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DEAN CORVIN: 01. Das Ende des Imperiums

von

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UNEBENHEITEN

Feldwebel Rian Onoro blickte durch die hohen Panzerglasscheiben des Kontrollraums auf den fast fertigen Leichten Kreuzer, NOVA SOLARIS, der im Fertigungs-Dock der hoch geheimen ABTEILUNG-III, im Herzen der Leibnitz-Gebirge-Werft lag. Von Außen betrachtet unterschied sich der Kreuzer nicht von anderen Kreuzern dieser Größenklasse. Auch er besaß, inklusive der vorderen vier Antennen-Pods, eine Länge über Alles von insgesamt 397 Metern. Dabei entfielen auf den reinen Schiffskörper nur 354 Meter, bei einer Höhe von 66 Metern und einer Breite von 50 Metern. Die Unterschiede zu anderen Raumschiffen dieser Klasse lagen eher innerhalb seiner Hülle verborgen. Normalerweise war eine Crew von insgesamt 195 Personen nötig um einen Leichten Kreuzer voll operations- und gefechtsbereit zu machen. Die NOVA SOLARIS benötigte hingegen, durch den Einsatz neuester Automatiken und Computersysteme, lediglich 110 Crewmitglieder. Dazu kamen die neuesten Schildgeneratoren und Antriebsprojektoren in Kompaktbauweise, die um beinahe fünfzig Prozent leistungsfähiger waren, als ihre Vorgänger-Geräte, obwohl sie kaum mehr als 80 Prozent von deren Volumen beanspruchten. Auch die Energieerzeuger an Bord waren kleiner und leistungsfähiger geworden, so dass allen Systemen an Bord dieses Kreuzers mehr Energie zur Verfügung stand. Auch die Doppelgeschütze der zehn drehbaren Waffentürme des Kreuzers hatten die Ingenieure der ABTEILUNG-III stark verbessert. Die phasengesteuerten Plasmakanonen besaßen zusammen nun mehr Feuerkraft als die eines Schweren Kreuzers, und kaum ein Mensch außerhalb dieser Abteilung ahnte etwas davon.

Bedingt durch die Tatsache, dass momentan die Aggregate des Schiffes noch nicht von den an Bord befindlichen Konsolen, sondern von diesem Kontrollraum aus, gesteuert wurden, liefen unzählige, abgeschirmte Strom und Datenkabel, von klobig aussehenden Sammel-Verteilern aus, zu dem elegant aussehenden Raumschiff. Durch die metallene Struktur des Kreuzers hindurch, dort wo bisher noch etwa fünfzig Prozent der Panzer-Plattierung der Außenhülle fehlte, liefen die Kabel zu den Aggregat-Steuerungen der Schiffssysteme. Erst wenn diese Aggregate fehlerfrei liefen würde man sie an die Bordkonverter anschließen. Doch davon war man an diesem Freitag den 13. November 3220 noch ein ganzes Stück weit entfernt.

Seit Sommer 3218 war Rian Onoro nun bereits hier auf Luna als Technikerin tätig. Zunächst im Rang eines Unteroffiziers erkannten die Vorgesetzten der gebürtigen, Tansanierin ihr großes technisches Verständnis, und bereits im Jahr 3219 wurde sie in den Rang eines Stabsunteroffiziers befördert. Etwa zu demselben Zeitpunkt erfolgte, nach einer intensiven Sicherheitsüberprüfung, ihre Versetzung in diesen hoch geheimen Bereich der Luna-Werften, in dem an den modernsten und innovativsten Neubauten der Flotte gearbeitet wurde - unter Anderem an diesem Prototyp eines neuartigen Leichten Kreuzers. Dabei war der sportlichen Afrikanerin Leutnant Kim vom Geheimdienst in unguter Erinnerung geblieben. Die Asiatin hatte ihre Loyalität auf beinahe perfide Art und Weise auf die Probe gestellt, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte sie sich vergessen, und diesen anmaßenden Offizier des Geheimdienstes kräftig in den Hintern getreten.

Vor etwa einem Monat war ihre vorzeitige Beförderung zum Feldwebel ausgesprochen worden, aufgrund ihrer exzellenten Leistungen und ihres vorbildlichen Einsatzes. Damit hatte sie gleichzeitig ihr eigenes Technik-Team bekommen, trotz einiger Bedenken ihrer vorgesetzten Offiziere in Bezug auf ihr gelegentlich überschäumendes Temperament, durch das sie zu Beginn bereits einige Male mit verschiedenen Kameraden aneinander geraten war. Doch mit dieser Beförderung, die ihr ungeheuren Auftrieb und sehr viel zusätzliches Selbstvertrauen verlieh, hatte sie sich vorgenommen ihr Temperament fortan noch besser in den Griff zu bekommen. Denn sie wollte unbedingt in dieser Abteilung, in der es für sie die höchsten technischen Herausforderungen gab, bleiben. Schon als kleines Mädchen hatte Rian Onoro ihre sämtlichen Spielsachen in deren Einzelteile zerlegt, um sie später sehr geschickt wieder zusammenzusetzen – das war ihre Passion geblieben, wenn auch mittlerweile in einer ganz anderen Dimension.

Rian Onoro war zwar mit dem Segen ihrer Eltern Technikerin der Flotte geworden, doch sie hatte stets gespürt, dass beide sich einen anderen beruflichen Werdegang für sie gewünscht hätten. Einer, der sie öfter Nachhause gebracht hätte.

Die vollen Lippen der Technikerin verzogen sich zu einem etwas missmutigen Grinsen, wenn sie daran dachte, dass ihre beiden Schwestern so ganz anders waren, als sie selbst. Sinera und Enara waren beide erfolgreich in der Modebranche tätig und verdienten geschätzt mehr als das Doppelte dessen, was sie selbst als Sold bekam. Gelegentlich gab ihr dieses Wissen darum das Gefühl, das schwarze Schaf der Familie zu sein, und das nicht unbedingt nur optisch. Trotzdem hätte sie zu keinem Moment mit ihren beiden älteren Schwestern tauschen wollen.

