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Himmel und Hölle

von

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Ängstlich hinter sich schauend rannte Dayla durch den dichten Wald. Die Äste knacken und die Blätter raschelten unter ihren Füßen. Ihr Herz klopfte wie wild, vor Angst und auch durch ihre Atemlosigkeit. Ihr Blut dröhnte in ihren Ohren.
 

Es sollte ein ganz gemütlicher Spaziergang durch den herbstlichen Wald werden. Dayla hatte ihr Auto wie üblich am beliebten „Wildsau“ geparkt. Sie selbst hatte noch in diesem Lokal gegessen aber sie hatte schon oft gehört, dass es dort die besten Wildgerichte geben sollte, vom Besitzer des Lokals persönlich erlegt. Natürlich hatte sie bis zum frühen Nachmittag gewartet, damit sie sicher sein konnte, keinem Gast den Parkplatz zu stehlen. Jetzt war die Mittagszeit vorbei und das Lokal bis zum frühen Abend geschlossen.

Nachdem sie ihre Gummistiefel angezogen und den Wagen abgeschlossen hatte, war der MP3-Player dran. Umständlich entwirrte sie das Kopfhörerkabel und steckte sich die Knöpfe in die Ohren. Wie üblich fiel der rechte zweimal wieder heraus, bevor er endlich stecken blieb. Als sie das Lied gefunden hatte, mit dem sie im Auto aufgehört hatte, spazierte sie los.

Der kurze Weg durch den Wald war nass und rutschig. Mehrmals konnte sie sich gerade noch halten. Die große Pfütze umging sie lieber. Es soll ja vorkommen, dass so ein Loch viel tiefer ist, als man erkennen kann. Sie hatte nicht die geringste Lust, bis zum Hals im schlammigen Wasser zu stecken.

Am Feldweg angekommen sah Dayla sich zuerst um, ob auch niemand im näheren Umkreis unterwegs war, der sie eventuell hätte hören können. Schon nach den ersten Metern konnte sie weit über die Landschaft blicken und stellte befriedigt fest, dass außer ihr selbst niemand in der Nähe unterwegs war. Lächelnd ging sie langsam den Feldweg hinauf und begann, lautstark die Songs aus ihren Kopfhörern mitzusingen.

Etwa auf der Hälfte des Feldwegs begann ein besonders ruhiges langsames Lied in gälischer Sprache. Sie verstand zwar kein Wort, sang den Text aber trotzdem nach Gehör mit. Sie hatte den Song inzwischen so oft gehört, dass es keine große Schwierigkeit war. Allerdings blieb sie diesmal stehen. Bevor sie anfing zu singen, sah sie sich noch einmal ganz genau um – niemand war zu sehen, wunderbar!

Aber ein Irrtum…
 

So spät hatte Kieran noch nie Mittag gegessen. Es war bereits drei Uhr nachmittags und die meisten Leute würden bald mit Kaffee und Kuchen beginnen. Aber was sollte er schon dagegen tun? Wenn man bis zehn Uhr im Bett blieb und dementsprechend spät frühstückte, hatte man eben nicht so schnell Hunger auf Mittag. Selbst für die Zeitung war er heute zu müde gewesen. Aber was passierte schon in einem kleinen Kaff wie Dahlhof?

Im „Wildsau“ war nichts los, kein Wunder um diese Zeit. Er konnte von Glück reden, dass er Pepe, den Wirt, kannte, sonst hätte er jetzt kein Wildgulasch mehr bekommen. Aber als der Kierans zerknittertes Gesicht und die tiefen Ränder unter seinen Augen gesehen hatte, war sein Herz weich geworden.

„Danke, dass Du mich noch reingelassen hast, Pepe. Ich hab absolut nichts mehr zuhause und versuch Du mal, sonntags einzukaufen - komplett unmöglich.“

Der Wirt brachte ihm noch eine Cola, jedoch nicht, ohne ihn darauf hinzuweisen, dass man zu Wildgulasch eigentlich nur Burgunder tränke.

„Du weißt doch, dass ich keinen Wein mag.“ Doch gerade, als Pepe ihm vorwerfen wollte, er würde wahrscheinlich eher Bier bevorzugen, fuhr draußen ein Auto vor. Beide Männer sahen interessiert aus dem Fenster. Pepe lächelte, er kannte die junge Frau da draußen, die gerade dabei war, sich Gummistiefel anzuziehen. Zwar hatte er keine Ahnung, wer sie war aber sie war nicht zum ersten Mal hier.

Kieran sah ebenfalls eine Frau, die sich gerade mit Mühe in lilafarbene Gummistiefel hineinarbeitete aber er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Erst als sie die Autotür schloss, sah er ihr Gesicht und war wie verzaubert. Mit verträumtem Blick beobachtete er sie, wie sie sich mit dem Kabel eines Kopfhörers abmühte, das sich offensichtlich arg verknotet hatte, und fragte Pepe: „Wer ist das? Kennst du die?“ Aber Pepe konnte ihm nur sagen, dass sie schon öfter hier geparkt hatte, um dann die Straße hinauf zu gehen. Pepe wusste nicht einmal, wohin sie ging.

„Ich krieg´s raus!“ meinte Kieran entschlossen, legte einen Zwanziger auf den Tisch und rannte dann wie ein Blitz Richtung Tür. „Den Rest kannst Du behalten!“ rief er Pepe noch zu, dann war er verschwunden. Pepe grinste und räumte den Tisch ab, um endlich mal seine Sonntagszeitung zu lesen.

Vorsichtig schlich Kieran hinter einem Auto entlang und blickte der jungen Frau nach. Erstmal schauen, wohin sie ging. Nach ein paar Metern bog sie rechts in einen kleinen Padweg ein, der zuerst in ein kleines Waldstück und dann an ein Feld führte. Kieran konnte sich schon denken, wo sie hin wollte, zumindest ungefähr.

Als sie um die Kurve verschwunden war, folgte er ihr vorsichtig und leise. Dann fiel ihm ein, dass sie ja Kopfhörer trug und gar nichts hören konnte. Er blieb also vorsichtig aber nicht mehr besonders leise. So war es auch viel unauffälliger. Was würden wohl die Leute hier in den Häusern denken, wenn sie ihn gebückt und auf Zehenspitzen die Straße entlang laufen sähen?

Als Kieran an der kleinen Holzhütte im Wald ankam, die zur Aufbewahrung von Ackergeräten und Gartenwerkzeugen diente, war die Frau schon auf dem Feldweg angekommen. Er blieb hinter der Hütte stehen und beobachtete, wie sie sich verstohlen umschaute. Dann ging sie weiter und im nächsten Moment hörte er eine laute Stimme, die irgendwas von einer Reise sang. Kieran grinste. Das war nicht ganz einwandfrei, manchmal blieb ihr die Luft weg. Es war wohl nicht so leicht, gleichzeitig zu singen und zu gehen.

Während sie singend den Feldweg hinauf ging, kam Kieran aus seinem Versteck hervor und schlich geduckt zum Rand des Feldwegs. Dort versteckte er sich hinter einem Baum und beobachtete sie weiter. Er konnte sich ein Lachen einfach nicht verkneifen. Er hörte sie singen und gleichzeitig schnaufen.

Gerade wollte er hinter seinem Baum hervor kommen, als sie plötzlich stehen blieb. Kierans Herz klopfte schneller. Hatte sie ihn etwa bemerkt? Ganz vorsichtig lugte er um seinen Baum herum und wagte kaum zu atmen. Sie drehte sich um, sah in alle Richtungen, auch in seine, sogar recht gründlich. Aber sie schien ihn nicht bemerkt zu haben. Sie machte noch zwei Schritte vorwärts, blieb dann wieder stehen und begann erneut, zu singen. Diesmal konnte Kieran nichts verstehen, von dem, was er da hörte. Es war irgendeine fremde Sprache aber ihre Stimme klang auf einmal wunderschön. Eine zarte und klare Stimme und eine wunderbare Melodie. Kieran lächelte und schloss die Augen. Diese Stimme ging ihm durch und durch. Auf einmal sah er sich auf einem grünen Hügel sitzen und sie im Arm halten.

Einige Minuten lang dauerte der wunderbare Gesang, und als das Lied zu Ende war, war sich Kieran sicher: er hatte sich verliebt.
 

