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Nach dem Sturm

von

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Arc 1: Die Ruhe nach dem Sturm | Prolog: Staub und Knochen aus dem alten Leben

Mikasa hatte sich, Eren und die Welt von seinem Wahn befreit und nun war die Welt so still, selbst Monate später noch, immer noch gefangen in der allumhüllenden Trauer und dem Schock der Menschen. Die Menschheit machte das, was sie seit Anbeginn der Geschichtsschreibung bereits tat: Sie machte weiter. Und Mikasa, die sich für viele Jahre ihres Lebens in Stillstand befand, tat erstaunlicherweise dasselbe. Irgendwann machte sie weiter und das nicht alleine. Armin war als guter Freund an ihrer Seite, wie er es stets gewesen war, und Jean wurde nach einem Jahr mehr als das, weil er ihr so viel Halt gab, wie sie es nicht von jemanden erwartet hatte. Sie gab und gab, da sie dies für selbstverständlich hielt, doch nun erhielt sie von Jean etwas zurück.

 

Man gab ihr auch zu arbeiten, und sie stimmte gerne zu, um nicht in ihrem Trott gefangen zu sein und den Menschen hier etwas geben zu können, auch wenn es noch so klein war. Da der erste Frühling nach der verheerenden Schlacht um Himmel und Erde angebrochen war, begann die Menschheit außerhalb und in Paradis Schutt abzuräumen und Städte und Orte zu errichten, manche Stadtteile eine Kopie dessen, wie sie die Menschen in Erinnerung hatten, manche verändert. Schöner und humaner, ohne Ghettos, in denen man Menschen anderer Herkunft hielt, als wären sie Tiere oder gar Monster und sie schlussendlich in welche verwandelte. Eren hatte sich in das Monster verwandelt, das sie in ihn sahen, das von niemanden hören wollte, dass niemand in Frieden leben konnte, solange man Hass mit mehr Hass bekämpfte. Doch Eren hörte niemanden mehr zu, war gefangen von seinem Wahn und auch dem Schmerz, den man den Eldians bereitet hatte. Seitdem drehte sich ihr Gedankenkarussell darum nachzudenken, ob sie ihn anders hätte aufhalten können, ob sie ihn nicht hätte enthaupten müssen, obwohl es für sie in dieser Situation als die einzige Lösung erschienen war.

 

Arbeit war tagsüber eine willkommene Ablenkung. Die Sonne war erst aufgegangen und Mikasa machte sich ans Werk. Sie fast war unmenschlich stark, die Ackermanns waren für ihre übermenschliche Kräfte bekannt, und sie hatte so früh, bevor die Wärme des Frühlings herauskam, keine Mühe Ziegel und Stahlpfeiler zu schleppen oder Schutt abzutragen. Große, muskelbepackte Männer sahen ihr mit Unbehagen zu, doch keiner von ihnen sprach sie an. Wenn sie ihnen in die Augen sah, wandten sie sich wieder ihrer eigenen Arbeit zu und wichen ihr aus und so arbeitete sie in ihrer monotonen Weise. Alles an dem Schutthaufen erinnerte sie noch an den Krieg, an Erens Verbrechen, und wenn sie zu lange darüber nachdachte, welche Abscheulichkeit nur wenige Kilometer entfernt von hier zugetragen hatte, würde sie hier an dieser Stelle erstarren und das Gedankenkarussell würde wieder anspringen, bis sie spätnachts vor Ermüdung einschliefe. Das hatte sie schon einige Male durchlebt und sie hatte herausgefunden, dass es sich leichter einschliefen ließ, wenn Jean sie hielt, oder wenn er sich bloß im selben Raum aufhielt. Heute würde Armin mit dem Commander von seinen Verhandlungen zurückkehren und dem würde sie freudig entgegenblicken. Sollten ihr Gedanken während der Arbeit aufkommen, würde sie nicht an die Geschehnisse hier denken, sondern Armins Rückkehr entgegenblicken.

