nie finden. Ein wirklich sicheres Versteck. Doch warum war es hier in diesem Gebäude?

„Eine Falltür? Aber das ist doch nicht möglich! Laut Internet besitzt dieses Hotel nur dieses eine Kellergeschoss! Da unten dürfte überhaupt nichts sein!“ Das war das erste Mal seit langem, dass Sebastians neutrale Miene verschwand und er seine Fassung verlor. Jetzt war er wieder der nervöse junge Mann, den ich vor einigen Tagen erst kennengelernt hatte. Damals, als er mir mein kostbares Armband zurückgegeben hatte. Er versuchte zwar stark zu sein, aber im tiefsten Inneren war er doch ängstlich und unsicher. Er war genau wie ich.

„Dort würde wohl wirklich niemand suchen“, stellte Adelio fest. „Ich muss zugeben, ich bin ein wenig beeindruckt.“

„Wir können diese Riesenmistkerle auch später noch bewundern! Lasst uns endlich gehen und ein paar gehörige Tritte verteilen!“ Emily war die erste, die sich aus der Starre löste und nach der Luke griff. Sie brauchte nur einige Momente, um den Griff zu erreichen und uns den Weg zu öffnen. Die Blondine zögerte einen Augenblick, als wir alle angespannt in das schwarze Loch starrten. Wahrscheinlich ging es den anderen ähnlich wie mir. Irgendwie hatte ich das Schlimmste vermutet. Wachen, die Alarm schlugen, Sirenen, die losheulten, oder vielleicht auch die Schreie desjenigen, der die ersten Schüsse abgekommen hatte. Doch alles, was wir sahen als das Licht der Taschenlampe dort hinein fiel, war ein öder, verlassener Gang.

 

„Los jetzt“, meinte Emily noch, ehe sie blitzschnell in das Loch verschwand. Sebastian folgte ihr auf dem Fuße. Danach waren Adelio, ich und Jaden dran. Einige Eisenstangen, die vor einer ganzen Weile mal in den Betonsockel des Hotels geschlagen wurden, dienten nun als provisorische Leiter. Wirklich wohl war mir dabei nicht und als die eben noch angenehme Luft plötzlich eiskalt wurde, konnte ich meinen Körper nicht davon abhalten zu zittern. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, verschränkte ich meine Arme vor dem Oberkörper, um mich etwas zu wärmen.

Sofort fühlte ich mich an das Bergwerk zurückerinnert, als ich den engen, dunklen Gang genauer betrachtete. Jemand musste das von Anfang an geplant haben, denn die Aussparung war anscheinend absichtlich in den Betonsockel gegossen worden. Jemand hatte also die Bauarbeiter angewiesen, diese Stelle nicht mit Beton zu füllen und damit freizuhalten, um ihn später anderweitig nutzen zu können.

Doch wer dachte sich so etwas aus? Und warum? Und wie konnte es sein, dass anscheinend niemand im Hotel etwas von diesem Gang wusste?

Mir war das Ganze wirklich unheimlich.

 

Adelio hatte inzwischen die Führung übernommen und Jaden bildete die Nachhut. Ich musste zugeben, dass es mich sehr beruhigte, den Rothaarigen hinter mir zu wissen. Er hatte schon mehr als einmal klar gemacht, dass er wirklich etwas drauf hatte, wenn es um das Kämpfen ging.

Es dauerte nicht lange, bis der ganze Tross zum Stehen kam. Da ich ziemlich weit hinten in der Schlange war, konnte ich in der Dunkelheit nur schwer erkennen, was der Grund für das Anhalten war. Doch soweit ich das sehen konnte, stand Adelio vor irgendeiner Wand.

Mein Herz wurde plötzlich ganz schwer. War das etwa eine Sackgasse?

„Hier ist eine Tür“, kam es vom vorderen Teil unserer Truppe und ich atmete erleichtert auf. „Ich werde sie jetzt vorsichtig öffnen.“

Helles Licht drang plötzlich durch den Spalt in der Tür und ich zählte aufgeregt meine Herzschläge, um mich davon zu überzeugen, dass die Zeit immer noch wie gewohnt voran schritt.

„Niemand da. Kommt.“ Einer nach dem anderen schlüpfte durch die Tür und als ich an der Reihe war, musste ich erst ein paarmal blinzeln, um meine Augen wieder an die Helligkeit zu gewöhnen. Ein Flur ganz in Weiß erstreckte sich beidseitig von uns. Die hellen Fliesen wurden von dutzenden Leuchtstoffröhren erhellt und stellten ein absolutes Gegenteil zu dem vorherigen Gang da. Ein Blick zurück zeigte mir, dass die Tür, aus der wir eben gekommen waren, nach dem Schließen wieder unsichtbar in der Wand verschwand.

„Soll das etwa ein Geheimgang sein?“ Adelio zog eine Augenbraue hoch. „War das der Grund, dass der Kerl uns dort entlang geschickt hatte?“

„Sehr wahrscheinlich“, antwortete Jaden leise auf seine Frage. „Es scheinen nicht viele von dem Gang zu wissen. Wahrscheinlich gab es deshalb dort auch keine Überwachungskameras. Genauso wenig wie hier.“ Ich blickte an den Wänden entlang und war ein wenig überrascht, dass der Rothaarige recht hatte.

„Die rechnen wohl nicht damit, dass das hier jemand findet. Darum überwachen sie garantiert nur die anderen Eingänge, von denen ich sicher bin, dass es sie gibt. Das hier scheint ein spezieller Geheimgang zu sein, den bestimmt der Drahtzieher der ganzen Sache hier für sich selber nutzen will.“ Sebastians Theorie kam mir sehr wahrscheinlich vor.

 

„Das ist ja alles sehr schön, aber wir können immer noch jede Sekunde entdeckt werden! Was jetzt?“

„Wir sollten uns hier umsehen und bei Gelegenheit versuchen alle Daten und Programme zu löschen, die ihnen die Möglichkeit geben, Menschen zu manipulieren. Außerdem müssen wir noch Amelinas Eltern finden und …“

„Schön und gut, aber das interessiert mich nicht!“ Ich zuckte zusammen, als Emily Jaden harsch unterbrach. Ihre Miene war hart und von Wut gezeichnet.

„Emily …!“, begann Sebastian vorsichtig, doch nach einem Seitenblick von der Blonden verstummte er augenblicklich.

„Ich bin nur hierhergekommen, um den Tod meines Freundes zu rächen! Macht ihr was ihr wollt! Ich jedenfalls werde zuerst diesen Widerlingen gehörig in den Arsch treten!“ In der nächsten Sekunde hielt die junge Frau plötzlich ein großes Messer in der Hand, das sie eben unter ihrem nun wieder angezogenen Pullover aus dem Hosenbund geholt hatte, und mir wurde nur langsam bewusst, was sie damit vorhaben würde. Ich schluckte schwer.

 

Dennoch sagte niemand von uns ein Wort, als Emily den Gang bis zur nächsten Abbiegung entlang ging und dahinter verschwand. Sebastian eilte ihr sofort hinterher, nachdem er uns einen entschuldigenden Blick zugeworfen hatte, und kurze Zeit später waren wir nur noch zu dritt.

Mein Magen verknotete sich schmerzhaft, als sich die Sorge um die beiden in meinem Bauch einnistete. Doch ich musste ihre Entscheidung respektieren. Mir war von Anfang an klar, dass Emily uns nur unterstützt hat und mitgekommen war, damit sie hierher gelangen konnte. Ich hatte ihren Plan die ganze Zeit in ihren Augen gesehen.

„Die beiden werden ganz sicher unbeschadet durchkommen, mach dir keine Sorgen.“ Ich nickte bloß, ohne Adelio anzusehen. Doch die Frage, ob Emilys Racheaktion wirklich zwei Menschenleben wert war, ließ sich einfach nicht aus meinem Kopf vertreiben.

 

„Dann lasst uns herausfinden, ob wir das auch können.“

Rückkehr

Mein Herz schlug so schnell und laut in meiner Brust, dass ich kaum meine Schritte auf den weißen Steinfliesen hören konnte. Ich spürte, wie jedes noch so kleine Nervenende in meinem Körper pulsierte und alles zum Beben brachte.

Da war sie wieder. Diese Panik. Eine Panik, die mich am liebsten alles sofort hinschmeißen gelassen hätte. Angst, die mir fast die Kontrolle über meinen eigenen Körper stahl.

 

Adelio hatte wieder die Führung übernommen, während Jaden hinter mir uns Rückendeckung gab. Und ich stolperte einfach nutzlos dazwischen rum. Also versuchte ich wenigstens die Umgebung so gut es eben ging im Auge zu behalten.

Wir hatten schon etliche Meter überwunden und waren an gut ein Dutzend Türen vorbeigekommen, doch das spannendste, was wir bisher gefunden hatten, war ein Lager voller Chemikalien, deren Totenkopfmarkierungen mir mehr als nur einen Schauer durch den Körper jagten. Leider hatte niemand von uns eine Ahnung von chemischen Vorgängen, also haben wir – zu unserer eigenen Sicherheit – die seltsamen Substanzen nicht angefasst, sondern bloß die sonstige Laborausrüstung zerstört (das Zerschlagen der Reagenzgläser hat tatsächlich beinahe Spaß gemacht!).

 

Bisher war uns niemand begegnet. Dieses Labyrinth aus Türen und Gängen war vollkommen leer. Und ich hatte ständig das Gefühl, als würden wir im Kreis laufen. Und nachdem wir scheinbar alles abgesucht hatten, ohne auch nur das Geringste zu finden, standen wir plötzlich vor einem Fahrstuhl, aus dessen geöffneter Tür ein helles Licht drang. Ein kurzer Blick auf die Auswahlknöpfe ließ mich aufstöhnen. Es gab noch zwei Stockwerke unter diesem hier? Wie zum Teufel war es möglich so etwas unbemerkt von einer ganzen Stadt zu bauen?! Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es niemanden interessieren würde, wenn ein Chemikalienlabor unter ihren Füßen hochgezogen wird! Und dass davon absolut nichts in irgendwelchen Zeitungen erwähnt würde! Also musste es einfach so sein, dass niemand da oben etwas hiervon ahnte. Ein äußerst unheimlicher Gedanke.

 

Um nicht so viel Aufmerksamkeit zu erregen, ließen wir den Fahrstuhl unangetastet und nahmen stattdessen die spärlich beleuchtete Treppe, die direkt daneben lag. Wir wagten es nicht, das Licht anzuschalten, also hangelten wir uns an dem metallischen Geländer entlang.

Kaum hatten wir im ersten Untergeschoss die Treppe verlassen, ließ das Geräusch von Stimmen uns innehalten. Sofort drückten wir uns an die nächstbeste Wand und Adelio blickte um die Ecke herum in einen angrenzenden Gang.

„Da vorne ist eins der Labore beleuchtet. Ich habe eben durch die Scheibe zwei Männer gesehen, die da irgendwas an einem Computer zu machen scheinen“, teilte uns der Braunhaarige flüsternd mit. Mein Brustkorb verkrampfte.

„Es ist also tatsächlich jemand hier. Ich hatte auf ein bisschen mehr Glück gehofft“, meinte Jaden hinter mir und ich hörte die Anspannung aus seiner Stimme heraus, die seiner sarkastischen Anweisung ein wenig zu viel Schärfe gab. Es würde also zu einem Kampf kommen. Das war nun unvermeidlich.

„Wenn da jetzt noch jemand arbeitet, muss es dort etwas Wichtiges geben. Das ist unsere Chance!“ Ich schluckte den harten Kloß in meinem Hals herunter und nickte Adelio zu. In diesem Moment schob Jaden sich an mir vorbei und lief nach einem Zeichen des Braunhaarigen auf die gegenüberliegende Seite des Gangs. Ich folgte ihm sofort.

 

Das hell erleuchtete Labor lag an der Stirnseite des Flurs und das bunte Licht der zahlreichen Computermonitore mischte sich unter das kalte Leuchten der Leuchtstoffröhren über uns. Die Glasscheiben waren teilweise mit einer Sichtschutzfolie bedeckt, sodass nur Schemen des Innenraums wahrgenommen werden konnten. Und wir wurden so hoffentlich ebenfalls verdeckt.

Rechts neben der Tür befand sich eine Art Lesegerät für Chipkarten, wie sie uns auch im oberen Stockwerk bereits an einigen Räumen begegnet waren. Da wir dort jedoch in einer an der Wand hängenden Jacke eine dieser Karten entdeckt hatten, hatte uns das nicht weiter gestört. Hier jedoch bezweifelte ich, dass derselbe Trick noch einmal funktionieren würde. Und unentdeckt bleiben würden wir bei dem Versuch wahrscheinlich auch nicht.

Nur wir kamen wir nun bloß da rein?

 

Doch mir blieb keine Zeit mehr um meine Gedanken zu sortieren oder überhaupt Luft zu holen, denn dann ging alles ganz schnell …

Ein lautes Klopfen auf Glas ertönte und zeitgleich verstummte das Gespräch im Labor. Jaden klopfte sofort ein weiteres Mal gegen die Tür, blieb aber in der Hocke, um von Innen nicht direkt gesehen werden zu können. Leises Gemurmel hinter den Glasscheiben. Wieder ein Klopfen. Und dann, wurde ganz langsam die Tür geöffnet …

Die Farben von Jadens dunkler Kleidung vermischten sich mit dem kupferrot seiner Haare, als er aufsprang und den Wissenschaftler, der gerade die Tür geöffnet hatte, rückwärts auf den Boden warf. Geschrei brach los und Adelio stürmte zu den Kämpfenden ins Labor. Glas klirrte und Metall schepperte, als die Jungs versuchten, die Männer außer Gefecht zu setzen. Ich nutzte die Gelegenheit um mich leise in den Raum zu schleichen und verkroch mich in eine der hinteren Ecken. Labortische und Reagenzgläser lagen nun überall verstreut. Bücher waren aus den Regalen gekippt und säumten den Fußboden. Zahlreiche Computermonitore flimmerten an den Wänden, wovon zwei jedoch bereits beschädigt waren und nur noch bunte, verzerrte Farbmuster anzeigten.

Das grelle Licht der Tischlampen blendete mich, als ich mich zu einem Computer in auf einem nahen Tisch bewegte. Ich hatte eine Tastatur und eine Maus entdeckt und atmete erleichtert auf, als ich erkannte, dass der Bildschirm nicht durch ein Passwort oder ähnliches gesperrt war.

 

Viel Ahnung von Computern hatte ich nicht, aber es würde ausreichen, um schon mal ein paar der wichtigen Dateien zu löschen. Wahrscheinlich würden wir sowieso die Festplatten komplett zerstören, sobald die Wissenschaftler aus dem Weg geräumt waren, was meine Arbeit hier wieder etwas die Bedeutung nahm. Aber so konnte ich wenigstens überhaupt was Sinnvolles tun.

Noch ehe ich jedoch viel ausrichten konnte, ertönte plötzlich ein Schuss hinter mir. Ohne mich umzusehen, ging ich reflexartig in Deckung und hielt mir die Arme über den Kopf.

„Du elender Mistkerl!“, zischte eine dunkle Stimme und erneut fiel ein Schuss. Ein Tisch kippte klappernd um und rutschte mit einem unangenehmen Quietschen über den Boden, welches in meinen Ohren schmerzte. Ein lauter Schrei. Glas zerbrach.

Ich versuchte über die zerstörte Laboreinrichtung einen Blick auf die Jungs zu erhaschen, doch ich konnte nur Adelio erkennen. Dieser drückte gerade einen alten Mann mit grauen Haaren, einem Bart und einem weißen Kittel auf den Boden, nicht weit von mir entfernt, und versuchte ihn durch Schläge ins Gesicht auszuknocken. Ich sah, wie das Blut unter jedem der Schläge aufspritzte und wandte, mit einem flauen Gefühl in meinem Magen, den Blick ab.

 

Erst, als es rechts von mir ebenfalls schepperte, sah ich Jaden, der gerade mit einem schwarzhaarigen Mann um die 30 kämpfte, um ihm die Pistole abzunehmen, die der Wissenschaftler wohl irgendwo hier versteckt gehabt hatte.

Allein der Gedanke, dass sich ein Schuss lösen und Jaden treffen könnte, ließ die Übelkeit in meinem Magen mich zum Würgen bringen. Doch ich konnte nichts tun. Ich würde alles nur schlimmer machen, wenn ich versuchte ihm zu helfen, das wusste ich.

 Meine Beine zitterten so stark, dass ich mich kaum aufrichten konnte. Nur, weil ich mich an der Tischkante festklammerte und meinen Körper damit hochzog, schaffte ich es, wieder an die Tastatur zu gelangen. Schnell klickte ich wahllos irgendwelche Ordner an und löschte alle Dateien endgültig von dem Computer. Ich hoffe nur, dass dies wichtige Daten waren, die sie nicht auch noch auf anderen Servern gespeichert hatten.

Plötzlich kam mir meine Aktion hier total sinnlos und albern vor.

 

Doch eine Datei zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Nach einem Doppelklick auf „Lageplan“, erschien Sekunden später eine Komposition aus unzähligen Rechtecken, Linien, Farben und Buchstaben, die mich im ersten Moment praktisch erschlug. Ein kurzer Blick reichte jedoch, um den Sinn dahinter zu verstehen. Einen Moment später wusste ich, dass ich etwas sehr Wichtiges gefunden hatte.

„Das Hauptlabor liegt im unteren Stockwerk ganz am Ende des Flurs! Gleich daneben befinden sich auch die Privatgemächer des Chefs!“, rief ich einfach in das Gewusel des Kampfes hinein und hoffte, dass diejenigen, für die die Informationen bestimmt waren, das auch mitbekamen.

 

In dieser Sekunde erklang ein lauter Schmerzensschrei und ich riss erschrocken meinen Kopf herum. Adelio war nur wenige Meter neben mir gelandet und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Oberschenkel. Ich schrie auf, als ich das blutige Skalpell darin stecken sah.

„Adelio!“

Sofort verließ ich meinen Platz und stürzte zu ihm. Vergessen war der Computer, vergessen war meine Aufgabe. Wenn der Typ jetzt auf ihn losgehen würde, dann würde er …!

Doch es war schon zu spät.

 

Ich verstand nicht, woher plötzlich die Schmerzen kamen. Ich verstand nicht, warum es erst furchtbar laut und nun unnatürlich leise war. Da war auf einmal nur noch dieses unangenehme Fiepen. Ich verstand nicht, warum plötzlich alles so dunkel war oder woher dieses schmerzhafte Drücken auf meinem Körper kam.

Zumindest nicht, bis ich meine Augen wieder öffnete ...

Das Labor lag in Trümmern vor mir. Aber das waren keine Trümmer, wie die, die entstehen, wenn jemand mit einem Baseballknüppel einen Porzellanladen auseinander nahm, nein. Von dem eigentlichen Raum war kaum noch was übrig. Sämtliche Glasscheiben waren zerborsten und lagen nun überall verstreut. Auch Teile der Wände und sogar ein großes Stück Decke stapelten sich nun auf dem weißen Fußboden, statt uns davor zu bewahren, das komplette Hotelgebäude auf den Kopf zu kriegen. Ich konnte nur beten, dass das ganze Konstrukt ungewöhnlich stabil gebaut worden war …

Von den Tischen waren bloß verbogene Metallteile übrig und aus den zerstörten Lampen sprühten nur noch Funken und tauchten alles in ein trübes Grau. Lediglich das Licht des Flures (was aber auch schon mal heller gewesen war) erhellte dieses Schlachtfeld überhaupt noch.

Hatte der Kerl uns gerade unter der Erde in die Luft gesprengt?!

 

Mühsam schälte ich mich aus dem Schutthaufen, der samt mir im benachbarten Labor gelandet war.

„Adelio? Jaden?“ Ein Hustenreiz überkam mich, der in meinem trockenen Hals kratze. Ich konnte meine Freunde nicht sehen. Ich wusste nicht, ob ihnen etwas passiert war! Und das ließ mich schon das Schlimmste annehmen … Doch ich musste diese Gedanken und Bilder verdrängen und mich lieber darauf konzentrieren sie zu finden!

Mein verletztes Bein begann wieder unerträglich zu pochen, als ich es unter einem Stück Betonwand hervorzog. Obwohl ich die Augen offen hatte, sah ich alles nur sehr undeutlich und verschwommen. Kopfschmerzen vernebelten meine Sinne und selbst im Stand fiel es mir unheimlich schwer, mich ohne Hilfe der Betonwandreste aufrecht zu halten.

„Jungs? Wo seid ihr?“ Doch meine Stimme wollte die Worte nicht tragen. Wieder überkam mich ein Hustenschauer und machte mir ein erneutes Rufen komplett unmöglich.

 

„Hey! Was war das? Woher kommt der ganze Qualm?“ Mein Gehör meldete sich gerade in dem Moment zurück, als sich Stimmen durch meine Taubheit schoben. Stimmen, die ich nicht kannte.

Natürlich. So eine gewaltige Detonation war nicht zu überhören gewesen. Wahrscheinlich hatte sogar das Hotel kurz gebebt! Ob die Gäste der Feier das mitbekommen hatten?

Doch ich hatte grade absolut keine Zeit darüber nachzudenken! So schnell es mein immer noch ziemlich durchgeschüttelter Körper zuließ, überwand ich die restlichen umgestürzten Teile der Laborausrüstung und lief weiter durch das angrenzende, stockdunkle Labor. Zum Glück war dieser Raum deutlich länger und größer als der, aus dem ich eben kam, sodass ich mich in einiger Entfernung verstecken konnte. Gerade, als ich das Ende des Zimmers erreicht und mich hinter einen Metalltisch gehockt hatte, sah ich eine Gruppe von Männern auf der anderen Seite der Glasscheibe entlanglaufen.