Die Dunkelhäutige wurde abgelenkt, als einer der sieben Techniker ihres Teams, die ebenfalls im Kontrollraum tätig waren, von seinem Kontrollpult aus, über die Schulter zu ihr blickte und meldete: „Es ist Alles klar für den vorbereiteten Probelauf der neuen Antriebsaggregate, Feldwebel. Wir können auf Ihr Kommando hin beginnen.“

Rian Onoro fand schnell in die Wirklichkeit zurück und erwiderte: „Probelauf mit fünfzig Prozent der maximal möglichen Energieaufnahme starten und danach langsam auf achtzig Prozent steigern. Wir wollen ja nicht, dass uns die Aggregate gleich beim ersten Versuch um die Ohren fliegen.“

„Beim wievielten Versuch wäre es Ihnen denn genehm, Feldwebel?“, erkundigte sich ihr Stellvertreter, Stabsunteroffizier Frank Rhode mit Unschuldsmiene. Er arbeitete nun seit gut achtzehn Monaten eng mit Rian Onoro zusammen und er wusste, dass sie seinen etwas schrägen Humor zu nehmen wusste. Dabei nahm er den stets leicht rauen Klang ihrer Stimme kaum noch bewusst wahr. Zu Beginn ihrer täglichen Zusammenarbeit hatte Rian Onoro dadurch auf ihn einen etwas unnahbaren Eindruck auf ihn gemacht. Doch im Laufe der Zeit hatte Rhode herausgefunden, dass diese Äußerlichkeit über Rian Onoros wahres Wesen hinwegtäuschte, denn hinter ihrem explosiven Gemüt steckte ein sehr herzlicher, wenn auch gleichzeitig sehr zielstrebiger, Mensch.

Die jetzt eher energisch wirkende Frau warf ihrem Kollegen einen mahnenden Blick zu und ließ seine Bemerkung unkommentiert. Rhode, der diese seltene und allgemein untypische Stille des Feldwebels bereits kannte, und sie insgeheim Rian Onoros Ruhe vor dem Sturm nannte, beeilte sich wieder konzentriert seiner Aufgabe nachzugehen. Er rief über den Holoprojektor seiner Steuerkonsole die komplexen Schalt- und Fluss-Diagramme auf, die er bei diesem Probelauf überwachen sollte. Bei ihnen handelte es sich, in diesem Fall, um so genannte Form-Holos. Im Gegensatz zu normalen Hologrammen konnten hier bestimmte Schaltungen direkt im Hologramm selbst vorgenommen werden, es entfiel also der Umweg über eine externe Eingabequelle.

Einige seiner Kollegen hatten zusätzlich blass-blau leuchtende Form-Holo-Tastaturen, mit sich orangegelb abhebenden Schrift- und Ziffern-Symbolen aktiviert. Sie funktionierten ähnlich wie die Diagramme und boten den Fingern bei der Eingabe einen genügenden Widerstand um materiell zu erscheinen, ohne es wirklich zu sein. Dabei passte sich jede der Tastaturen den individuellen Handabmessungen des jeweiligen Benutzers an, und wechselte, abhängig von der jeweiligen Handhaltung stets in die ideale Position. Die Eingaben erschienen dabei auf leicht konkav gewölbten Holo-Bildflächen, die sowohl in der Größe, als auch im Seitenverhältnis differierten.

Frank Rhode nahm einige schnelle Anpassungen im Schaltdiagramm vor und meldete danach sachlich: „Energieaufnahme der Antriebsaggregate bei fünfzig Prozent, Feldwebel.“

„Langsam steigern und in Schritten von jeweils fünf Prozent Meldung machen“, erwiderte Rian Onoro konzentriert. „Machen wir unserem Schmuckstück mal etwas Feuer.“

Während nun langsam die Energieaufnahme der Schiffsaggregate vom Kontrollraum aus gesteigert wurde, überprüfte Rian Onoro die, seit Beginn der Tests, sensibel reagierende Synchronschaltung der Triebwerke. Es handelte sich, ihrer Meinung nach, um den einzigen Schwachpunkt der gesamten Konstruktion. Dabei achtete sie auf die Durchsagen von Rhode und warf gleichzeitig einen gelegentlichen Seitenblick zu Anja Thomsen, der neuen Kollegin in ihrem Team. Sie ersetzte, seit etwa vier Wochen, Rene Schobelgruber, der sich nicht nur als langsam, sondern auch als nicht teamfähig erwiesen hatte. Schobelgruber, der sich selbst als Genie und Star-Techniker betrachtete, hatte auf den unverhohlenen Rauswurf aus ihrem Team entsprechend sauer reagiert. Doch schon nach wenigen Tagen hatte sie seine ziemlich beleidigenden Worte und seine Vorwürfe vergessen, denn Anja Thomsen hatte sich als einen echten Gewinn für ihr Team erwiesen. Sollte dieser inkompetente, abgehobene Kerl ihr doch den Buckel herunter rutschen.

„Fünfundsiebzig Prozent“, drang die Stimme von Frank Rhode in die Gedanken von Rian Onoro und die Afrikanerin wandte ihm nun ihre volle Aufmerksamkeit zu.

„Durchsage nun bei jedem Prozent!“, wies sie Rhode an und selbst ihrer Stimme merkte man nun eine gewisse Anspannung an. Bei 78% musste sie miterleben, wie die Andruck-Kompensatoren, die seit dem Jahr 2194 Bestandteil jedes Raumschiffsantriebs waren, gleichzeitig ausfielen. Noch während sich Anja Thomsen mit fragendem Blick zu ihr umwandte, rief Rian Onoro ihr zu: „Ich habe es gesehen, Thomsen! Was ist schiefgegangen?“

„Die Analyse läuft bereits, Sir“, meldete die dunkelblonde, etwas mollig wirkende Frau mit heller Stimme. „Aber so, wie es aussieht, haben die neuen Regler zu den Aggregaten versagt. In den Dingern steckt der Wurm drin.“

Rian Onoros Augen schienen Blitze zu versprühen, als sie heiser erwiderte: „Dann holen wir den Wurm heraus, oder wir schmeißen das Zeug aus dem Schiff heraus, bevor mit diesen Dingern noch ein Unglück passiert, verstanden, Hauptgefreiter Thomsen?“

Das bläuliche Leuchten der Kontrollen gab der angesprochenen Technikerin einen beinahe traurigen Zug, als sie erwiderte: „Ja, Sir!“

Tief durchatmend sah Rian Onoro zum Wand-Chronograph und warf danach einen Blick in die Runde. „In Ordnung, machen wir Schluss für heute. Morgen werden wir zuallererst überprüfen, was mit diesen verdammten Reglern falsch läuft. Wegtreten!“

Der Feldwebel wartete, bis ihr Team den Kontrollraum verlassen hatte, bevor sie ihnen, nach einem letzten, finsteren Blick aus den Fenstern, hinunter zum Kreuzer, etwas langsamer folgte.

Die Afrikanerin war so in Gedanken versunken, dass sie draußen, auf dem Gang, fast gegen einen Oberleutnant der Entwicklungsabteilung geprallt wäre, hätte er sie nicht an den Schultern gepackt und sie daran gehindert. Verwundert blickte Rian Onoro auf und sah in das amüsierte Gesicht eines etwas beleibten Südländers.

