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Actio est reactio

von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr alle!
Es hat dreihundert Jahre gedauert, aber jetzt ist es fertig. Aus gesundheitlichen Gründen war ich eine recht lange Weile nicht sehr aktiv und jetzt steht meine Abschlussprüfung an. Ich kann also nicht garantieren, dass es allzu zackig weiter geht. Aber ich hab meine beiden Hasen nicht vergessen und möchte sie auf jeden Fall ihren Weg zu Ende gehen lassen. An dieser Stelle auch schon mal Entschuldigung dafür, dass ich nicht auf jeden Kommentar antworte. Ich bedanke mich einfach schon mal im Voraus für jegliches Feedback :) Komplett anzeigen

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Spektrum

Alle meine Freunde haben großen Spaß an meiner Geburtstagsfeier. Der Einzige, dem jeglicher Spaß vergangen ist, bin ich. Mein Kopf kreist vor lauter Bildern, Fragen und nun, da die Erregung ein wenig abgeklungen ist, erneuter Eifersucht, die sich einfach nicht niederringen lässt, egal wie sehr ich es versuche.
 

Irgendwie macht es mich glücklich in dieser Runde zu sitzen – ich erinnere mich an dieses Gespräch über Freundschaft, das ich mit Mari hatte und es scheint mir so, als wären alle Anwesenden Kandidaten für eine ‚richtige‘ Freundschaft.
 

Nur leider ist diese Erkenntnis davon getrübt, dass ich in Tamino verliebt bin und der aber gerade wild mit meinem besten Kumpel rumgemacht hat.
 

Als die beiden zurück ins Zimmer kommen, bin ich extra eifrig damit beschäftigt, allen noch mehr Alkohol einzuschenken und tue so, als würde ich das Pfeifen von Linda, Anni und Lotta nicht hören.
 

Ich reiche Tamino ein neues Glas Rum ohne ihm in die Augen zu schauen und zucke innerlich zusammen, als Feli sich an Cem wendet und sagt:
 

»Ich wusste nicht, dass du auch Jungs magst.«
 

Ich sehe Cem gespannt an. Seine Wangen sind rot – wahrscheinlich eine Mischung vom Alkohol und den Erinnerungen an den Blow Job, den er gerade bekommen hat – und er mustert Feli eingehend. Sie hält seinem Blick stand, ihr Kopf leicht zur Seite geneigt.
 

Soweit ich erkennen kann, war da kein verurteilender Unterton. Ein Ergebnis, zu dem auch Cem zu kommen scheint, denn er zuckt mit den Schultern.
 

»Ich erzähls auch nicht unbedingt rum«, gibt er zurück. Ich werfe ihm ein Lächeln zu, von dem ich hoffe, dass es aufmunternd wirkt. Allerdings kann ich dafür nicht garantieren, denn Tamino hat gerade angefangen mit seinen Fingern durch Cems Haare zu streichen und Cem schließt seine Augen, als würde er das sehr genießen.
 

Verfluchter Drecksmist.
 

»Also… seid ihr beide—naja. Seid ihr zusammen?«, will Feli interessiert wissen. Cem öffnet ein Auge und schaut sie an.
 

»Bist du mit Juls zusammen?«
 

Ich blinzele. Feli schnaubt.
 

»Nein.«
 

»Na bitte«, sagt Cem, als wäre damit alles geklärt. Als würden Feli und ich auf Feiern Schulter an Schulter sitzen und uns gegenseitig die Haare kraulen.
 

»Solo und rallig?«, meint Tamino und er lallt mittlerweile definitiv. Sein Kommentar bringt alle Anwesenden zum Lachen. Ich schwanke zwischen Erleichterung und Verzweiflung.
 

Solo und rallig. In der Tat.
 

Und das, nachdem ich gerade festgestellt habe, dass ich asexuell bin. Was es damit genau auf sich hat, weiß auch kein Mensch. Ugh.
 

Ich will mein altes Leben zurück, in dem alles noch unkompliziert war.
 