Dayla hatte ihr Lied beendet und setzte ihren Weg über das Feld fort. Noch immer war niemand zu sehen. Der große Wald auf der anderen Seite war längst in Sicht, nur den Weg konnte sie noch nicht sehen. Langsam wurde ihr warm unter ihrer Regenjacke. Sie öffnete die Knöpfe und ließ die angestaute Hitze vom kühlen Herbstwind davon tragen. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien, der Himmel war blau und die Bäume leuchteten in Rot und Gelb. Hin und wieder kam ein kurzer starker Wind auf, der sie beinahe umwarf. Aber trotzdem war es ein wahres Vergnügen, heute hier oben zu sein. Offenbar hatte niemand Lust, das schöne Wetter auszunutzen, denn sie hatte noch keine Menschenseele gesehen. Nun, das sollte sich bald ändern!
 

„Um Himmels Willen!“ Pepe, der Wirt starrte erschrocken auf die Zeitung in seinen Händen. Der Artikel auf Seite 4 trieb seinen Blutdruck hoch und ihm den Schweiß auf die Stirn. Er las den Text ein zweites Mal.
 

„Gefährlicher Triebtäter entflohen

Aus der Haftanstalt im Dahlhofer Tal in der Nähe von Blombach ist am Samstag, dem 21. Oktober um ca. 19.30 Uhr ein verurteilter Sexualverbrecher entflohen. Er hielt sich in einem Wäschewagen versteckt und wurde unbemerkt durch einen Helfer in den Wäschetransporter geschmuggelt. Der Fahrer des Lieferwagens erschrak, als er eine Stimme hinter sich hörte und setzte das Fahrzeug vor einen Baum. Erst am folgenden Morgen wurde er mit Prellungen und einem angebrochenen Handgelenk nahe des Dahlhofer Waldes aufgefunden. Der Täter flüchtete unverletzt zu Fuß in den Wald. Der Fahrer wurde ins Lemiger Krankenhaus gebracht. Er konnte der Polizei eine gute Beschreibung des Täters liefern. Es handelt sich um Dieter P., der wegen mehrfacher Vergewaltigung und versuchten Mordes eine Haftstrafe von 15 Jahren zu verbüßen hat. Dieter P. ist 42 Jahre alt, 1,76 m groß, hat kurze braune Haare und auffällige graue Augen. Auf dem linken Arm hat er eine Tätowierung, einen schwarzen Pantherkopf. Dieter P. ist hochgradig gefährlich. Die örtliche Polizei bittet die Bevölkerung dringend, die Waldgebiete von Dahlhof zu meiden. Den Anwohnern wird geraten, in ihren Häusern zu bleiben. Sollten Sie Dieter P. sehen, rufen Sie sofort die nächste Polizeidienststelle an.“
 

„Jetzt ist mir klar, warum heute niemand zum Essen kam. Alle haben den Artikel gelesen und keiner traut sich mehr her.“ Pepe schlug wütend mit der Hand auf den Tisch. „Verdammt, dieser Kerl versaut mir mein Geschäft und meinen Ruf! Und das wird sich erst ändern, wenn sie ihn geschnappt haben. Aber bis dahin kann es noch Wochen dauern. Die Wälder da oben sind einfach zu groß. Da könnte er sich bis zum Sankt Nimmerleinstag verstecken und kein Aas würde ihn finden! Na ja, wenigstens haben sie die Leute gewarnt. Das fehlte ja noch, dass eine Familie mit Kindern oder so in seine Hände fällt. Dann hätte er auch noch Geiseln, das ist ja so schon schlimm genug!“

Plötzlich durchfuhr Pepe ein Schlag. Kerzengerade saß er auf seinem Stuhl, sein Herz klopfte schneller und er wurde leichenblass.

„Großer Gott! Kieran ist da oben! Und diese junge Frau auch! Sie ist in besonders großer Gefahr! Offensichtlich hat sie keine Zeitung gelesen und auch kein Radio gehört, da haben sie es bestimmt auch gebracht. Und Kieran sagte ja, er hätte noch keine Zeit für die Zeitung gehabt. Die beiden sind jetzt da oben in großer Gefahr und haben keine Ahnung davon! Ich muss unbedingt was tun!“

Pepe ließ die Zeitung fallen und sprang von seinem Stuhl auf. Er überlegte keine Sekunde. Sein Gewehr lag in der Stube. Er hatte es gestern erst gereinigt und überprüft. Es funktionierte einwandfrei. Eigentlich hatte er im Laufe der kommenden Woche wieder einmal auf die Jagd gehen wollen. Die Schonzeit der Rehe war vorbei und zartes Rehfleisch war bei seinen Gästen besonders gefragt. Nun würde statt Reh etwas anderes auf seinem Beuteplan stehen, etwas viel gefährlicheres…

Dayla hatte inzwischen den Waldweg für Wanderer und Spaziergänger erreicht. Aber die öffentlichen Wanderwege interessierten sie heute nicht. Außerdem kannte sie die schon. Sie wollte endlich einmal wieder im Wald herumstreifen, so wie früher als Kind. Sie wollte im Bach herumlaufen, schöne Blätter sammeln, vielleicht Bucheckern finden und ein paar scheue Waldtiere sehen. Vielleicht würde sie auch auf einen Baum klettern aber sie hatte eigentlich nicht mehr die Kraft in den Armen, die dafür nötig war. Nun ja, sie wollte sich einfach überraschen lassen.

Für den sportlich angehauchten Marsch durchs Unterholz hatte sie den Player abgeschaltet und samt Kopfhörer in ihrer Tasche verstaut, die sie außerdem noch sorgsam verschlossen hatte. Auch ihren Autoschlüssel sicherte sie auf diese Weise. Als Kind war ihr einmal ihr gesamter Schlüsselbund in ein Staubecken gefallen. Sie hatte ihn nie wieder gesehen. Deshalb war sie diesbezüglich etwas paranoid. Selbst wenn sie über einen Gullydeckel ging, hielt sie ihre Schlüssel fest umklammert.

Mit fest verschlossenen Taschen betrat Dayla also den Wald. Sie wollte dem Verlauf des Baches folgen, solange, sie Lust hatte und es hell genug war. Es war erst halb vier und die Sonne sankt schon, typisch für diese Jahreszeit. Aber ein Stündchen oder anderthalb würde sie wohl haben, bevor es zu dunkel wurde. Sie kannte sich in diesem Wald nicht besonders gut aus und er war riesengroß. Sie wollte sich nicht verlaufen und sie hatte kein Handy dabei. Lächelnd marschierte sie neben dem Bach entlang in den Wald hinein.
 

Kieran war seiner Traumfrau weiter unauffällig nachgegangen, stets bereit, sich hinzuwerfen, falls sie sich umdrehen sollte. Aber sie ging über den Feldweg, ohne zu singen, und hatte wohl deshalb keinen Grund mehr, sich umzusehen. Kieran hatte keine Probleme, ihr zu folgen.

Am Waldrand blieb sie stehen und Kieran duckte sich ins Gras. Er beobachtete, wie sie ihren Kopfhörer heraus nahm und ihn samt Player in ihre Tasche steckte. Auf beiden Seiten ihrer Jacke zog sie die Reißverschlüsse an den Taschen zu. Dann blickte sie den Wanderweg hinauf und hinunter und marschierte zu Kierans Überraschung geradewegs in den Wald hinein. Was wollte sie dort? Zu dieser Jahreszeit war es nicht ungefährlich, da viele Jäger unterwegs waren. Überall waren Schilder angebracht, die Spaziergänger aufforderten, auf den befestigten Wegen zu bleiben. Was wenn sie nun von einem Jäger irrtümlich für Wild gehalten wurde? Zuerst wollte Kieran ihr hinterher rufen, dass sie lieber nicht einfach im Wald herumstreifen sollte aber er befürchtete, sie damit zu erschrecken, deshalb folgte er ihr leise und unauffällig. Er wollte für sie Augen und Ohren offen halten und falls er etwas hörte oder sah, konnte er entweder sie warnen oder den Jäger.

Kieran fühlte sich selbst wie ein Jäger auf der Pirsch, der gerade ein junges Reh verfolgte. Leise und vorsichtig schlich er durch den Wald, versteckte sich hinter Bäumen und sah sich dabei um, konnte aber keinen Jäger entdecken. Klar, die hielten sich ja auch selbst gut versteckt um ihre Beute nicht zu verscheuchen! Na hoffentlich ging das gut!
 