„Vorsicht, Feldwebel, sonst verletzen Sie sich am Ende noch.“

Der Mann trat einen halben Schritt zurück und erkundigte sich bei ihr: „Nun, Feldwebel, wie laufen die Tests an der NOVA SOLARIS?“

Rian Onoro, die sich mittlerweile wieder gesammelt hatte, blickte schweigend in das offen wirkende Gesicht des Offiziers, unsicher, ob sie ihm von diesem Projekt überhaupt erzählen durfte.

Der Oberleutnant lächelte, so als habe er ihre Gedanken erraten, und fügte erklärend hinzu: „Mein Name ist Rodrigo Esteban und ich habe diesen Kreuzer zum Teil mit entwickelt, darum mein Interesse an den Fortschritten. Ich hatte mein Kommen bereits gestern angekündigt, aber leider komme ich wohl zu spät für den Testlauf. Gehen wir ein Stück, Feldwebel Onoro?“

„Die Afrikanerin erinnerte sich nun wieder an das gestrige Memo. „Ach, Sie sind das, Sir. Ich muss gestehen, dass ich Sie mir etwas anders vorgestellt hatte.“

Sie bemerkte das Schmunzeln des Südländers und ergänzte schnell: „Nun, sie haben ohnehin nur verpasst, wie die Andruck-Kompensatoren, wegen dieser neuartigen Regler, bei achtundsiebzig Prozent der Nominalleistung versagten. Was das im Ernstfall bedeutet hätte muss ich Ihnen nicht erklären, Oberleutnant.“

Sie bogen in einen der etwas belebteren Hauptgänge der Anlage ein. Den Gruß einer Gruppe von Gefreiten erwidernd, die ihnen entgegen kam, hakte Esteban nach: „Wie lange wird es schätzungsweise dauern, bis die Aggregate laufen, Feldwebel? Werden wir den geplanten Termin für den Testflug, zu Beginn des neuen Jahres, einhalten können?“

Rian Onoro blickte in die Augen ihres Vorgesetzten und erwiderte mit fester Stimme: „Das werden wir, Sir, und wenn wir aussteigen und die verdammte Kiste anschieben.“

Der Madrilene lachte. „Ihre Einstellung gefällt mir.“

Sie setzten ihren Weg fort und Esteban bemerkte die kurzen, prüfenden Seitenblicke des Feldwebel. Schließlich wandte er sich der Frau zu und fragte offen: „Was haben Sie, Feldwebel? Liegt es an mir?“

Rian Onoro fühlte sich ertappt, und zögernd erklärte sie: „Entschuldigen Sie, Sir, es ist nur so, dass ich den Eindruck habe, Sie schon einmal gesehen zu haben. Aber nicht hier, sondern woanders. Vielleicht auf der Erde.“

Esteban nickte verstehend. „Das wäre möglich, falls Sie Ihren Abschluss im Sommer 3218 gemacht, und in dem Jahr den Akademie-Ball, in Casablanca, besucht haben.“

Der bisher etwas grüblerische Zug verschwand aus der Miene der Frau und machte langsam einsetzender Erkenntnis Platz. Sie erinnerte sich wieder daran, wie sie einem der Neu-Offiziere nachgesehen hatte. Sie hatte sich bei ihm für das Verhalten von Schobelgruber entschuldigen wollen, um ihn bei dieser Gelegenheit nach einem Tanz zu fragen, doch bevor es soweit kommen konnte, hatten er und sein Kamerad zwei andere Frauen zum Tanzen aufgefordert. Und Oberleutnant Esteban war dieser Kamerad gewesen.

Rian Onoro nickte endlich lebhaft und erwiderte: „Ja, dort ist es gewesen, ich erinnere mich jetzt. Sie hatten einen dunkelblonden Freund dabei, wenn ich mich nicht irre.“

Rodrigo Esteban nickte in Gedanken. „Ja, Dean war dabei. Dean Corvin. Seit damals habe ich ihn nicht mehr gesehen. Er fliegt zwar alle paar Monate die Route vom Titan zum Mond, doch bisher hatte ich nie Zeit mich bei einem seiner Besuche mit ihm zu treffen.“

„Sie scheinen dies zu bedauern, Sir?“

Der Südländer nickte etwas bedrückt. Erst, als die Afrikanerin schon nicht mehr damit rechnete antwortete er: „Ja, Dean ist ein guter Freund. Wir haben sehr viel Zeit gemeinsam verbracht, während unserer Zeit an der Akademie. Ich hoffe, dass mein Dienst es zulassen wird mich mit ihm zu treffen, wenn er das nächste Mal hierher kommt. Das dürfte etwa zum kommenden Jahreswechsel der Fall sein. Dann wäre ausnahmsweise auch unser gemeinsamer Freund Kimi dabei, der zusammen mit Dean auf Titan stationiert ist.“

„Ich hoffe für Sie, dass das Wiedersehen mit Ihren Freunden klappt, Sir“, antwortete Rian Onoro, und sie meinte es aufrichtig.

Ein nachdenkliches Lächeln überflog das Gesicht des Südländers. „Danke, Feldwebel Onoro. Doch lassen Sie mich zu meinem eigentlichen Ansinnen zurück kommen. Wenn ich richtig informiert bin, dann ist ihr Team seit dem Beginn der Konstruktion der NOVA SOLARIS dabei – Sie können also in etwa einschätzen was der neue Kreuzer leisten wird. Wie würden Sie, als Praktikerin die involviert ist, den Wert dieser neuen Kreuzer-Klasse bewerten, Feldwebel?“

Rian Onoros Gedanken kehrten zu ihrem Job zurück und bestimmt meinte sie: „Dieser Kreuzer wird, wenn erst einmal alle Kinderkrankheiten beseitigt sind, die Kampfkraft unserer Flotte signifikant steigern, Sir. Wenn die Antriebs und Waffentests erfolgreich verlaufen, so werden wir auch die bisher gebauten Schiffe mit den neuen Aggregaten ausrüsten können, und dann wird die Konföderation Deneb besser nicht mehr so provokante Manöver an unseren Grenzen abhalten. Spätestens in zwei Jahren sollte die gesamte Umrüstung abgeschlossen sein, falls nichts dazwischen kommt.“

„Was sollte dazwischen kommen?“

Rian Onoros Miene verfinsterte sich wieder. „So ein Fehlschlag, wie gerade eben zum Beispiel, Oberleutnant. Ich hoffe, davon werden nicht mehr allzu viele folgen.“

Esteban lächelte aufmunternd und blieb stehen, als sie die nächste Gangkreuzung erreichten. „Sie leisten gute Arbeit, habe ich mir sagen lassen. Darum habe ich Vertrauen darin, dass dieser Zeitplan eingehalten werden kann. Bitte entschuldigen Sie mich nun, Feldwebel, ich habe noch etwas zu erledigen, bevor ich Feierabend machen kann.“

Rian Onoro grüßte zum Abschied und sah dem Mann sinnend hinterher, als er sich rasch, in Richtung der Planungsabteilung dieser Sektion, entfernte. Dabei dachte sie lächelnd: Er heißt also Dean Corvin. Mal sehen, ob ich vielleicht irgendwann auch noch den Rest erfahre. Dann wandte sie sie sich abrupt ab und machte sich auf den Weg zum Freizeitzentrum, wo sie für den heutigen Abend mit einigen Freunden verabredet war.