Ich schnappte panisch nach Luft und versuchte nicht an die Schmerzen meines krampfenden Herzens zu denken. Was sollte ich alleine gegen fünf oder sechs ausgewachsene Männer bloß ausrichten? Und wo waren Jaden und Adelio? Lagen sie verletzt unter den Trümmern? Hatte ich sie gerade ihrem sicheren Tod überlassen?

 

„Verdammt! Dimitri! Sylvio! Was zum Teufel …?“

Schritte. Das Klirren von Glas. Rumpeln und metallisches Schleifen. Doch keine Erwähnung von zwei weiteren Männern. Sie waren entkommen? Ein Glück!

„Sucht gefälligst alles ab! Bringt jeden um, den er finden könnt!“ Bisher wusste ich nicht, dass es sich falsch anfühlen konnte, wenn Blut durch die Adern floss. Aber in diesem Moment tat es genau das.

Ich stolperte über meine eigenen Füße, als ich versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Dass es in dieser Ecke ziemlich dunkel war, war Glück und Unglück zugleich. So konnte mich niemand sehen, aber ich sah genauso wenig, wo es langging. Wo konnte ich hin? Wie kam ich hier bloß raus?

Wenn die Typen einen Lichtschalter fanden und die Lampen tatsächlich noch funktionierten, dann war es das für mich! Verdammt.

 

Ungeschickt tastete ich mich durch den Raum und hangelte mich dabei an Tischen, Theken oder Schränken vorbei, immer in der Hoffnung, nicht in irgendeine ätzende Flüssigkeit zu fassen, oder ein fragiles Reagenzglasset vom Tisch zu fegen.

Ich hörte bereits, wie jemand versuchte über die Überreste der eingestürzten Wand zu klettern und dabei unschöne Flüche ausstieß. Ich hatte keine Zeit mehr!

„Verdammte …! Was zum …? Wenn hier jemand ist, ich schwöre, bist du sowas von tot!“

 

Etwas Grünes blitzte plötzlich in der hinteren Ecke auf und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich schlich so schnell ich konnte darauf zu und als ich das große Regal voller Akten umrundet hatte, wäre ich vor Erleichterung beinahe kollabiert! Ein Notausgang!

Mit einem Hechtsprung überwand ich den letzten Meter und griff nach der Türklinke. In exakt diesem Moment erwachte eine Reihe von Glühbirnen zum Leben und ich ging erschrocken in die Hocke. Mein Herz schlug so heftig, als wollte es sofort aus meinem Brustkorb ausbrechen.

Zu meinem großen Glück versperrten weitere Teile der Laboreinrichtung den Blick auf mich und ich zog wie verrückt an der Türklinke, doch die Tür rührte sich keinen Millimeter. Abgeschlossen!

 

In diesem Moment wusste ich nicht, ob ich panisch sein oder einfach aufgeben sollte. Hatte ich so überhaupt noch eine Chance zu entkommen?

Jaden, Adelio, Emily, Sebastian. Meine Eltern. Sie alle waren hier. Und sie alle waren in allergrößter Gefahr und was tat ich? Ich war wieder nur der Klotz am Bein! Wie sehr ich das doch hasste! Aber nein, so nicht! So würde es nicht enden! Diesmal hatte ich da keine Lust drauf!

 Ich drückte mich so eng ich konnte neben der Tür an die Wand, sodass mein Körper hinter dem Regal zunächst im Schatten verschwand. Vollkommen hilflos fuhr ich mit meinen Fingern über die offenen Fächer der Ablage. Ich schob Aktenordner beiseite und verrückte Pappkartons. Als ich plötzlich gegen etwas Kaltes, Metallisches stieß, erschrak ich fürchterlich und doch wusste ich sofort, was das war. Reflexartig griff ich danach und drehte mich zurück zu Tür. Bitte, bitte!

 

Ein Klicken ertönte und im nächsten Moment empfing mich die kühle Eintönigkeit des Flures. Geistesgegenwärtig steckte ich den Notausgangsschlüssel von außen erneut in die Tür und das Klicken hing ein weiteres Mal in der Luft. Durch diesen Durchgang kam so schnell niemand mehr.

Doch was jetzt? Der Gang war menschenleer, doch das würde sehr wahrscheinlich nicht lange so bleiben. Wo sollte ich hin? Warum lief ich bloß immer von einer Sackgasse in die Nächste?

 

„Amelina! Hierher!“ Erschrocken fuhr ich herum. Im ersten Moment hatte ich das Schlimmste angenommen, aber danach war ich umso erleichterter, als ich Emily und Sebastian entdeckte. Sie saßen ein Stück von mir entfernt den Gang hinauf hinter einer der Türen, die sie einen Spaltbreit geöffnet hatten. Die Blonde winkte mir hastig mit der Hand zu, um mich zu sich zu rufen. Ihr Blick glitt dabei immer wieder den Gang hoch und runter. Wahrscheinlich um sicher zu gehen, dass niemand kam und uns entdeckte.

 Schnell sprintete ich zu ihnen hinüber und schlüpfte durch die Tür ins Dunkle. Nur durch einige Lüftungsschlitze, die im unteren Teil der Tür eingebaut waren, drang noch ein wenig Licht in die Kammer. Ich konnte mich nur schwer zurückhalten, um ihnen nicht um den Hals zu fallen.

„Ein Glück! Es geht euch gut!“ Beschämt wischte ich mir über die Augen, um die aufkeimende Nässe gleich von vornherein zu vertreiben.

„Na, du wirst doch wohl nicht losheulen, nur weil wir dir schon wieder auf die Nerven gehen. Und so dreckig und staubig, wie du aussiehst, will ich sowieso nicht von dir angefasst werden!“ Ich hörte den neckenden Unterton in ihrer Stimme heraus, aber trotz ihrer Worte sah ich das kleine, beschämte Lächeln in ihrem Gesicht.

„Ich weine doch gar nicht!“, sagte ich in demselben neckischen Ton und machte einen gespielten Schmollmund. Emily lächelte schief und auch Sebastians Mund war ebenfalls zu einem Grinsen verzogen. Wie schön, dass den beiden nichts passiert war!

 

„Amelina?“ Vor Schreck stieß ich gegen das Metallregal, welches direkt hinter mir stand, und irgendetwas darauf fiel durch den Ruck scheppernd um. Woher kam diese Stimme? „Amelina? Bist du es wirklich?“

Eben hatte ich noch gegen die Tränen ankämpfen können, aber als ich die zwei Menschen in der hinteren Ecke des Raumes sitzen sah, war es um mich geschehen. Das war doch unmöglich!

 

„Mama? Papa?“ Zwei Schatten schälten sich aus der Dunkelheit und als sie näher kamen, konnte ich sie endlich wieder richtig sehen. Ihre sanften Augen. Ihr Haar, was meinem so ähnlich sah. Die Hände, die mich seit meiner Geburt immer wieder so liebevoll berührt hatten. Nach so langer Zeit …

Im nächsten Moment fühlte ich ihre Wärme, als sie mich beide in die Arme nahmen und an sich drückten.   Ich spürte die Tränen heiß auf meiner Wange und das einzige Geräusch war mein Schluchzen, das schwer in der Luft lag.

Nach einer kleinen Ewigkeit löste mich ich von ihnen, um sie einmal von Kopf bis Fuß mustern zu können. Sie waren blass und das Gesicht meiner Mutter war ebenfalls feucht von Tränen. Ein paar oberflächliche Kratzer lugten durch ihre zerrissene Kleidung, die jedoch nicht weiter bedrohlich wirkten, und mein Vater hatte eine ziemlich große Beule an der Stirn, die wohl mal geblutet haben musste. Der große Bluterguss war schon jetzt unübersehbar. Aber … Sie waren hier. Sie waren am Leben! Unglaublich.

„Aber wie …? Wie seid ihr …?“ Meine Mutter lächelte mich an. Wie lange hatte ich dieses wundervolle Strahlen schon nicht mehr gesehen? Wie lange schon hatte ich es so schmerzlich vermisst?

„Deine beiden Freunde hier“, sie schaute auf Emily und Sebastian, „haben uns gerettet. Sie haben die Tür zu unserer Zelle aufgebrochen und uns dort rausgeholt. Sie meinten, du wärst hier, um uns zu retten und wollten uns direkt zu dir bringen, aber ich konnte das einfach nicht glauben! Was ist hier bloß los? Amelina! Diese Männer haben unsere Segenssteine!“

Doch ich konnte ihr nicht antworten, ja, nicht mal die Nachricht verarbeiten, dass meinen Eltern ihre wichtigsten Schätze gestohlen worden waren, da gerade in diesem Moment von draußen Schritte zu hören waren, was uns alle sofort verstummen ließ.

„Du nimmst den Gang! Such in jeder verdammten Ritze! Wir müssen alles und jeden hier ausräuchern!“ Ich hatte die Luft angehalten und lauschte gebannt auf jedes noch so kleine Geräusch. Ich war erleichtert, als sich einer der Typen zu entfernen schien, doch der andere … Er kam immer näher. Und als das Quietschen einer Metalltür ganz in der Nähe erklang, wich sämtliche Farbe aus meinem Gesicht. Nicht schon wieder!

„Der Mistkerl nimmt sich die Türen vor! So eine verdammte …! Wenn der uns hier erwischt, haben wir ein echt großes Problem!“, zischte Emily, während sie versuchte durch die Lüftungsschlitze einen Blick nach draußen zu erhaschen.

Sie hatte recht. Wir konnten uns hier drinnen nicht verstecken. So viele Leute in einem so kleinen Raum waren einfach nicht zu übersehen! Es gab einfach nichts, wo wir uns verstecken konnten! Und da die Kerle konkret nach Einbrechern suchten, waren sie garantiert bewaffnet, und wir waren es nicht. Es würde viel zu schnell gehen…

 

Schritte näherten sich und ich ahnte, dass unsere Tür die Nächste war. Ich drückte meine Mutter so fest ich konnte und spürte, wie sich die Arme meines Vaters, mit denen er meine Mutter und mich umklammerte, stärker an uns schmiegten. Wir waren zusammen. Wir waren eine Familie. Wir würden das zusammen durchstehen.

Doch, wäre Noah nicht sauer auf uns, wenn wir jetzt schon zu ihm kamen? Oder wartete er schon all die Jahre sehnsüchtig auf uns? Würde unsere Familie bald wieder vereint sein? Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell geschehen würde.

 

Ein lautes Stöhnen und plötzlich war alles ruhig. Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass sich die Tür öffnete und eine Waffe auf uns gerichtet werden würde. Doch nicht jemand von außen griff nach der Klinke, sondern Emily, die plötzlich aufsprang und die Tür aufriss.

„Hey! Hier sind wir!“ Wenn ich meine Mutter nicht umklammert hätte, hätte ich sie wahrscheinlich zurückziehen wollen, um sie davon abzuhalten, uns in den sicheren Tod zu führen. Doch als auf ihren Ausruf hin plötzlich zwei mir so vertraute Gesichter in der Tür erschienen, konnte ich das Grinsen nicht mehr von meinen Lippen fernhalten.

Sie waren etwas mitgenommen (und sahen vor allem gerade sehr überrascht aus, als sie meine Eltern entdeckten), aber es schien ihnen soweit gut zu gehen. Die Explosion hatte sie wohl ebenfalls etwas durchgeschüttelt.

„Wow. Wir werden ja immer mehr!“ Ich wusste nicht genau warum, aber ich musste mir bei Adelios Witz wirklich das Lachen verkneifen. Ich war wahrscheinlich einfach viel zu aufgedreht, um mich noch zu beherrschen. Ich löste mich aus dem Griff meiner Eltern und gesellte mich zu der kleinen Gruppe.

„Bei euch alles okay? Adelio, dein Bein!“ Ich ließ einen weiteren Blick über die Jungs wandern und blieb an der blutigen Stelle an der Hose des Braunhaarigen hängen. Ich wollte mir das gerade etwas näher ansehen, doch Adelio schnaubte bloß.

„Das ist nur ein Kratzer. Lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen, Linchen.“ Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Doch irgendwie hätte ich mit einer solchen Reaktion rechnen müssen. Ich hatte die beiden und ihre Fähigkeiten anscheinend wieder gründlich unterschätzt.

„Dem Fleischkloß und mir geht es gut. Wir waren weit genug vom Explosionsherd entfernt und zudem noch durch die Laboreinrichtung geschützt. Aber du siehst ganz schön mitgenommen aus.“ Ich atmete beruhigt aus. Jaden würde mich nicht anlügen und ich wollte nichts mehr, als seine Worte zu glauben. Und trotz des ja irgendwie nicht sehr netten Seitenhiebs seitens des Rothaarigen, blieb mein Lächeln, wo es war.

„Mich hat es mitsamt dem halben Inventar durch die Wand geschleudert. Das fand mein Bein nicht so lustig.“ Das schmerzende Pochen war zwar ganz gut zu ignorieren, aber das hieß nicht, dass es nicht da war. Bei meinem eher lockeren Ton glätteten sich selbst Jadens angespannte Gesichtszüge etwas. Doch ich konnte sehr gut erkennen, dass ihm die aktuelle Situation so gar nicht gefiel.

„Ich habe schon immer gewusst, dass du ständig mit dem Kopf durch die Wand willst. Du und dein Dickschädel.“ Ich streckte ihm kindisch die Zunge entgegen, was ihn nur noch breiter lächeln ließ. „Aber jetzt reicht es dann auch. Nimm deine Eltern und verschwinde von hier! Verschwindet in dem Geheimgang und haut durch die Hintertür des Hotels wieder ab! Wir übernehmen ab hier.“

Plötzlich kehrte die Übelkeit zurück in meine Eingeweide. Das Lächeln war verblasst, als mir klar wurde, was Jaden gerade von mir verlangte. Doch konnte ich das wirklich tun?

„Geh, Amelina. Du bist gekommen, um deine Eltern hier rauszuholen. Du hast schon viel mehr als nötig getan.“ Adelios Lächeln machte das alles nicht besser. Meine Eingeweide verkrampften, als ich immer wieder zwischen den Jungs und meinen Eltern hin und her sah. Es stimmte. Meine Mutter, mein Vater. Ich konnte sie hier nicht alleine lassen! Sie könnten in dem Getümmel ernsthaft verletzt werden! Adelio und Jaden waren stark. Ihnen konnte ich vertrauen, das wusste ich.

Ich wusste nur nicht, ob wirklich dazu in der Lage war, genau das zu tun.

 

„Passt aber auf euch auf!“ Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Es gab nicht viel, was ich tun konnte, außer das. Meine Freunde baten mich darum, wer wäre ich also, wenn ich ihnen nicht einmal den Gefallen tat? Denn immerhin waren sie extra wegen mir hier …

„Du kennst uns doch! Der Angeber hat einen unheimlichen Dickschädel, der selbst Kugeln ablenkt, und ich bin viel zu geschickt, um mich erwischen zu lassen! Und du weißt doch: Unkraut vergeht nicht! Besonders nicht welches, das unter der Erde gewachsen ist!“

Ich seufzte laut, doch bemerkte auch, dass meine Mundwinkel leicht zuckten. Ich atmete tief ein und nickte ihm zu. Jemandem vertrauen. Etwas, das ich lernen musste. Etwas, was ich als Freundin tun musste.

 

„Dann lasst uns aufbrechen und den Typen in den Hintern treten!“ Emily war aufgesprungen und bereits halb aus der immer noch geöffneten Tür hinaus getreten, als Jaden sie am Oberarm packte und zurückzog. Verwundert blickte sie ihn an. „Was?“

„Du und Sebastian kommt nicht mit.“ Die Augen der Blonden weiteten sich und ich sah, wie sich ihr Gesicht vor Zorn verzerrte.

„Wie bitte? Hattest nicht gerade du gesagt, dass wir machen können, was wir wollen? Was bitte soll der Mist jetzt?“ Doch trotz Emilys Zorn blieb Jaden ganz ruhig.

„Natürlich kannst du machen, was du willst. Immerhin bist du kein kleines Kind. Aber ich werde nicht dabei zusehen, wie du in dein Verderben rennst. Glaub ja nicht, dass du die Schusswunde in deinem Bein ewig vor mir verstecken kannst!“ Tatsächlich entdeckte ich auf Jadens Aussage hin ein weißes Stück Stoff, dass direkt unter ihrem Jeansrock hervorlugte. Rote Flecken hatten sich mit Staub und Dreck vermischt, und das Tuch allmählich dunkel gefärbt. Auf ihrer schwarzen Leggins war es so schwerer zu entdecken gewesen. Ich sah Emily an, dass sie das nicht als Grund sah, um abzuhauen. Doch ehe sie etwas sagen konnte, fuhr Jaden fort. „Du bist verletzt und hast keine Erfahrung im Kampf! Was glaubst du, was du hier ausrichten kannst? Ich verstehe sehr gut, warum du hier bist und dass du deinen Freund rächen willst, aber nicht auf diese Weise! Du hilfst ihm nicht, indem du das Leben wegwirfst, was er dir im Austausch gegen sein eigenes geschenkt hat!“ Langsam bröckelte die Fassade der jungen Frau. Sie wich seinem Blick aus.

„Ach, und wie soll ich ihm bitte dann helfen?“

„Sein Ziel war es dieser Organisation das Handwerk zu legen, um niemanden mehr aus Habgier sterben zu sehen. Und genau das kannst du tun! Hier direkt um die Ecke gibt es einen Computerraum, der mir verdächtig nach Serverraum aussieht.“ Der Rothaarige drückte seiner Freundin eine Chipkarte in die Hand, die sie argwöhnisch betrachtete. „Nimm die. Sie gehörte einem der Kerle aus dem Labor und ich bin mir sicher, dass ihr damit da rein kommt. Du und Seb, ihr habt beide ein wenig Ahnung von Computern. Wahrscheinlich deutlich mehr als der Italiener und ich zusammen. Brecht dort ein und löscht so viele Daten wie ihr könnt! Damit tust du den Mistkerlen hier mehr weh, als wenn du ihnen in die Weichteile trittst, glaub mir.“

 

Lautes Stimmengewirr drang durch die offene Tür zu uns hinein und ließ uns zusammenzucken. Wir wandten uns alle dem Flur zu und hörten, wie sich das Geräusch von klappernden Schritten die langen Gänge entlang zog. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie uns entdeckt hatten.

„Wir haben nicht viel Zeit! Emily!“ Jadens Stimme war eindringlich und er suchte ihren Blickkontakt. Sie sahen sich lange in die Augen, bis die Blonde ihren Arm mit einem Ruck aus seinem Griff befreite.

„Ich warne dich, Jaden. Wenn du mir nicht den Kopf dieses Mistkerls von Anführer bringst, dann hänge ich mir deinen über den Kamin!“ Sein Lachen klang genauso unpassend wie gerechtfertigt. Doch ich konnte sagen, dass es ernst gemeint war.

„Verstanden.“

 

„Sie sind jeden Moment hier!“, drängte Adelio und sah sich immer wieder um. „Ihr bleibt da drinnen, bis der Schnösel und ich sie abgelenkt haben! Kommt erst raus, wenn es ruhig ist und dann beeilt euch!“

Ein allgemeines, entschlossenes Nicken seitens aller Anwesenden, worauf die Jungs den Wandschrank verließen und die Tür hinter sich schlossen. Eine wahnsinnig schwere Anspannung hing in der Luft und keiner der Anwesenden wagte es, sich zu rühren.

Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten und ich spürte meinen Herzschlag im ganzen Körper vibrieren, während ich auf den Beginn des Kampfes wartete.

 

Und nur einen unendlich langen Moment später war es dann auch schon soweit.

Entscheidungen

„Da sind sie!“

„Ihr elenden Mistkerle! Wie verdammt seid ihr hier rein gekommen? Wollt ihr uns etwa alle lebendig begraben?“ Ein lautes Schnauben.

„Als ob wir hier unten Sprengladungen zünden würden! Das habt ihr Widerlinge euch wohl selbst zuzuschreiben! Ihr seid anscheinend zu feige, um gegen zwei kleine Jungs anzutreten, hab ich recht?“ Wütendes Grummeln.

„Halt bloß die Klappe, Bürschchen! Es interessiert mich nicht, was du für einen Mist laberst und noch weniger, was ihr meint, hier tun zu können! Ihr werdet hier sowieso nicht mehr lebend rauskommen!“

Schnelle Schritte. Das Geräusch von Schüssen. Jeder Knall schien mein Trommelfell zum Bersten zu bringen. Der Schmerzensschrei fremder Männer. Ich hielt die Luft an und hoffte einfach nur, dass alles gut werden würde … Es musste einfach!

 

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sich auch die letzten Geräusche von uns entfernt hatten, aber die Stille, die sich plötzlich über uns legte, war mehr als unangenehm. Ich war so angespannt, dass ich das Blut durch meine Adern rauschen hörte. Und als Emily dann ihre Hand nach der Klinke ausstreckte, um die Tür zu öffnen, ließ mich das raschelnde Geräusch ihrer Kleidung automatisch zusammenfahren.

„Die Luft ist rein“, meinte sie, nachdem sie aus dem Spalt der Eisentür geblickt und anscheinend nur den leeren Gang vorgefunden hatte. „Los, jetzt!“

 

Die Blonde übernahm die Führung, dicht gefolgt von Sebastian. Die Schritte meiner Eltern hallten direkt hinter mir durch den Gang und ich spürte ihren nervösen Atem in meinem Nacken.