Dayla folgte dem Bachverlauf und versuchte nicht einmal, leise zu sein. Jeder ihrer Schritte brachte das Laub unter ihren Stiefeln zum Rascheln oder ließ einen Ast knacken. Ein kleines Stück weit lief sie sogar im Bach, ohne zu wissen, welche Folgen das haben konnte. Der Boden war schlammig und sie konnte stecken bleiben aber vor allem störte sie die vielen kleinen Tiere, die am Bach ihre Höhlen, Nester und Bauten hatten. Doch daran dachte sie nicht. Aber als sie auf einem besonders glitschigen Stein beinahe ausgerutscht wäre, verließ sie den Bach wieder und ging neben ihm weiter. Sie begann ein wenig zu frösteln und knöpfte ihren Regenmantel wieder zu.

Dayla fühlte sich frei. Hier oben vergaß sie alle Sorgen und Probleme, die sie zuhause plagten. Sie vergaß ihre Einsamkeit und die depressive Stimmung, in der sie sich sonst immer befand. Mit weit offenen Augen und ebenso geöffneter Seele stakste sie durch das Unterholz und streichelte die Rinde jedes Baumes, an dem sie vorbei kam. Sie war glücklich.

Das änderte sich, als ihr plötzlich etwas ins Auge flog. Es brannte und juckte. Sie blieb stehen und rieb sich das Auge, bis es tränte aber sie bekam den Fremdkörper einfach nicht heraus.

„Verdammt, tut das weh“, schimpfte sie. „Was ist denn das bloß?“ Um nicht versehentlich in den Bach zu fallen, stolperte sie zum nächstgelegenen Baum und lehnte sich daran. Und hinter genau diesem Baum stand Kieran.
 

Kieran war ihr quer durch den Wald gefolgt, ohne jemanden zu sehen. Als sie durch den Bach planschte, schüttelte er verständnislos den Kopf. Plötzlich schrie sie kurz auf und taumelte. Anscheinend war sie ausgerutscht und hatte sich gerade noch halten können. Aber das schien ihr wohl eine Lehre gewesen zu sein, denn sie verließ den Bach und ging neben ihm weiter. Kieran beobachtete ihr Gesicht. Sie lächelte zufrieden vor sich hin und berührte jeden Baum. Sie wirkte überglücklich und gelöst. Kieran musste ebenfalls lächeln.

Auf einmal blieb sie stehen und fasste sich an ihr Auge. Kieran verschwand blitzschnell hinter dem mächtigen Stamm einer Eiche. Vorsichtig lugte er dahinter hervor und sah, wie sie sich das Auge rieb und dabei vor sich hin schimpfte. Ihr Auge tränte bereits und Kieran hätte ihr zu gerne gesagt, sie soll es einfach tränen lassen, dann wird der Fremdkörper herausgespült. Als sie auf ihn zukam, verschwand er wieder hinter seinem Baum und hörte, wie sie sich auf der anderen Seite daran lehnte. Sein Herz klopfte und in seinem Bauch tobte ein Schmetterlings-Blitzkrieg. Sollte er seine Chance ergreifen? Sie würde wohl eher schreiend davon laufen, wenn er jetzt wie Robin Hood hervor sprang.

Pepe hatte sich sein Gewehr gegriffen und war dann wie der Teufel in sein Auto gehechtet und den Wanderweg von der anderen Seite hinauf gefahren. Er hoffte, Kieran oder das Mädchen auf dem Weg zu treffen aber er fuhr den Weg bis zum Ende, ohne jemanden zu sehen. Auch in der anderen Richtung war auf dem gesamten Weg niemand unterwegs. Pepe begann, sich Sorgen zu machen. Die beiden waren anscheinend in den Wald gegangen, ausgerechnet! Aber wenn sie auf den Wegen gingen, hatte er noch eine Chance. Also lenkte er sein Auto auf den unbefestigten Waldweg über Schlaglöcher und spritzende Pfützen bis er am anderen Ende wieder auf asphaltiertem Boden landete. Keine Spur von ihnen! Sie waren verschwunden, einfach weg! Ob der Ausbrecher sie vielleicht schon in ihrer Gewalt hatte? Doch dann kam Pepe ein anderer Gedanke.

„Die beiden werden doch wohl nicht…“ er wagte es kaum, zu Ende zu denken. „Wenn sie einfach so in den Wald gelaufen sind, dann Mahlzeit! Da finde ich sie nie!!“ Pepe stand einen Moment lang da und wusste nicht, was er tun sollte. Die Polizei rufen? Aber was konnte die schon tun? Deshalb beschloss Pepe, etwas Aussichtsloses und zudem noch reichlich Unvernünftiges zu tun. Aus dem Handschuhfach holte er seine Taschenlampe, und sein stets für die Jagd gepackter Rucksack auf dem Rücksitz würde heute bestimmt mal nötig sein. Die beiden jungen Leute hatten ja nichts dabei. Die Sonne war inzwischen schon recht tief gesunken und es wurde kälter. Pepe schnallte sich den Rucksack auf, in dem eine Flasche Wasser, zwei Tafeln Schokolade, ein Verbandskasten, ein Schweizer Taschenmesser und ein Kompass steckten, hängte sich sein Gewehr über die Schulter und marschierte los.
 

Endlich ließ das Brennen in Daylas Auge nach. Offenbar war ihr eine kleine Fliege oder Mücke ins Auge geflogen. Das Viech musste wohl noch gelebt und tüchtig gestrampelt haben, um solche Schmerzen zu verursachen. Aber jetzt fühlte Dayla, dass es im unteren Augenlid steckte. Sie rieb vorsichtig von außen nach innen über das Lid und sah eine kleine Fruchtfliege an ihrem Finger kleben.

„Da haben wir dich ja, du kleiner Nervtöter“, sagte sie schadenfroh. „Na, das machst du bestimmt kein zweites Mal.“ Sie rieb ihren Finger an ihrer Hose und ging dann weiter. Sie zog den Ärmel ihres Pullis ein Stück unter dem Ärmel der Regenjacke hervor, um sich den Rest der Tränenflüssigkeit abzuwischen, als sie plötzlich einen Mann neben einem Baum hervorkommen sah. Etwas erschrocken grüßte sie ihn. Wenn das mal nicht der Förster war, dann bekam sie jetzt gewaltigen Ärger, denn sie wusste natürlich, dass sie hier mitten im Wald nichts zu suchen hatte. Aufgeregt wartete sie auf eine Standpauke, mehr schon auf eine richtige Schimpftirade aber der Mann mit dem grauen Overall, der etwa zehn Meter von ihr entfernt war, starrte sie nur an.

Dayla beruhigte sich etwas. Das war wohl doch nicht der Förster. Dann konnte sie ja ebenso gut weitergehen. Allerdings entschloss sie sich, nicht weiter dem Bach zu folgen, da sie sonst genau auf den Mann zugehen müsste und sie wollte schließlich allein sein. Also machte sie eine Kehrtwendung und ging wieder zurück. Es wurde auch schon ziemlich dunkel und wenn sie sich nicht verlaufen wollte, wurde es langsam wirklich Zeit für den Rückweg.

Etwas schneller als vorher machte sich Dayla also auf den Rückweg. Nach ein paar Schritten drehte sie sich um, weil sie ein merkwürdiges Gefühl von Beklemmung verspürte, als würde sie jemand verfolgen. Der Mann mit dem grauen Overall stand immer noch an seinem Baum, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte. Selbst aus dieser Entfernung konnte Dayla seine merkwürdig hellgrauen Augen leuchten sehen, beinahe wie Katzenaugen.

Das Gefühl von Beklemmung verschwand jedoch nicht, als Dayla sah, dass der Mann sich keinen Schritt bewegt hatte. Es wurde sogar noch stärker und ihr Gehtempo erhöhte sich. Ihr Herz klopfte heftig und langsam geriet sie auch etwas außer Atem. Ohne es zu merken, war sie dazu übergegangen, zu rennen. Sie rannte wie von Sinnen.
 

Kieran hatte die ganze Szene beobachtet. Als er denn Mann an dem Baum stehen sah, bekam er ein ungutes Gefühl. Irgendwas an diesem Kerl kam ihm komisch vor. Vielleicht, weil er kein Wort sagte oder war es dieses merkwürdig zufriedene Lächeln? Kieran bekam eine Gänsehaut. Als er sich nach dem Mädchen umdrehte, stelle er fest, dass sie verschwunden war. Verdammt! Er hatte sie tatsächlich aus den Augen verloren! Was jetzt? Ob sie den gleichen Weg zurück nehmen würde, den sie herkommen war?