 
 

* * *

 

Etwa zur selben Zeit blickte Dean Corvin aus dem Fenster seines kleinen Büros, das er sich mit seinem Freund Kimi Korkonnen teilte, auf den Bereich des Raumhafens von Titan, über den der rein militärische Nachschub von und zu den Planeten des Sonnensystems ablief. Da es im obersten Stockwerk des zehnstöckigen Verwaltungsgebäudes des Nachschubdepots lag hatte er eine gute Aussicht auf die flachen Hügel und die zwischen ihnen liegenden Senken der Umgebung.

Bis er im Jahr 2302 terraformt wurde, wobei seine dichte Atmosphäre mit hohem Stickstoffanteil diesen Prozess sehr vereinfacht hatte, war der, nach dem Jupitermond Ganymed zweitgrößte Mond im Sonnensystem, ein Eismond gewesen.

Obwohl die Oberflächentemperatur des Titans ursprünglich weitaus niedriger gewesen war, als die der Erde, hatte es den Öko-Technikern Terras nur sehr wenig Mühe bereitet, weitflächig Pflanzen dort anzusiedeln die Sauerstoff erzeugten. Dazu war es jedoch zusätzlich notwendig gewesen, sechs spezielle Satelliten in seinem Orbit zu stationieren, die den Schein der Sonne simulierten und sowohl Licht, als auch Wärme, erzeugten. Scherzhaft wurde Titan seitdem auch die "Sechssonnenwelt" genannt.

Seine Gashülle, die ursprünglich etwa fünfmal dichter gewesen war, als die der Erde, und deren Druck etwa fünfzig Prozent höher gewesen war, dünnte bei diesem Prozess langsam aus, so dass sie im Jahr 3220 beinahe Erdwerte aufwies. Sie bestand nun überwiegend aus Stickstoff, Sauerstoff, und Spuren organischer Verbindungen. Jedoch wies Titan einen um zwei Prozent höheren Kohlendioxid-Anteil in den oberen Schichten der Atmosphäre auf, damit die Wärme der Sonnensatelliten besser gespeichert werden konnte.

Von den ursprünglichen Methanseen war längst nichts mehr übrig. Beim Terraformen war das Methan in den ausgedehnten Eisfeldern der beiden Polkappen des Mondes eingeschlossen worden. Ursprünglich nicht für Leben, das auf Kohlenstoff und Wasser basierte, geeignet, war der Titan heute eine, wenn auch etwas raue, grüne Welt, mit einer spärlichen ganz eigenen Fauna, die sich im Laufe der letzten fünfhundert Jahre aus verschiedenen tierischen Spezies der Erde entwickelt hat.

Auf dem Titan gab es keine Ozeane, sondern einige ausgedehntere Binnenmeere, die durch Flüsse sowohl auf, als auch unter, der Mondoberfläche gespeist wurden, was daran lag, dass ursprünglich ein großes Wasserreservoir unterhalb der Felsoberfläche gelegen hatte. Da ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses Wassers nun an der Oberfläche zu finden war, gab es nun riesige Höhlensysteme unter der Mondoberfläche, in die hinein ein Teil der Wohnanlagen, Energieerzeuger, und gewaltigen Warenspeicher gebaut worden waren.

Zwischen den beiden größten von ihnen, in der Nähe des Äquators, gab es einen ausgedehnten Raumhafen, wo etwa fünfzig Prozent aller Waren umgeschlagen wurden, die von anderen Sternensystemen in das Sonnensystem importiert wurden. Außerdem gab es ein militärisch genutztes Nachschubdepot auf dem Titan, das einen abgetrennten Teil des Raumhafens beinhaltete, von dessen Verwaltungsgebäude Dean Corvin nun auf die Landschaft blickte. Er warf seinem Freund, der intensiv dabei war, die letzten Wareneingänge zu erfassen, von Zeit zu Zeit einen fragenden Blick zu. Dabei brannte ihm eine Frage auf der Seele. Als er es schließlich nicht mehr aushielt fragte er unvermittelt in Richtung des Freundes: „Gibt es Neuigkeiten in Bezug auf die Rückkehr der SATURN, Kimi? Wäre schön, wenn sie rechtzeitig wieder hier ist, damit wir mit Andrea und Jayden Silvester feiern können. Wir haben die Beiden jetzt über zwei Jahre lang nicht mehr gesehen. He, hörst du mir überhaupt zu?“

Kimi sah kurz von seinen Holo-Anzeigen auf und erklärte fahrig: „Ja klar höre ich zu. Äh, was sagtest du eben über die SATURN?“

Dean Corvins Temperament ging mit ihm durch, als er zu Korkonnens Arbeitskonsole stürmte und mit beiden Händen wütend auf die Kante schlug. „Hör endlich auf mit dieser verdammten Liste, Kimi! Wir haben seit zehn Minuten Dienstschluss, und dieses Ding trägt nicht den Vermerk Dringend! Mach den Mist doch morgen!“

Etwas verwundert sah der Finne nun von der Liste auf. „Was ist denn in Dich gefahren, Alter? So schräg bist du doch sonst nicht drauf gewesen, in der letzten Zeit.“

Corvin blickte in die blauen Augen des Freundes. „Entschuldige. Es ist nur wegen...“

„Verstehe. Die SATURN, was?“

Das Gesicht Corvins drückte nur allzu sehr aus, was er dachte und Kimi Korkonnen lächelte schwach. „Nach meinen letzten Informationen wird die SATURN frühestens zu Anfang Januar wieder hier sein. Andrea und Jayden schaffen es also nicht zur Silvesterfeier auf der Erde. Wir zwei übrigens auch nicht.“

Erstaunen spiegelte sich auf dem Gesicht des Kanadiers. Er strich mit den Fingern gedankenverloren über das noch neue Rangabzeichen eines Oberleutnants und erkundigte sich dabei: „Wie meinst du denn das nun wieder?“