Wir essen Pizza und Noah spielt noch etwas mehr Gitarre und ich tue nach meinem nächsten Bier so, als wäre mir schlecht vom Alkohol. Mari lacht mich aus bevor sie sich erkundigt, ob sie mir die Haare halten soll. Geschwisterliebe in ihrer ganzen Glorie.
 

»Geht schon, danke«, nuschele ich und muss nicht mal so tun, als würde ich aus dem Zimmer wanken. Ich schließe meine Zimmertür hinter mir ab und starre gute zwei Minuten lang den Sessel an, der unschuldig an seinem angestammten Platz steht und so tut, als hätte Cem nicht gerade darauf gesessen, während Tamino ihm einen geblasen hat.
 

Ich werfe mich aufs Bett und statt zu versuchen tatsächlich zu schlafen, lasse ich das Filmchen immer und immer wieder in meinem Kopf ablaufen. Weiß der Geier, wann ich angefangen habe, masochistisch durch die Welt zu gehen.
 

Nebenan hört man Gelächter, Gitarrenklänge und fröhliche Stimmen. Als es leise an der Zimmertür klopft, antworte ich nicht und schließe die Augen.
 

Herzlichen Glückwunsch, Juls.
 

*
 

Zugegebenermaßen bin fast froh darüber, dass die Schule wieder losgeht, weil ich dann den Tag über zumindest ein bisschen Ablenkung habe. Auch wenn das natürlich heißt, dass ich Tamino jetzt wieder jeden Tag sehe und wir auch wieder angefangen haben, Nachhilfestunden zu planen.
 

Der Bewerbungsschluss für das Stipendium rückt näher und ich frage mich, ob ich dieses bekloppte Stipendium überhaupt haben will. Vielleicht ist es all den Stress auch überhaupt nicht wert. Der einzige Grund, wieso ich mir so den Arsch abrackere und nicht einfach eine Klasse wiederhole, ist, damit ich meinem dämlichen alten Mann den Mittelfinger zeigen und »Ha! Du hattest nicht Recht!« sagen kann.
 

Ob das als Motivation gut genug ist, weiß ich mittlerweile nicht mehr.
 

Cem, der mich viel zu gut kennt, merkt selbstverständlich, dass irgendwas im Busche ist, aber er spricht mich Gott sei Dank nicht darauf an, sondern wirft mir nur immer wieder Blicke von der Seite zu, die eindeutig sagen »Ich sehe, dass irgendwas nicht stimmt, aber ich bin ein zu großartiger Kumpel, um dich deswegen zu bedrängen, du Wichser.«.
 

Zu meiner endlosen Erleichterung verhalten Tamino und Cem sich nicht großartig anders zueinander, aber Feli scheint beschlossen zu haben, dass sie mehr Zeit mit uns verbringen möchte. Vor allem mehr Zeit mit Tamino, an dem sie eindeutig einen Narren gefressen hat.
 

Sie reden über alles. Tamino hört geduldig zu, während Feli ihm alles über eine Serie namens Riverdale erzählt und sie sieht schlichtweg glücklich aus, dass jemand sich davon berichten lässt und interessierte Nachfragen stellt. Tamino hat einen Ort gefunden, an dem er sich über Medienkritik auslassen kann und nicht nur großäugiges Nicken zurückbekommt, sondern empörte Zustimmung, mehrere »Oh Gott, ja!«-Ausrufe und konstruktive Antworten.
 

Cem und ich sitzen mehr als einmal mit schiefgelegten Köpfen neben den beiden und hören ihnen eher verständnislos zu.
 

»Ich versteh kein Wort«, sagt Cem an einer Stelle, als Tamino gerade über etwas redet, das er ‚toxische Maskulinität‘ nennt. Während Feli nickt und »Boah, wirklich! Es ist echt eine Pest!« antwortet.
 