Auf dem Boden lagen einige bewusstlose Körper verstreut. Zwei lagen direkt vor der Tür, drei weitere verteilten sich auf der gesamten Länge des Flurs. Adelio und Jaden hatten gute Arbeit geleistet. So zermatscht und blutbeschmiert, wie die Gesichter der Männer waren, würden die noch eine ganze Weile schlafen. Wahnsinn, was die beiden alles konnten! Immerhin legten sie sich hier mit teils panzerschrankgroßen Männern an! Und noch unglaublicher war die Tatsache, dass sie diese Kämpfe anscheinend locker gewinnen konnten.

Nachdem wir nur wenige Schritte schleichend gegangen waren, hielt Emily plötzlich inne und beugte sich nach einem dunklen Gegenstand, der vor ihr auf dem Boden lag. Als ich erkannte, was das war, sog ich scharf die Luft ein. Wohl ein wenig zu laut, denn die junge Frau blickte mich an und entsicherte die Waffe.

„Nur für alle Fälle“, meinte sie leise zu mir und ich nickte zustimmend. Ich wusste, dass es nötig war, sich zu bewaffnen, wenn man sich gegen eine ganze Horde skrupelloser Diebe stellte, aber ich könnte trotzdem niemals auf einen Menschen schießen. Egal wie und warum. Allein die Vorstellung, jemandem das Leben nehmen zu können, war … unerträglich.

 

Sehr bald erreichten wir das Ende dieses Flurs, an dem er sich in zwei Richtungen ausbreitete. In der linken Hälfte waren bereits die Trümmer die Trümmer der Laboreinrichtung zu erkennen, die die Sprengladung dort über den Boden verteilt hatte. Eine wabernde Wolke aus Staub hing noch immer in der Luft und tauchte alles in ein milchiges, trübes Grau.

„Wir müssen hier entlang“, kam es plötzlich von Sebastian und ich sah mir die andere Seite des Flurs genauer an. Tatsächlich war an dessen Ende eine große Stahltür mit einem Kartenlesegerät und sogar einem Ziffernblatt zur Eingabe eines Passworts direkt daneben. Neben der Reihe von Laboren, die wir bereits entdeckt hatten, war dies der einzige Raum weit und breit. Daher war es sehr wahrscheinlich, dass Jaden dahinter den Serverraum vermutete.

„Ihr solltet euch schnell zu dem Geheimgang aufmachen und verschwinden! Wir kommen nach, wenn…“

 

Obwohl ich eigentlich in die Richtung des Serverraums gesehen hatte, hatte ich niemanden herauskommen sehen. Erst als Emilys Schrei die Luft zerriss und sich daraufhin ihre Hand um ihren Unterarm verkrampfte, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Etwas Metallisches schlug auf dem Boden auf, doch ich konnte nichts erkennen, was das Geräusch verursacht hatte.

Wieder zog ein Knall durch die Luft und endlich begriff ich, dass man auf uns schoss! Ein Weiß gekleideter Mann lugte aus der nun geöffneten Metalltür und zielte mit einem alten Revolver auf uns. Seine Hand zitterte, als er ein weiteres Mal den Abzug betätigte. Der Schuss verfehlte uns wieder nur knapp. In diesem Moment schien auch Sebastian zu schalten, denn gerade als ich mich zu meinen Eltern umdrehte, um sie in Sicherheit zu lotsen, griff er Emilys Arm und stürzte auf gleicher Höhe mit mir dorthin zurück, wo die Mauer uns Deckung geben würde.

Wir hatten uns eben erst in Sicherheit gebracht, als wieder etwas auf dem Boden entlang schabte und ein merkwürdiges, pulsierendes Echo verursachte. Ich konnte gerade noch erkennen, dass es eiförmig war und nur wenige Meter von uns entfernt zur Ruhe kam. Keine Sekunde später detonierte das Ding und eine grünliche Flüssigkeit spritzte heraus, deren Spritzer uns nur um Zentimeter verfehlten. Plötzlich lag ein ohrenbetäubendes Zischen in der Luft und ich hatte das Gefühl zu ersticken, als ich sah, was dort vor sich ging.

Dort, wo das Ding explodiert war, färbten sich Boden und Wände erst schwarz und kurz danach fraßen sich Löcher in die Oberfläche. Ich hatte in Chemie nicht wirklich aufgepasst, aber mir war plötzlich umso mehr bewusst, dass wirklich nicht weniger als unser Leben auf dem Spiel stand.

 

„Säure!“, japste meine Mutter atemlos, was meine Vermutung nur bestätigte.

„Diese verdammten …!“, zischte mein Vater und drückte meine Mutter enger gegen die Wand, um sie besser vor weiteren Angriffen schützen zu können. Zum Glück war er immer schon einen guten Kopf größer gewesen und auch körperlich deutlich breiter als sie.

„Meine Uhr!“ Emilys schriller Schrei übertönte selbst das Zischen der ätzenden Säure und riss mich aus meinen Gedanken. Wie ein Ertrinkender, der verzweifelt nach der letzten Möglichkeit griff, um sich zu retten, streckte sie sich, um zurück zu der Stelle zu gelangen, wo sie vor einigen Augenblicken noch gestanden hatte. Doch Sebastian konnte das mit viel Mühe gerade noch verhindern.

„Emily, nicht!“

Völlig perplex blickte ich an ihnen vorbei zurück und bemerkte einen kleinen, goldenen Gegenstand, der sich inmitten der ätzenden Flüssigkeit befand und sich langsam in Luft auflöste. Erst beim zweiten Hinsehen, erkannte ich, dass das eine Uhr war. Hatte Emily sie verloren? Die Uhr besaß ein fragiles Ziffernblatt, welches zu meiner Verwunderung nicht Weiß war, so wie es normalerweise der Fall war, sondern in einem wunderschönen Dunkelgrün schimmerte.

Erst dann wurde mir die ganze Sache klar.

 

„Nein! Meine Uhr! Mein Segensstein! Nein! Er kann nicht …! Er darf doch nicht …! Ich muss ihn holen! Sofort holen!“ Ich konnte die Verzweiflung in ihrer Stimme kaum ertragen. Ich fühlte mich in diesem Augenblick an den Moment zurückversetzt, wo Emily weinend vor mir stand und mich für den Tod ihres Freundes verantwortlich gemacht hatte. Heute wusste ich, dass sie damals von ihren Gefühlen überwältigt gewesen war und mittlerweile glaubte ich, sie besser zu kennen.

Verzweiflung und Tränen verzogen ihr Gesicht und während Sebastian versuchte, sie weiterhin aus der Gefahrenzone zu halten, konnte ich nur dumm da stehen und die Szene beobachten. Ich spürte, wie meine Muskeln zitterten, aber ich konnte nicht einen von ihnen bewegen.

„Emily! Emily! Warte! Hör auf!“ Doch sie schien Sebastians Worte überhaupt nicht wahrzunehmen. Ihr Blick war starr auf ihren grünen Segensstein gerichtet, der bereits kaum noch vorhanden war. Trotz ihrer schweren Verletzungen, die ihr wahrscheinlich unglaubliche Schmerzen bereiteten, stemmte sie sich mit aller Macht gegen seinen Griff.

„Mein Stein! Mein Stein!“, schluchzte sie immer und immer wieder, was auch mir Tränen in die Augen trieb. Es hatte keinen Sinn. Ihr Segensstein war für immer verloren.

„Emily! Emily, hör mir zu! Das ist nur ein blöder Stein! Du brauchst ihn nicht zum Leben! Damit kannst du Patrik auch nicht wieder zurückholen!“

 

Ihre Bewegungen stoppten. Plötzlich schien ihr Körper zu Stein erstarrt zu sein. Sebastian nutzte die Gelegenheit, um sie in seine Richtung zu drehen und ihr ins Gesicht zu sehen.

„Ich weiß, dass du glaubst, dass dein Segensstein die einzige Verbindung zu Pat ist, die du noch hast, aber glaub mir, dass ist nicht wahr! Dein Herz, deine Gefühle, deine Erinnerungen. Das alles ist tausend Mal kostbarer als dieses Stück Erde! Du liebst ihn und du trauerst um ihn und das ist völlig normal. Bitte, lass dich nicht von deinen Gefühlen auffressen. Lass dich nicht von Rache, Wut und Trauer zerfressen.“ Plötzlich wurden Sebastians Gesichtszüge weicher und ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Ich kannte Patrik schon ewig. Seit dem Kindergarten waren wir befreundet. Ich weiß, wie glücklich er war, als wir beide dich bei unserem Urlaub am Strand kennengelernt haben. Eure Segenssteine hatten euch sofort zueinander geführt. Ich weiß, dass er dich sehr geliebt hat und das habe ich auch.“ Emilys Augen spiegelten die Verwirrung wieder, die diese Worte in ihr auslösten.

„Was?“, hauchte sie, unfähig einen vollständigen Satz rauszubringen.

„Du und Patrik waren wie Geschwister für mich. Wir waren Tag für Tag zusammen und das war die absolut schönste Zeit meines Lebens! Doch irgendwann merkte ich, dass ich für dich mehr empfand, als nur Freundschaft. Aber natürlich habe ich nie ein Wort darüber verloren und hatte es auch eigentlich nie vorgehabt. Du und Patrik. Ihr wart glücklich und mehr hatte ich nie gewollt. Aber ich habe meinem besten Freund versprochen auf dich aufzupassen! Also werde ich nicht zulassen, dass du dein Selbstmordkommando hier weiter durchziehst! Ich helfe dir, diesem ganzen irrsinnigen Treiben ein Ende zu setzen, und dann bringe ich dich dorthin, wohin du möchtest. Und ich verlange nichts mehr, als an diesem Ort bei dir sein zu dürfen.“

Emily schien zu perplex, um ein Wort sagen zu können, aber die Tränen stoppten allmählich. Ein Ausdruck tiefer Ruhe zeichnete sich auf ihren Zügen ab, als sie eine für sie ganz entscheidende Frage stellte.

„Darf ich … dafür lernen, dich zu lieben?“

In diesem Augenblick strahlte Sebastian vor Freude und ich spürte, wie mir ganz warm ums Herz wurde. Er drückte ihr einen Kuss auf ihre Stirn und ließ von ihr ab.

„Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.“

 

Mit einer fließenden Bewegung erhob er sich vom Boden, nahm die Waffe, die die Blonde fallen gelassen haben musste, als Sebastian sie weggestoßen hatte, und überwand den letzten Meter zur Gabelung der Flure. Ich hielt den Atem an, als der Blonde sich an die Wand drückte und um die Ecke lugte, worauf Schüsse und ein Schrei die Stille zerrissen. Einen Moment später war wieder alles ruhig.

„Emily?“ Er sagte ihren Namen so voller Liebe, dass es selbst in meinem Magen aufgeregt kribbelte. Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie sofort ergriff. „Geht es?“ Sie stand etwas wackelig auf ihren Beinen, doch sie schien entschlossen zu sein, jetzt stark zu sein.

„Natürlich. Immerhin sind wir hier noch nicht fertig!“ Sie ließ seine Hand nicht los, als sie sich neben ihn stellte.

 

Doch bevor sie losgingen, streifte mich ihr Blick noch einmal.

„Amelina, los jetzt! Verschwindet!“ Doch trotz der Aufforderung, bewegte ich mich keinen Millimeter.

„Aber …! Aber was ist mit euch?“ Ich konnte sie doch nicht so verletzt zurücklassen! Wer weiß, ob es noch mehr von diesen Säure-Granaten gab?

„Wir bringen das hier um jeden Preis zu Ende! Wir verbarrikadieren uns in dem Raum und werden uns um die Daten kümmern! Diese verdammten Mistkerle sollen heulend vor den Trümmern ihrer ach so tollen Forschung zusammenbrechen! Danach kommen wir sofort nach.“ Plötzlich sah ich Sebastian in einem ganz anderen Licht. So mutig und willensstark hätte ich ihn gar nicht eingeschätzt. Für mich war er immer der nervöse Junge gewesen, den ich damals eher zufällig kennengelernt hatte. Nur jemand, der lediglich einer sehr guten Freundin helfen wollte und deshalb im Hintergrund die Fäden gezogen hatte. Doch die junge Frau an seiner Seite schien ihm unermessliche Kraft zu geben und ihn zu einem völlig neuen Menschen gemacht zu haben.

„Versprochen?“ Es war mir egal, ob man mich jetzt für kindisch halten würde, aber ich wollte sichergehen, dass ich die beiden wiedersehen würde. Sie waren mir in den letzten Stunden unendlich wichtig geworden.

„Versprochen!“, sagten beide aus einem Mund und ich lächelte ihnen zu.

„Abgemacht! Passt auf euch auf!“ Ich blickte kurz zurück, um meinen Eltern zu zeigen, mir zu folgen, und lief dann los, um meinen Teil zu dieser Mission beizutragen. In meinen Gedanken klammerte ich mich das Bild zweier endlich wieder glücklichen Menschen.

 

Ich rechnete hinter jeder Ecke damit, dass irgendjemand mit einer gezückten Waffe schreiend auf mich zu sprang, doch zu meiner Überraschung begegneten wir keiner Menschenseele. Ich konnte mir das nur dadurch erklären, dass es bereits weit nach Mitternacht sein musste, und die anderen Bandenmitglieder wahrscheinlich friedlich in ihren Betten lagen, ohne etwas von der aktuellen Situation an ihrem Arbeitsplatz zu ahnen. Ich konnte jedenfalls nur hoffen, dass es keine Vorschrift gab, die besagte, dass das Handy immer griffbereit am Bett liegen musste. Das könnte sich als ziemlich ungünstig für uns herausstellen…

 

Wir überwanden die Treppe ins oberste Geschoss des Laborkomplexes und ich folgte dem Weg zurück an die Stelle, an der wir hier eingedrungen waren. Zu meinem Glück waren die Räume alle beschriftet und ich erinnerte mich noch genau an die Orte, die wir durchsucht hatten.

Beinahe schon erleichtert bog ich in den Gang ein, der, wie ich vermutete, der richtige war. Aber … War die Wand eben auch schon so völlig Weiß und unscheinbar gewesen? War ich hier wirklich richtig? Wo war dieser blöde Geheimgang eigentlich genau gewesen? Kein Wunder, dass ihn anscheinend nie jemand entdeckt hatte! Er war plötzlich wieder absolut unsichtbar!

Wie ein Mensch, der sich plötzlich irgendwo an einem pechschwarzen Ort wiederfand und keinerlei Orientierung hatte, tastete ich mich ein wenig hilflos an der Wand entlang. Die Kühle der Fliesen unter meinen Fingerspitzen brachte meinen erhitzten Körper zum Erschaudern.

„Hier muss es doch irgendwo sein!“, zischte ich immer wieder und ich bemerkte, dass sich die Nervosität so langsam in Panik verwandelte. Wir waren so kurz davor hier wieder rauszukommen! Meine Eltern und … ich.

Ein quietschendes Geräusch ertönte, als ein Finger seltsam tief in eine der Fugen rutschte, und in der nächsten Sekunde unterbrach ein kleiner, schwarzer Spalt das reine Weiß der gefliesten Wand. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen zog ich die Tür auf und Schwärze empfing mich. Ich hörte, wie meine Eltern hinter mir nach Luft schnappten.

„Amelina! Was …?“ Meine Mutter klang heiser. Sie hatte viel mitgemacht. Sie war am Ende ihrer Kräfte.

 

Ich trat einen Schritt zur Seite, damit der Weg zum Geheimgang nicht länger versperrt war.

„Ein geheimer Gang, den wir durch Zufall entdeckt haben. Er führt direkt in den Keller des Lifetime Palace.“ Die Augen meiner Eltern weiteten sich.

„Dem Hotel?“ Ich nickte meinem Vater bestätigend zu.

„Ihr müsst da durchgehen und einen Weg hinaus finden! Bitte! Ihr müsst mir einen Gefallen tun!“ Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich würde es selbst nicht tun können. „Bitte, ruft diese Nummer hier an, sobald ihr die Möglichkeit dazu habt.“ Ich zog mein Smartphone und ein kleines, lieblos abgerissenes Stück Papier aus meiner Hosentasche, auf das flüchtig ein paar Zahlen geschrieben waren, und hielt sie meinen Eltern hin. Meine Mutter nahm es mit zitternden Fingern entgegen.

„Was ist das?“ Sie blickte kurz auf die Zahlen und sah dann wieder mich an. Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht.

„Das ist die Nummer einer für uns sehr wichtigen Person. Sag ihm bitte, dass Jaden und wir hier sind und was genau passiert ist. Er wird schon wissen, was zu tun ist.“ Es war an der Zeit es ihm zu sagen. Das hatten Jaden und ich bereits vor einiger Zeit beschlossen.

„Aber … warum tust du es nicht selbst? Ruf die Person doch an, wenn wir draußen sind! Ich bin sicher, das Hotelpersonal wird uns helfen, wenn wir ihnen alles erklären!“

 

Das Lächeln wich nicht, als ich den Kopf schüttelte.

„Nein, Mama, ich komme nicht mit. Meine Freunde bleiben schließlich auch hier und kämpfen einen Kampf, der uns alle betrifft.“

„Aber Amelina! Die beiden Jungs haben gesagt, dass sie es schaffen werden! Wir können ihnen auch helfen, indem wir qualifizierte Hilfe holen!“ Das war mein Vater. Sachlich wie immer. Doch ich sah ihm an, dass seine ruhige Fassade bröckelte. Ich kannte ihn einfach zu gut.

„Jaden und Adelio haben mehr als einmal ihr Leben für mich riskiert. Sie haben mich aufgenommen und beschützt, als ich verängstigt, hilflos und allein war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es schaffen werden, denn ich glaube an sie, aber mir ist klar geworden, dass ich es mir nie verzeihen würde, wenn ich in diesen so wichtigen Stunden nicht bei ihnen wäre.“

 

Den Mund meiner Mutter umspielte ein trauriges Lächeln.

„Das ist jetzt also dieser Moment, in dem eine Mutter sagen muss, dass sie den Entscheidungen des Kindes vertraut, hab ich recht? Dieser Moment, in dem man sein geliebtes Kind gehen lassen muss, obwohl man es gar nicht möchte.“ Trotz ihrer Worte sah sie mich bloß ruhig an. Ich selbst war wie gelähmt. „Du weißt, ich vertraue dir, Amelina, und du weißt, dass ich ungeheuer stolz auf diese junge Frau bin, die gerade vor mir steht. Trotzdem verlangst du in diesem Moment von mir, dass ich fliehe, während meine Tochter sich mit einer ganzen Bande von Mördern anlegt. Bitte versteh‘, dass es mir unmöglich ist, da „Ja“ zu sagen.“ Der Kloß in meinem Hals nahm mir die Möglichkeit zu atmen. Was sollte ich denn darauf erwidern?

„Mama …“

„Deine Mutter hat recht. Wie könnten wir dich einer solchen Gefahr aussetzen, nur um uns selbst zu retten? Du bist unsere wertvolle, kleine Tochter und wir lieben dich sehr.“ Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.

„Aber wir sehen auch, dass da vor uns nicht mehr unsere kleine Amelina steht, sondern eine wahnsinnig starke Frau, die für ihre geliebten Menschen über sich hinauswächst. Wenn dir diese jungen Männer so viel bedeuten, könnten wir dich nie davon anhalten, ihnen zu helfen, denn du würdest genau den Schmerz und die Sorge fühlen, den wir die letzten Tage erlitten haben, als wir nicht wussten, wo du warst und was mit dir passiert ist. Und wie könnten wir das zulassen?“ Ich spürte die Tränen in meinen Augen brennen, doch ich wischte sie nicht weg. Ich begrüßte sie sogar. Denn das waren Tränen der Liebe. Obwohl ich es immer tief in meinem Inneren gespürt hatte, wurde es mir jetzt erst richtig bewusst: Meine Eltern liebten und unterstützten mich. Wir waren eine Familie.

„Danke! Mama, Papa.“ Sie legte ihre Hand für einige Momente auf meine Schulter und drückte sie ganz fest. Ich spürte ihre angenehme Wärme und all die Gefühle, die sie für mich hatte, wie einen unaufhaltsamen Strom durch mich hindurch fließen. Und dieser Strom brach selbst dann nicht ab, als sie wieder von mir abließ.

 

„Komm, Liam, wir gehen. Wir müssen Hilfe holen und zwar schnell!“

„Leila … Ja, du hast recht. Amelina, pass bloß auf dich auf, hörst du?“

„Das werde ich!“

 

Ich blieb noch eine Weile stehen und sah meinen Eltern zu, wie sie sich in den engen Gang zwängten und in der Dunkelheit verschwanden. Ich schloss die Tür hinter ihnen und spürte, wie sich ein Teil von mir plötzlich seltsam leicht anfühlte. Die Sorge um meine Eltern war verschwunden. Ich wusste, dass sie jetzt in Sicherheit waren und schon sehr bald Hilfe holen würden. Jetzt musste ich nur noch dafür sorgen, auch meine Freunde hier wieder gesund und munter rauszuholen.

 

Wie genau ich das anstellen wollte, war mir allerdings noch selbst ein Rätsel.

Geheimnisse

So schnell ich es wagte, hechtete ich den Flur wieder zurück in die Richtung, aus der ich eben erst gekommen war. Dass mein Bein schmerzhaft pochte, war mir völlig egal. Emily wurde zweimal angeschossen und biss trotzdem tapfer die Zähne zusammen und Adelio hatte ein Skalpell im Bein stecken, ohne dass er sich etwas daraus machte! Also konnte ich mich von dieser alten Wunde doch nicht einschüchtern lassen!