Der Finne, ebenfalls erst seit einigen Tagen Oberleutnant der Flotte, erklärte: „Unser Flug nach Luna wurde um drei Tage verschoben. Wir fliegen nämlich nicht unseren üblichen Umschlaghafen dort an, sondern eine Basis, nahe des Leibnitz-Gebirges – und zwar genau am Silvester-Morgen. Das Gute daran ist, dass wir dabei höchstwahrscheinlich Don Rodrigo sehen werden, denn der ist da stationiert habe ich mir sagen lassen. Du solltest gelegentlich die hereinkommenden Memos lesen.“

„Dafür habe ich ja Dich“, spöttelte Corvin, wobei seine Augen aufleuchteten, als Korkonnen den Namen des Freundes erwähnte. „Und jetzt verabschiede Dich von dieser verdammten Konsole, wir sind nachher mit Tabea und Nayeli, in der ENCKE-BAR, verabredet. Also schalt endlich ab. Was fesselt Dich überhaupt so an dieser Liste?“

Der Blonde seufzte, deaktivierte und sicherte seine Konsole, und erhob sich. Erst dann antwortete er dem Freund. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe das ungute Gefühl, als würde etwas nicht stimmen, mit den letzten Frachtlisten. Was mich dabei fast wahnsinnig macht ist die Tatsache, dass ich keinen Fehler entdecken kann.“

„Dann gibt es vielleicht auch gar keinen“, orakelte Corvin.

Kimi Korkonnen nickte nachdenklich. „Möglich, aber das werde ich morgen klären. Für heute reicht es wirklich.“

Corvin lachte. „Endlich wirst du wieder normal.“

Sie begaben sich zu ihren Unterkünften und nachdem Kimi Korkonnen seinen Freund eine halbe Stunde später in seinem Quartier abgeholt hatte, verließen sie den Militärkomplex.

Corvin blickte kurz zum, nur leicht bewölkten, Himmel hinauf, während sie zum Abstellplatz ihres Dienstgleiters schritten, und seufzte schwach. „Ich wollte, ich wäre irgendwo da oben, bei unseren Freunden.“

„Vielleicht befinden sie sich auch gerade da unten“, zog Korkonnen seinen Freund auf. „Du weißt doch, dass das Universum bei Nacht auf dem Kopf steht.“

„Deine Witze waren auch schon mal besser!“, beschwerte sich Dean Corvin augenzwinkernd und fügte mit gezwungenem Optimismus an „Wir haben nun fast Halbzeit.“

Der hochgewachsene Blonde an seiner Seite wusste was sein Freund meinte und nickte zustimmend. „Ja. Etwas mehr als nochmal so lang und wir können endlich ein Bordkommando beantragen.“

Dean Corvin nickte in Gedanken, winkte grüßend zu einer Gruppe von Kameraden hinüber, deren Dienst gerade erst begann und grübelte vor sich hin. Er und Kimi hatten sich, obwohl sie mit diesem Posten hoffnungslos unterfordert waren, sehr gut in den Dienstablauf eingefügt, was besonders ihm zu Anfang äußerst schwer gefallen war. Letztlich war es sein Freund gewesen, der ihn immer wieder aufgerichtet, und bei der Stange gehalten hatte, auch hier sein Bestes zu geben. Dabei hatte er oft das Argument angeführt, dass man ihnen vermutlich besonders auf die Finger schauen würde – und vermutlich hatte er Recht damit. Auch die Freundschaft, die ihn und den Finnen mittlerweile mit Tabea Carrick und Nayeli Herández verband, hatte ihnen beiden dabei geholfen, bis zum heutigen Tag nicht halbwegs wahnsinnig zu werden, auf ihrem Posten. Fast eine Ironie dabei war, dass sie beide sich, gerade weil der Posten so wenig zu bieten hatte, oft intensiv in die Arbeit vergruben um nicht pausenlos daran zu denken was hätte sein können aber nicht war. So waren sie mittlerweile bei ihren direkten Vorgesetzten ziemlich gut angeschrieben, trotz deren anfänglicher Animositäten ihnen gegenüber.

Dean Corvin schüttelte die finsteren Gedanken ab, als sie den Abstellplatz des Gleiters erreichten. Sie bestiegen die funktionell gehaltene Maschine, die bis zu sechs Personen Platz bot und der Kanadier startete das Feldtriebwerk, dass die Maschine vom Boden abhob und ließ sie rasch an Höhe gewinnen. Den Weg nach Sankt-Cassini. einer der beiden nahen Städte zwischen denen ihr Stützpunkt lag, kannte Corvin mittlerweile fast blind, und da der Verkehr auf diesem Mond, abseits des Raumhafens recht spärlich war, gab es hier keine Flugkorridore innerhalb derer er sich hätte halten müssen. Wenigstens etwas – denn so konnte er immerhin hier einigermaßen frei und ungezwungen fliegen. Er warf, wie fast immer wenn er nach Sankt-Cassini flog, einen kurzen Blick über die Schulter, in Richtung von Huygens-Stadt, deren Umrisse am Horizont gerade eben erkennbar waren.

Er blickte wieder nach vorne, wobei er in Gedanken meinte: „Ist Dir aufgefallen, dass Tabea, seit einigen Tagen, irgendwie durch den Wind zu sein scheint? Ich wollte sie vorgestern darauf ansprechen, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mir da nicht vielleicht nur etwas einbilde.“

Korkonnen sah den Freund von der Seite an und erwiderte: „Dann sind wir schon zwei die sich etwas einbilden würden, und wie unwahrscheinlich ist das?“

Corvin blickte kurz nach rechts. „In Ordnung, ich spinne also nicht. Denkst du, ich sollte sie darauf ansprechen? Vielleicht hat sie ja etwas worüber sie nicht sprechen möchte.“

„Warten wir am Besten erst einmal ab“, schlug der Finne vor. „Vielleicht vertraut sie sich uns ja von selbst an, wenn wir sie nicht drängen. Ich könnte auch bei Nayeli mal unauffällig anfragen, vielleicht weiß sie ja mehr – wenn es etwas zu wissen gibt heißt das.“

Dean Corvin nickte vage. „Abgemacht.“

Sie erreichten nur Minuten später eine, auf Höhe der höchsten Dächer der Stadt liegende, Gleiter-Plattform, auf der sie ihr Transportgefährt absetzten. Mit einem der vier vorhandenen Schnell-Lifts fuhren sie hinunter auf die Straßenebene, die einzig und allein Fußgängern vorbehalten war. Von hier aus war es nicht weit, bis zur ENCKE-BAR. Entlang der breiten Allee gab es einige Tavernen, Restaurants, Geschäfte und diverse Sport- und Vergnügungs-Zentren.