»Ich auch nicht«, gebe ich zurück. Aber irgendwie ist es gut, den beiden zuzusehen. Ich kann es nicht genau erklären, aber dieser Enthusiasmus ist irgendwie schön zu beobachten. Die beiden scheinen richtig aus sich heraus zu leuchten, wenn sie sich in Diskussionen vertiefen und die Welt um sich herum vergessen, auch wenn diese Welt mich und Cem einschließt.
 

Ein Großteil des Jahrgangs ist verwirrt über diese neuerlichen sozialen Entwicklungen.
 

Ich höre mehrere dreckige Bemerkungen darüber, dass Feli sich einen Harem angelacht hat. Ganz böse Zungen bezeichnen sie als Schlampe. Ich verstehe überhaupt nicht, was eigentlich los ist, aber jedes Mal, wenn ich sowas höre, will ich eigentlich den Mund aufmachen und was sagen. Meistens kommt Cem mir zuvor.
 

Ich hab irgendwie den Dreh noch nicht raus solche Leute anständig zum Schweigen zu bringen.
 

Traurig aber wahr.
 

Man gewöhnt sich an einen sozialen Status und wenn man anfängt, dauernd Leute anzupaulen, könnte das alles zusammenbrechen.
 

Mit anderen Worten verhalte ich mich wie der letzte feige Arsch.
 

Frau Lüske erkundigt sich, wie es mit der Nachhilfe läuft. Tamino rattert ihr einen ziemlich detailliert ausgearbeiteten Plan herunter, den er irgendwann in den Ferien erstellt haben muss. Ich stöhne innerlich bei dem Gedanken daran, so viele Französischvokabeln lernen zu müssen. Frau Lüske hingegen ist begeistert.
 

»Und wie ich höre, sind Sie unserer Fußballmannschaft beigetreten, Tamino? Ich bin gespannt zu sehen, wie Sie sich machen!«
 

Tamino schrumpft in sich zusammen.
 

»Er macht sich ziemlich gut«, sage ich breit grinsend und haue ihm heftig auf den Rücken. Frau Lüske lächelt zufrieden.
 

»Eigentlich habe ich nichts anderes erwartet.«
 

Ich auch nicht, denke ich stumm bei mir, während Tamino zurück auf seinen Platz flüchtet und sich dort so klein wie möglich macht, damit Frau Lüske bloß nicht auf die Idee kommt, ihm noch mehr Komplimente zu machen.
 

Da wir jetzt in der Dreizehnten sind, gibt es keine feste Sitzordnung mehr und alle Leute können sich neue Sitzplätze suchen. Das hat dazu geführt, dass Tamino jetzt eigentlich immer entweder neben mir, Feli oder Cem sitzt—oder irgendwo zwischen uns Dreien.
 

Nach der anfänglichen Verwirrung der anderen und der damit verbundenen Aufmerksamkeit scheint Tamino sich halbwegs daran gewöhnt zu haben. Er kritzelt Bemerkungen oder schlechte Zeichnungen auf meine und Felis Unterlagen und spielt Käsekästchen mit Cem, wenn ihm langweilig ist.
 

Natürlich kritisiert nie irgendein Lehrer Taminos Unaufmerksamkeit, da er es irgendwie drauf hat, trotz der Nebenaktivitäten mit halbem Ohr dem Unterricht zu folgen und bohrende Nachfragen zu beantworten. Bei mir, Cem und Feli ist das Lehrpersonal nicht so nachgiebig, weil wir allesamt keine grandiosen Überflieger sind—ich würde uns als goldenen Durchschnitt bezeichnen. Zumindest seitdem Tamino mich mit Nachhilfe unterstützt.
 

Alles in allem kann man sagen, dass mit jedem Tag meine beknackten Gefühle mehr werden. Ich war ja vorher schon von Tamino beeindruckt, aber seitdem mir klar geworden ist, in welche Richtung die ganze Sache steuert, kriege ich kaum noch irgendwas gebacken, weil ich alle Nase lang damit beschäftigt bin darüber nachzudenken, wie großartig Tamino ist. Und wie er mich zur Begrüßung umarmt hat. Und wie er lächelt. Und wie er über Cems Witze gelacht hat und dabei die Nase rümpft. Und wie dringend ich ihn küssen will.
 