 

So nahm sie sich es vor, bis sie Schutt beiseiteschaffte und dabei etwas berührte, das kein Stein, kein Ziegel und kein Metallteil, das unter einem Riesenfuß zerquetscht worden, war. Es war ein hartes Material, doch dünn und feingliedrig. Weißlich, ein wenig vom Schutt verfärbt. Ihr Verstand benötigte einen Moment, bis Mikasa verarbeiten konnte, was sie in ihren Händen hielt, und es war nicht das erste Mal, dass sie das tat. Doch dieses Mal war es klein, so klein, als hätte die knöchrige Hand einem Kleinkind gehört. Unter dem Schutt erahnte sie die Konturen von zwei Skeletten, einem Erwachsenen, der das Kind an sich gepresst hielt.

Reflexartig ließ sie die kleine Hand los und ließ sich auf eine Erhöhung in der Nähe nieder. Die körperliche Arbeit hatte ihr bisher nie zu schaffen gemacht, doch nun war es, als ob ihre Muskeln versagten, und sie saß auf dem Schutthaufen, den der Mann geschaffen hatte, der für lange Zeit ihr Denken und Sein zu großen Teilen ausgefüllt hatte. Er tat es immer noch, nun auf eine Weise, die sie immerzu verfolgte, wohin sie auch ging. Er war derjenige, der sie nun Schutt wegschaffen und Kinderknochen unter zusammengebrochenen Hausmauern ausgraben ließ.

Sie fasste sich an ihr Schlüsselbein, an der Grube unter ihrem Kehlkopf und kontrollierte ihren Atem, beobachte wie er sich langsam wieder beruhigte. Der Psychotherapeut, so nannte man diese in Marley, den sie wöchentlich aufsuchte und sie alle aufgrund von – wie hieß das, das hatte so einen befremdlichen Namen –; Posttraumatische Belastungsstörung, behandelte, erinnerte sie ständig in Sitzungen daran, wie sie sich selbst beruhigen konnte, wenn sie in Panik geriet. Der gesamte, ehemalige Aufklärungstrupp teilte ihre Erfahrung und konnte mit diesem so medizinisch klingenden Begriff endlich beschreiben, was sie alle seit jeher durchlebten.

„Es ist, als ob der Krieg, die Toten, und die Flammen, noch in deinem Kopf sind“, hatte der Commander mal beiläufig gesagt und deren Satz unterbrochen, um Flammen aussprechen zu können. Mikasa hatte vor einem Jahr die Flammen der Titanen aus dem Flugzeug gesehen und panisch mitverfolgt, wie der Commander versucht hatte ihnen Zeit zu verschaffen. Die Umhänge des Aufklärungstrupps waren feuerresistent, zumindest so feuerresistent wie ein Kleidungsstück in einer brennenden Hölle sein konnte, und dey hatte versucht deren Gesicht und Körpermitte mit dem Umhang zu schützen. Und dann hatte Falcos Titan, als er verzweifelt denen nachkommen und helfen wollte, wie aus dem Nichts Flügel ausgebildet, die aus seinen Schulterblättern hervorgetreten waren; das hatte dem Commander das Leben gerettet. Er hatte anscheinend im Kampfgemetzel Zekes Blut geschluckt und dadurch Fähigkeiten des Biesttitanen bekommen.

 

Nun saß Mikasa hier auf dem Schuttberg und beruhigte ihren Atem, ehe sie weiterarbeiten würde. Mikasa riss sich den roten Schal vom ihrem Hals und warf ihn vor sich in den Dreck, bloß um ihn gleich daraufhin wieder zu sich zu holen, vom Staub abzuklopfen und sich ihn wieder anzulegen. Sie konnte nicht anders, sie hatte es einige Male versucht ihn loszuwerden.

In der Ferne sah sie bereits die ersten Stadtteile, die sich erneut aus dem Boden erhoben und den Menschen einen Ort zum Leben gaben. Sie starrte in die Ferne, in der dunkelhäutige Menschen, die aus Onyankopons ursprünglichen Heimatland stammten – ihres Wissens war es zu größeren Teilen verschont geblieben –, einen Wagen mit Gütern heranfuhren. Weiter draußen im unberührten Westen und Norden hatten die Menschen Land und Wälder gefunden, die sie bewirtschaften konnten. Zu Wochenbeginn brachten sie den Arbeitern und den sogenannten Trümmerfrauen, wie sie Mikasa und einige anderen Frauen nannten, die an der Stelle ihrer gefallenen Männer anpackten, Nahrungsrationen vorbei.