Während Kieran noch überlegte und ob es besser war, ihr zu folgen oder lieber noch eine Weile diesen Kerl zu beobachten, ließ der seine Arme sinken und setzte sich langsam in Bewegung. Seine Augen hatten einen Ausdruck des Wahnsinns angenommen. Er leckte sich über die Lippen und – verfolgte das Mädchen! Kieran geriet in Panik und hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Er musste sie auf jeden Fall warnen! Aber konnte er ihr auch helfen, wenn es dazu kommen sollte? Kieran war zwar fast einen Meter neunzig groß und kräftig gebaut aber er war weder gewalttätig noch streitsüchtig. Er war sanft und ungefährlich und dieser Typ machte den Eindruck, als sei ihm Gewalt nicht fremd, eher willkommen.

Kieran beschloss, den beiden erst einmal zu folgen. Wenn sie es sicher aus dem Wald heraus schaffte, konnte ihr ja nichts mehr passieren, sofern sie den Wanderweg bis zur Straße hinunterlief, sofort in ihr Auto stieg und machte, dass sie weg kam.

Kieran rannte so schnell er konnte ohne bemerkt zu werden, hinter dem Kerl her. Wenn der ihn entdeckte, konnte er sich gleich eingraben. Er hatte es eindeutig auf das Mädchen abgesehen und würde sich von Kieran sicher nicht aufhalten lassen. Dieser wahnsinnige Blick und dieses irre Lächeln! Der war gemeingefährlich!

Auf einmal fiel Kieran ein, was ihn so stutzig gemacht hatte. Der Overall! Diese Dinger hatte er schon mal gesehen, als er mit dem Fahrrad an der Haftanstalt im Dahlhofer Tal vorbei gefahren war. Um Himmels Willen! Dieser Typ war ein Sträfling! Ausgebrochen und wahrscheinlich gefährlich und zu allem entschlossen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, überkam Kieran ein furchtbarer Gedanke, noch furchtbarer als alles, was er sich vorstellen konnte: was wenn das nun ein Vergewaltiger war? Kieran rannte schneller. Sein Puls raste und die Panik schnürte ihm die Lunge zu - nahm ihm fast die Luft. Mit den schrecklichsten Gedanken im Kopf und den grauenhaftesten Bildern vor Augen ließ seine Aufmerksamkeit nach. Er übersah einen Baumstumpf, stolperte und schlug sich den Kopf an einem Stein auf. Bewusstlos blieb er liegen.

Pepe war seit einer Stunde im Wald auf der Suche aber hatte noch nicht einmal eine Spur auf dem Waldboden gefunden. Er sah Trittspuren von Rehen, Hasen, Füchsen und Wildschweinen aber keine menschlichen Spuren. Aber Pepe war ein zäher erfahrener Jäger. Aufgeben kam nicht in Frage. Er hatte einmal einen Bock über zwei Tage verfolgt, bevor er ihn endlich günstig vor die Flinte bekam. Aber als er gerade abdrücken wollte, hatte er eine Fliege ins Auge bekommen. Er hatte laut geflucht über die dämliche Mistfliege, und die Chance hatte der Bock genutzt. Er verschwand auf Nimmerwiedersehen im Unterholz und man hätte meinen können, Pepe hätte vor Wut geheult aber es war nur die Fliege gewesen, die sich hartnäckig weigerte, sein Auge wieder zu verlassen. Und diese Fliege war denn auch nach zwei Tagen Jagd seine einzige erlegte Beute.

Als Pepe den Bach rauschen hörte, hatte er eine Idee. Er leuchtete den Boden neben dem Bach ab und entdeckte plötzlich deutliche Spuren von Gummistiefeln. Sie war hier! Die Spuren führten am Bach entlang in Richtung Dahlhofer Tal. Pepe folgte ihnen. Nach etwa einem halben Kilometer endet die Spur plötzlich, beziehungsweise, sie machte einen Bogen und führte wieder zurück. Daneben lief auf einmal eine zweite Spur, die wohl von Turnschuhen stammte. Die Abdrücke waren merkwürdig seicht und auch nicht komplett, als wäre jemand sehr schnell auf den Zehen gelaufen. Eindeutig: Dieser Mensch hier war gerannt. Pepe fühlte sich hilflos, wie sollte er den jetzt noch einholen? So schnell er konnte, verfolgte er die Spur, die wieder Richtung Wanderweg führte. Aber selbst, wenn er den Kerl nicht einholen konnte, seine Kugeln konnten es!
 

Dayla rannte um ihr Leben. Sie sah zwar niemanden hinter sich aber trotzdem sagte ihr Instinkt: du darfst nicht stehen bleiben. Renn weiter. Renn um dein Leben. Irgendwas stimmt hier nicht, raus aus dem Wald, nur raus!

Daylas Herz hämmerte und ihr Puls raste. Ihr Blut dröhnte ihr in den Ohren und sie keuchte. Die Brust tat ihr weh und sie hatte schreckliche Seitenstiche aber sie blieb nicht stehen.

Doch als sie an einem besonders dicken Baum vorbei kam, wollte sie die Möglichkeit nutzen. Sie versteckte sich hinter dem Stamm der uralten Buche, sank in die Hocke und keuchte atemlos. Sie wollte nur einen Moment verschnaufen, ihr Herz beruhigen und ihre Lunge zur Ruhe kommen lassen.

Etwa fünf Minuten saß sie dort hinter dem Baum. Die Schmerzen in der Seite ließen langsam nach und ihre Brust tat auch nicht mehr weh. Ihr Herz klopfte immer noch schnell aber die Panik ebbte langsam ab. Das Adrenalin in ihrem Blut senkte sich auf ein normales Level. Plötzlich begann sie zu weinen. Sie weinte vor Furcht und weil sie außerdem glaubte, sich verlaufen zu haben. Aber ihre irrationale Angst, verfolgt zu werden, war anscheinend unbegründet. Seit sie hier saß, war niemand an ihr vorbei gelaufen. Ihre Fantasie hat ihr wohl einen Streich gespielt. Sie war erschöpft und es wurde langsam dunkel und dann stand da plötzlich ein Mann mitten im Wald, einer mit so eigenartigen Augen, wer würde da keine Angst kriegen? Sie hatte dem Mann ganz schön Unrecht getan. Sollte er ihr jemals wieder begegnen, würde sie sich bei ihm entschuldigen für ihre verrückte Annahme. Und wer weiß, vielleicht war der Typ ja aus dem gleichen Grund im Wald wie sie. Vielleicht könnten sie ja Freunde werden und in Zukunft gemeinsam im Wald umherstreifen!

Mit diesem beruhigenden Gedanken stand Dayla auf, wischte sich ihre feuchten Augen trocken und verließ ihr Versteck. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sie sich um, um zurück zu gehen, und die Rinde des Baumes zu streicheln. Dieser Baum hatte diese Geste ganz besonders verdient, fand sie.

Aber als sie sich umdrehte, entglitt ihr Lächeln augenblicklich. Erstaunt zog sie die Augenbrauen zusammen. Vor der Buche stand der Mann im grauen Overall. Er hatte die Arme verschränkt und lächelte. Aber er lächelte nicht freundlich, sein Gesicht wirkte eher überlegen und triumphierend und seine grauen Augen glommen förmlich im blassen Licht der letzten Sonnenstrahlen.

Dayla war plötzlich wie versteinert. Sie konnte keinen Muskel bewegen. Sie fühlte sich wie ein Reh im Lichtkegel eines Autoscheinwerfers. Magisch angezogen von diesen kalten grauen Augen versuchte sie nicht einmal, wegzulaufen, als der Mann die Arme sinken ließ und langsam auf sie zukam.
 

Mit fürchterlichen Kopfschmerzen wachte Kieran auf. Im ersten Moment wusste er gar nicht, wo er war oder was er dort machte. Aber dann kam die Erinnerung wie ein Blitzschlag zurück. Als er seine Stirn berührte, zuckte er zusammen. Seine Finger waren blutig.

„Oh Mann, da hab ich mir den Kopf ja ganz schön angeschlagen.“ Mühevoll versuchte Kieran aufzustehen. Er musste einen Baumstumpf zu Hilfe nehmen. Als er endlich aufrecht stand, pochte seine Wunde wie verrückt und sein Kopf schien kurz vor einer Explosion zu stehen. Kieran sah alles doppelt und sank wieder auf den Baumstumpf zurück. Dann fühlte er auch noch einen stechenden Schmerz in seinem linken Handgelenk.

„Na toll, wenn dann auch alles auf einmal, es muss sich ja lohnen!“ schimpfte er sarkastisch. Aber wehleidig sein konnte er später. Jetzt hieß es: Zähne zusammen beißen! Er hatte noch eine Aufgabe. Er musste dieses wunderschöne Mädchen mit der elfenhaften Stimme finden und vor dem Kerl retten, wenn nötig. Aber wo waren die beiden abgeblieben? Wie lange war er überhaupt ohnmächtig gewesen?