Als sie ihre Stammbar betraten wurden sie bereits von Tabea und Nayeli erwartet, die an der geschwungenen, hufeisenförmigen Bar standen. Eine weitere gab es auf einer höher gelegenen Ebene des verwinkelt angelegten Lokals – zwischen einer Tanzebene, die momentan nur mäßig frequentiert war, was sich erfahrungsgemäß in den nächsten Stunden sehr stark ändern würde.

Dean Corvin winkte den beiden jungen Frauen zu, ließ seinen Blick kurz über die Tische, nahe der verglasten Außenfront der Bar schweifen, und bahnte sich hinter seinem Freund einen Weg durch die Menge der Anwesenden. Einige flüchtige Bemerkungen mit Bekannten wechselnd, die sie im Zuge der letzten zweieinhalb Jahre auf dem Titan kennengelernt hatten, erreichten die Freunde die Bar, an der die Frauen etwas zusammenrückten, damit sie ebenfalls Platz fanden. Wie immer, wenn sie sich sahen, umarmten die beiden Technikerinnen Corvin und Korkonnen kurz zur Begrüßung.

Als sich Tabea Carrick von Dean trennte, meinte sie verschmitzt: „Ihr habt euch heute Zeit gelassen, Freunde.“

Der Kanadier blickte bezeichnend zu seinem Freund und erklärte: „Kimi hat mal wieder kein Ende gefunden.“ Er bestellte sich ein Bier und fragte dann unvermittelt: „Alles klar, bei euch Beiden?“

„Wie immer“, entgegnete die, in London geborene, Technikerin lachend, und die Bedenken die Dean im Gleiter Kimi gegenüber geäußert hatte legten sich etwas. Vielleicht hatte er nur etwas zu viel in ihr Verhalten der letzten Tage hinein interpretiert.

Wie erwartet füllte sich die Bar im Zuge der nächsten Stunde zusehends.

Nayeli Herández riss das Thema Politik an, und schon bald hatte sich zwischen den vier jungen Flottenangehörigen eine intensive Diskussion über die aktuell angespannte Lage entsponnen. Dabei verging die Zeit wie im Flug und nur am Rande bemerkte Dean Corvin, dass Tabea heute einige Drinks mehr konsumierte als normalerweise üblich bei ihr war.

Gegen Mitternacht, nach Terra-Standard, blickte Tabea Carrick den Kanadier an ihrer Seite fragend an und erkundigte sich bei ihm: „Gehen wir tanzen, Dean?“

Die Frage brachte Corvin etwas aus dem Tritt. Sie hatten zuletzt auf der Erde, während des Akademie-Balls miteinander getanzt. Hier auf dem Titan hatten sie es beide irgendwie seitdem vermieden.

„Klar, warum nicht“, antwortete der Dunkelblonde etwas unsicher und wechselte einige fragende Blicke mit seinem Freund Kimi.

Der Finne blickte den beiden Kameraden sinnend hinterher und wandte sich danach offen an Nayeli. „Hat Tabea irgend etwas? Mir kam sie in den letzten Tagen irgendwie verändert vor, im Vergleich zu sonst.“

Die Mexikanerin wich dem forschenden Blick des Blonden einen kurzen Moment lang aus bevor sie wieder zu ihm sah. In ihren Augen schimmerte ihr innerer Widerstreit. Dann blickte sie entschlossen zu Kimi Korkonnen auf und sagte: „Manu hat Tabea letzte Woche eine Nachricht geschickt. Er hat die Beziehung mit ihr beendet.“

„Na, kein Wunder, dass Tabea durch den Wind ist.“

„Sag bitte nichts wenn sie wieder hier ist“, bat die Dunkelhaarige inständig. „Wenn sie soweit ist wird sie schon von sich aus mit dem Thema anfangen.“

„Natürlich.“ Der Finne nippte an seinem Longdrink und erkundigte sich dann ablenkend: „Und was ist mit dir und Don Rodrigo? Wann habt ihr euch beide eigentlich das letzte Mal gesehen?“

Nayeli Herández seufzte schwach und fuhr sich mit der Linken durch das lange Haar. „Das ist jetzt schon wieder einige Monate her. Ich wollte bereits zweimal einen Versetzungsantrag stellen, aber...“

Die Mexikanerin unterbrach sich und blickte zur Tanzfläche.

„Verstehe, du willst Tabea nicht allein hier zurücklassen“, erriet Kimi Korkonnen ihre Gedanken. „Aber sie hätte doch mich und Dean, und da gibt es sicherlich noch einige andere Leute in eurer Abteilung.“

Die Mexikanerin schluckte. „Das ist nicht die ganze Wahrheit, Kimi. Tabea steht mir so nahe wie eine Schwester. Ich würde sie schrecklich vermissen, wenn ich nicht mehr hier wäre, und das hat mich bisher am meisten abgehalten. Außerdem habe ich, offen gestanden, auch ein wenig Angst davor, zum ersten Mal wirklich auf eigenen Füßen zu stehen. Ich meine, bisher war, während meiner gesamten Laufbahn, immer Tabea an meiner Seite.“

Kimi Korkonnen blickte die junge Frau ernst an. Er näherte sich ihr etwas und antwortete dann eindringlich: „Natürlich würdest du Tabea vermissen, alles Andere wäre wohl auch ziemlich seltsam. Doch andererseits opferst du eventuell Dein Glück, wenn du dies nicht zulassen willst. Denkst du, dass es das wert ist?“

Nayeli Herández presste für einen Moment die Lippen auf einander bevor sie heftiger als beabsichtigt entgegnete: „Verdammt, das weiß ich auch nicht, obwohl ich mir seit einiger Zeit den Kopf darüber zerbreche. Ich kann mich nicht entscheiden.“

Die Mundwinkel des Finnen zuckten kurz, bevor er sanft widersprach: „Doch, das kannst du. Du hast nur Angst, wie du Dich entscheiden wirst, denn im Grunde hast du das doch bereits, habe ich recht?“

Die dunklen Augen der Mexikanerin nahmen ihre Antwort vorweg. „Ja, das habe ich. Ich weiß nur nicht wie ich es Tabea beibringen soll. Besonders jetzt, da Manu die Beziehung mit ihr beendet hat, und sie besonders verletzlich ist.“

Lächelnd legte Kimi Korkonnen seine Rechte an die Schulter der Kameradin und beruhigte sie, indem er sanft aber überzeugt sagte: „Sie wird es verstehen.“

 
 

* * *

 

Auf der Tanzfläche bewegten sich Tabea Carrick und Dean Corvin, so gut es in der Menge ging, zu den Stakkato-Rhythmen der Musik, die mit sphärisch klingenden Elementen durchsetzt war. Dabei fragte sich der Kanadier, warum er das nicht schon längst wieder einmal gemacht hatte, denn er fand Gefallen daran, ebenso wie Tabea, deren Augen ihn zwischenzeitlich immer wieder kurz musterten – so als habe sie ihn eben erst kennengelernt. Im Moment dachte er weder an Ladelisten, noch an Politik, oder an seine Karriere. Im Moment ließ er sich einfach fallen, zum ersten Mal seit langer Zeit, und er spürte, wie gut ihm das tat. Er ließ sich von der Musik mitreißen.