Einfach toll. Kann man seine Gefühle irgendwo umtauschen? Mit dem Bewerbungsschluss für die Stipendien so nah um die Ecke kann ich eigentlich keine Ablenkung gebrauchen. Ich soll Französischvokabeln lernen und nicht darüber nachdenken, wie sich Taminos Lippen auf meinen anfühlen würden.
 

Ganz abgesehen von allen Baustellen, die ich gerade habe—das Stipendium, meine dummen Gefühle, die Eifersucht, mein schlechtes Gewissen gegenüber Feli—kommt auch noch hinzu, dass ich immer noch über meine neu entdeckte Asexualität nachdenke. Und wie ich reagiert habe, als ich Tamino und Cem beobachtet habe.
 

Vielleicht hab ich was übrig für Voyeurismus? Vielleicht bin ich doch nicht asexuell? Lotta hat gesagt, dass ich mir darüber keine Gedanken machen soll, wenn ich mich doch mal zu irgendwem hingezogen fühle. Ist es nicht eigentlich auch egal, ob das Wort passt oder nicht?
 

Argh.
 

Nach zwei Wochen endlosen Grübelns, sinnlosem Vokabeln lernen, wenn ich ja doch nichts behalten kann und schlechtem Essverhalten, das meine Schwester und meine Mutter in Besorgung stürzt, treffe ich eine Entscheidung.
 

Vielleicht auch mehrere Entscheidungen.
 

»Kann ich dich bei Skype anrufen?«
 

Es dauert zehn Minuten, bevor ich die Nachricht abschicke, aber die Antwort kommt sofort. Lotta schickt mir zwei Daumen hoch und ihre Skype-Kontaktdaten. Bevor ich es mir anders überlegen kann, schmeiße ich meinen Laptop an, schicke ihr eine Kontaktanfrage und werfe mich in den Sessel, auf den ich jetzt provisorisch eine Wolldecke gelegt habe. Als könnte das meine Gedanken davon abhalten, über diesen verfluchten Blowjob nachzudenken.
 

»Hey Juls«, sagt Lotta und winkt mir zu. Ich sehe sie zum ersten Mal ungeschminkt und mit einer Frisur, die eigentlich gar keine ist. Aber sie lächelt breit und hält eine Tasse mit irgendeinem Getränk in den Händen.
 

»Hey«, sage ich und ringe mir ebenfalls ein Lächeln ab. Lotta beugt sich vor und kneift die Augen zusammen und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das kleine Fenster näher betrachtet, in dem jetzt mein Gesicht zu sehen ist.
 

»Du siehst natürlich zauberhaft aus wie immer, aber etwas ungesund, wenn ich das so sagen darf«, meint Lotta und nimmt einen Schluck von ihrem Getränk. Auf der Tasse sind jede Menge bunte Früchte.
 

»Eh, ja. Mir geht’s auch nicht so geil«, gebe ich zu. Alleine das zuzugeben ist irgendwie erleichternd. Wenn man dauernd alle Leute anlügt, strengt das einfach zu sehr an.
 

»Wie kann ich helfen?«, will sie wissen.
 

»Ähm... ja. Ich bin nicht ganz sicher. Es gibt mehrere Baustellen? Ich dachte... naja. Also, es wäre cool, wenn du das vielleicht sonst niemandem weitersagst?«
 

Meine endlose Eloquenz macht sich mal wieder bemerkbar. Top, Juls. Einfach Großartig.
 

Lotta nickt.
 

»Ehrensache. Meine Lippen sind versiegelt. Versprochen!«
 

»Ok. Cool. Danke.«
 

Sag es einfach. Du hast es schon mal gesagt. So schwer ist es doch nicht, Julius.
 

Lotta wartet geduldig, während ich mit mir ringe und nervös auf meiner Unterlippe rumkaue.
 