Kieran schleppte sich durch den Wald, immer dem Bachverlauf folgend. Er hoffte, dass sie dort entlang gelaufen war und der Overall war ihr ja dicht auf den Fersen gewesen. So konnte er am ehesten beide finden. Er hatte allerdings keine Ahnung, was er tun wollte, wenn er sie tatsächlich fand.

Dayla wollte schreien, wegrennen, sie wollte wild um sich schlagen, ja sie betete geradezu darum, sich übergeben zu können. Aber nichts davon geschah. Der Schock verhinderte jegliches Handeln. Wie unter Hypnose ließ sie es zu, von dem Mann im Overall umarmt und geküsst zu werden. Seine Arme umschlossen sie wie ein Stahlgürtel. Er hielt sie so fest, dass sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Als er seine Lippen auf ihren Mund presste, schmeckte Dayla Zigaretten und verbranntes Fleisch. Dayla wurde übel aber sie konnte sich nicht rühren. Auch als er begann, ihren Hals zu küssen, blieb sie versteinert. Er öffnete ihre Regenjacke. Langsam und genüsslich öffnete er Knopf für Knopf. Dabei lächelte er grausam. Dayla bewegte sich nicht. Sie hatte auch keine Ahnung, was sie tun sollte. Aber immerhin schaffte sie es, zu weinen – lautlos und verzweifelt.

Nur noch ein einziger Knopf und dann war sie seinen Händen mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Zuerst einmal begutachtete er sein Opfer. Seine grauen Augen wanderten ihren Körper hinab und schienen zufrieden zu sein. Und noch zufriedener wurde er, als er bemerkte, wie sehr Dayla zitterte. Die Angst vor dem, was da kam, war aber nicht der einzige Grund. Dayla fror entsetzlich. Der eisige Wind fuhr unter ihren Pullover. Und obwohl sie weder schreien noch weglaufen konnte, brachte sie es tatsächlich fertig, das auch zu sagen. Wie unter Hypnose sagte sie tonlos: „Mir ist kalt.“

„Oh, dagegen können wir etwas tun. Gleich wird dir warm werden“, antwortete der Mann im Overall lächelnd und ruhig. Er legte den Arm um Daylas Schulter und führte sie mit sich aus dem Wald hinaus und über den Feldweg zurück in Richtung Straße. Dayla stand noch immer unter Schock und ließ sich einfach führen.

In dem kleinen Waldstück hinter dem Feld verließ er den eigentlichen Weg und steuerte auf die Holzhütte zu. Als Dayla die Hütte bemerkte, ließ ihre Erstarrung plötzlich nach. In Windeseile schossen ihr die Gedanken durch den Kopf. Sich befreien, fliehen, verstecken oder rennen bis zum Auto, das war jetzt in greifbarer Nähe. Aber was wenn sie den Schlüssel nicht ins Schloss bekam? Was wenn er sie einholte oder sie als Rache für ihren Fluchtversuch auch noch verprügeln, misshandeln oder gar umbringen würde? Was wenn er sie folterte? Wie schnell würde sie wohl ohnmächtig werden? Auf jeden Fall würde er sich viel Zeit lassen und es richtig genießen.

An der kleinen Treppe, die zur Tür hinauf führte, ließ der Mann Dayla los. Er musste die Tür irgendwie öffnen. Einige kräftige Fußtritte sollten dafür ausreichen. Er stieg die Stufen hinauf und Dayla erkannte ihre wahrscheinlich einzige Chance zur Flucht. In dem Moment als er den Fuß zum Tritt hob, rannte sie los. Aber sie war so durcheinander und in Panik, dass sie in die falsche Richtung lief. Das bemerkte sie erst, als sie wieder den Rand des Feldwegs erreichte. Aber es blieb ihr keine Zeit für Überlegungen denn der Overall war direkt hinter ihr und wenn sie jetzt stehen blieb, nur für eine Sekunde, hatte er sie wieder eingeholt. Also rannte sie den Feldweg hinauf. Der Overall hinter ihr schrie: „Bleib stehen, du kleines Miststück! Ich kriege dich doch sowieso! Und mit deinen Zicken machst du es nur noch unangenehmer für dich!“ Das hatte Dayla befürchtet. Sie rannte um ihr Leben aber es reichte nicht.
 

Kieran war inzwischen am Waldrand angekommen. Er hatte nicht mehr viel Hoffnung, das Mädchen noch rechtzeitig zu finden. Wahrscheinlich hatte sich der Overall mit ihr irgendwo ins Unterholz geschlagen und vergnügte sich gerade ungeheuer, während sie die Hölle erlebte. Kierans Brust zog sich bei dem Gedanken zusammen und eine unbändige Wut überkam ihn. Aber die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit war stärker.

Bis er auf dem Feldweg ein merkwürdiges Schauspiel erkennen konnte. Es war sehr weit entfernt aber er sah jemanden rennen und eine zweite Person verfolgte die erste. Im nächsten Moment hatte der Verfolger sein Opfer eingeholt und trotz dessen offenbar angestrengter Abwehrversuche schaffte er es, es zu umklammern und mit sich zu schleifen. Kieran wusste sofort, das mussten sie sein! Es war also noch nicht zu spät. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung verschwanden und die Wut überkam ihn mit unbändiger Kraft. Alle seine Schmerzen ignorierend rannte er los. Seine Augen glitzerten wie im Wahn.
 

Ein starker Klammergriff beendete Daylas Fluchtversuch. Sie strampelte und wehrte sich mit aller Kraft aber sie hatte keine Chance gegen die Kraft dieses Mannes. Fast mühelos schleifte er sie zurück zur Hütte. Dort angekommen hatte Dayla keine Kraft mehr. Widerstandslos ließ sie sich in die Hütte bringen. Sie erkannte, dass es keinen Sinn mehr hatte, dagegen zu kämpfen. Sie würde es einfach ertragen müssen und dabei hoffen, dass es nicht zu schlimm wurde. Aber es würde ohne Zweifel das Allerschlimmste in ihrem Leben werden.

Er warf sie zu Boden. Überall um sie herum waren Gartengeräte. Spaten, Harken, Rechen, Schaufeln, ein Mähdrescher-Rad. Diese Hütte gehörte einem Landwirt. Aber statt an Landwirtschaft und Gartenarbeit dachte Dayla beim Anblick der Geräte an all die Qualen, die man einem Menschen damit zufügen konnte. Sie drückte sich in eine Ecke der Hütte, umklammerte ihre Knie und beobachtete zitternd, wie ihr schlimmster Albtraum langsam zur Realität werden sollte. Sie war vom rennen und kämpfen so erschöpft, dass sie noch nicht einmal schreien konnte. Nur die Tränen liefen lautlos an ihren Wangen hinunter und hinterließen nasse Flecken auf ihrer Jeans.

Der graue Overall verschloss die Tür der Hütte sehr sorgfältig. Er zog ein schweres Regal davor, so dass niemand sie mehr öffnen konnte, weder von innen noch von außen. Zufrieden betrachtete er sein Werk und dann drehte er sich lächelnd und sehr langsam zu Dayla um.

Sie kauerte panisch in ihrer Ecke und als er ihre Beine packte, um sie in eine waagerechte Lage zu ziehen, strampelte sie mit letzter Kraft, trat nach ihm, kratze ihn und schlug nach ihm. Aber er war stärker. Er setzte sich auf sie, zog ein dünnes Seil aus seiner Tasche, eine Kordel aus einer Trainingshose, und fesselte Dayla damit die Hände. Dann schob er ihren Pullover hoch und knöpfte ihre Hose auf. Dayla flehte verzweifelt: „Nein, bitte nicht! Tun Sie das nicht! Bitte!“

Doch der Overall kümmerte sich nicht um ihre Worte. Seine Augen glitzerten in freudiger Erwartung dessen, was er gleich tun würde. Er lächelte gierig und sagte: „Wir beide werden viel Spaß zusammen haben.“ Dann öffnete er seinen Overall und schob ihn bis zu den Hüften herunter. Dayla schloss die Augen. Sie wollte nicht sehen, was sie erwartete. Als er begann, ihr die Hose herunter zu ziehen, begann Dayla verzweifelt zu schreien. Der Overall fühlte sich dadurch allerdings nicht gestört sondern eher ermutigt.