Die Treppe lag zum Glück wieder verlassen da, als ich mich bis in das unterste Stockwerk wagte. Ich erinnerte mich noch gut an den Lageplan, den ich vor einigen Stunden (Wie lange war das eigentlich wirklich her? Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr!) auf dem Computer entdeckt hatte und hoffte, dort auf die Jungs zu treffen. Und noch mehr hoffte ich, dass ich sie gesund und munter vorfinden würde…

 

Ich achtete nicht auf die Personen, die meinen Weg säumten. Ich sah nicht das Blut, welches die Fliesen bedeckte. Und ich dachte nicht darüber nach, wer genau das hier getan hatte …

Mein Atem ging stoßweise und mit jedem Schritt protestierte mein Körper mehr. Ich fühlte mich plötzlich wahnsinnig erschöpft und kraftlos. Es fiel mir sekündlich schwerer meine Muskeln dazu zu bringen, sich zu bewegen. Auch der Gedanke an mein Ziel rückte immer weiter in die Ferne. Der Ruf nach einer längeren Pause und etwas Schlaf war kaum noch zu ignorieren.

Doch als ich die Tür, nach der ich suchte, am Ende des Flurs erspähte, verschwand diese erdrückende Müdigkeit schlagartig aus meinem Körper und Adrenalin pumpte augenblicklich durch meine Blutbahn. Doch kurz bevor ich mein Ziel erreicht hatte, blieb ich stehen.

Mein Atem ging stoßweise und die Innenseite meines trockenen Mundes fühlte sich wie Schmirgelpapier an. Meine Muskeln zitterten wegen der Anstrengung beim Laufen und ich fühlte, wie mein Herz vor Anspannung unregelmäßig schlug.

Jetzt war es wirklich soweit. Hinter dieser Tür würde alles ein Ende nehmen. Wie auch immer dieses aussehen mochte.

 

Die Eisentür machte den Eindruck, als befände man sich vor dem prall gefüllten Tresorraum einer gut gesicherten Bank. Rechts daneben befand sich ein kleiner Computer, der dort in die Wand eingelassen war. Für mich unverständliches Kauderwelsch blinkte auf dem Monitor auf, gefolgt von einem Cursor, der wohl auf die Tastatureingabe eines Passwortes wartete.

Sogar so etwas wie einen Fingerabdruckscanner konnte ich an der Maschine ausmachen. Hier hinter war definitiv etwas sehr Wichtiges vor der Außenwelt verborgen worden. Nicht zuletzt die bestimmt 30 Zentimeter dicke Tür aus massivem Stahl deutete etwas Derartiges an.

Doch dass dieser Zugang für mich nicht länger blockiert war konnte nur bedeuten, dass die Jungs bereits in der Höhle des Löwen waren. Aber es ging ihnen sicherlich gut. Es musste einfach!

 

Meine zittrigen Finger griffen nach dem Metall und mit einiger Anstrengung stemmte ich den Flügel soweit auf, dass ich hindurch schlüpfen konnte. Ich zögerte einen Moment und überlegte, ob es nicht sinnvoller wäre, die Tür zu schließen, damit niemand sonst mehr hinein kam. Aber etwas in mir verlangte, die Tür wenigstens einen spaltbreit offen stehen zu lassen. Und weil ich gerade eh nichts anderen tun konnte, hörte ich dieses Mal auf mein Bauchgefühl. Es würde mich schon nicht enttäuschen …

Wieder stand ich in einem Flur, doch dieser war nur gut drei Meter lang. Stirnseitig sowie rechts und links waren jeweils eine Tür. Die auf der rechten Seite war aber bloß eine Abstellkammer, wie die geöffnete Tür mir offenbarte.

Durch ein kleines Fenster in der anderen Tür jedoch, war ein leerer Raum zu erkennen, in dem bloß ein medizinischer Stuhl in der Mitte thronte und eine große Lampe darüber für Licht sorgte. Eigentlich sah es ziemlich normal aus. Wären da nicht die Befestigungen auf dem metallischen Stuhl gewesen, die die darauf sitzende Person am Aufstehen hindern sollte. Ich wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf, um die aufkommenden Bilder darin sofort wieder zu verbannen. Hier hatten sie also wirklich Experimente an lebenden Menschen durchgeführt. Und wahrscheinlich hätten meine Eltern und ich die nächsten Versuchskaninchen sein sollen…

Ich schaltete meinen Kopf ab und ließ das Bild von mir vor Schmerzen schreiend auf diesem widerlichen Stuhl sitzend verschwinden. Dahin, wo ich es nie wieder sehen würde.

 

Am ganzen Körper zitternd ging ich der letzten Tür entgegen, holte tief Luft und drückte die Klinke so leise runter, wie ich nur konnte. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde, aber ich wollte auf keinen Fall mit einem lauten Knall in diese Party platzen. Tatsächlich hörte ich Stimmen und Geräusche, die aus dem hell beleuchteten Raum kamen. Und ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich zwei dieser Stimmen erkannte.

„Adelio! Hinter dir!“ Jadens Aufschrei ließ mich zusammenfahren und ich wagte es, mich ein Stück weiter in den Raum zu beugen. Schnell versuchte ich mir einen Überblick zu machen.

Ein typisches Labor. Weiße Wände, ein roter Steinfußboden, Tische und Ablagen vollgepackt mit massenweise, mit bunten Flüssigkeiten gefüllten Reagenzgläsern, Computern und anderen technischen Apparaten, sowie schriftlichen Dokumenten. Und eine komplette Vitrine voller wertvoller Edelsteine, die wahrscheinlich einmal Segenssteine gewesen waren und an denen wohl noch immer das Blut ihrer rechtmäßigen Besitzer klebte.

 

Doch ich wandte meinen Blick ab und sah gerade noch, wie ein schwarz gekleideter Mann von hinten auf Adelio zustürmte, der gerade damit beschäftigt war, einen anderen Typen von sich wegzuschieben und k.o. zu schlagen. Wie ein nasser Sack fiel er in sich zusammen, als der schwere Gegenstand ihn am Hinterkopf traf. Ich schlug meine Hände vor den Mund, um zu verhindern, dass der Schrei über meine Lippen kam. Der Braunhaarige krampfte auf dem Boden und hielt sich die blutende Stelle an seinem Nacken. Sein schmerzvolles Stöhnen brannte sich in meinen Kopf und ich war mir sicher, dass ich dieses Geräusch nie wieder vergessen würde.

„Hab ich dich endlich, du Mistkröte“, lächelte der Mann, dessen kantiges und vernarbtes Gesicht von den Kämpfen zeugte, die er wohl in seinem Leben schon bestritten hatte. Und die blutige Platzwunde über dem Auge wohl davon, weshalb er Adelio „Mistkröte“ nannte.

In aller Seelenruhe hob er eine Waffe vom Boden auf, die direkt neben seinen Füßen gelandet war und entsicherte sie. Das mordlüsterne Grinsen in seinem Gesicht ließ mich würgen. Plötzlich brannte mein Körper, als der Typ die Waffe auf meinen auf dem Boden liegenden Freund richtete und sein Finger sich um den Abzug schloss.

Im nächsten Moment, sah ich Rot.

 

Ich wusste nicht, wie diese Eisenstange in meine Hände kam und warum der eben noch so widerlich grinsende Typ plötzlich in seiner eigenen Blutlache auf dem Boden lag. Und erstrecht konnte ich mich nicht daran erinnern, wie ich hierhergekommen war. Hier, direkt neben Adelio.

„Amelina?“ Durch sein eines, halb geöffnetes Auge sah er mich an, und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Das Eisen klirrte, als ich die Stange auf den Boden fallen ließ, und half dem Braunhaarigen, sich wieder aufzurichten. „Was zum Teufel machst du hier?“, fragte er durch seine zusammengebissenen Zähne, als er wieder auf seinen Füßen stand. Doch das nicht ohne mein Zutun und der Hilfe des Labortisches vor ihm.

„Seit wann hört jemand in den Actionfilmen tatsächlich darauf, wenn man ihm sagt, er solle weglaufen? Das wäre total entgegen dem Klischee!“ Ich war so erleichtert, ihn zu sehen, dass mir sogar dieser blöde Witz über die Lippen kam. Ein schmerzverzerrtes Grinsen huschte über sein Gesicht.

„Mach dir nicht die Mühe dir Ausreden auszudenken, nur um zu überspielen, dass du einfach nicht hören kannst. Das ist längst zu spät.“ Jaden stand nur einen guten Meter von uns entfernt hinter einem weiteren Labortisch und versuchte angestrengt seine Worte böse klingen zu lassen. Doch mir entging das Zucken seiner Mundwinkel nicht. Er sah mitgenommen aus. Blutige Kratzer und blaue Flecke am ganzen Körper. Sein Jacket und das Hemd hatte er sich wohl inzwischen entledigt, und nun verstand ich auch, warum er unbedingt ein T-Shirt unterziehen wollte. So jedoch waren die vielen kleinen Wunden noch besser zu sehen. Aber immerhin stand er noch und hielt sich nicht stöhnend die Platzwunde an seinem Hinterkopf, so wie Adelio es noch immer tat. Also beschloss ich mich, ihn selbst entscheiden zu lassen, ob er noch konnte, oder nicht. Und seinen Worten nach zu urteilen, hatte er seine Entscheidung längst getroffen.

 

Ich gönnte ihm nicht die Genugtuung eines Lächelns meinerseits, also ließ ich meinen Blick noch einmal durch den Raum wandern. Ich zählte fünf Leute, die verstreut auf dem Boden lagen. Dazu der, den ich eben niedergeschlagen hatte. Doch entgegen allem, was ich gedacht hatte, tat es mir nicht einmal ein ganz klein wenig leid, das getan zu haben. Dieser Mistkerl hatte die Kopfschmerzen gehörig verdient!

 

„Es ist doch wirklich unglaublich, dass ein paar Kinder meine gut ausgebildeten Männer so einfach ausschalten können. Es ist wirklich schwer heute noch gutes Personal zu finden.“

Ich zuckte zusammen, als die Stimme eines fremden Mannes durch den Raum hallte. Ein kleiner, dicklicher Mann mit kurzen, dunkelbraunen Haaren und schwarzem Anzug schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Er stand mit verschränkten Armen am stirnseitigen Ende des Raumes, direkt neben der Segenssteinvitrine, und sah mit einem Lächeln zu uns hinüber.

Es fiel mir in diesem Augenblick schwer, nicht zusammenzubrechen. Wenn Adelio nicht wieder soweit auf die Beine gekommen wäre, dass nicht mehr ich ihn, sondern er mich stützte, hätten meine Beine wohl unter meinem bleischweren Körper nachgegeben. Erinnerungen an den Tag der Wahlveranstaltung durchfluteten meinen Körper und plötzlich wusste ich, dass ich nicht paranoid gewesen war.

 

„Leynardh!“, zischte Jaden plötzlich ebenso überrascht, wie ich es war. Er war es gewesen! Die ganze Zeit er!

„Der kleine Davis-Sprössling! Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich dir noch einmal gegenüber stehen würde. Ich hatte eigentlich befohlen, dass auch du damals um die Ecke gebracht werden solltest.“

„Du Mistkerl! Du warst ein Freund meines Vaters! Wie konntest du das nur tun?“ Die Wut in Jadens Stimme überschlug sich und um ein Haar wäre er dem Politiker an den Kragen gesprungen, doch eine schwere Hand legte sich urplötzlich um seinen Oberarm und hielt ihn zurück. Ich schrie, als der Typ ihm den Lauf einer Pistole an den Hinterkopf drückte. Wo kam der auf einmal her? Jaden stoppte seine Bewegungen, was ihn aber nicht davon abhielt, die Wut weiterhin aus seinen Augen sprechen zu lassen.

„Na, na, junger Freund. Wer wird denn gleich so an die Decke gehen? Immerhin war ich so freundlich euch trotz eures rüden Eindringens in mein Hotel“, er betonte das Wort „mein“ besonders stark, „einfach so rein spazieren zu lassen. Dein Vater war nie mein Freund. Wie könnte er auch? Er war bloß ein unverbesserlicher Idealist, der seinem lächerlichen Traum von Gerechtigkeit und Nächstenliebe blind hinterher gerannt war. Ich hingegen habe schon immer weitaus größere Ziele verfolgt. Und dein Vater hatte genau das, was ich dafür gebraucht habe.“

„Dreckskerl!“ Der Rothaarige versuchte, sich gegen den Griff des Mannes zu wehren, worauf dieser die Waffe entsicherte. Das Klicken der Pistole machte mich beinahe taub.

„Jaden! Nicht!“, ich rief hilflos und tatsächlich hörte er auf, sich zu wehren. Stocksteif stand er nun da und fixierte seinen Blick, in dem so viel Hass lag, auf den Politiker. Mein Herz schlug schmerzhaft in meiner Brust und ich bekam kaum noch Luft. Ich umklammerte Adelios Arm mit meinen zitternden Fingern und spürte, dass auch er bis auf das Äußerste angespannt war.

„Deine kleine Freundin hat recht. Wenn du nicht so viel zappelst, lass ich dich vielleicht sogar am Leben. Du wärst ein super Testobjekt für meine Gedankenkontrolle. Wenn ich deinen sturen Schädel knacken könnte, kann ich mir sicher sein, dass es bei jedem anderen auch funktionieren wird.“

Doch Jaden sagte nichts. Sein Blick war noch immer auf Leynardh gerichtet. Sein ganzer Hass lag auf dem Mann, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte.

 

„Ach Jaden. Ihr Kinder wisst doch gar nicht, welche Schätze ihr da eigentlich in den Händen haltet! Das sind nicht nur irgendwelche Schmucksteine, die man nur dafür benutzt, um vor Schulfreunden damit anzugeben!“ Sofort kamen die Erinnerungen an die Tage hoch, an denen meine Mitschüler mich umkreist und immer wieder meinen Segensstein bewundert hatten. Wie sie mich mit funkelnden Augen angehimmelt hatten, weil ich so einen tollen und wertvollen Stein hatte! Aber nie hatte jemand sich für mich gefreut, weil ich eine gute Note in einem Test geschrieben hatte, nein. Die Person hinter dem Diamanten war immer unsichtbar gewesen.

„Ich musste so viele Nachforschungen und Tests durchführen lassen, um den Wert hinter den Steinen zu erkennen! Segenssteine stellen die ausgereifte Seele eines Menschen dar. Sie spiegeln die Person wieder, die wir einmal werden wollen! Doch nicht jeder schafft es auch zu diesem Menschen zu werden. Nicht jeder kann seine Seele mit seinem Edelstein in Einklang bringen. Entscheidungen, die getroffen werden, Gefühle, die durchlebt werden, die allgemeine Art sein Leben zu führen. Das alles entscheidet, ob wir wirklich zu demjenigen werden, der wir sein können. Und die, die vom Weg abkommen, werden niemals ihr Leben vollkommen ausschöpfen können.“ Wieso rissen mir seine Worte gerade den Boden unter meinen Füßen weg? Wieso fühlte es sich an, als würde ich inmitten eines dunklen Nichts schweben? „Der Stein reagiert bei denen, die eine Seele im selben Entwicklungsstadium besitzen, wie die eben getroffene Person. Das ist faszinierend und bietet so viel mehr, als die dumme Menschheit es glaubt! Denn wer sein Herz, seine Seele auf der Hand trägt, bietet Leuten wie mir ein Potential, das wir nicht ungenutzt liegen lassen können. Besonders du, kleines Mädchen.“ Ich schluckte schwer, als seine eiskalten Augen direkt in meine Seele zu blicken schienen. „Du hättest ein vorzügliches Testobjekt abgegeben! Dieser unglaublich wertvolle Diamant … Irgendwas muss an dir besonders sein und ich wüsste zu gerne, was es ist … Und ohne diese rothaarige Nervensäge hätte ich dich und deinen Stein so viel einfacher bekommen! All dieses ungenutzte Potential! Begreift ihr jetzt, wie dumm ihr eigentlich seid?“

                                                                                                                      

Mein Gehirn war in diesem Moment nicht in der Lage das Gehörte zu verarbeiten. Irgendwie schien alles gleichzeitig Sinn zu ergeben aber ebenso auch nicht. Der Segensstein spiegelte den Zustand, den unsere Seele haben sollte, sobald wir uns körperlich und seelisch am Ende unseres Lebens fertig entwickelt hatten? Und der Partner, den er für jeden Menschen individuell bestimmte, war auf demselben Stand, demselben Weg? Wie sollte das bloß der Mensch verstehen können?

„Du Mistkerl willst dir die Macht und Geheimnisse der mächtigsten Männer und Frauen der Welt aneignen und dadurch den Tod so vieler Menschen riskieren, nur um deine eigenen Pläne durchzusetzen? Wer von uns ist hier eigentlich dümmer?“

 

„Nervtötend moralisch wie immer, nicht wahr?“ Eine helle Frauenstimme schien aus dem Nichts zu kommen und mischte sich in das Gespräch ein. Allein bei ihrem süßlichen Klang stellten sich mir die Nackenhaare auf. Und noch schlimmer war die Tatsache, dass ich mir sicher war, sie schon mehr als einmal gehört zu haben.

In einer Tür in der hinteren Ecke, die ich bisher gar nicht bemerkt hatte, stand plötzlich eine junge Frau. Ihre blonden Haare wirkten beinahe Weiß im Licht der grellen Leuchtstoffröhren des Labors. Ein kaltes Lächeln lag auf ihren rosigen Lippen und ihre grünen Augen ließen keine Sekunde von uns ab, als sie sich auf Leynardh zubewegte.

 

Ich traute meinen Augen kaum, als der Politiker seinen Arm um ihre Schultern legte und sie mit einem seltsamen Stolz in seinen Augen anlächelte.

„Meine Tochter Aurelia Starchain, oder sollte ich richtigerweise sagen, Leynardh, habt ihr bereits kennengelernt, nehme ich an?“ Mein Mund war staubtrocken und der Kopf war leer. Ich fühlte mich, als wäre mein Kopf ein randvolles Fass, das bei dem nächsten Tropfen überlaufen würde.

„Was soll das heißen, „Tochter“? Aurelia, was zum Teufel tust du hier?“ Ihr leises Lachen hing in der Luft, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.

„Du hattest mich doch einmal nach meiner Familie gefragt, erinnerst du dich Jaden? Ich habe dir erzählt, dass ich bei einer Pflegefamilie aufgewachsen bin und meine wahre Mutter nicht kenne, weil sie mich einfach bei meinem Vater, einem chronischen Lügner und Betrüger, zurückgelassen hat, der jedoch nicht in der Lage war, sich um ein kleines Baby wie mich zu kümmern? Damals habe ich nicht gelogen.“ Ihr kleines fieses Grinsen wurde noch breiter, als sie den geschockten Ausdruck auf Jadens Gesicht sah. „Meine Mutter kenne ich nicht. Sie war bloß auf das Geld meines Vaters aus, der schon damals in den oberen Kreisen der Gesellschaft gewandelt ist. Als sie plötzlich schwanger mit mir wurde und mich heimlich auf die Welt brachte, ließ sie alles zurück und hat wahrscheinlich auch nie mehr an mich gedacht. Doch das macht mir nichts aus. Alleine bin ich umso stärker.“

„Du hast uns … Du hast uns die ganze Zeit belogen?“ Jaden rang richtig um Worte, als er die Tragweite der Situation langsam verstand.

 

„Ach Jaden. Jetzt guck doch nicht so tief betroffen. Du hattest es doch die ganze Zeit geahnt, oder etwa nicht? Eines Tages stand mein richtiger Vater, Theodor Leynardh, plötzlich vor meiner Tür und hat mir alles erzählt. Alles über ihn, seine Pläne und die Schwierigkeiten, die er mit einer Bande von Möchtegern-Gerechtigkeitskämpfern hat. Da habe ich nicht lange gezögert. Und alles andere war so einfach gewesen. Ich wusste, dass du einen auf Retter machen würdest, wenn ein armes, unschuldiges Mädchen in Gefahr wäre.“ Jaden stieß ein zischendes Geräusch aus und ich sah, wie er sich immer mehr anspannte. Am liebsten wäre er seiner ehemals besten Freundin wohl an die Gurgel gegangen.

„Es war alles von langer Hand geplant. Was gab es besseres, als sich beim Feind einzuschleusen und sie Tag und Nacht auszuspionieren? So war es für mich ein leichtes, meinem Vater die Informationen zukommen zu lassen, die er brauchte, um euer kleines Rattennest vollends auszuräuchern. Ich gebe zu, es hat nicht alles 100 prozentig so funktioniert, wie ich es gewollt hatte, …“, ihr Blick fiel dabei verdächtigerweise direkt auf mich, „aber ich denke, wir haben trotzdem das Beste draus gemacht.“

„Wegen dir sind dutzende Menschen gestorben, ist dir das eigentlich klar?“ In Adelios Worten brodelte die Wut, als er an die vielen Freunde dachte, die wegen dieser ganzen Misere ihr Leben lassen mussten.

„Ach, so viele waren es gar nicht. Die meisten haben sich völlig ohne mein Zutun selbst ausgeschaltet. Dass der arme Colin hingegen gestorben ist, war wohl wirklich meine Schuld gewesen. Zumindest hatte ich seinem Mörder bereitwillig die Tür geöffnet und ihm genauestens beschrieben, wo er zu finden ist.“ Sie sprach über Colins heimtückischen Mord so, als würde sie mit einer guten Freundin über das Kleid plaudern, das sie sich gerade erst gekauft hatte. Da waren keine Trauer, keine Schuldgefühle. Ja nicht mal so etwas wie Reue! Es war ihr völlig gleichgültig, dass Menschen ihretwegen starben, solange sie das bekam, was sie wollte.

                                                             

„Du widerliche, falsche Schlange.“ Jaden wehrte sich gegen die Hand die ihn hielt, beinahe so, als hätte er vergessen, dass ihm jemand eine Waffe an den Kopf hielt. Ich hatte Angst um ihn, furchtbare Angst.