 

Eine ältere Dame in abgetragener Kleidung trat an Mikasa heran. Sie hatte eine sonnengegerbte, gealterte Haut, sah vermutlich um ein Jahrzehnt älter aus als sie es tatsächlich war, und reichte ihr eine Wasserflasche. „Mein Mädchen, trink.“

„Ich bin nicht erschöpft“, sagte sie schließlich, nahm die Hände der Dame und schob sie etwas von sich. „Ich kann noch arbeiten. Behalten Sie das Wasser bitte für sich, der Tag ist noch lang.“ Die Dame benötigte das Wasser eher, um sich durch den Tag zu kämpfen.

„Nicht körperlich“, erwiderte die Dame sanft. „Trink. Es ist erschöpfend die Toten zu finden. Vor allem die Kinder. Bist du täglich hier? Wenn du mit jemanden sprechen möchtest, bin ich auch täglich hier. Ein so junger Mensch sollte so etwas nicht täglich sehen müssen, das zerstört eure jungen Seelen noch mehr, als sie es bereits wurden.“

„Ich habe viel mehr gesehen - und getan“, erwiderte sie stumpf. Sie nahm einen Schluck an und selbst wenn das Wasser bereits lauwarm war sowie etwas fahl schmeckte, war sie dankbar darum. Tränen rannen plötzlich über ihre Wangen, während sie schluckte, als ihr eigenen Worte bewusst wurden. Ich habe viel mehr gesehen – und getan. „Das kann öfters in der Aufarbeitungsphase geschehen“, hatte ihr Psychotherapeut für Kriegsveteranen vorgestern gesagt, als sie ihn darauf ansprach, dass Jean manchmal nach der Arbeit heimkam, wie betäubt auf einem Stuhl saß und vor sich hinstarrte oder manchmal wie aus dem Nichts weinte, wenn Mikasa von den Trümmern, und manchmal von den Knochen, sprach, die sie wegräumte. Ihr Haar war nicht mehr lang genug, um die Tränen hinter Strähnen zu verbergen. Es war seit zwei Jahren ohrlang kurzgeschnitten.

Die Frau streichelte ihre Hand eine Weile und sie schwiegen für zehn Minuten, bis sie aufstand und sich wieder an die Arbeit machte. Mikasa entschied es ihr nachzutun und arbeitete in diesem monotonen Trott weiter, bis ihr Körper wieder nachgab und sie sich setzen musste, ohne dass er ermüdet war.

 

Diesmal kam eine Stunde später dem Versorgungswagen ein Auto nach, eines dieser neumodischen Fahrzeuge, das vom technologisierten Marley hervorgebrachte wurde und aus ihm stiegen Armin, Commander Hange und Onyankopon. Sie trugen die schicken Anzüge, die sie zur Verhandlung getragen hatten, und wirkten fehl am Platz. Captain Levi fehlte für gewöhnlich. Er hatte sich irgendwo am Land abgesetzt und wollte in Frieden gelassen werden. Dort lebte er mit Onyankopon, dem Commander und den beiden Kindern, die ihre Eltern während der Schlacht um Himmel und Erde ebenfalls verloren hatten. Sie alle ließen sich öfters sehen und waren öfters geschäftig oder anderwärtig unterwegs, doch der Captain wollte seinen Frieden von allem und jedem außerhalb seines Hauses. Und Mikasa verstand dies.

„Mikasa, schön dich zu sehen.“ Armin setzte sich neben sie. Seine Stimme war sanft und er sah von Monat zu Monat erwachsener aus, und müder. Sie deutete auf eine Stelle vor sich.

„Hast du wieder Knochen gefunden?“

„Ja. Sehr Kleine“, sagte sie bloß.