„Schrei ruhig, hier hört dich sowieso niemand.“ Doch er irrte sich…

Kieran rannte, so schnell er konnte, hinter den beiden her. Allerdings als er den Feldweg hinter sich gelassen hatte und im Waldstück kurz vor der Straße stand, fragte er sich, wo die beiden wohl sein konnten. Während er sich umschaute, hörte er plötzlich einen Schrei.

Kieran sah sich um. Das kam aus der Hütte! Vorsichtig schlich Kieran darauf zu und blickte durch eines der Fenster.

Da waren sie, alle beide. Sie lag am Boden und schrie verzweifelt. Ihre Hände waren gefesselt. Er saß auf ihr, was er gerade tat, konnte Kieran nicht sehen. Aber er sah, dass die Tür von einem Regal versperrt wurde. Er konnte sie unmöglich öffnen. Und wenn er es versuchte, würde der Overall es merken und sie vielleicht töten. Kieran trat vom Fenster zur Seite und überlegte. Seine Wut war unbeschreiblich groß. Aber er musste einen kühlen Kopf bewahren.

„Augenblick mal“, meinte er leise und sah noch einmal durch das Fenster. Einen Meter von den beiden entfernt war eine Falltür im Boden eingelassen. Sie schien nicht mit einem Riegel verschlossen zu sein und nichts stand auf ihr. Das war die einzige Möglichkeit, hinein zu kommen. Kieran schlich um die Hütte herum, bis er einen Zugang entdeckte, an dem man unter die Hütte gelangte. Er erkannte in dem dämmrigen Licht nicht sofort die richtige Stelle aber eine Holzplatte auf dem Boden verriet es ihm. Die lag dort wohl, damit man nicht im matschigen Boden einsank, wenn man durch die Luke heraussprang.

Kieran stellte sich unter die Falltür und versuchte ganz vorsichtig, sie anzuheben. Tatsächlich! Sie bewegte sich ohne einen Laut zu machen. Er hob sie erstmal nur so weit an, um hineinsehen zu können. In Richtung Tür sah er zwei Gummistiefel-Sohlen, darüber einen mächtigen Rücken. Anscheinend versuchte der Kerl gerade, ihr die Hose herunter zu ziehen. Seinen Overall hatte er geöffnet, sein Oberkörper war bereits nackt. Kieran sah einen schwarzen Pantherkopf auf dem rechten Oberarm.

Lautlos öffnete er die Falltür ganz und ebenso lautlos kletterte er nach oben. Das war nicht schwer, denn normal stehend war er sowieso schon bis zu den Hüften oberhalb der Bodenkante.

Als er in der Hütte stand und sah, wie dieser Verbrecher das Mädchen seiner Träume unter sich begraben hatte und offenbar kurz davor war, ihr etwas Furchtbares anzutun, hätte er am liebsten laut gebrüllt aber er beherrschte seine Wut und griff stattdessen nach einem schweren Metallspaten. Lautlos trat er von hinten an den Overall heran, holte weit aus und schlug ihm den Spaten mit einem rasenden Schrei gegen den Schädel.

Der Overall kippte zur Seite und rührte sich nicht mehr. Am liebsten hätte Kieran noch viele Male auf ihn eingeschlagen aber er musste sich jetzt unbedingt um das Mädchen kümmern, das zitternd auf dem Boden lag. Kieran kniete sich neben sie und zärtlich zog er ihren Pullover wieder über ihre nackten Brüste. Er löste ihre Fessel, hob sie dann sanft an und zog den Regenmantel unter ihr heraus, um ihn ihr auf Bauch und Beine zu legen. Dabei versuchte er, ihr die ganze Zeit in die Augen zu sehen. Er wollte die günstige Gelegenheit auf nackte Tatsachen nicht schamlos ausnutzen.

Kieran stand auf und schob das schwere Regal von der Tür weg. Das Mädchen hatte jetzt die Augen geschlossen. Sie war ohnmächtig geworden. Kieran setzte sich hinter sie, hob ihren Kopf an und legte ihn auf seine Beine. Immer wieder streichelte er ihr Haar. Dabei flüsterte er: „Wach auf, alles ist gut. Hey, Kleines, mach die Augen auf. Es ist vorbei.“

Zehn Minuten lang lag sie so da, bewusstlos. Kieran betrachtete ihr Gesicht ganz genau. Am liebsten hätte er sie geküsst. Er wollte sie ganz fest im Arm halten, sie trösten. Aber vor allem wollte er ihren Namen kennen, damit er sie wieder finden konnte, wenn sie erst weg war.

Auf einmal spürte er eine Bewegung in seinen Händen. Ihr Kopf bewegte sich, sie wachte auf.

Das Erste, was Dayla sah, war ein sanft lächelndes, fremdes Gesicht. Leuchtende blaue Augen sahen sie voller Sorge an.

„Nein, lassen Sie mich los! Bitte!“ schrie Dayla und versuchte, sich aus Kierans Armen zu befreien. Er ließ sie sofort los.

„Mach dir keine Sorgen. Es ist vorbei. Ich hab den Kerl umgehauen, siehst du? Da liegt er. Würde mich wundern, wenn der noch mal aufsteht.“

Dayla sah zur Seite. Dort lag der Mann im grauen Overall und bewegte sich nicht. Unter ihm hatte sich inzwischen eine beträchtliche Blutlache gebildet, die aus seinem rechten Ohr stammte.

Dayla brach in Tränen aus. Nach all der Anstrengung, Angst und jetzt Erleichterung konnte sie sich gar nicht mehr beruhigen. Kieran ließ sie ein paar Minuten weinen und sagte dann: „So, jetzt werde ich mich umdrehen, damit du deine Hose wieder anziehen kannst. Und dann sollten wir hier verschwinden. Es ist schon dunkel draußen.“ Kieran sah durch die offene Tür den Sternenhimmel am Horizont. Er hörte, wie sich Dayla aufrichtete, ihre Hose hochzog und schließlich ihre Regenjacke wieder anzog. Sie verschloss jeden Knopf sorgfältig.

„Fertig, du kannst dich wieder umdrehen“, sagte sie und Kieran drehte sich um. Jetzt sah sie wieder so aus wie beim ersten Mal am Auto. Abgesehen von den rotgeweinten Augen. Dayla bemerkte plötzlich das getrocknete Blut in Kierans Gesicht.

„Was ist denn mit dir passiert? Hast du mit dem Kerl gekämpft? Hat er dich schlimm verletzt?“ fragte sie besorgt. Aber Kieran winkte ab.

„Halb so wild. Ich bin im Wald ausgerutscht, als ich euch verfolgt habe und da lag zufällig ein Stein etwas ungünstig. Lass uns jetzt hier verschwinden“, schlug Kieran vor. Dayla stimmte zu und die beiden traten aus der Hütte. Daylas Knie zitterten immer noch und sie musste sich am Geländer festhalten, um die Stufen zu schaffen. Am Absatz der Treppe fragte Kieran: „Wie heißt du eigentlich? Mein Name ist Kieran.“

„Dayla“, antwortete sie.

„Runter, ihr beiden!“ rief plötzlich eine laute Stimme vom Feld her. Kieran riss Dayla blitzartig zu Boden. Im nächsten Moment krachte ein Schuss durch die lautlose Nacht. Dann folgten ein dumpfer Knall und ein metallisches Scheppern. Kieran hob vorsichtig den Kopf an und erkannte Pepe. Sein Gewehrlauf rauchte noch.

„Das war aber verdammt knapp. Ist alles in Ordnung bei euch?“ fragte Pepe und wollte Dayla wieder auf die Beine helfen. Doch sie wehrte ab. Angefasst werden konnte sie jetzt wirklich nicht ertragen.

„Schon gut, alles noch dran. Aber was war denn so knapp?“

„Zeig ich euch, dreht euch mal um.“

Dayla und Kieran drehten sich zur Hütte um. Aus dem Eingang ragten zwei Turnschuhe heraus. Kieran stieg die Treppe hinauf. Dayla wollte ihm folgen aber Kieran sagte: „Nein, du bleibst besser bei Pepe. Der Anblick könnte dich jetzt wirklich überfordern. Warte hier.“ Dayla nickte und trat von der Treppe zurück.

Kieran betrat die Hütte. Der Overall lag im Eingang. In seiner Stirn war ein Einschussloch zu sehen. Er war tot. Neben ihm lag der schwere Metallspaten, blutverschmiert. Kieran fühlte zur Sicherheit nach dem Puls des Mannes aber wie er erwartet hatte, war da keiner mehr. Kieran trat wieder aus der Hütte.