»Ok, also. Ich dachte, du und Tamino. Äh. Ich dachte, dass ihr ein Paar seid?«
 

Ein wunderbarer Einstieg. Als wäre das mein Problem. Lotta blinzelt, dann kichert sie.
 

»Aber Juls. Tamino mag Jungs? Und ich weiß nicht, wen ich so mag, aber ich kann hoch und heilig versichern, dass Tamino zwar ein wunderbarer Mensch und mein bester Freund ist, aber ich kein Interesse an ihm habe.«
 

Die Tatsache, dass sie es einfach so sagt—»Tamino mag Jungs.«—ist... keine Ahnung. Es ist einfach diese simple Tatsache, von der ich nichts wusste. Und ich komme mir immer noch dumm vor, dass ich die beiden für ein Paar gehalten habe.
 

»Ja, das, eh. Hab ich mir nach meiner Feier gedacht. Wegen Cem und... so.«
 

Bei der Erwähnung grinst Lotta.
 

»Ah, ja. Cem ist super, muss ich sagen. Ich freu mich, dass Tamino nette Fußballer kennen gelernt hat. Unsere Jungs hier sind zu 95% Vollpfosten.«
 

Da sind sie wieder, die Andeutungen darüber, dass Tamino und Fußballer irgendwie nicht zueinander passen sollen. Ich entscheide mich, dass dies ein Problem für wann anders ist.
 

»Ja, Cem ist... cool. Jedenfalls. Vielleicht, ähm. Oder nicht vielleicht, eher sehr sicher. Ugh. Fuck.«
 

Lotta ist eine sehr geduldige Gesprächspartnerin. Sie hakt nicht nach, sondern wartet ganz in Ruhe, bis ich meine Zunge enttüddelt habe und nippt weiter an ihrer Tasse.
 

»Ich hab mich in Tamino verliebt und jetzt hat er mit Cem angebandelt und ich hab die beiden beobachtet und ich dachte, ich wäre asexuell, aber so, wie ich mich da gefühlt habe, hat es sich definitiv nicht sehr asexuell angefühlt und jetzt weiß ich nicht mehr, was eigentlich los ist und außerdem hab ich Schiss, dass Tamino mit Cem zusammen kommt, was mich zu ‘nem Arschloch macht, weil Cem mein bester Kumpel ist und Tamino... naja. Jedenfalls ist alles super scheiße und ich hab keine Ahnung, was ich machen soll.«
 

Das alles rattere ich in einem Affentempo herunter, aber ich habe das Gefühl, dass Lotta im Training ist. Wahrscheinlich, weil sie mit Anni befreundet ist, die auch ab und an so schnell redet, dass ich kaum folgen kann.
 

Lotta stellt ihre Tasse beiseite und macht sehr große Augen.
 

»Oh, Juls«, sagt sie leise und ich fahre mir durch die Haare. Meine Augenwinkel fühlen sich plötzlich sehr prickelig an.
 

»Und ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken und kann mich nicht auf die Nachhilfe konzentrieren, weil... naja. Wegen dieser ganzen Gefühlsscheiße. Aber der Bewerbungsschluss für das Stipendium ist bald und ich hab keine Ahnung, wie ich das alles gebacken kriegen soll. Und außerdem haben Leute im Jahrgang angefangen auf Feli rumzuhacken, weil sie jetzt mit uns abhängt und ich kriegs nicht geschissen da mal einzugreifen, weil ich offenbar ein feiger Saftsack bin und ich hab mit Cem noch nicht darüber geredet, dass ich Tamino gut finde und ich weiß nicht, ob er Tamino nicht vielleicht auch gut findet. Für mehr als fürs Rummachen. Oder wie auch immer.«
 

»Kein Wunder, dass du so fertig aussiehst, bei so vielen Gefühlen«, sagt Lotta mitfühlend und beugt sich in ihrem Stuhl ein wenig nach vorne.
 

»Worüber möchtest du am meisten reden?«
 

Ich lache freudlos.
 