Corvin wusste nicht, wie lange dieser Zustand angehalten hatte, als die Art der Musik wechselte und sie merklich langsamer wurde. Zeit für die verliebten Paare. Er machte Anstalten die Tanzfläche zu verlassen, als Tabea Carrick ihn am Oberarm zurück hielt und neugierig ansah.

„Du willst schon wieder aufhören?“

Echte Überraschung lag in den blau-grauen Augen Dean Corvins. Zögerlich antwortete er: „Nun ja, die Musik...“

Beinahe amüsiert über die Verlegenheit des Freundes fragte sie unschuldig: „Was ist denn mit der Musik?“

Gleichzeitig trat sich dicht an Dean Corvin heran und legte unbefangen ihre Arme in seinen Nacken. „He, komm, die Unterhaltung hatten wir doch schon. Ich werde mich auch heute Nacht nicht in eine wilde Geschichte mit Dir stürzen. Ich möchte einfach nur mit Dir tanzen und einfach an gar nichts mehr denken.“

Da war es wieder.

Dean Corvin legte vorsichtig seine Arme um die Freundin und bewegte sich langsam mit ihr im Kreis. Anders, als beim Akademie-Ball, sah ihnen hier jedoch niemand über die Schulter, wenn man von Kimi und Nayeli mal absah. Trotzdem spürte der Kanadier ein seltsames Kribbeln in der Magengegend. Das Verhalten der Britin wirkte zumindest seltsam.

Beruhigt, dass Tabea offensichtlich wirklich nur mit ihm tanzen wollte, entspannte sich Corvin langsam wieder und er war froh, als die Rhythmen der Musik schließlich wieder schneller wurden.

Als sie sich nach einer geraumen Weile wieder zu den Freunden an der Bar gesellten, blickte die blonde Frau auf einen der Wandchronos. Normalerweise fing der Abend um diese Zeit erst richtig an, doch sie schien sich nicht in der Stimmung zu fühlen länger hier zu bleiben. Zur Verwunderung der Freunde gab sie bekannt: „Ich fühle mich irgendwie matt. Ich denke, ich fliege zurück zum Stützpunkt.“

Fragend wandte sie sich an Kimi. „Könnt ihr dann bitte Nayeli nachher mitnehmen?“

„Klar, kein Problem“, erwiderte der Finne, wobei er Dean gleichzeitig einen Tritt gegen das linke Bein verpasste und ihn auffordernd ansah. Erst als Kimi bereits entsagungsvoll mit den Augen rollte verstand der Kanadier seinen Freund.

„Ich komme mit dir“, warf Corvin schnell ein. „Ich… äh… fühle mich heute auch irgendwie nicht so besonders.“

Tabea nickte.

Sie und Dean Corvin verabschiedeten sich von den Freunden und machten sich auf den Weg nach Draußen, wo sich Tabea, wie sie es schon öfter getan hatte wenn sie gemeinsam unterwegs gewesen waren, bei dem Freund unterhakte. Auf dem Weg zum Gleiter spürte sie die Wirkung der genossenen Drinks und ihr wurde etwas schwindelig, doch sie hielt sich tapfer.

Der Flug zurück zum Stützpunkt verlief schweigend, und erst, als Tabea, wieder bei Dean eingehakt, im Stützpunkt, auf dem Weg zu ihrem Quartier waren, ergriff die Technikerin wieder das Wort und sagte ohne Einleitung: „Letzte Woche habe ich eine Nachricht von Manu bekommen.“

Dean Corvin wurde aufmerksam bei ihren Worten. Er ahnte, dass Tabeas Verhalten der letzten Woche nun eine Erklärung finden würde, und so fragte er vorsichtig: „Waren wohl nicht so gute Nachrichten, schätze ich mal?“

Tabea blickte Dean kurz von der Seite an und erwiderte mürrisch: „Nein, ganz und gar nicht. Er hat mir erklärt, dass er sich in eine Kollegin, an Bord seines Schiffes, verliebt hat, und nun mit ihr zusammen sein will. Irgendwie verstehe ich es ja, wir haben uns in den letzten beiden Jahren kaum gesehen. Der verdammte Dienst in der Flotte ist eben nicht gerade beziehungsfördernd.“

Dean Corvin schluckte und wusste nicht was er sagen sollte. Darum schwieg er und drückte nur sacht ihren Unterarm.

Vor dem Schott zu Tabea Carricks Quartier hielten sie an und die blonde Frau sah Corvin in die Augen. Leise erklärte sie: „Danke, dass du nicht gesagt hast, dass es Dir leid tut, denn genau das hätte ich jetzt gar nicht ertragen.“

Der Kanadier grinste schief, bei dem Gedanken daran, dass genau das sein erster Impuls gewesen war. Nun erleichtert, dass er diesem Impuls am Ende doch nicht nachgegeben hatte, erwiderte er rau: „Ich kann verstehen, was du momentan empfindest. Wenn du mich brauchst dann bin ich für Dich da. Ich… äh… meine als Freund, und...“

Tabea Carrick umarmte den Kanadier wortlos und schmiegte sich eng an ihn.

Corvin, der die junge Frau instinktiv festhielt, spürte, wie ihm heiß und kalt zugleich wurde. Ein Vibrieren schien durch seinen Körper zu jagen und er verspannte sich. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass Tabea sich etwas von ihm gelöst hatte und ihn mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung ansah. „Was hast du, Dean? Du zitterst ja.“

Corvin sah sie an und die Britin flüsterte schließlich erstaunt: „Du hast panische Angst, mein Freund. Weniger dass ich dir näher kommen könnte, sondern dass irgendeine Frau dir näher kommen könnte, ist es so?“

Nur langsam schwand die Verkrampfung, die Dean Corvin überkommen hatte und endlich wieder zu sich findend erwiderte er leise: „Ich habe Dir mal von Kim Tae Yeon erzählt. Nun ja, dieses Mädchen hat mir vor einigen Jahren recht übel mitgespielt, und damit meine ich nicht nur, dass sie Kimi und mir die Karriere versaut hat. Was noch war, das habe ich Dir bisher nie anvertraut.“

Tabea löste sich sacht aus seinen Armen und fragte: „Was hältst du davon, wenn wir reingehen, ich einen Kaffee aufsetze, und du mir die ganze Geschichte erzählst?“

Dean Corvin zögerte einen Moment lang und nickte schließlich. „Ist vielleicht gar keine schlechte Idee.“

Sie betraten Tabea Carricks Quartier, und als sie eine Viertelstunde später mit einer großen Tasse Kaffee in den Händen auf der Couch im Wohnraum saßen, begann Dean davon zu berichten, was er, während seiner Kadettenzeit, mit Kim Tae Yeon erlebt hatte.