„Tja, um dich ist es wirklich schade, Jaden. Ich hatte echten Gefallen an dir gefunden! Ich hatte wirklich gehofft, dass wir beide am Ende gemeinsam hier stehen und triumphieren würden. Natürlich hatte ich meinen Vater gebeten, dich zu verschonen. Es war alles bereits geregelt. Auch die Sache im alten Krankenhaus war bloß inszeniert. Wobei ich an einem Punkt wirklich befürchtet hatte, dass diese Trottel dir etwas angetan haben. Aber dummerweise musstest du dich dem Trupp ja anschließen und wir konnten nicht zulassen, dass du unseren Plan vereitelst. Oder warum glaubst du haben wir dich als einzigen am Leben gelassen? Wegen der Informationen? Pah. Und als ich dann auch noch mitbekam, dass diese zwei Möchtegern-Helden tatsächlich aufbrechen und dich retten wollten, hab ich mich ihnen angeschlossen, um sie davon abzuhalten, alles kaputt zu machen.“

Ihr Lachen klang genauso, wie ich mir das Lachen eines Wahnsinnigen vorstellte. Aurelia war für mich plötzlich zum Inbegriff eines Bösewichts geworden. Doch ihre Augen strahlten keinerlei Freude aus. Im Gegenteil.

„Und es lief alles perfekt. Okay, vielleicht außer in dem Moment, in dem uns diese Trottel beinahe in die Luft gesprengt hatten. Aber ansonsten … Ich bin einfach eine wahnsinnig gute Schauspielerin, nicht wahr? Doch du musstest dich ja unbedingt mit dieser … dieser … Göre anfreunden!“ Sie spie mir das Wort wie Gift ins Gesicht und ich hatte in diesem Moment richtig Angst vor ihr. In ihren giftgrünen Augen loderte der pure Wahnsinn. Wie hatte ich mich bloß anfänglich von ihrer netten Ader täuschen lassen können? „Sieh sie dir doch an, verdammt! Mit ihrem knochigen Körper, den kaputten, strähnigen Haaren und ihrem ständigen Geheule! Wie könnte ausgerechnet die mir je das Wasser reichen?“ Auch, wenn ich es eigentlich nicht zulassen wollte, ihre Worte trafen mich sehr. Adelio trat einen Schritt zur Seite, sodass ich nun fast komplett hinter seinem Rücken verschwunden war. Ich war ihm unendlich dankbar dafür. So sah wenigstens niemand diese albernen Tränen.

„Amelina besitzt eine Art von Schönheit, die du niemals verstehen könntest.“ Ich krallte mich in seine Kleidung und ließ mich von ihrem Duft beruhigen. Ich würde mir diese Blöße nicht geben. Besonders nicht vor ihr.

„Natürlich. Du bist ja auch noch ganz heiß auf sie. Habt ihr euch schon darauf geeinigt, wer das Mädchen am Ende kriegt? Oder gibt es noch ein episches Duell um ihre Gunst? Sagt mir Bescheid, ich würde es zu gerne sehen.“ Ich spürte, wie der Braunhaarige vor Wut bebte und dass es ihn überaus nervte, nichts gegen diese Frau unternehmen zu können.

 

„Aber gut. Dazu wird es wahrscheinlich sowieso nicht mehr kommen. Mein Vater hat wirklich besseres zu tun, als euch ständig hinterher zu laufen. Gebt uns einfach eure Segenssteine und dann schicken wir euch dorthin, wo ihr uns nicht mehr auf die Nerven gehen könnt!“

Ich schloss die Augen. Ich wollte nicht sehen, was jetzt mit uns geschehen würde. Ich wollte meinen eigenen Tod nicht sehen.

 

„Finger weg von meinem Sohn, du Mistkerl!“ Ein Schrei zerschnitt die Luft und ein lauter Knall dröhnte in meinen Ohren. Im nächsten Moment wurde ich zu Boden gerissen und erst, als ich meine Augen wieder öffnen konnte, konnte ich erahnen, was passiert war.

Der Mann, der Jaden eben noch bedroht hatte, lag nun regungslos auf dem Boden. Blut sickerte aus der Stelle, an der die Kugel ihn tödlich getroffen hatte. Wie aus dem Nichts stand nun plötzlich McSullen an Jadens Seite, und die Waffe in seiner Hand qualmte noch.

„Keith!“, rief der Rothaarige überrascht auf, als er seinen Ziehvater neben sich stehen sah. „Was machst du hier?“

„Für so etwas haben wir keine Zeit! Nimm deine Freunde und verschwindet hier, sofort!“

 

„McSullen! Du elender …!“ Ein weiterer Schuss fiel, doch ich konnte hinter der Werkbank, hinter die Adelio mich gezogen hatte, nichts erkennen. Ich sah, wie McSullen und Jaden ebenfalls in Deckung gingen und hörte Aurelia hysterisch schreien.

„Keith!“

„Geht jetzt, verdammt! Los!“ Jaden zögerte. Doch etwas ließ ihn trotzdem den Worten des Menschen gehorchen, der für ihn die letzten Jahre seine Familie war. Unter Feuerschutz von McSullen, schlüpfte Jaden über den Gang, bis er zu uns gestoßen war.

„Adelio, reiß dich jetzt gefälligst zusammen!“, zischte er, als der dem Braunhaarigen half, sich hinzuhocken. Dieser funkelte ihn nur an.

„Was denkst du, was ich hier tue, du Schnösel?“

„Dann ist es ja gut. Ich wollte nur prüfen, ob das bisschen Hirn in deinem Schädel nicht durch den Schlag gänzlich unbrauchbar geworden ist.“ Ein herausforderndes Lächeln lag auf dem Gesicht des Rothaarigen, das Adelio augenblicklich erwiderte.

„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich hasse.“

„Dann sind wir ja schon zwei. Und jetzt los!“

 

Ich ging ebenfalls in die Hocke und schlich mit den Jungs, um das Mobiliar herum, um zur Tür zu gelangen. Immer wieder zogen Schüsse nur knapp an uns vorbei. Glas regnete auf uns herab, wenn eine Kugel die Laborutensilien auf den Tischen traf und der Gestank vermischter Chemikalien hing in der Luft. Die teilweise nur aus Eisenstangen bestehenden Tische boten uns wenig Schutz und ich wusste, dass jeder zitternde Schritt mein letzter sein konnte.

Doch es war nur noch ein kleines Stück! Ein winziges Bisschen und wir könnten von hier fliehen! Alle zusammen diesen schrecklichen Ort verlassen und endlich in Frieden leben.

„Jaden!“ Ein ohrenbetäubender Knall echote von den Wänden wieder und plötzlich war alles still. Ich begriff nicht, was geschehen war. Ich sah bloß, dass McSullen nun direkt vor dem Rothaarigen stand, die Arme ausgebreitet. „So nicht, du Mistkerl.“ Ein weiterer Schuss, ein lauter Aufschrei, gefolgt von einem kreischenden Mädchen. Leynardh, der gerade durch die Tür in sein Privatzimmer fliehen wollte, sackte getroffen zusammen. Aurelia hechtete aus ihrer Deckung und sprang zu ihrem Vater. Selbst durch das Gewirr an Tischen und Stühlen konnte ich sehen, wie sich ein dunkler Fleck um den Politiker herum ausbreitete. Seine Augen starrten nichtssehend ins Leere.

„Vater! Vater! Nein! Nicht!“ Ich hörte die Tränen in ihrer Stimme, doch ich empfand kein Mitleid. Mit jemandem wie ihr, die selbstgerecht Menschen für ihr eigenes Wohl opferte, konnte ich einfach keins empfinden. Nicht im Geringsten.

„Keith?“ Jadens zögernder Ton ließ mich aufhorchen. Völlig unbeweglich stand er noch immer vor seinem Sohn und stieß seltsam gurgelnde fast lautlose Töne, aus.

„Sophia, Isabella, Elizabeth. Jetzt werde ich endlich wieder bei euch sein.“

 „Keith!“ Es ging so schnell, ich konnte es kaum mit meinen Augen verfolgen. Plötzlich und ohne Vorwarnung war McSullen in sich zusammengebrochen und lag nun bewegungslos auf dem Boden. Jaden verließ seine Deckung und rannte zu ihm hin. Doch als er seinen Ziehvater auf den Rücken gedreht hatte, hielt er in seiner Bewegung inne. Wie versteinert blickte er auf den sich rasend schnell ausbreitenden Blutfleck auf dessen Brust. Oh Gott. Nein!

 

Aurelias irres Kreischen lag in der Luft, doch Jaden schien es nicht einmal wahrzunehmen.

„Ihr habt meinen Vater umgebracht, ihr verdammten …! Ich bringe euch um, ich bringe euch alle um!“

Mit gezücktem Abzug stand sie dort neben der Leiche ihres Vaters. Ihre Waffe direkt auf Jaden gerichtet. Doch dieser sah sie nicht einmal an.

„Es reicht jetzt endgültig, Blondie.“ Aurelias Augen weiteten sich plötzlich unmenschlich und im nächsten Moment schlug sie wie ein nasser Sack auf dem Boden auf. Die Pistole rutschte nutzlos über die Fliesen. Adelio stand mit erhobener Hand hinter der jetzt auf dem Boden liegenden jungen Frau und blickte voller Abscheu auf sie herab. „Ich konnte dich übrigens noch nie leiden, nur damit du es weißt.“

 

War das unser Sieg? War das das Ende einer für manche jahrelangen Odyssee? Hatten wir es wirklich geschafft, dieses sinnlose Ermorden Unschuldiger zu stoppen?

 

Doch warum fühlte sich das gerade alles andere als ein Sieg an?

Zuhause

Die nächsten Minuten, vielleicht sogar Stunden, gingen in völligem Chaos unter. Männer stürmten das Labor, doch keiner von uns dreien nahm irgendeine Notiz davon.

McSullens Abschiedsworte hingen bleischwer in der Luft. Eine Decke aus Trauer hatte sich über uns gelegt und erstickte alle anderen Gefühle im Keim.

Jaden weinte. Tränen benetzten seine Haut und ich spürte, dass es bei mir ebenso war. Er hatte erneut seinen Vater verloren. Wieder hatte er ein so großes Opfer bringen müssen und ich wusste in diesem Moment nicht, wie viel dieses Opfer diesmal von ihm gefordert hatte.

 

Ich bemerkte kaum, wie ich hinausbegleitet wurde. Immer wieder versuchte dieser Mann mit mir zu reden, doch ich wollte es nicht. Das einzige Wort, das meine Decke aus Trauer durchbrach, war „Polizei“ und ich konnte nur vermuten, dass meine Eltern diese gerufen hatten. Nun war Hilfe da. Nun würden wir uns nicht mehr darum kümmern müssen.

Doch nun war es zu spät.

Ich kam erst wieder zu mir, als die frische Luft des heranbrechenden Morgens über meine verschwitzte Haut streifte und ich das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit das dunkle Blau des Himmels wieder wahrnahm. Doch noch immer hörte ich die vielen Geräusche dieser Horde an Menschen um mich herum nur wie durch einen massiven Schleier. Die Decke, die sie mir anboten, lehnte ich ab. Ich fühlte keine Kälte und ich wollte nicht noch mehr Last auf meinen Schultern tragen. Sie würde mich gänzlich erdrücken. Ich wusste nicht, wo ich war, doch meine Beine trugen mich in eine etwas abseits gelegene Ecke, die die Lichter der vielen Polizeiwagen kaum noch erreichte.

Nach Luft ringend lehnte ich mich mit dem Rücken gegen eine eisige Backsteinmauer, schloss meine Augen und versuchte die Kontrolle über meinen Körper zurückzubekommen.

 

Wie lange ich das schon vergeblich versucht hatte, wusste ich nicht. Erst eine mir vertraute Stimme, brachte mich dazu aus der Taubheit meines eigenen Körpers aufzutauchen.

„Amelina?“ Ich öffnete langsam die Augen. Die grellen Lichter blendeten mich. Dort standen sie vor mir. Adelio und … Jaden. Ich sah die Trauer auf seinem Gesicht, auch wenn ein großer Teil von ihr längst hinter einer beinahe emotionslosen Fassade verborgen lag. Ich wollte ihn umarmen, ihm Halt geben und ihn trösten, doch ich wagte es nicht, ihn mit meinen blutbefleckten Händen zu berühren. Denn immerhin war ich es, die Keith McSullen in sein Verderben gestützt hatte. Die seinen Ziehvater direkt in seinen Tod hatte laufen lassen …

„Jaden. Es tut mir so … wahnsinnig leid. Ich wollte doch nicht, dass jemand …“ Meine heisere Stimme schien vom Wind davongetragen zu werden, noch ehe sie meinen Mund verließ. Ich hatte keine Kraft mehr. Ich war leer, ausgebrannt. Da war nicht mehr dieses junge, unschuldige Mädchen in mir. Da war nichts mehr. Ich konnte mich selbst in diesem eiskalten Körper nicht mehr finden.

„Amelina. Er hatte es so gewollt. Von Anfang an.“ Seine Stimme klang fest und ruhig. Ganz anders, als ich es von ihm erwartet hatte. Es verwirrte mich sogar noch mehr, dass er anscheinend für alles bereits eine Erklärung parat hatte. „Hör zu. Er konnte nur so schnell hier gewesen sein, weil er bereits irgendwo in der Nähe gewesen war. Wahrscheinlich war alles, was er gesagt hatte, eine Lüge gewesen. Er hatte von Anfang an vorgehabt, den Gefangenen zu verhören und hat nur so getan, als würde ihn das nicht weiter interessieren. Er hatte sie alleine angreifen wollen, um niemanden in Gefahr zu bringen. Keith hatte schon lange vorgehabt zu sterben.“ Seine ruhigen blauen Augen lagen direkt auf mir, doch ich konnte seinem Blick nicht standhalten. Mich ließ das Gefühl nicht los, dass ich etwas hätte tun müssen, um das alles zu verhindern.

 

„Aber das … hätte einfach nicht passieren dürfen!“ Ich brachte kaum ein klares Wort heraus, weil alles in mir so furchtbar schmerzte. Ich war völlig am Ende. Körperlich und seelisch.

„Es gab nichts, was wir hätten tun können. Und außerdem: Ohne Keith wäre ich jetzt tot. Ich habe ihm schon wieder mein Leben zu verdanken.“

 

Ich wusste, dass Jaden recht hatte. Ohne McSullen wären wir wahrscheinlich alle drei dort unten erschossen oder zu Versuchskaninchen gemacht worden. Er hat sich geopfert, um uns allen das Leben zu retten. Aber warum war ausgerechnet Jaden derjenige, der das so einfach akzeptieren konnte? Er war doch wie ein Vater für ihn gewesen!

„Ich kannte meinen Vater, Amelina.“, meinte er plötzlich, so, als hätte er meine Gedanken in meinem Gesicht abgelesen. „Ich wusste ganz genau, was in ihm vorging. Diese Namen, die er im Augenblick seines Todes erwähnt hatte, waren die, seiner geliebten Frau und der beiden Zwillingstöchter. Glaub mir, so schwer es mir auch fällt, das zu sagen, aber dort wo er jetzt ist, geht es ihm besser als hier. Denn er ist endlich wieder Zuhause.“

 

Ich konnte mich nicht zurückhalten; mein Körper bewegte sich von ganz allein. Ich konnte nur noch seine Wärme spüren, als er meine Umarmung erwiderte und mich fest in den Arm nahm. Jede Träne, die nun über meine Wangen lief, war ein Tribut an die Menschen, die sich für diesen Kampf aufgeopfert hatten. Für jeden, der seine Familie zurücklassen musste, um sie zu beschützen, und für jeden, der nicht gezögert hatte, sein Leben für das Erreichen dieses so wichtigen Ziels zu geben.

 

Es dauerte lange, bis ich mich beruhigen konnte, doch niemand kam um uns zu stören. Erst, als ich mir wieder einigermaßen sicher sein konnte, nicht sofort wieder in Tränen auszubrechen, ließ ich den Rothaarigen los und entfernte mich ein paar Schritte von ihm. Ich räusperte mich, um das Kratzen aus meinem Hals zu vertreiben.

„Sorry. Manchmal bin ich einfach zu viel Mädchen“, versuchte ich die Situation ein wenig aufzulockern, doch ich wusste, dass der Witz echt schlecht war.

„Sind wir nicht alle manchmal ein bisschen viel Mädchen?“ Doch tatsächlich war es Jaden, der auf meine dumme Bemerkung einging und ich wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen. Er hatte ein leicht schiefes Lächeln aufgesetzt und die Trauer in seinen Augen war dem üblichen Funkeln gewichen. Doch ich wusste, dass es noch lange dauern würde, bis auch der letzte Schatten aus seinen Seelenspiegeln verschwunden sein würde.

Und ich würde ihm so gerne dabei helfen, zu vergessen.

 

„Schön zu sehen, dass unser Schnösel noch immer unbedingt das letzte Wort haben muss.“ Adelio, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, trat nun wieder einen Schritt näher an uns heran und legte seinem Freund eine Hand auf die Schultern. Auch, wenn sein Blick noch etwas vorsichtig wirkte, lag doch sehr viel Sympathie in seiner Geste, was der Rothaarige sofort bemerkte.

„Du bist doch nur neidisch, dass dir dieser coole Spruch nicht zuerst eingefallen ist, stimmt’s?“ Ein erleichtertes Lächeln huschte über das Gesicht des Braunhaarigen, als Jaden seine Stichelei erwiderte.

„Das hättest du wohl gerne. Ich hatte einen deutlich besseren Spruch auf Lager, aber ich wollte dir Mal ein kleines Erfolgserlebnis gönnen.“ Jaden schnaubte gespielt.

Das würde ich hinterher auch sagen.“

 

Ich beobachtete erleichtert das kleine Kräftemessen zwischen den Beiden und war unheimlich froh, dass sich keiner von ihnen verändert zu haben schien. Doch was würde wohl endgültig nur die Zeit zeigen.

Ich keuchte erschrocken auf, als ein Gefühl von Schwindel mich straucheln ließ. Zum Glück konnte ich mich gerade so an der Wand hinter mir abstützen, bevor ich zu Boden ging.

„Amelina?“

„Ich bin okay“, meinte ich schnell, nachdem ich kurz die Augen zusammenkneifen musste, um diese merkwürdigen bunten Punkte aus meinem Sichtfeld zu vertreiben.

„Komm Linchen. Du brauchst dringend Ruhe. Und außerdem warten deine Eltern bestimmt schon auf dich. Oh, und Emily und Sebastian sind auch wohlbehalten zurückgekommen! Sie würden dich bestimmt auch sehr gerne sehen! Wir sollten gehen.“

Ja, das sollten wir. Ich wollte hier weg. Unbedingt. Zurück in mein Leben. Meine Freunde wieder sehen. Selbst das Putzen meiner Wohnung klang plötzlich unheimlich verlockend. Mir hatte diese Langeweile gefehlt, die mein Leben sonst erfüllt hatte. Und ich konnte es kaum erwarten, endlich wieder ich selbst zu sein.

 

Aber warum tat mir plötzlich alles so furchtbar weh? Woher kamen diese Schmerzen in meiner Brust, die jeden Atemzug begleiteten? Warum waren meine Beine so schwer, dass ich dachte, ich könnte sie kaum heben?

Ich sah Adelio, der direkt vor mir stand, mit einem bezaubernden Lächeln im Gesicht. Ich wusste, dass er von nun an nicht mehr von meiner Seite weichen würde und ein Teil in mir freute sich sehr darüber.

Doch warum hatte ich Zweifel an diesem Gefühl? Was hinderte mich daran mich zu freuen, jetzt, wo ich endlich meinen größten Wunsch erfüllt bekommen hatte? Woher kamen die Tränen, die diesen Druck in meinem Kopf auslösten?

 

Und warum hatte ich auf einmal das Gefühl zu fallen?

 

„Bevor du gehst, Amelina, lass mich dir noch eine einzige Frage stellen: Du hast sie damals auch gehört, oder? Diese Melodie?“ Innerhalb von Sekunden gefror sämtliches Blut in meinen Adern und ich stoppte meine unbeholfenen Schritte. Ich war nicht mehr in der Lage mich zu bewegen. Obwohl ich mich von ihm abgewandt hatte und ihn so nicht ansehen konnte, hörte ich die plötzliche Veränderung in seiner Stimme. „Ich war mir nicht sicher, ob du sie auch gehört hattest oder ich mir das alles am Ende doch nur eingebildet hatte. Ich habe mir immer eingeredet, dass du wegen des Unfalls viel zu weggetreten warst, um etwas zu bemerken. Dass du deshalb nie etwas gesagt hattest. Und vor allem immer so abweisend zu mir warst.“

„Was redest du da eigentlich für einen Quatsch, Jaden?“ Ich hörte Adelios Stimme, aber verstand seine Worte nicht. Da war etwas in meinem Kopf und es nahm mein ganzes Ich ein. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich gerade aus einer kleinen Flamme heraus neu geboren worden.

„Doch ich habe es nicht vergessen. Dieses Gefühl. Diese Gedanken.“ Jaden achtete nicht auf die Worte des Braunhaarigen, sondern ich spürte seinen Blick direkt auf mir. „Ja, ich war manchmal echt gemein zu dir, aber das habe ich nur getan, um dich zu beschützen! Jeden Tag war ich da draußen auf gefährlichen Missionen und ich wusste, dass ich dir Sorgen bereiten würde oder dich zu dummen Aktionen verleiten könnte, wenn wir beide uns anfreunden würden. Und genau das hast du am Ende ja auch getan.“ Ich wusste worauf er anspielte. Die Aktion in dem verlassenen Krankenhaus. Er hatte recht. „Ich … wusste, dass du damals, gleich nach deiner Ankunft im Bergwerk, vor Aurelias Tür gestanden hast. In dem Moment habe ich mir nur Gedanken darüber gemacht, wie ich es hinbekommen kann, dass du in Sicherheit bist. Ich dachte, wenn du mich hasst, würdest du dich von mir fern halten und einfach abwarten, bis ich die ganze Sache regeln konnte.“ Dieses Ziehen in meiner Brust. Es tat so unheimlich weh!