»Eigentlich will ich die ganze Zeit nur über Tamino reden und komme mir ziemlich dämlich dabei vor.«
 

Lotta lächelt ein warmes, liebevolles Lächeln, das meine Augenwinkel in eine erneute Krise stürzt.
 

»Ich habe absolut nichts dagegen, über Tamino zu reden. Aber wenn du möchtest, kann ich dir auch erklären, was ich so für Gedanken zu Asexualität habe.«
 

Ich schlucke und nicke.
 

»Ja. Das wäre... cool.«
 

Zugegebenermaßen habe ich ja auch eigentlich deswegen bei Lotta angerufen und nicht bei irgendwem anders. Da ich weiß, dass sie asexuell ist und wir schon mal darüber geredet haben, war sie die einzige Adresse, bei der ich mich darüber erkundigen kann. Wer weiß, vielleicht kennt Mari auch zehn Leute, die asexuell sind und ich weiß es es einfach nicht, weil ich sie nie danach gefragt habe. Aber mit meiner Schwester muss ich echt nicht darüber reden, wen ich oder wen ich nicht geil finde.
 

»Ok, also. Ich fass noch mal zusammen, was ich weiß, ja?«
 

Ich nicke.
 

»Du hast nie so richtig verstanden, was andere Leute an Sex toll finden. Du fängst nicht an zu sabbern, wenn du irgendwo nackte Leute siehst. Du denkst dir nie ‚boah, mit dem da würde ich gerne in die Kiste steigen‘.«
 

Ich schlucke.
 

»Eh. Ja. So in etwa. Also, ich meine. Diese ganze Erkenntnis, dass ich eigentlich auf Kerle stehe, ist ziemlich neu, deswegen machts vermutlich Sinn, dass ich noch nie ein Mädchen angeschaut hab und dachte ‚Geiler Scheiß‘.«
 

Lotta grinst und nimmt noch einen Schluck aus ihrer Tasse.
 

»Fair point. Aber seit der Erkenntnis hast du ja schon hier und da ein paar Jungs angeschaut. Und ehrlich gesagt sind die meisten Jungs, die nicht asexuell sind, ziemlich sabbernde Hormonschleudern, also wenn du in die Richtung noch nichts bemerkt hast, kann ich dir mit recht großer Sicherheit sagen, dass Sex für dich einfach nicht so das Thema ist.«
 

Sie hat natürlich vollkommen recht. Wenn ich die anderen Jungs aus meinem Jahrgang angucke, ist die Bezeichnung »sabbernde Hormonschleudern« noch freundlich ausgedrückt. Selbst Cem, der schon recht zurückhaltend ist, wenn es um solche Dinge geht, macht trotzdem keinerlei Hehl daraus, dass er Sex für einen der besten Zeitvertreibe des Lebens hält.
 

»Ok«, sage ich kleinlaut und greife nach einem Stift auf dem Schreibtisch, einfach um irgendwas mit meinen Händen tun zu können. Über Gefühle reden ist so verdammt anstrengend, ich würde eigentlich gerne ein Nickerchen machen.
 

»Und es gibt auch Leute, die sich nur für Menschen interessieren, denen sie emotional nahe stehen. Wie ist es damit?«
 

Ich blinzele in die Kamera.
 

»Sowas gibt‘s?«
 

Lotta nickt. Sie ist wirlich sehr geduldig mit mir.
 

»Jap. Sowas gibt’s. Nennt sich demisexuell. Es ist halt ein Spektrum, weißt du? Manche Asexuelle machen es sich selber, andere nicht. Manche haben Sex mit Partnern, andere nicht. Manche finden Sex widerlich, andere einfach nur langweilig.«
 

Ich denke darüber nach, wie ich auf Cem und Tamino reagiert habe.
 

Emotionale Nähe zu beiden Beteiligten? Check.
 