„Er ist tot. Du bist ein guter Jäger, Pepe, genau in die Stirn. Aber was war denn überhaupt los?“

„Nun, ich habe im Wald eure Spuren gefunden und bin ihnen gefolgt. Als ich auf den Weg kam, sah ich dich gerade noch am Ende des Feldwegs im Wald verschwinden, Kieran. Da bin ich dir nachgelaufen. Als ich endlich ankam, ich musste nämlich mehrmals kurz verschnaufen – also rennen ist echt nichts mehr für mich – sah ich gerade noch, dass ihr beide vor der Hütte standet. Ich wollte mein Gewehr schon runter nehmen, das hatte ich natürlich gleich im Anschlag, aber da sah ich, wie dieser gesuchte Ausbrecher mit erhobenem Spaten im Türrahmen erschien. Also rief ich laut und schoss. Keine Ahnung, wen von euch er erschlagen wollte, aber darauf kommt es ja auch nicht an.“

„Was meinst du denn mit „gesuchter Ausbrecher“?“ fragte Kieran. Und Pepe erzählte von dem Artikel in der Zeitung. Dayla ging ein Licht auf.

„Ach deshalb ist mir hier oben niemand begegnet! Ich meine, viel ist hier ja nie los, darum komme ich auch so gerne her. Aber das heute war irgendwie unheimlich.“

„Ja, ich weiß, dass Sie öfter hier sind, ich kenne Ihr Auto schon.“ Pepe lächelte herzlich und stellte sich dann vor.

„Sie gestatten, ich bin Pepe, der Wirt und Besitzer der „Wildsau“. Kieran ist ein guter Bekannter und ein Stammgast von mir, hier aus dem Ort. Als ich diesen Artikel las, hab ich mich sofort auf die Suche gemacht. Ich wusste ja, dass er ihnen vom Lokal aus gefolgt war und viele Möglichkeiten gab es ja nicht, wo Sie sein konnten. Irgendwo hier oben auf jeden Fall.“

„Wie darf ich das verstehen, mir gefolgt?“ fragte Dayla interessiert. Aber Pepe schlug zu Kierans Erleichterung erst einmal vor, diesen dunklen Ort zu verlassen. Er führte die beiden zurück zur „Wildsau“ und machte Dayla einen Tee. Dann rief er gleich die Polizei an und sagte, der ausgebrochene Sträfling sei tot. Sie sollten ihn doch bitte abholen und gleich die Aussagen der Beteiligten aufnehmen. Kieran protestierte bei Pepe, Dayla habe doch schon genug durchgemacht und sollte sich jetzt erstmal ausruhen aber Dayla war der Meinung, sie werde es schon schaffen.
 

Zehn Minuten später war die Polizei da. Mit drei Streifenwagen und einem Krankenwagen fuhren sie bei der „Wildsau“ vor. Ein älterer Beamter betrat das Lokal, zog seinen Ausweis heraus und stellte sich als Kommissar Freitag vor. Er fragte, wo die Leiche zu finden sei und Pepe verschwand mit ihm. Dayla und Kieran schickte man hinaus zum Krankenwagen. Die Sanitäter sollten sich um Kierans Kopf, sein Handgelenk und um Dayla im Ganzen kümmern. Während die beiden am Krankenwagen versorgt wurden, kehrte Pepe mit dem Kommissar, einigen Polizisten und dem toten Dieter P. auf einer Bahre zurück.

„Sie hatten großes Glück, dass Ihnen nichts Schlimmeres passiert ist. Das ist – war – ein sehr gefährlicher Mann.“ Kommissar Freitag sah Dayla ein wenig vorwurfsvoll an.

„Ja, ich hatte zwei Schutzengel“, meinte Dayla lächelnd und sah dabei Kieran und Pepe an.

Die Polizisten schoben den Toten in den Krankenwagen und nahmen dann die Aussagen auf. Danach fuhren sie ab, ebenso wie der Krankenwagen.

Der Kommissar sagte: „Jetzt sollten Sie sich ausruhen. Das haben Sie sicher nötig. Aber Sie werden morgen noch einmal auf die Wache kommen müssen.“ Dann verabschiedete er sich und fuhr mit den letzten zwei Beamten ebenfalls ab.

„Jetzt sollten wir uns setzen und noch einen Tee trinken und dann sollten Sie, Dayla, nach Hause fahren und sich ausschlafen“, riet Pepe. Aber Dayla winkte ab.

„Ich kann nicht. Ich bin viel zu durcheinander, ich kann mich jetzt unmöglich ans Steuer setzen.“

„Ich glaube, es ist besser, wenn du heute Nacht bei mir bleibst. Morgen fahren wir dann gemeinsam zur Wache und danach kannst du nach Hause fahren“, schlug Kieran vor. Dayla schüttelte den Kopf. Nach dieser Sache konnte sie unmöglich bei einem fremden Mann übernachten! Allein der Gedanke verursachte in ihr Übelkeit. Kieran hatte sie zwar gerettet und schien auch sonst sehr nett zu sein aber wer weiß, was er wirklich für einer war?

Pepe meinte verständnisvoll: „Das kann ich gut verstehen. Wir haben hier auch zwei Zimmer für absolute Notfälle. Und wenn es Ihnen hilft, beide sind von innen abschließbar. Hier kann Ihnen nichts passieren.“ Dieses Angebot nahm Dayla an. Ihr war zwar etwas mulmig dabei aber welche andere Wahl hatte sie schon? Und wenn sie sich einschließen konnte…

„Bitte entschuldige. Ich hoffe, du verstehst, warum ich nicht mit zu dir komme.“ erklärte sie, als sie Kierans Enttäuschung bemerkte.

„Nein, ich entschuldige mich. Der Vorschlag war blöd. Ich an deiner Stelle hätte auch nein gesagt. Fahren wir morgen trotzdem gemeinsam zur Wache?“

„Das wäre nett. Ich glaube nämlich, ich werde morgen noch nicht wieder fahren können.“ Mehr braucht Kieran nicht. Er war froh, dass er sie wiedersehen konnte. Also verabschiedete er sich und fuhr beruhigt nach Hause.

Dayla ließ sich noch eine Tasse Tee bringen und dann führte sie Pepe zu einem der Gästezimmer im ersten Stock. Das Bett war ganz frisch bezogen, als hätte man geahnt, dass es sehr bald gebraucht würde. Er zeigte Dayla noch das kleine Bad am Ende des Flurs und ließ sie dann allein.

Dayla legte sich sofort schlafen, sie war vollkommen erschöpft. Doch bevor sie einschlief, sah sie immer wieder den Overall vor sich. Jedes mal schlug ihr Herz doppelt so schnell und ihr ganzer Körper versteifte sich. Doch auf einmal verschwand das widerlich lächelnde Gesicht mit den kalten grauen Augen und verwandelte sich in das warm lächelnde Gesicht von Kieran. Seine leuchtenden Augen, die sie zärtlich ansahen, sein Lächeln und seine schönen Hände, das alles hatte sie in der Hütte gar nicht bemerkt, wie auch? Aber jetzt erschien all das klar vor ihren Augen und der Anblick beruhigte sie so weit, dass sie einschlafen konnte. Die Tür hatte sie fest verschlossen.

Mehrmals wachte Dayla in der Nacht schreiend auf. Immer wieder durchlebte sie den Nachmittag und jedes Mal erwachte sie in dem Moment, als der Overall gerade ihre Hose herunterzog. Schweißnass schreckte sie hoch und drückte ängstlich die Bettdecke an sich. Doch zwei Minuten später war sie schon wieder eingeschlafen. Dieses Spiel wiederholte sich fünf Mal bis sie kurz vor Morgengrauen die Grenze überschritt und den Traum weiter träumte. Sie sah, wie Kieran sich mit dem Spaten von hinten an den Overall heranschlich und ihn dann k.o. schlug. Sie sah ihn neben sich knien und ihren nackten Körper bedecken. Sie starrte in seine Augen und er starrte in ihre. Ein wunderschönes Blau, so leuchtend und intensiv, richtig magisch. Eine Ewigkeit lösten sie ihre Blicke nicht von einander.

Plötzlich wurde sein Gesicht blasser und entfernte sich von ihr. Sie hörte ein leises Klopfen. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass das Klopfen real war und von der Tür kam, während das Gesicht in ihrem Traum sich auflöste.

„Sind Sie schon wach?“ fragte Pepe durch die Tür. Dayla rieb sich die Augen und sah dabei immer noch die Augen von Kieran vor sich.