 

„Ich habe zwar absolut keine Ahnung, was du da faselst, Davis, aber hör auf Lina zum Weinen zu bringen! Sie braucht jetzt Ruhe und nicht noch deine … fragwürdige Geschichte!“ Da war Wut in Adelios Stimme. Aber wieso? Nur, weil mir tatsächlich Tränen über die Wangen liefen? War das der Grund, weshalb er plötzlich meinen Arm packte und mich mit sich ziehen wollte?

Vielleicht. Aber da war noch mehr. Und ich spürte förmlich sein Herz brechen, als ich mein Handgelenk aus seinem Griff befreite.

 

Ich sah ihn an. Direkt in seine wunderschönen Augen, aus denen der Schmerz förmlich sprach. Ja, wir wussten beide, was gleich geschehen würde.

„Es tut mir leid, Adelio. So wahnsinnig leid. Ich kann nicht mit dir gehen.“ Etwas in mir zerbrach bei diesen Worten. Ein großes Loch brannte sich in meine Seele.

„Warum nicht?“ Es war keine Kraft mehr hinter seinen Worten. Da war nur noch Leere. Ich wollte ihn nicht weiter quälen, doch er hatte es verdient, die Wahrheit zu hören.

„Weil endlich alles Sinn ergibt. Jedes Gefühl, jede Sekunde der Angst. Jedes Mal, wenn er mich berührte. Jedes Wort von ihm. Endlich habe ich begriffen, warum es bei ihm anders war, als bei jedem anderen. Warum sich bei ihm alles so gut angefühlt hatte! Warum ich ihm ohne jegliche Zweifel vertraut habe! Diese Melodie … Diese erste Begegnung … Adelio, Jaden ist mein Seelenpartner! Mein Stein hat es mir gesagt. Es war immer mein größter Wunsch gewesen, jemanden zu finden, den ich bedingungslos lieben kann. Ich hatte mich als kleines Kind schon entschieden dem Weg meines Segenssteins zu folgen! Das war es, worauf mein Leben aufgebaut war. Ich kann jetzt nicht sagen, dass mein ganzes Leben bloß eine Lüge war! Du bedeutest mir wahnsinnig viel, aber … Es tut mir leid.“

 

Mein lautes Schluchzen lag nun zwischen uns. Die Welt war seltsam still geworden. Alles schien so unwirklich in diesem Moment. Dieser Schmerz in seinen Augen. Er zerriss mich innerlich. Ich wollte ihn nicht so leiden sehen. Und doch wusste ich, dass ausgerechnet ich der Grund dafür war.

Ich wollte ihn berühren, ihn trösten, doch er zuckte zurück. In diesem Moment war auch ein Teil meines eigenen Herzens gestorben.

„Natürlich. Gegen einen Seelenpartner und das Hokuspokus der Segenssteine komme ich natürlich nicht an. Die einfache Liebe eines Mannes für eine Frau reicht ja heutzutage nicht mehr. Da hab ich wohl Pech gehabt, was?“

Ich öffnete meinen Mund, immer und immer wieder, doch ich bekam keinen Ton heraus. Ich konnte ihm nicht sagen, dass das nicht stimmte, denn … das, was ich gerade tat, war exakt das, was er mir vorwarf. Ich drängte seine Gefühle weg, nur weil mein Segensstein mir etwas anderes vorgeschrieben hatte.

Ich hatte immer an die Macht und die Wahrheit der Seelenssteine geglaubt und eigentlich nie einen Funken Zweifel daran gehabt. Aber jetzt …

„Dann bleibt mir wohl nichts weiter übrig, als euch alles Gute zu wünschen.“

 

Ein letzter Blick. Das stumme Eingeständnis. Und nur einen Moment später, war er weg. Einfach in die Lichter der Polizeiwagen abgetaucht. Die Kälte seiner Abwesenheit traf mich wie ein Schlag in den Magen.

 

„Gib ihm etwas Zeit.“ Zwei Arme legten sich um meine Taille und zogen mich sanft nach hinten. Ich spürte die Hitze seines Körpers, die unter seiner Kleidung loderte. Doch ich war mir nicht sicher, ob sie die eisige Kälte vom Verlust meines besten Freundes komplett aus mir vertreiben konnte. Ich lehnte mich an ihn. Er war in diesem Augenblick das Einzige, was mir Halt gab. „Adelio ist nicht der Typ, der seine Freunde im Stich lässt, glaub mir. Er muss das bloß erst alles verstehen. Amelina, ich liebe dich! Es wird alles wieder gut, das verspreche ich dir.“

Ich wollte ihm antworten, ihm sagen, dass er recht hatte und ihm mitteilen, wie wahnsinnig ich mich freute, diese Worte zu hören. Dass ich mir sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, denn mein Herz hatte sie schon viel früher gewählt. Doch ich konnte es nicht. Meine Kehle war zugeschnürt und nahm mir die Möglichkeit zu reden. Nur die Tränen konnten noch für mich sprechen.

 

Ich habe meinen Seelenpartner gefunden. Ich habe ihn ganz dicht bei mir. Jemanden, der mich so liebt, wie ich bin. Und jemanden, den ich bis an das Ende meiner Tage lieben kann und werde.

Jaden war so viel mehr, als ich mir immer gewünscht hatte.

 

Mein Traum war in Erfüllung gegangen und jetzt war endlich alles gut!

 

Oder?

Epilog

Der Sommer war vorbei und der Herbst hatte Einzug gehalten, das war deutlich zu spüren. Trotz meines dicken Pullovers und der Decke, die die letzten Tage immer griffbreit auf meinem Sofa lag, fror ich. Immer wieder wanderte mein Blick zum Thermostat der Heizung, doch ich redete mir ein, dass das Ende September bei 20 Grad draußen unsinnig war. Also verkroch ich mich tiefer unter die Decke und starrte wieder auf den flackernden Fernsehbildschirm.

 

Ein tiefer Seufzer entfuhr mir, als ich mich in die Kissen drückte und versuchte, mich auf die Worte der Serienschauspielerin zu konzentrieren, die dort gerade einen ihrer Kollegen anmeckerte. Doch ich kannte weder die Serie, noch interessierte es mich, was dort geschah. Ich wusste nicht einmal, was genau ich mir dort ansah.

Die Ereignisse, die mein Leben komplett verändert hatten, waren erst wenige Wochen her. Und immer noch kreisten meine Gedanken in jeder Sekunde nur um diese paar Tage.

 

Ich erinnerte mich noch genau, wie es war, als meine Eltern und ich die ersten Minuten alleine miteinander verbringen konnten. Ich hatte kein Detail der Geschehnisse ausgelassen. Ich war der Meinung gewesen, dass sie es, nach allem, was sie meinetwegen durchmachen mussten, verdient hatten, alles zu wissen (Die Polizei hatte zwar tatsächlich ihre Segenssteine wiedergefunden, aber das war nur ein ganz kleiner Trost gewesen). Es hatte mir das Herz gebrochen, meine Mutter so weinen zu sehen und ich glaubte bis heute, dass ich ihr ihre unsinnigen Schuldgefühle nicht ausreden konnte.

Selbst mein Vater hatte meine Geschichte sichtlich mitgenommen. Normalerweise kannte ich ihn ruhig und gelassen, doch diesmal war er derjenige gewesen, der beschlossen hatte, dass ich zu ihnen zurückziehen sollte. Ich musste beinahe einen Streit vom Zaun brechen, um sie davon zu überzeugen, dass ich in meiner Wohnung bleiben werde. Ich wusste, dass sie bloß Angst um mich hatten, aber ich wusste genauso, dass ich mich nicht ewig verkriechen konnte.

Außerdem hatte ich ein Argument, dem sie nichts entgegenzusetzen hatten …

 

Wie auf das Stichwort hörte ich plötzlich, wie ein Schlüssel in das Schloss der Haustür gesteckt wurde und sich einen Moment später die Tür öffnete. Licht wurde eingeschaltet und eine Gestalt bewegte sich vor der teilverglasten Tür. Ein wohlig warmes Gefühl durchflutete mich und die Kälte in meinen Körper verschwand allmählich.

Es war einfach unglaublich gewesen. Mary-Sae und Talamarleen hatte ich an diesem Abend noch eine SMS geschickt und ihnen gesagt, dass es mir gut ging. Natürlich klingelte sofort mein Telefon heiß und ich hatte zwei schluchzende Mädchen in der Leitung, die sich vor Erleichterung ihre Augen ausgeweint hatten.

Trotz meiner Versicherung, dass alles gut sei, hatten sie es sich - samt Partnern - nicht nehmen lassen, mich noch an diesem Abend zu besuchen (Im Krankenhaus bleiben musste ich nicht, weil die Sanitäter zufrieden mit der Versorgung meiner Wunden waren. So schlimm wäre es auch nicht, meinten sie. War mir nur recht.). Und da hatte ich erneut die Geschichte erzählen müssen. Ich hatte mitbekommen, dass Damian wirklich nichts gesagt hatte (und in dem Moment, als ich den Teil erwähnte, musste ich die anderen davon abhalten ihm an die Kehle zu springen!) und ihnen allen zum Glück nichts passiert war.

Aber ich sah, wie schwer es ihnen fiel, mir zuzuhören. Die Mädchen weinten hemmungslos und die Jungs waren ungewöhnlich still. Damian war wahrscheinlich der einzige, der mich wirklich verstehen konnte.

 

Doch es würde noch lange dauern, bis sie mir verzeihen würden, dass ich alles still und heimlich im Alleingang gemacht hatte. Auch wenn allen Beteiligten tief im Inneren klar war, dass keiner von ihnen mir hätte helfen können. Trotzdem musste ich mir tagtäglich (mehrfach!) anhören, wie leichtsinnig ich doch gewesen wäre! Und dabei konnte ich doch überhaupt nichts dafür! Und eine andere Wahl hatte ich auch nicht gehabt! Das war irgendwie gemein …

 

„Gibt es einen Grund dafür, warum du die Luft mit deinem grimmigen Blick durchlöcherst? Ein Flugzeug würde schon in echt gefährliche Turbolenzen geraten, Prinzesschen.“ Ich war gerade ein wenig schlecht gelaunt, darum verkniff ich mir das Lächeln, auch, wenn es mich wirklich große Mühen kostete.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er das Wohnzimmer betreten hatte. Seine kupferroten Haare wurden von der bereits untergehenden Sonne angestrahlt und jedes einzelne wirkte wie ein Tänzer in einem feurigen Ballett. Seine mir inzwischen so vertrauten, blauen Augen hatten ein gewisses Funkeln in sich, das zu dem schiefen, wundervollen Lächeln in seinem Gesicht passte. Die Freude, die ich empfand, wenn ich ihn sah, brachte jedes Mal meinen Magen zum Kribbeln.

„Hey Jaden“, begrüßte ich ihn und im selben Moment beugte er sich zu mir hinunter und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Obwohl das bei weitem nicht der erste Kuss zwischen uns war, war ich doch immer wieder so aufgeregt, wie beim ersten Mal.

„Sag schon, was ist los?“ Ich sah genau, dass es ihm keine Ruhe lassen würde. Und genau aus diesem Grund würde ich ebenfalls keine bekommen. Das Sofa bebte, als er sich neben mich setze. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Seite, als er seinen Arm um meine Schultern legte und mich an sich zog. Die Wärme seines Körpers, die ich durch sein schwarzes T-Shirt hindurch spürte, ließ meine verspannten Glieder endgültig auftauen.

„Es ist eigentlich nichts. Ich denke nur hin und wieder an … das alles zurück. Ich habe meine Eltern in Gefahr gebracht und meine besten Freunde belogen. Es fühlt sich immer noch so unwirklich an.“ Ich seufzte. Das Thema hatten wir in der letzten Zeit wirklich schon oft genug durchgekaut. Wieso konnte ich nicht einfach loslassen und vergessen? Selbst den verpassten Unterrichtsstoff hatte ich bereits nachgeholt, um mich von all dem Geschehenen abzulenken! In wenigen Wochen stand die Abschlussprüfung an, doch bisher hatte mich nichts so wirklich die Gedanken daran vergessen lassen können. „Aber es ist schon okay. Es geht mir gut“, meinte ich schnell, um das leidige Thema gar nicht zu groß werden zu lassen.

„Wenn es dich immer noch so mitnimmt, kann es nicht okay sein, Lina.“ Sein Griff um meine Schulter verstärkte sich. „Du weißt, du kannst immer mit mir reden. Egal, was es ist, und wie oft wir schon darüber gesprochen haben. Ich bin immer in deiner Nähe.“

 

Augenblicklich schlich sich ein breites Lächeln auf mein Gesicht.

„Klar bist du immer da. Du hast dich ja auch einfach in meiner Wohnung einquartiert!“ Er sprang sofort auf meinen Stimmungsumschwung an. Eine sehr gute Eigenschaft von ihm!

„Als gute Freundin gibt man seinem obdachlosen Freund eben ein Dach über den Kopf! Vor allem, wenn das Prinzesschen eine eigene Wohnung von Mami und Papi gesponsert bekommt!“ Ich kicherte.

„Du hättest auch zurückgehen können. Da hättest du unglaublich viel Platz für dich alleine gehabt! Und das Sondereinsatzkommando hätte sich bestimmt über einen so guten und erfahrenen Bergwerksführer gefreut.“ Er schnaubte amüsiert.

„Das hätten sie wohl wirklich. Aber auch, wenn du es sicherlich kaum glauben kannst: Ich habe wirklich nichts dagegen aus dem dunklen Loch raus zu sein und wieder in einem Raum mit Fenstern zu leben! Und du hast es hier wirklich schön eingerichtet! Für ein Mädchen, jedenfalls.“

„Danke“, lächelte ich und beobachtete nebenbei, wie eine Gruppe von Soap-Charakteren zusammen in einer Bar saß und alle miteinander lachten. Das erinnerte mich ein wenig an die Zeit, die ich mit Mary, Tala und den Jungs verbracht hatte und noch verbringen werde. Und endlich würde ich dabei nicht mehr das fünfte Rad am Wagen sein …

 

„Und weißt du, was das Beste ist?“ Seine Worte rissen mich aus meinen Gedanken.

„Hm?“ Ich spürte, wie er mir sanft einen Kuss auf mein Haar drückte.

„Dass ich hier bei dir sein und dich beschützen kann.“ Die rote Farbe auf meinen Wangen schien sich dort bereits eingebrannt zu haben. Das dachte ich zumindest, denn Jaden schaffte es immer wieder, mich in Verlegenheit zu bringen. Ich war diese ganze Freund/Freundin-Sache wohl einfach noch nicht gewohnt.

„Ich kann auch selbst auf mich aufpassen, Herr Polizist“, meinte ich scherzhaft und spielte auf seinen neuen Beruf an, um die Situation etwas aufzulockern. Sonst würde ich wohl kein Wort mehr herausbekommen. Jaden hingegen nahm das Ganze ziemlich locker.

„Daran zweifle ich absolut nicht, Prinzesschen. Das hast du mir wirklich schon oft genug bewiesen. Aber ich … Sagen wir einfach, mir ist wohler bei dem Gedanken, dass ich im Notfall in deiner Nähe bin. Nur so aus reiner Gewohnheit. Wahrscheinlich traue ich dem Frieden doch noch nicht so ganz.“ Nun war es an mir, besorgt zu sein. Ich löste mich von ihm, sodass ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Ein merkwürdiger Ausdruck lag in seinen Zügen, der mich etwas nervös machte.

„Du glaubst also … Es ist noch nicht vorbei?“ Ich sah, wie er angestrengt über meine Frage nachdachte, doch ich wusste die Antwort bereits. Ich sah sie in seinen Augen. Und das verursachte eine leichte Übelkeit in meinem Magen.

„Was auch immer passiert, Prinzessin. Ich werde immer in deiner Nähe sein, das verspreche ich dir.“

 

Die Worte der Nachrichtensprecherin, die gerade eine Eilmeldung verkündete, gingen völlig in unserem Kuss unter.

Doch es gab Dinge auf dieser Welt, die man einfach nicht leugnen konnte. Die man nicht überhören oder übersehen konnte. Dinge, die einen überall einholten, egal, wie weit man lief.

 

„Soeben erreichte uns die Meldung, dass heute Vormittag Martin Rays, Geschäftsführer der weltweit agierenden HyperSun Bank, tot in seinem Appartement in Summer Hills aufgefunden worden ist. Sein Assistent hat am frühen Morgen den leblosen Körper in seiner Wohnung im fünften Stock eines Wohnkomplexes aufgefunden, nachdem Rays seit dem späten Nachmittag nichtmehr auf Anrufe und Benachrichtigungen reagiert hatte. „Das war absolut untypisch für ihn. Er war sehr gewissenhaft und in keinster Weise nachlässig“, teilte uns sein Arbeitskollege und guter Freund Matthew O’Flanuli telefonisch mit.

Martin Rays war erst vor sechs Monaten nach Summer Hills gezogen und lebte in einer sehr gut bewachten Wohnanlage. Zur Stunde sei die Todesursache noch unklar, berichtet die Polizei. Gewaltsames Eingreifen sei jedoch nicht ausgeschlossen.

Ersten unbestätigten Gerüchten zufolge soll der Segensstein - ein seltener hellblauer Diamant - nicht bei der Leiche gefunden worden sein, obwohl Rays diesen, laut einer eigenen früheren Aussage, nie ablegte. Von dem wertvollen Schmuckstück fehlt bis zur Stunde jede Spur.

Dieser Fall weckt natürlich Erinnerungen an die erst wenige Wochen zurückliegende Diebstahlserie, bei der hinter mehr als 43 Fällen eine organisierte Verbrecherbande vermutet wird. Die Ermittlungen sind bisher noch nicht abgeschlossen.“

 

Denn das Blut wird immer an deinen Händen haften bleiben.

 

Es gibt kein Entkommen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Einer meiner Lieblingscliffhanger :D Hihihihi.

Kapitel 11 - Rivalen kommt zwischen dem 15. bis 17. August! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tausend Dank für eure Kommentare!
Jedes einzelne wird innig geliebt! <3

Kapitel 12 – "Kraftlos" kommt zwischen dem 29 und 31. August online! :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 12: Heute ohne großen Cliffhanger :D
Muss auch Mal sein ;)

Hach ja. Kapitel 23 hängt leider voll in einem Kreatief fest. Es geht gerade Null weiter. Manno. :/

****

Kapitel 13 - "Andenken" kommt dann wieder zwischen dem 12. und 14. September! :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 14 - "Regenbogenfarben" kommt dann wieder in zwei Wochen! Irgendwann zwischen dem 26. und 28. September :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 15 - "Entschlossenheit" kommt zwischen dem 10. und 12. Oktober! :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 16 - "Feinde" kommt wie immer in zwei Wochen! :D (24.-26. Oktober)

PS.: BrD ist zwar gerade erst beendet, aber ich sitze trotzdem schon wieder an einer neuen Geschichte xD
Okay, bin noch in der Ideenfindungsphase, aber das war ich habe, gefällt mir jetzt schon recht gut xD
Man darf gespannt sein! :D
Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke für eure Aufmerksamkeit! :D

Kapitel 17 - "Verrat" kommt demnächst ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 18 - "Geschichten" folgt dann planmäßig zwischen 7. und 9. November <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Cliff-Hanger! :D

Kapitel 19 - "Menschenleben" wird zwischen dem 21. und 23.11. online gestellt.

PS: Danke für eure Aufmerksamkeit! <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Geni, hass mich bitte nicht, ja? D':

Kapitel 20 - "Asche" kommt irgendwann am Wochenende vom 5. bis 7. Dezember! :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Boah, ich und (Orts-)Namen -_-
Wie ich das hasse xD


Kapitel 21 - "Familie" wird so zwischen dem 19. und 21. Dezember hochgeladen :)

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit! :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 22 - "Klischee" werde ich (plangemäß) versuchen, im Wochenende zwischen dem 2. und 4. Januar hochzuladen.
Versprechen kann ich aber nicht, dass es dieses Wochenende dann auch kommt. Die Animexxler-Freischalter haben ja auch ein bisschen Urlaub verdient ^^ Aber schau'n wir mal :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 23 – "(Miss-)Erfolg" kommt dann am Wochenende vom 16. bis zum 18. Januar :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 24 - "Rückkehr" wird zwischen dem 30.01. und 01.02. hochgeladen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 25 - "Entscheidungen" wird zwischen dem 13. und 15. Februar hochgeladen :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 26 – "Geheimnisse" gibt es zwischen dem 27. Februar und 01. März! :D

Und danach wird es nur noch ein einziges Kapitel geben... :X
BrD geht unaufhaltsam dem Ende entgegen... :'( Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Naaaaa? Wer hat's geahnt? ;)

Das letzte Kapitel "Zuhause" und einen kleinen Epilog gibt es dann in zwei Wochen.
Bin schon ein bisschen aufgeregt ._. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, das war's tatsächlich. Ich bin froh und glücklich zugleich.
Ich hoffe, es hat euch gefallen und ich bedanke mich tausendfach für eurer Interesse! :) Danke, für die Favos und Danke an die Kommischreiber!
Das alles bedeutet mir wirklich wahnsinnig viel! Dank euch hat mir das Schreiben gleich doppelt Spaß gemacht ^^
Ich hoffe wir sehen uns auch bei meinen gegenwärtigen und zukünftigen Projekten! :D

Ganz liebe Grüße, MarySae Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (86)
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Von:  Saph_ira
2015-10-22T20:27:44+00:00 22.10.2015 22:27
Mir kommt gleich die Frage, ob da nicht ein zweiten Teil geben würde.^^ Aber ein schönes gelungenes Ende - wie auch die Story selbst. Einfach mitreißend, spannend und emotionsreich geschrieben. :-)

Liebe Grüße
Saph_ira
Antwort von:  MarySae
23.10.2015 08:35
Hallo :)
Jetzt muss ich mich auch noch mal melden (obwohl ich hier gerade so inaktiv bin...).