»Weißt du, und selbst wenn du dich jetzt als asexuell identifizierst und später feststellst, dass das doch nicht passt, ist es auch ok. Manchmal muss man sich eben erst ein bisschen besser kennenlernen, bevor man ein endgültiges Urteil fällen kann.«
 

Ich seufze und fahre mir mit den Fingern durch die Haare. Es entsteht eine kurze Stille, in der Lotta aus ihrer Tasse trinkt und ich darüber nachdenke, wie ich dieses endlose Wollknäuel aus Problemen am besten lösen kann.
 

»Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragt Lotta.
 

»Unbedingt. Ich bin für alle Vorschläge sehr offen«, sage ich kläglich und Lotta lacht.
 

»Ok. Ich würd an deiner Stelle mit Cem und Tamino reden. Keine Sorge. Nicht mit beiden zusammen. Aber ich denke, du solltest Cem sagen, dass du Gefühle für Tamino hast. Und du kannst mit Tamino darüber reden, dass er Jungs mag. Weil du das vorher nicht wusstest.«
 

Ich schlucke und stelle mir vor, wie ich Cem von meinen Gefühlen erzähle. Was, wenn er sagt »Tja, ich bin aber auch in Tamino verknallt.«?
 

Ugh.
 

Wer hat Gefühle eigentlich erfunden?
 

»Ich versteh auch nicht, wieso er mir das nicht erzählt hat«, klage ich. Lotta verzieht traurig den Mund.
 

»Ah. Ich weiß, das hilft dir nicht weiter, aber ich würde es an deiner Stelle nicht persönlich nehmen. Es ist... ähm. Kompliziert. Naja, eigentlich ist es nicht kompliziert, es ist scheiße und Tamino redet nicht gerne drüber. Wie über viele Dinge. Ich kann aber nichts Genaueres dazu sagen«, meint sie und hebt entschuldigend eine Hand.
 

Ich schnaube.
 

»Ja, das dachte ich mir schon.«
 

»Bist du sauer?«
 

»Nein. Ich zweifele an meiner Vertrauenswürdigkeit«, murmele ich.
 

»Das versteh ich. Aber ihr kennt euch ja wirklich noch nicht so lange, ich erinnere mich noch dran wie Tamino mir damals erzählt hat, dass du ihn im Unterricht auch gern mal als Streber betitelt hast«, meint Lotta.
 

Ich zucke merklich zusammen und lasse den Kopf sinken.
 

Ah ja.
 

Dinge, die ich an mir selbst nicht besonders mag und von denen mir nie so richtig klar war, dass ich damit Probleme hab.
 

Namentlich: Gruppenzwang.
 

Was für ein Trottel ich bin.
 

»Ich meine nur... wenn ihr länger befreundet seid, wird es vermutlich noch jede Menge Dinge geben, die du nicht wusstest und er weiß ja sicherlich auch nicht alles über dich. Hast du... hast du ihm eigentlich schon erzählt, dass du auf Jungs stehst?«
 

Ich hole tief Luft und schüttele den Kopf.
 

Lotta grinst mich aufmunternd an.
 

»Aha! Dann könnt ihr darüber reden, wie ihr beide Jungs gut findet!«
 

Aus irgendeinem Grund steigt mir bei der Vorstellung Hitze in den Kopf. Und dann schweifen meine Gedanken ab in eine Richtung, über die ich eigentlich lieber nicht nachdenken würde, während ich mit einer von Taminos besten Freundinnen telefoniere.
 

»Wahrscheinlich hast du Recht«, gebe ich zu und sie zwinkert, leert ihre Tasse und stellt sie beiseite.
 

»Geht es dir ein kleines bisschen besser?«
 

»Ja. Ja, schon.«
 

»Sehr schön!«
 

»Sag noch mal, wie das Wort mit der emotionalen Nähe heißt.«
 

»Demisexuell«, sagt sie lächelnd.
 

Ich probiere das Wort in meinem Kopf aus.
 

»Alles ist ein Spektrum«, wiederhole ich.
 

Lotta kichert.
 

»Das ist es.«
 

»Ok. Ok, cool. Ähm. Danke, fürs Zuhören. Ich werd dann jetzt mal mein Leben ein bisschen sortieren gehen«, sage ich mit einem müden Lächeln und Lotta zeigt mir beide Daumen hoch.
 