„So gut wie“, antwortete sie und gähnte. Jetzt hätte sie gern weiter geträumt. Diese Augen…

„Das Frühstück ist fertig und außerdem wartet unten jemand auf Sie.“ Dayla riss erstaunt die Augen auf. Wer sollte das denn sein? Hier kannte sie doch niemand und außerdem wusste auch keiner, wo sie war!

„Ich komme gleich runter!“ rief sie und sprang aus dem Bett.
 

Pepe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er zweifelte nicht daran, dass Dayla und Kieran irgendwann ein Paar werden würden. Es war offensichtlich: Kieran war total verknallt und Dayla war auch kurz davor. Immerhin hatte sie heute Nacht seinen Namen gerufen. Pepe hatte das auf dem Weg zum Bad ganz deutlich gehört. Und über seine Augen hatte sie auch etwas gesagt, allerdings zu leise. Pepe hatte es nicht verstanden. So oder so, die beiden gehörten zusammen. Und Pepe gönnte es ihnen.
 

Dayla zog sich an und ging dann ins Bad. Als sie fünf Minuten später die Treppe hinunter stieg und das Lokal betrat, saß dort Kieran, in der Hand eine Tasse Kaffee. Als er Dayla sah, stand er auf, um ihr den Stuhl zurecht zu rücken. Sie lächelte schüchtern und staunte nicht schlecht, als sie auf den Tisch sah.

Pepe hatte ein tolles Frühstück aufgefahren und Dayla mampfte bald mit vollen Backen. Immerhin hatte sie seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Kieran nippte an seinem Kaffee und beobachtete sie mit einem verträumten Blick. Als Dayla es bemerkte, schaute er schnell auf seinen Teller. Dayla lächelte verlegen und sah vorsichtig zu Pepe hinüber, der hinter der Theke Gläser einräumte. Er hatte anscheinend nichts mitbekommen.

„Was ist das eigentlich für ein merkwürdiges Lied, das du auf dem Feld gesungen hast? Es war eine komische Sprache. Ein bisschen wie Englisch aber es klang auch irgendwie russisch. Was war das?“ fragte Kieran plötzlich.

Dayla wusste sofort, welches Lied gemeint war. „Das war gälisch – irisch“, antwortete sie. „Du hast das gehört?“

„Ja, habe ich und es war wunderschön. Die anderen Songs klangen etwas gepresst, da musstest du wohl ganz schön keuchen?!“ Kieran grinste als Dayla ihm die Zunge rausstreckte.

„Hast du schon mal versucht, im Gehen zu Singen? Das geht ganz schön an die Lungen!“ erklärte sie etwas beleidigt. „Deshalb bin ich bei diesem speziellen Lied auch stehen geblieben. Komisch, ich hab mich doch umgesehen, da war aber niemand!“

„Tja“, grinste Kieran, stellte seine Tasse ab und legte die Hände an den Hinterkopf, „ich kann mich unsichtbar machen. Schutzengel können so was.“

Dayla lief rot an bei dem Gedanken, dass Kieran sie singen gehört hatte und Kieran schmunzelte, als er es sah.

„Jedenfalls hast du mich aus der Hölle gerettet, wahrscheinlich sogar mein Leben“, gab sie zu und dachte im Stillen: vielleicht bist du wirklich mein Schutzengel.

Zum ersten Mal sah sie bewusst in seine Augen. Dieses Blau! Das war nicht nur ein Traum, er hatte wirklich solche Augen! Kieran bemerkte, wie sie ihn anstarrte.

„Ist irgendwas?“ fragte er. Dayla senkte schnell den Blick und biss verlegen in ihr Brötchen.

„Äh, nein, gar nichts.“ wehrte sie ab und beobachtete mit großem Interesse Pepe, der gerade damit beschäftigt war, ein Geweih an der Wand abzustauben. Aber ihre Gedanken kreisten um Kieran. Diese Augen…

Kieran beobachtete Dayla, die anscheinend fasziniert war von Pepes Entstaubungstechnik. Er wollte so gerne für sie da sein. Traurig und voller Sehnsucht starrte er sie an.

Dayla wollte gerade einen Schluck aus ihrer Tasse nehmen, als sie stutzte. Warum fixierte er sie denn so? Dann fiel ihr auf, dass etwas Anrührendes in seinem Blick lag. Genau konnte sie es nicht erfassen aber es durchdrang sie wie ein Messerstich.

Ihr Herz begann plötzlich zu rasen und sie legte ihr halb aufgegessenes Brötchen auf den Teller zurück, da sich ihr Magen strikt weigerte, weiter zu arbeiten. Er hatte genug mit den Schmetterlingen zu tun, die ihn gerade heftig attackierten.

Eine Minute lang saßen sie so da und blickten sich gegenseitig an. Dann brach Dayla das Schweigen.

„Danke“, sagte sie glücklich, „ich bin so froh, dass du da warst!“

Kieran lächelte. Vorsichtig griff er nach Daylas Hand. Er erwartete, dass sie die Hand erschrocken wegziehen würde. Aber das tat sie nicht. Ein gutes Zeichen!

Er küsste zärtlich ihren Handrücken und entgegnete: „Es war mir eine Ehre, dein Schutzengel zu sein.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Caro-kun
2009-02-15T10:31:47+00:00 15.02.2009 11:31
Haaa~
Toller Schluss ^^

Für mich existieren Schutzengel nur in Menschengestalt ^^
Auch in meinem Leben gibt es immer wieder Situationen, in denen meine Mitmenschen zu Engeln werden ^^

Ich wünsche Dayla und Kieran alles Glück dieser Welt ^^
(Du meine Güte, das hört sich ja an wie bei ner Hochzeit *lach*)

Von:  Caro-kun
2009-02-15T10:25:20+00:00 15.02.2009 11:25
Zum Glück ist alles gut gegangen.
Und ich bin wirklich froh, dass der Overall tot ist.

Von:  Caro-kun
2009-02-15T10:14:42+00:00 15.02.2009 11:14
Oh Gott sei Dank *Luft aus Lunge entweichen lass* *Hand aufs Herz leg*
Es ist nicht passiert.
Kieran ist noch rechtzeitig gekommen.

Von:  Caro-kun
2009-02-15T10:08:47+00:00 15.02.2009 11:08
Ich hab Angst.
Wirklich, ich zittere innerlich O.o
Bitte beschreib im nächsten Kappi nicht, wie er gewaltsam in sie eindringt und welche Schmerzen er ihr damit bereitet.
Bitte nicht!

Von:  Caro-kun
2009-02-15T10:08:25+00:00 15.02.2009 11:08
Oh Gott, was macht dieser Verrückte jetzt mit ihr? *Panikpanikpanik*
Ich hoffe Pepe und Kieran kommen noch rechtzeitig.

Von:  Caro-kun
2009-02-15T10:08:07+00:00 15.02.2009 11:08
Eine Sache find ich wirklich ganz toll, das ist mir bei der ersten FF die ich von dir gelesen hab schon aufgefallen:
Du gibst den Nebencharakteren, auf die man am Anfang nicht so wirklich achtete, im Laufe der Geschichte, sehr wichtige und bedeutende Rollen, wie hier jetzt Pepe.
Immerhin liegt Daylas Schicksal in seinen Händen. Kieran ist ja bewusstlos und dieser Dieter P. sieht so gefährlich aus, dass ich beim Lesen deiner Beschreibung von ihm ne richtige Gänsehaut gekriegt hab.

Von:  Caro-kun
2009-02-15T10:07:40+00:00 15.02.2009 11:07
Oh wie schön.
Wie sie da beide an dem Baum lehnen und sie nichts von seiner Existenz weiß und das ganze Herbstlaub drumherum.
Ein wunderschönes Bild ^_____^

Von:  Caro-kun
2009-02-14T13:48:04+00:00 14.02.2009 14:48
Hilfe O.o
Pepe, tu was!
Echt bemerkenswert, dass er so schnell handelt.

Ach und noch was:
Der Name Dieter passt wirklich perfekt zu einem Sexualverbrecher.
Ich hasse diesen Namen.
Da wird mir schlecht, wenn ich ihn nur höre >~<
(Das Lesen ist nich ganz so schlimm, also nich das du jetzt Angst hast, ich würde abbrechen ^^)

Von:  Caro-kun
2009-02-14T11:23:55+00:00 14.02.2009 12:23
Ohne meinen MP3-Player geh ich auch nie spazieren.
Ohne Musik ist es einfach nur ätzend.

Ich mag deinen Schreibstil und, wie individuell du jeden einzelnen deiner Charaktere gestaltest ^^



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