Danke für deine Kommentare und deine Mühe, bis zum Ende durchzuhalten! ^^
Freut mich unheimlich, dass dir die Geschichte gefällt!

Einen zweiten Teil wird es definitiv nicht geben.
Viele Grüße,
Mary
Antwort von:  Saph_ira
24.10.2015 22:49
Schade, dass es keinen zweiten Teil geben wird - ich hätte nur gerne gewusst, was aus Adelio geworden ist und ob der letzte Mord auch aufgeklärt wird. ^^ Aber trotzdem ein gelungenes Ende und eine schöne, spannende Story - ich hatte bei jedem Kapitel mitgefiebert und hatte ein bildliches Film vor meinen Augen. ;-)

Liebe Grüße
Saph_ira
Von:  Saph_ira
2015-10-22T13:18:11+00:00 22.10.2015 15:18
Ich finde es schön, dass Lina sich von ihrer Vergangenheit losgesprochen hatte. Jaden macht für mich immer mehr symphatischeren Eindruck und erweckt eine kleine Hoffnung, dass zwischen ihm und Lina was wird. ^^ Und bei Aurelia ahne ich nichts gutes... So wie sie ausgesehen hat, als sie von Jaden abgewiesen wurde, schmiedet sie ganz bestimmt irgendwelche Rachepläne... Aber vorerst weiterlesen. ;-)
Von:  Saph_ira
2015-09-26T17:05:00+00:00 26.09.2015 19:05
Huhu, nun komme ich wieder mal dazu deine FF zu lesen und kommentieren - tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat als beabsichtigt. ^^ Es ist sehr interessant und spannend, wie deine Figuren von Kapitel zu Kapitel sich entwickeln. ;-) Ein großes Lob dafür - man weiß gar nicht mehr, wem man da vertrauen sollte, aber genau das macht deine Geschichte umso mehr fasziniernder. XD Besonders bei deiner Hauptfigur Amelina spürt man die charakterliche Veränderungen deutlich - auch wenn sie noch Angst hat und Tränen laufen läßt, was völlig verständlich in ihrer Situation ist, entwickelt sie Schritt für Schritt weiter und wirkt stärkter, selbstbewusster als zu Beginn. :-) Ich werde auf jeden Fall weiter lesen, so bald ich wieder die Zeit dafür finde. :-)

PS.: Jaden und seine undurchschaubare Persönlichkeit gefällt mir immer noch am meisten. XD Ich hoffe, ihm ist nichts Schlimmes passiert - das wäre ja jammerschade, denn troz ich aus seinem Charakter und Handel nicht schlau werde, und er mir in manchen Szenen suspekt ist, hab ich ihn irgendwie doch noch ins Herz geschlossen. ^^

Liebe Grüße
Saph_ira
Von:  RhapsodosGenesis
2015-03-22T17:14:00+00:00 22.03.2015 18:14
Okay, ich bin wieder so fit, dass ich einen Kommentar schreiben kann, für den ich mich dann nicht schlecht fühlen muss xD Zumindest hoffe ich das.

Also: Okay, jetzt ist BrD wirklich, wirklich, wirklich zu Ende und ich freue mich! Nämlich für Lina. Keine Bomben, keine Revolver, keine Messer, kein Blut und keine Cliffhanger mehr! Sie muss sich wirklich glücklich schätzen. Haha. Dachte ich zumindest, bis ich das Ende dann gelesen habe. Und bis zu dem Teil mit der Nachrichtensprecherin glaubte ich sogar (oh Gott, ich habe wirklich nichts gelernt xD), Recht zu haben! Das ist wirklich ein sehr, sehr, sehr, SEHR gemeines End-Detail! Das lässt die ganze Geschichte - die Lina und Jaden und ALLE einfach immernoch mitnimmt! - so unwichtig wirken. Als hätten sie rein gar nichts erreicht :'( Das macht einen fast schon traurig T_T Man ist einfach dabei, wenn jemand so viele Schreckensstunden und -tage erlebt und dann ... BAM ... It's not over. Warum machen diese Leute einfach so weiter? Haben sie nichts daraus gelernt? :'( So viel zu "happily ever after"
... Aber zumindest ist Jaden jetzt Polizist! Und so wie ich ihn einschätze, wird er sich Halb über Kopf auf die Sache stürzen (hoffentlich zusammen mit Damian) und irgendwann w e r d e n sie dem Ganzen ein Ende bereiten! Und dann werde ich stolz auf sie sein TwTb Bis dahin wünsche ich ihnen Glück!

Aber der Epilog an sich ist wirklich sehr gut gelungen. Linas Gedanken, wie sie beschreibt, was in den letzten Wochen so passiert ist - es ist alles nachvollziehbar. Und vor allem ist es nachvollziehbar, dass nicht alles vergeben und vergessen ist, dass es ihr nach all der Zeit noch immer so nahe geht, dass sie noch immer jede Sekunde damti verbringt, daran zu denken. Oder auch die Schuldgefühle ihrer Mutter - dass sich ihre Eltern noch immer mies deshalb fühlen, obwohl sie ja wirklich rein gar nichts dafür konnten! Nein, vielmehr: Obwohl sie sogar zu O p f e r n geworden sind! (SIe haben ihre Steine zurück!!! *_* Ich bin voller Freude <3) Mir tun ihre Eltern so total leid :( Ich hoffe, sie werden es irgendwann verkraften. ABer ... es muss auch einfach unglaublich sein, wenn der Tochter so etwas wiederfährt.
Da wird auch Jaden nur ein kleiner Trost sein :(
Aber zumindest ist er ein Argument XD
... Ob Lina, wenn Jaden nicht ihr obdachloser, armer Freund wäre (xD Ich musste lachen! Danke fürs Aufheitern xD), zurückgezogen wäre? Ich meine ... sie war zwei Tage in ihrer Wohnung, dann ist SOWAS passiert! Ich für meinen Teil hätte meine Koffer schneller wieder gepackt als Lucky Luke schießen kann!

Und was Tala und Mary Sae angeht: Ich bin froh, dass es ihnen all die Zeit "gut" gegangen ist, dass sie das jetzt verkraftet haben und dass sie Damian am Leben gelassen haben xD Hier auch ein großes Lob an Damian <3 Er hat wirklich nichts gesagt *^*b SOlche Menschen braucht es öfter <3 Toll, toll, toll <3
Aber ja ... ich glaube Lina, dass wirklich niemand, der nicht irgenwie dabei gewesen ist, das alles in kleinster Weise auch nur irgenwie nachvollziehen könnte :( Immerhin ... war das ja alles wirklich RIESIG, ENORM und ULTRASCHOCK. Also ... huh ... Lina kann es ja selbst nicht glauben! Und ihr ist es passiert! Aber so etwas ... ist einfach überlastend. Ich verstehe sie völlig. Hoffentlich kann sie es mit Hilfe ihrer Freundinnen verkraften!
... Und: Juhu, sie ist endlich nicht mehr das fünfte Rad am Wagen xD Jetzt hat sie ein sechstes dabei! Aber Jaden passt eh gut in die Reihe dieser Chaoten xD
(Hat Jaden eigentlich eine Polizei-Ausbildung machen müssen oder glauben sie ihm einfach, dass er was drauf hat? Ich würde es ihm glauben xD ... Sonst kann er ja immernoch Bergführer werden xD)
Und dass der armen Lina wirklich alles vorgehalten wird, als hätte sie sich das irgendwie ausgesucht ... Wenn man das einfach so liest, klingt es echt lustig, aber wenn man dann anfängt, genauer darüber nachzudenken, wird einfach klar, dass sie g a r n i c h t s verstehen ... Lina hatte sich ja tausend Male gewünscht, dass einfach alles wieder langweilig, normal und nicht gefährlich wäre! :(
Also ist es (auch wenn es vielleicht wirklich nur im Scherz gemeint ist) echt ein wenig unfair D:
... Aber sie hat ja Jaden, der auf sie aufpasst :3 Und das ist auch gut so <3
Und die beiden geben übrigens ein echt niedliches Paar ab!

Allerdings frage ich mich, was jetzt mit Adelio, Emily, Sebastian, Scarlett und all den anderen Charakteren, die nicht tot sind (Anspielung auf Colin, der hier erwähnt werden sollte!), passiert. Halten sie Kontakt mit Jaden und Lina? Immerhin kannten sie Jaden ja recht lange! Oder erinnern sie sich sonst nur gegenseitig an die Erlebnisse?
Aber in 50 Jahren oder so werden entweder alle tot sein oder sie werden alle darüber lachen xD Ich sehe es schon kommen!

Okay, damit wünsche ich den Charakteren noch viel Glück in der Zukunft! Und ich muss noch einmal betonen, dass ich die Charaktere wirklich allesamt (mit wenigen durchlöcherten Ausnahmen) mag und ihre Charaktereigenschaften echt toll finde! Jeder hat einfach seine gute und auch seine schlechte Seite. Und genau dieses Zusammenspiel macht sie so glaubwürdig und tiefgründig. Und noch dazu hat jeder seine eigene kleine, traurige Geschichte zu erzählen. Sie erscheinen also alle gut durchdacht! *^* Großes Lob dafür! Ich habe schon gedruckte Bücher gelesen, für die ich dann ja auch Geld ausgegeben habe, was mich nach wie vor traurig macht xD, die nicht so coole, unterschiedliche Charaktere aufzuweisen hatten (oder eine so spannende und gut erzählte Geschichte) ... Also muss ich mich hier herzlich dafür bedanken, dass du a) die Geschichte geschrieben und b) sie auf Animexx hochgeladen hast zum freien Konsum *^* [Sonst hätte ich vermutlich nie nach einem solchen Ich-Form-Buch gegriffen! Und jetzt weiß ich eindeutig, dass ich da etwas ganz, ganz Großes verpasst hätte!] ... und c) dass du mich auf dich aufmerksam gemacht hast, sonst hätte ich die Geschichte vermutlich auch nie gefunden xD ... Oder dich als Autor *3*

Dein Schreibstil gefällt mir also immernoch, ich finde, dass die komplette Geschichte wirklich großartig formuliert und umgesetzt worden ist! Linas Gefühle sind einfach so hautnah da, dass man sie fast selbst fühlen kann, die Art, wie du die Umgebung beschreibst - gemischt mit Linas Welteindrücken! - ist einfach fantastisch! Der Charakter ist so greifbar geworden, als wäre er ein Teil von einem! (Das passiert mir nur bei sehr wenigen Autoren ... Darf man in Kommentare Werbung schreiben? XD) Also wirklich ... es haut mich einfach um! *FAVO*

Sooo ... und dann gibt es noch DAS Kompliment, mit dem ich eigentlich immer spare, weil es wirklich nur selten auf irgendwen zutrifft: Ich genieße deine Geschichten ungefähr so sehr wie die von Brandon Sanderson ...! *DA DA DAM* *Trommelwirbel* Und nachdem er mein allerliebster, unübertroffener (sorry xD) Lieblingsautor ist, kann man also durchaus davon sprechen, dass mir die Geschichte relativ gut gefallen hat. Jap.
XD

... Mann. Jetzt kann ich mich gar nicht mehr alle zwei Wochen auf BOMBENstimmung freuen. xD Aber jetzt darf ich ja die dämonische Stimmung genießen! (Oder lichterlohe Freude oder HAHAHA ... Liam.)
Also, wir hören voneinander! *^*

Oh, nein, da fehlt ja noch was:
Die Segenssteine - Sie sind wirklich eines interessante Erfindung! Und ich finde es cool, dass man bis zum Ende eigentlich nicht wirklich einen richtigen Plan von ihnen gehabt hat. Und dass einem am Ende auch die Entscheidung offen bleibt - nach wie vor -, ob man auf sie hören möchte oder nicht. ... Ich hoffe, die meisten Charaktere werden ihren Weg gehen können, sodass sie ihr Maximum erreichen! Sie hätten es verdient, dass sie ab jetzt nur noch Glück haben! (Oh, und ob sich Linas Glück jetzt bessert? Das mit dem Single-Leben hat sich ja schonmal geklärt! xD)
... Moment. Lina hat ihren Stein noch. Die Typen jagen noch immer wertvolle Steine. ... Oh Gott.
... Hoffentlich ignorieren sie sie höflich T-T So etwas sollte man nur einmal miterleben müssen! >.<''' Obwohl das natürlich den anderen Leuten gegenüber unfair ist, die jetzt sterben, wie etwa Martin :'( Böse Menschen machen mich traurig :(
... Gut. Und wie finde ich die Segenssteine jetzt? Außer cool, weil sie cool sind. ... Wenn ich mir vorstelle, dass ich selbst einen hätte (Einen Amethysten ohne großen Wert, btw xD Weil das Wort Amethyst cool ist! xD) ... würde ich mich nach ihm richten? Jap. Vermutlich schon. "Weils sichs so gehört" ... Langweilig, ich weiß xD
... Aber die Sache mit der Manipulation ist mir doch nicht ganz geheuer :( Die neuen alten Bösewichte werden vermutlich genau daran weiterarbeiten. Immerhin IST das schon eine ziemlich praktische Macht, muss ich zugeben. Und je leichtgläubiger und naiver man ist, desto leichter wird man zum Opfer! Hmmm ... Gut, vielleicht ist der freie Wille und die undurchsichtige Zukunft doch die bessere Alternative ... Ich meine ... wenn man total der Versager ist, aber einen ziemlich wertvollen Stein hat, der eine ziemlich großartige Zukunft voraussagt ... da wird man ja depressiv!
Also ... einerseits sind sie gute Wegbegleiter, Navigatoren - dergleichen. Andererseits machen sie aber auch Druck! (Wie etwa Linas Angst am Anfang, dass ihr Stein kein passendes Gegenstück habe! ... Und wenn man wie sie nur an die wahre Liebe durch die Steine glaubt - ... au weia!)

Okay, dann die Sache mit Aurelia: Ja, es hat etwas Klischeehaftes ... Aber ich finde das ehrlich gesagt nicht schlecht. Immerhin hätte auch jeder andere Charakter der Spion sein können. Und Aurelia ist in diesem Fall einfach glaubhaft, schon allein durch ihre beispielhaft gezeigten, gutherzigen Charakterzüge. Also: Ich finde es GUT, dass Aurelia die Böse war. Sie hat es verdient :P Denn die Guten siegen! YEAH!
... Ja, ihr Vater war echt ... huh ... hart. Wirklich schade, dass er nicht wirklich der ehrliche Politiker war, der zu sein, er vorgegeben hatte.
Oh! Und danke noch einmal, dass du das Kapitel so früh hochgeladen hast *^* Auch wenn ich erst jetzt kommentiere ;.;

Zu Emily: Okay. Wenn du sagst, sie sei stark genug, um nicht depressiv zu werden, will ich dir glauben! Und sie hat ja Seb, wie du sagst ... ... Gibt es eigentlich eine Forschung, die versuchen kann, Segenssteine nachzumachen? Wenn sie eben kaputt gehen? Das würde ja auch mehrere Probleme lösen ... Aber dann gäbe es bestimmt auch Falsch-Segenssteine, die irgendwie giftig sind oder so :( Nicht gut!
... Hoffentlich schafft Emily es also >.< Und hoffentlich kann sie sich dann in Sebastian verlieben! (Auch wenn es komisch sein muss, jemanden erst als seinen Bruder zu lieben und dann als Partner ... Aber sie wird es hinbiegen! Für ihn <3)

Mischung aus Chaos, Drama und Anti-Klischee-Haltung: ... Hey! Die Beschreibung erinnert mich an so eine Geschichte, die ich einmal gelesen habe ... Blood-Red Diamond heißt die. ... Nichts für schwache Nerven xD Aber sehr empfehlenswert ;)
... Aber ja, mit deiner Mischung aus Chaos, Drama und Anti-Klischee-Haltung (und ... nichts ist so, wie es scheint. Und ... nichts passiert, wenn du es glaubst. Und nichts ist so, wie du es glaubst. Und ... egal, was du glaubst, du irrst dich ... und ... glaube lieber gar nicht, ist sowieso umsonst ... Am Ende stirbt er sowieso ...) hast du da ziemlich etwas Einzigartiges erschaffen! Daran hast du dich also wirklich gut gehalten XD Ich bin stolz auf dich!

Was mir gerade auffällt: ... DER KERL BEIM BALL WAR JA WIRKLICH NICHT BÖSE. ... Ernsthaft? T.T Wenn ich vertrauensselig bin, weil ich mir denke, dass ich demjenigen vertrauen kann, weil - wieso sollte er böse sein? Er k a n n ja gar nicht böse sein und ... nein und so ... dann BAM. Und jetzt ist er superböse >:( *Aurelia anstarr*
Und dann ... dann misstraue ich jemandem einmal? ... IST ES WIRKLICH NUR EIN NETTER, ALTER MANN, DER HELFEN WOLLTE. Aber er war so nett! Das ist doch verdächtig! Okay, ich verstehe die Welt nicht mehr!
... Apropos: Hat Lina das Kleid noch? Gehen sie und Jaden mal zu nem Ball? *^* Einen, den sie richtig genießen können, weil sie keine Verbrecher jagen. xD

... Adelio muss noch hier sein. Es darf keine Welt ohne Italiener-Witze existieren!

Zitat:
> Klar, jetzt kommt nur noch Friede-Freude-Eierkuchen! Du kennst mich doch ;)

Dass man das bei Kapitel 20 nich erwarten darf, weiß ich jetzt ... Aber zumindest im Epilog! T_T

Okay ... und ich finde die Entwicklung, die Lina von Kapitel 1 bis Epilog hingelegt hat, echt ... hammer. Mit so einem traurigen Hauch von "Wenn das nie passiert wäre ...!", aber trotzdem ... dadurch hat sie Jaden kennengelernt, sie ist charakterlich stärker geworden und hat auch (theoretisch) neue Freunde gefunden. Das ist gut. Was sonst drum herum war, ist weniger gut, aber ... das gehört wohl zu einem Action-Abenteuer á la MarySae! Und ich verstehe, dass sie dir ans Herz gewachsen ist! (Du musst echt froh sein, dass sie endlich alles überstanden hat xD) ... Sie ist nämlich toll <3 Also ... ein starker Charakter! Ihre Veränderung ist einfach ... WOW. Immernoch.
... Was will sie eigentlich studieren? xD

Okay. Jetzt bin ich, soweit ich weiß, alles losgeworden, was ich loswerden wollte (was mehr Quatsch als produktiv war, aber was soll's xD)

Jedenfalls will ich jetzt noch einmal beteuern, dass ich echt genial geflasht (-> FanArt xD ... Ach ja! Ich muss noch meine Kuverts suchen für FanArts, dann schicke ich es los! *^*) bin/war und dass ich die Geschichte wirklich vermissen werde! Und dass du total stolz auf dich sein darfst!

Also ... Das war es dann von mir!

Liebe Grüße
Geni
Antwort von:  MarySae
22.03.2015 19:25
Wow. Ich bin echt beeindruckt O.o Mit diesem Kommi hast du deinen Rekord nochmal selbst gebrochen xD
Ich kann gar nicht genug Danke sagen, dass du dir immer soooo viel Mühe mit deinen Kommentaren gibst! Das ist wirklich mehr als genial :D

Na, ein kleiner Wink am Ende musste aber sein :) Es gibt ja nicht nur die paar Menschen, die auf die Idee kommen, mit sau wertvollen Edelsteinen Geld zu verdienen. Selbst, wenn sie nicht hinter der Gedankenkontrolle her sind, lässt sich mit geklauten Segenssteinen noch so einiges anstellen ^^
Sie haben also im Grunde doch etwas erreicht (die Bande von Leynardh ist ja zerstört), aber es wird immer wieder Menschen geben, die auf diese Idee kommen.
Aber du hast schon recht. Unsere beiden Super-Polizisten werden nie aufgeben, bis sie die bösen Buben hinter Gitter gebracht haben! :D

Klar, ihren Eltern wird es sicherlich bald besser gehen. Lina hat jetzt Jaden und sie werden sehen, dass ihre Tochter glücklich und gut aufgehoben ist. Ich bin mir sicher, dass alle bald in einen normalen Alltag zurückkehren können ^^
Aber nein, Lina wäre nicht zurück gegangen. Sie meinte ja, sie könne nicht ewig vor ihren Ängsten weglaufen. Sie ist eine sehr eigenständige Person und würde sich sehr schnell eingeengt fühlen. So wie es ist, ist es am besten für alle ^^

Ich glaube, es sind einfach alle auf die Situation und nicht auf Lina und Co. direkt. Sie sind sauer, dass gerade ihnen so etwas Schlimmes passieren musste... Daher sind sie auch so seltsam drauf...
Aber ich bin mir sicher, dass das bald ein Ende haben wird ^^

Da Jadens Vater ein angesehener Polizist war, durfte er einen etwas anderen Weg nehmen ^^ Eine kleine Abkürzung sozusagen. XD Jaden war früher schon oft mit seinem Vater da und die Polizei kennt ihn also schon. Ganz zu schweigen von dem, was Jaden schon alles erreicht hat! Ich denke, da werden einige Polizisten schon ganz neidisch sein xD

Ich denke schon, dass Lina und Jaden mit den anderen Kontakt halten werden. Wie du schon sagtest, gerade Jaden kannte die alle über zwei Jahre lang. Sie alle werden diese Zeit wohl nie wieder vergessen können...