»Wenn du noch mehr Redebedarf hast, bin ich hier.«
 

»Danke. Bis bald!«
 

Sie winkt und dann ist Lottas Bild verschwunden und ich starre noch einige Sekunden den Bildschirm an, bevor ich meinen Laptop zuklappe und tief durchatme.
 

Auf geht’s, Juls.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  EmilieJasminR
2019-03-31T22:34:44+00:00 01.04.2019 00:34
<3 <3 <3
Ich habe schon als ich nur gesehen habe, dass es zwei neue Kapitel gibt, ein überwältigendes Bedürfnis gehabt dir zu schreiben "Ich liiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiebe dich!", aber das kam mir dann seltsam vor, deswegen hier ein vernünftiger Kommentar ;)

Krass, wie du es geschafft hast die Geburtstagsfeier fertig zu schreiben. Ich fand das war keine leichte Ausgangssituation, diesen Abend gut zuende zu bringen. Hat mir gefallen!

Die neue vierer-Clique mag ich echt gerne! Und auch cool, dass du das "Schlampen"-Thema miteinbringst... Dabei gefällt mir auch, das Jules halt echt nicht von heut auf morgen aus seiner Haut kann. Das finde ich sehr realistisch und zeigt voll gut, wie so ne schon krasse Lebensveränderung halt trotzdem auch noch in Etappen verläuft.
Tamino hat einen Ort gefunden, an dem er sich über Medienkritik auslassen kann und nicht nur großäugiges Nicken zurückbekommt, sondern empörte Zustimmung, mehrere »Oh Gott, ja!«-Ausrufe und konstruktive Antworten.
DAS!! Ich kenn das so gut, wenn alle immer nur Nicken und nichts dazu zu sagen haben! Hach, so cool, das sie sich gefunden haben und über toxische Männlichkeit sprechen! :D (Und auch richtig schön, wie die anderen beiden reagieren.)

Das Gespräch mit Lotta hat mir so gut getan!! Ich habe im letzten Jahr auch einen ähnlichen Trip wie Jules bezüglich Asexualität hinter mir und immer noch keine Erkenntnis. Meistens ist das okay so, aber manchmal ist es doch stressig. Und es hilft echt voll von anderen zu lesen! Die Ace-Repräsentation ist ja jetzt noch nicht so Bombe, so gesehen nimmt deine Geschichte eine Vorreiter-Rolle in meinem Leben ein und tut mir mega gut!
Ich freu mich auch einfach für Jules, das er sich traut sich an Lotta zu wenden. Ich mein, die beiden kennen sich ja noch nicht so gut, aber so sollte die queere Community (eigentlich die menschliche, aber ich trau mich nicht so groß zu denken) sein. Richtig schön! Und auch cool, das sie ihn fragt, ob sie einen Vorschlag machen kann. Das sind so Kleinigkeiten, über die ich mich echt freue!

Ich hoffe es geht dir besser und drücke beide Daumen für deine Abschlussprüfung! Wenn du irgendwie Unterstützung brauchst: Meld dich! Queer-Community und so, auch wenn wir uns noch weniger kennen als Lotta und Jules :D
Freue mich echt sehr, dass du mal wieder aufgetaucht bist!
Alles Liebe! Emi

Von:  kabocha_sora
2019-03-30T04:29:28+00:00 30.03.2019 05:29
Da hat sich das warten ja mal gelohnt 😃
So ein Wirrwarr im kopf kenne ich nur zu gut 😞
Von:  Morphia
2019-03-29T22:04:00+00:00 29.03.2019 23:04
Ich freue mich riesig dass es weiter geht. 😍
Habe mich schon gefragt, wie sich Juls jetzt gegenüber Cem und Tamino verhält.
Jetzt scheint er ja einen Plan zu haben. Hoffentlich kriegt er es auch in die Tat umgesetzt. 🙈
Ich hab ständig Kopfkino. Alles könnte so schön sein. 😍


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