Am Ende meinte er: „Verstehst du, ich vertraute ihr, während sie eiskalt meine Gefühle für sie in ihr Kalkül gezogen hatte. Seitdem habe ich geradezu panische Angst davor ernsthaft Gefühle für eine Frau zu entwickeln. Das wirklich Schlimme ist, dass das erste Mal mit ihr – für sich gesehen – wunderschön war, aber was dann daraus wurde… Ich will sagen, es war niemals echt, Tabea, sondern eiskalt berechnend, und das jagt mir heute noch einen Schauer über den Rücken.“

Die Hände des Kanadiers begannen erneut zu zittern und er stellte die Kaffeetasse auf den niedrigen Tisch, der vor ihnen stand.

Tabea legte ihre Rechte auf die Schulter des Freundes und sah ihn eindringlich an.

„Okay, wir zwei haben den Punkt, an dem wir ein Paar hätten werden können, längst hinter uns gelassen, das steht mal fest. Aber es wird der Zeitpunkt kommen, an dem du eine Frau triffst, die es ernst mit Dir meint – und wenn es soweit ist, dann musst du Kim vollkommen vergessen, hast du gehört?“

Dean Corvin nickte unmerklich.

„Hast du es auch verstanden?“

Corvin grinste schief und wich ihrem forschenden Blick aus.

„War ja klar“, seufzte die Technikerin mit abgesenkter Stimme und gab dem Freund einen leichten Schubs. Schnell wieder ernst werdend fügte sie hinzu: „Was ich gesagt habe, das habe ich auch so gemeint, Dean. Wenn die Richtige Deinen Weg kreuzt, dann gib ihr eine faire Chance, klar?“

Corvin gab den Schubs von eben zurück und griff nach seiner Tasse. „Sonnenklar. Aber ich kann nichts versprechen.“

Tabea funkelte den Freund giftig an. „Schon kapiert. Du hast es verstanden und wirst es trotzdem vermasseln wenn es soweit ist.“

„Genau so wird es ablaufen“, bestätigte Corvin spöttisch grinsend.

Tabea nahm einen langen Schluck von ihrem Kaffee und legte ihre Hände um die Tasse, wobei sie seufzte: „Ich gebe es auf.“

Sie schwiegen eine Weile und kamen schließlich wieder auf Manu zu sprechen.

Als sich Dean Corvin endlich erhob um zu gehen, da brachte Tabea ihn noch bis zum Schott und umarmte ihn nochmal fest, wobei sie ernst meinte: „Lass bitte nicht zu, dass diese Kim noch länger Dein Leben beeinflusst, okay. Die hat auch so schon genug angerichtet, findest du nicht auch?“

Dean Corvin nickte und er spürte in seinem Innern, wie gut und wie nötig dieses Gespräch gewesen war. Mit Tabea über all das zu reden war etwas ganz Anderes gewesen, als seine Gespräche darüber mit Kimi.

Tabea sanft bei den Schultern haltend gab er ihr einen sanften Kuss auf die Wange und raunte leise: „Danke.“ Dann ließ er sie los und verließ das Quartier der Freundin, die einen Moment lang auf das Schott starrte, nachdem es sich hinter ihm geschlossen hatte, bevor sie sich abwandte um zu Bett zu gehen.

 
 

* * *

 

In der ENCKE-BAR hatten sich Kimi Korkonnen und Nayeli Herández zu einigen Bekannten gesellt, die sie dort regelmäßig antrafen. Mit ihnen am Tisch saß dabei ein junger Handels-Raumfahrer, namens Pavel Varanski, der von seinen letzten Touren zwischen dem Sol-System und dem Deneb-System, dem Hauptsystem der Konföderation-Deneb, berichtete.

Zunächst hatte Korkonnen den Ausführungen des Zivilisten nur mit mäßigem Interesse zugehört. Doch das änderte sich, als der schlaksige Raumfahrer erwähnte, welche Ware sein Frachter ins Deneb-System transportiert hatte.

Mit plötzlich erwachtem Interesse wandte Korkonnen sich an den dunkelhaarigen Mann und erkundigte sich bei ihm: „Was sagtest du, war der Hauptanteil eurer Ladung?“

Pavel Varanski blickte zu dem Finnen und erklärte: „Über die Hälfte der Ladung bestand aus Garrett-Hellmann-Prozessoren. Das Ungewöhnliche daran ist, dass es in diesem Jahr bereits die vierte große Lieferung dieser Prozessoren war. Im Normalfall transportieren wir kaum zehn Prozent dieses Volumens an GH-Prozessoren zum Deneb. Ich kann mir nicht denken, wozu die Konföderierten so viele dieser Prozessoren brauchen. Nach meiner Kenntnis gibt es keine besondere, militärische Verwendungsmöglichkeit dafür.“

„Außer die Wissenschaftler der Konföderation wären auf eine neue Möglichkeit des Einsatzes gekommen“, hakte der Finne nach und blickte fragend zu Nayeli.

Die Mexikanerin schüttelte unmerklich den Kopf. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kenne die Spezifikationen des Prozessors. Das Imperium hätte auch einen Export der Dinger längst untersagt, wenn sich die Lage anders verhalten würde.“

Kimi Korkonnen presste seine Lippen aufeinander und raunte dann: „Kommt mir dennoch merkwürdig vor. Die Ladelisten, die ich gestern Abend kontrolliert habe, und wegen derer wir etwas später als üblich hier waren, beinhalteten etwas, das mit diesen Prozessoren in Verbindung stehen könnte. Ich bin mir nur nicht ganz sicher was. Aber ich habe da ein ganz mieses Gefühl.“

Nayeli Herández gab dem grüblerischen Finnen einen scherzhaften Rippenstoß und meinte: „Du bist wahrscheinlich übernervös wegen der erneuten Großmanöver der Konföderierten-Flotte, in der Nähe des Delta-Cephei-Systems. Das sollte indessen auch unsere Nachbarn von der Farradeen-Allianz beunruhigen. Aber ich glaube kaum, dass das mehr ist, als das alljährliche Säbelrasseln der Konföderation. Hör also auf das Gras wachsen zu hören und genieße Deinen verdienten Feierabend.“

Kimi Korkonnen lächelte gezwungen und nickte. Ein ungutes Gefühl in der Magengegend blieb jedoch und es verschwand den gesamten Morgen über nicht mehr.



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