Schön, dass dir meine Charas gefallen haben :D Das freut mich sehr! <3

Ahaha, ja, ich finde es auch schön, dass wir uns gefunden haben xD Immer wieder schön auf Animexx wen zum Quatschen zu finden ^^

Danke, danke, danke! :D

Ach, da kann ich mit leben! :D Wer auch immer der gute Brandon ist, er hat bestimmt schon mehr Erfahrung als ich gesammelt ^^
Aber warte es ab! Ich arbeite daran so gut zu werden, dass ich Brandon vom Thron schubsten kann! XD Das ist jetzt mein neues Schreib-Ziel xDDD
(Vielleicht kann ich dann auch ernsthaft darüber nachdenken, das mit dem Veröffentlichen doch mal zu probieren... Bisher traue ich mich das nämlich nicht... Das ist so kompliziert und die Chancen sind soooo klein... *seufz*)
Aber so lange ich höre, dass ich manch veröffentliches Buch schlagen kann, bin ich schon sehr glücklich <3

Ein bisschen Klischee muss sein~ *sing* xD
Es ist aber auch echt schwer, ohne jegliches Klischee zu schreiben O.o Es gibt mittlerweile so viel, dass einfach alles schon mehrfach dagewesen war. O.o Oder vielleicht reicht auch einfach meine Fantasie nicht aus xD

Jaha, es gibt auch einfach nur nette Menschen, die nichts Böses im Hinterkopf haben xD Man glaubt es kaum xD

Also an dieser Stelle noch mal ein riesengroßes, abschließendes DANKE für deine wahnsinnig tollen Kommentare! Ich liebe jedes einzelne von ihnen <3 (und ich freu mich schon sehr auf das Bild! <3)
Und ich freu mich wahnsinnig, dass dir BrD so gut gefallen hat! Dafür war es schon wert, sie zu schreiben :3
(Mal sehen, ob ich das mit TS auch noch mal hinkriege ;) )
Danke danke danke für alles! :D

Ganz liebe Grüße,
Mary
Von:  RhapsodosGenesis
2015-03-12T23:51:00+00:00 13.03.2015 00:51
... ODER!? Amelina, stell keine Fragen, die auf einen Bbenanschlag hinweisen koennten! Das gehoert nicht zu einem Happy End und ist noch viel mehr Cliffhanger als alles andere, weil ODER einfach alles ein- und nichts ausschliesst! Grrr! Ich will Glueck und Liebe und Freude und Friede und Eierkuchen! ><

Aber das war echt ein sauberer Abschluss! Die Worte und Gedanken zu Keith. Das war echt ruehrend ... Wie Lina sich die Schuld gibt, aber Jaden das abwimmelt! Und ich glaube Jaden. Ich bin mir sicher, dass MCSullen jetzt "zuhause" ist. Auch wenn es traurig und unfair und fuer Jaden echt grausam ist :( Das ist ein paradoxes Happy End. D:

Aber das HAPPY (???) End geht ja weiter. Mit noch mehr Traenen. Das war echt hart!!! Wenn man in Kapitel 2 eine Melodie hoert und in Kapitel 27 dann die Antwort darauf bekommt, isf das wie Weihnachten. Theoretisch. Nur theoretisch. Weil: Dreieck. Am Anfang habe ich Jaden ja total mit Lina geshipped - wegen der Melodie (auch wenn keiner drauf eingegangen ist), wegen der Sache mit Aurelia, der Situation im Waldschlammbuschdings ... Ausserdem hat er einen bewundernswerten Charakter und ist irre stark! Und er hat Lina so verdammt sehr geholfen, dass es nur noch erstaunlich ist! Ohne ihn waere sie nie so gewachsen. Aber andererseits war da auch seine abweisende Art mit dem Spott und dem Hohn. Ich hab es als plausibel befunden, dass er das echt als Abschirm-Schutzfaktor macht, dass sie ihm ziemlich viel bedeutet, hat man im Verlauf ja mitbekommen ... Aber trotzdem ... da hat eine Waerme gefehlt - die, die er jetzt an den Tag legt, wo Lina in Sicherheit ist. Das ist echt suess. Und irgendwo vermutlich richtig, aber vor allem nachvollziehbar!
Anders ist genau dieser Punkt aber bei Adelio: Er ist ihr immer nett, warm und troestend entgege gekommen, hat ihr den See gezeigt, sie in der Dunkelheit aufgemuntert, hat auf sie aufgepasst und war immer fuer sie da. Er hat mit ihr Jaden gerettet, er ist ihr nicht von der Seite gewichen und er hat es geschafft, ihr ihre Liebe zu gestehen, ohne dass sie in einer Drucksituation waren - einfach frei heraus und ehrlich. Er hat nichta von ihr geheim gehalten ... und er l i e b t sie - ohne Stein, ohne Zweifel. Ihm k a n n sie vertrauen, weil er einen freien Willen hat, Jaden w i r d sie vertrauen, weil er fuer sie bestimmt ist ... Ich meine - klar, ihre Entscheidung. Sie hat sich schon laengst entschieden, alles, was sie sagt, ist nachvollziehbar - aber irgendwie passt Adelio mehr an ihre Seite. Er zankt nicht. Er ist brav. ... Hmmmm ... Aber - lange Rede, kurzer Sinn: Hoffentlich erholt sich Adelio gut von dem Korb und viel Glueck fuer Lina!

Warum denke ich so genau darueber nach!? Das macht die Uhrzeit xD Und genau deshalb muss ich mich jetzt verabschieden!
Ich hab auch gesehen, dass noch ein Kapitel on ist! Ich werde es lesen, aber leider erst nach dem Wochenende zum Kommentieren kommen :'( Aber danke fuer den Doppel-Upload!! *q*

Und damit sage ich: sehr gefuehlslastiges Kapitel -> sehr gutes Kapitel!! Ich finde es beeindruckend, wie nachvollziehbar jedes Wort ist! Echt, grosses Lob!
Und das war wirklich mal Spannung der anderen Art! xD Sehr schoener Ausklang!

Ich freue mich schon aufs naechste *3*

Liebe Gruesse
Geni

PS: Hoffentlich bis Samstag! *-*
Antwort von:  MarySae
13.03.2015 16:32
Hihihihi, bei mir gibt's keine Friede-Freude-Eierkuchen- Enden :D Das müsste man ja mittlerweile vermuten können xD
Aber ich hab es so gestaltet, wie ich dachte, dass es am besten passt.

Ich muss ja gestehen, auf diesen inneren Konflikt habe ich die ganze Zeit hingearbeitet :)
Ich habe ja von Anfang an das Konzept der Segenssteine sowohl positiv wie auch negativ dargestellt. Wie sich der Leser jetzt entscheidet, ist seine Sache :D
Aber ich muss sagen, Adelio tut mir auch leid... Armer Kerl... Doch ich bin mir sicher, auch für ihn gibt es da draußen jemanden, der genau zu ihm passt. Sei es mit oder ohne Hilfe seines Steinchens :)

Danke für dein Kommi! :D Und ich freu mich wahnsinnig, dass dir das Ende gefällt ^^ (Der Epilog gibt ja nur noch einen kleinen Einblick in Hinterher ^^)

Liebe Grüße und bis morgen ;) Mary
Von:  Saph_ira
2015-03-07T22:33:13+00:00 07.03.2015 23:33
Schön nun mal zu erfahren, wie der Rothaarige heißt... Ich finde es sehr interessant, wie du zwischen gut und böse die Figuren springen lässt. Jaden scheint ein Retter in Not zu sein, aber am Ende des Kapitels überraschst du mit einem Gegenteil und ich bin ganz schön in Zwiespalt geraten... Aber das ist genau das, was mich in deiner Geschichte so begeistert und zum Weiterlesen bewegt. ;D
Antwort von:  MarySae
08.03.2015 11:35
Tja, Jaden weiß wahrscheinlich auch nicht so ganz, wer er sein will. xD
Aber schön, wenn dich das zum Lesen animiert! Bei mir ist alles selten das, was es zu sein scheint ;)

Also nochmal Danke für deine Kommentare und ich wünsche dir viel Spaß beim Weiterlesen! :)
vG, Mary
Von:  Saph_ira
2015-03-07T22:00:32+00:00 07.03.2015 23:00
Wow, sage ich nur, es wird immer spannender... und mir fehlen die Worte...XD Aber eines kann ich noch sagen: Die Natur, das Gewitter und die ganze Umgebung gelingt dir so bildlich und originel zu beschreiben, dass ich alles vor meinem inneren Augen zu sehen glaubte. ;D
Antwort von:  MarySae
08.03.2015 11:34
Freut mich sehr, dass es dir gefällt! :D
Und gut, dass ich die Szenerie so gut rüberbringen konnte! Das ist mir persönlich immer sehr wichtig an einer Geschichte! Immerhin muss ich ja das Bild an die Leser übermitteln, das ich im Kopf habe :)
Von:  Saph_ira
2015-03-07T21:34:12+00:00 07.03.2015 22:34
Ohje, da geht es drum und drüber... Aber umso mehr ist es dann spannender weiterzulesen. :-) Ich hoffe, Lina hat ihren Stein nicht einfach so liegengelassen? Es klang zum Schluss des Kapitels zumindest so, als hätte sie sich von ihm für immer getrennt... Aber wieder einmal toll und spannend geschrieben. ;-)
Antwort von:  MarySae
08.03.2015 11:33
Oh, so fleißig am Lesen! Das freut mich natürlich sehr :)
Danke für dein Kommentar!
Wie du inzwischen wohl gemerkt hast, kommt man von seinem Seelensstein nicht so einfach los ^^ Lina wird also noch viel Freude mit ihrem Steinchen haben ;)
Von:  Saph_ira
2015-03-01T17:42:11+00:00 01.03.2015 18:42
An ihrer Stelle, würde ich auch lieber Eis essen mit Freunden gehen, um mich abzulenken, schon alleine wegen dem Unfall von gestern...^^ Apropo Unfall... Hatte denn niemand von ihren Freunden oder Klasse bzw. Schule die Nachrichten gesehen? Wenn ja, dann müsste es doch auffallen, dass sie mit dem Bus von der Unfallstelle gefahren ist und da sie auch noch verletzt ist, könnte man doch glatt einen Verdacht schöpfen? Vor allem ihre beide Freundinen, die es ja gesehen hatten, wie sie in eben diesen Bus einstieg? Das zumindest die Fragen, die ich mir gerade stelle...^^ Ein ruhiges und gelassenes Kapitel, aber wieder einmal schön geschrieben. ;-) Der neue Kanditat zum Bürgermeister ist mir auch nicht geheuer - ich hoffe, er wird nicht gewählt...^^ Aber mal sehen, fals doch, dann wird es noch spannender zum Lesen. ;-)
Antwort von:  MarySae
01.03.2015 19:27
Ich danke dir wieder einmal sehr für dein Kommentar! :D

Na ja, vielleicht hätten sie es wirklich merken können. Aber meistens fahren ja mehrere Busse pro Buslinie gleichzeitig durch die Stadt. Selbst wenn sie also das Fahrzeug im Fernsehen gesehen hätten, das Nummernschild haben sie sich wahrscheinlich nicht gemerkt ^^
Zumindest habe ich beschlossen, dass die beiden in dem Punkt nicht besonders aufmerksam waren xD

Danke nochmal! <3
Liebe Grüße,
Mary
Antwort von:  Saph_ira
01.03.2015 20:09
Gerngeschehen. ;-)
Aha, alles klar, dann ist es natürlich verständlich. XD

Liebe Grüße
Saph_ira
Von:  RhapsodosGenesis
2015-03-01T12:33:28+00:00 01.03.2015 13:33
ICH HABS GEAHNTTTT!!
Na gut, nicht zusammenhaengend, aber trotzdem! Der Politiker war von Anfang an suspekt und Aurelia hat da perfekt dazugepasst! Auch wenn ich bei ihr gehofft habe, dass sie doch nicht dazugehoert :'( Sie war noch so jung T.T Aber dass sie nicht ganz dicht war, wusste man ja. Aaaaber das hat sie dann wohl geerbt! Gute Verknuepfung uebrigens. Znd ihr Plan war eigentlich auch gut. Enn Aurelia nicht ueber die eigene Eifersucht gestolpert waere, haette es vielleicht besser fuer sie geklappt - vor allem, was Jaden betrifft.
Aber der Einschleussungsversuch war echt gut, auch wenn sie mehr daraus machen haetten koennen. (Andererseits: Gut, dass sie nicht immer ihre Plaene vor Aurelia rausposaunt hatten xD)
Jedenfalls bin ich enttaeuscht von Aurelia, dass echt alles gespielt war. Und dass sie am Ende nicjt zu den Guten gefunden hatte :( Ob sie wohl noch lebt?
Ah, und die Erklaerung, weshalb Jaden amLeben gehalten wurde, ist auch gut! Auch wenn ich mich frage, wje schlecht sie Jaden eigentlich gekannt hat, um ernsthaft zu glauben, er wuerde irgendwann "triumphierend neben ihr stehen". Also wirklich! Jaden ist sowas von Held, den koennte man nicht dazu bringen!

Ach, ich liebe Linas Eltern! Sie haben es echt geschafft, Keith zu holen! Er hat sie gerettet! Und jetzt ist er tot! Warte. Was!? Tot!? Wieso?! MCSULLEN, verflucht, LEBE!! Los, fang wieder an zu atmen!!! Du hast jetzt Jaden als Filie! Nimm ihm jetzt nicht noch seinen zweiten Vater! Das waere grauenhaft T.T Auch wenn DU dich freust - das ist total egoistisch! Keith, du hast sie g e r e t t e t, also leb damit! Hopp! Wieso hat noch niemand einen Krankenwagen geholt? Druckverband?! Mund-zu-Mund-Beatmung? Irgendetwas! Sie koennen das doch nicht unversucht lassen! Das grenzt ja an Sterbehilfe! T.T Dabei war Keith sobtoll q.q Ohne ihn waeren sie jetzt alle tot! Wo bleibt die Dankbarkeit? :(

Oh, und da nochmal zurueck zu Aurelia: Es ist echt schlimm, wie sue von Colins Tod spricht! Als sei er unbsdeutend und klein und n a t u e r l i c h! Wie sie das alles ohne Gefuehl schildert! Tragische Vergangenheit - schoen und gut. Aber das geht sowas von zu weit! Bloede Ziege.

Aber fangen wir mal von vorne an, nachdem sir Dampf abgelassen haben xD"'
Whuuu ... Wenn nicht weiss, wer jetzt noch nacv Lina die Tuer reinkommt, koennte man FAST glauben, dass ihre kleine geistige Diskussion ueber das Oeffnen der Tuer die Ueberlegung war, ob sie wohl ihr Henkersurteil unterschreiben solle oder nicht! Und n o c h hat sie Glueck gehabt - mal sehen, was danacb noch passiert!

Aber es ist echt wahnsinnig von ihr, da wirklich hinterherzulaufen. Auch wenn es sich letzten Endes gut entwickelt hatte. Diese Kurzschlussreaktion passt auch gut zu ihd - wobei es echt hart ist, dass sie keinerlei Mitleid fuer ihn uebrig hat. Aber gut - irrgendwo ist das bei einem Kerl mit Waffe, der auf wehrlose Kinder ychiesst, nachvollziehbar D:
Aber huuuh! Adelio LEBT! Sie hat ihn gerettet! Awesome!
Und dass sie alle drei noch bloede Sprueche klopfen koennen xD Andernorts waere es eine Auflockerung gewesen, hier nicht. Echt nicht. Man ist einfach froh, dass sie noch leben!


Dann kommt der Politier und klaert alles auf! Kumpel, anstatt dich ueber das Personal zu beschweren, haettest du Verstaerkung mitbringen sollen! Was machst du ueberhaupt hier?! Solltest du nicht schlafen oder tanzen oder neue Personallisten zusammenstellen!? Egal! Jetzt bist du tot und hast sowas von selbst Schuld!
Wo Aurelia ihren Hang zum Hoehnisch-ueber-Tote-Sprechen her hat, ist schonmal offensichtlich! Hat der mich genervt! Ich haette ihn nicht gewaehlt!
Aber das, was er so gefaselt hat, klingt gar nicht so unlogisch. Das hat echt was. Aber woher weiss man, welchen Weg man gehen muss, um den richtigen zu gehen? Wie wollte er damit Menschen manipulieren? Klingt etwas nach Wahrsagerei!
Huh, aber ich glaube, Lina ist ihrer Erfuellung ziemlich nahe gekommen! Grosser Stein, grosser Weg! Ich finde es auch cool, dass sie wegen Emily und Adelio auch ihr schmerzendes Bein ignoriert hat, wie sie fuer Adelio den Kerl niedergeschlagen hat ...! Vor einer Woche haette sie ueber so einen "klischeehaften Actionfilm" wohl noch gelacht! Und jetzt ist sie selbst eine Heldin, egal, was ihre Minderwertigkeitskomplexe sagen!
Aber hey - eigentlich haben die Mitschueler dann wohl die Zukunfts-Amelina bewundert! Die, die die Welt vor den Boesen gerettet hat! Ich denke, dass das durchaus was Besonderes ist - ob der Politiker was andres gemeint hat?

Aber echt ... einschneidend war der Umstand, dass Aurelias Worte sie so sehr verletzt haben (Und wie Adelio gebrodelt hat! Sooo awesome! Adelio ist einfach zu nett TwT) ... Das heisst ja, dass sie Aurelia trotz allem noch irgendwo gemocht oder etwas auf ihre Meinung gegeben hat ... Am Anfang war sie ja auch gut geschauspielt Aaaeh, nett!

Ich bin also immernoch hier, bewundere Amelinas Entwicklung und freue mich riiiiesig auf den Epil- ... Wow. Woooah, der ist fies! Du kannst nicht hier mit der Frage "War das ein Sieg!?!" aufhoeren und dann den Epilog hochladen, waehrend arme Oesterreicher keine Internetverbindung haben, weil sie auf der Buchmesse sind! (Ist das nicht ironisch? Eine Geschichte will ich dort lesen und mit der muss ich dann auf Montag warten! Pfff ... XD
... Hey, mein Stalkerblick hat grad gesehen, dass du auch zur LBM gehen wirst! °3°b An welchen Tagen wirst du dort sein? :3)
Wo war ich? Ach ja! Ich freue mich natuerlich besonders seht auf den Epilog, auf die Klaerung der letzten wichtigen Fragen und vor allem auf: Ja, Leute, DAS war ein Sieg mit zu vielen Opfern, aber gewonnen haben wir!!
Hoffentlich kommt Lina also gut zuhause an und hoffentlich geht es allen gut! Oh, und hoffentlich leben ein paar der Segenssteinbesitzer noch, sodass sie sie zurueckgeben koennen!

Also: Weiter so! Es ist voll komisch, dass die Geschichte bald vorbei sein wird :'( Aber sie hat sich auf alle Faelle gelohnt! Weiter so!! Grossartige Leistung! Die Spannung war bis zum Schluss da - na gut, sie ist nach wie vor da! Also: Hut ab, MarySae, Hut ab!

Liebe Gruesse
Geni
Antwort von:  MarySae
01.03.2015 19:25
Ach ja, hast du? xD Ich weiß grade gar nicht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern soll. xD
Die Sache mit Aurelia hab ich versucht extra doll zu verschleiern, damit niemand was merkt xD Aber ich hab auch schon gehört, dass das ziemlich klischeehaft ist... Aber gut, ganz ohne geht's eben nicht ;)

Ja, ja, die böse Aurelia ._. Sie hatte wohl zu viel schlechtes von ihrem Vater geerbt. Und ne blöde Kuh war sie ja eh.
Es war also nicht allzu verwunderlich, dass sie sofort auf das Angebot ihres Vaters engegangen ist.

Ja, er ist tot. Es gab nichts mehr, was sie hätten tun können... Armer Kerl. ._.
Aber er ist gestorben, wie er gelebt hat. Als Kämpfer...

Ganz unrecht hat er wirklich nicht. Aber das Ziel, was er erreichen wollte, war einfach mal voll daneben.
Er hat sein eigenes Leben über das anderer gestellt. Er hätte was weiß ich machen können!
Jedenfalls hat er sich von der Aussicht auf Macht völlig blenden lassen...
Wer weiß? Vielleicht hätte er sich auch ohne die Segenssteine bis an die Spitze hocharbeiten können? Die Leute mochten ihn bzw. seine Maske ja. Doch ihm ging das zu langsam. Er wollte lieber sofort Ergebnisse sehen. Tja...

Erstmal: Kapitel 27 UND ein Epilog :D
Und dann: Ja gut, das ist vielleicht wirklich etwas mies. xD Aber ich lass ja mit mir reden ;)
Ich stell den Rest einfach an dem Montagmorgen bei Animexx ein und mit etwas Glück, geben die fleißigen Freischalter die zwei Kapitel schon gegen Mitte der Woche frei. Einverstanden? ;)

Jup, ich bin auch da :D Das 5. Mal in Folge xD
Diesmal bin ich am Samstag da! (Mehr geht leider nicht, weil dann übernachden anstehen würde und das wird zu teuer :/)
Wäre ja cool, wenn wir uns da Mal über den Weg laufen würden! xD

Und wieder einmal tausend Dank für dein super tolles Kommentar! <3
Du glaubst gar nicht, wie sehr mich deine Worte immer zum Lächeln bringen und vorallem motivieren! :) (Aktuell grade bei TS zu sehen xD)
Ich hoffe, dir gefallen auch noch die letzten Zeilen (eine ganz kleine Bombe hab ich noch im Gepäck :3)!

Ganz liebe Grüße,
Mary


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