Der Commander kam zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter, die sie ergriff. „Ich hab genug davon.“

„Natürlich hast du das. Mikasa, du musst hier nicht arbeiten.“

„Ich muss es wiedergutzumachen versuchen.“

„Das war nicht dein Werk.“

„Danke, Commander.“

Armin deutete ihr ins Auto einzusteigen und den Tag früher zu beenden als gewöhnlich. Endlich hier weg, endlich bei vertrauten Menschen sein können.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  ChiaraAyumi
2023-10-13T11:35:07+00:00 13.10.2023 13:35
So hier kommt mein erster Kommentar!
Als ich die Fic geöffnet habe, habe ich mich sehr gefreut, dass es Attack on Titan geworden ist. Ich finde dieses Fandom hat so viel zu bieten, weil es so komplex ist und so viele großartige Storylines und Charaktere bietet und gerade eben auch das Nachspiel vom Rumbling, wie du es hier schreibst, finde ich sehr interessant.
Meine erste Überraschung war, dass die Geschichte aus Mikasas Sicht ist. Mikasa ist einer der Charaktere, mit denen ich nie warm geworden bin, denn sie ist für mich zu eindimensional, da sie völlig auf Eren fokussiert ist und ihre Badass-Fähigkeiten zwar betont werden, aber irgendwie sie doch alles, was sie tut, immer für Eren ist (oder manchmal auch für Armin). Das finde ich schade, da sie ein so viel coolerer Charakter hätte sein können. Also war ich zwar überrascht und erstmal ein bisschen zurückhaltend zum Start der Geschichte, aber du hast es geschafft, Mikasa nach Eren zu porträtieren und das sie dabei ist diese Leere in sich selbst langsam zu füllen (gerade dann auch in den späteren Kapitel).
Ich mag das du Jean und Mikasa zusammengebracht hast.
Mir gefiel die Szene mit dem Knochenfund, da Mikasa mit der emotionale Komponete der Aufräumarbeit zu kämpfen hat, sie eben nicht einfach nur wie ein Roboter Schutt beiseite trägt, sondern dass eben Leben zerstört wurden und dass sie das nicht kalt lässt. Dass sie eben unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Dementsprechend fand ich auch das Gespräch mit der alten Frau schön. Und natürlich ihr Wunsch es wiedergutzumachen, obwohl es nicht ihr Werk war. Weil man sich immer leichter selber die Schuld gibt.
Ich fand den Auftakt auf jeden Fall sehr interessant.
Antwort von:  _Risa_
13.10.2023 14:19
Vielen Danke! Es freut mich sehr, dass ich einen so ausführlichen Kommentar für den Prolog alleine bekommen habe. <3

Lade heute Abend dann die anderen beiden Kapitel von Arc 1 hoch. Hatte sehr viel für mein Kolleg zu tun, gestern bis 20.15 und Test gehabt und Montag wieder Programmier/Javatest, da bin ich noch nicht viel zu gekommen an meiner FF nach Arc 1 weiterzuschreiben (ein wenig xD) und das Bisherige hochzuladen.

Wusste erst nicht, ob ich mit ihr beginnen sollte, da du sie nicht in deiner Liste mit Lieblingscharakteren hattest, aber auch keine Hasscharaktere. xD Dachte, ich versuch's mal mit ihr zu beginnen, da sie diejenige war, die ihn töten musste, und da die anderen auch noch viel Aufmerksamkeit erhalten, wollte ich mit ihr beginnen.
Freut mich, dass es dich nicht gestört hat.

Ich hab mich ein bisschen mit Mikasa beschäftigt, weil sie so viel "Hate" im Fandom abbekommt, aber ich hatte mich ein wenig mit Traumapsychologie in Kindern beschäftigt und fand sie eigentlich auch sehr realistisch geschrieben.
Kinder, die früh ihre Familie verlieren, oder ein wichtiges Familienmitglied, haben sehr häufig ein ungesundes Bindungsverhalten gegenüber einer Person, die ihnen dann Halt gibt.
Richtig mögen tu ich sie aber auch nicht, also zumindest im Vergleich zu anderen Charakteren, die ich sehr mag. ^^"

(Kurzer Einwurf: Wobei ich sagen muss, dass Levi ihr sogar recht ähnlich ist, finde ich. Er hat sehr früh seine Mutter verloren, wurde von Kenny verlassen und Isabel und Furlan sind gestorben, und ist dann extrem auf Erwin fokusiert.
Ich glaube nicht, dass es alleinig an den "Ackermann-Genen" liegt. Glaube eher, dass ihre Kräfte erwacht sind, als sie im Distress waren.)

Danke für dein Lob. <3
Die alte Dame hab ich dann spontan noch eingebracht.



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