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Urlaubsreif^2

auch ein Chef braucht mal Urlaub
von

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Bewerbungsfotos und jüngere Geschwister (Mokuba & Martine)

Seto Kaiba saß in seinem Büro und war der Verzweiflung nahe, was wirklich nicht oft vorkam. Aber noch seltener kam es vor, dass er im Internet nach Fotografen suchte. Die ersten zehn, deren Seiten er sich angesehen hatte, waren weiter von seinen Vorstellungen entfernt als die Erde von der Sonne. Die nächsten fünf waren noch schlechter, wenn das denn überhaupt möglich war. Es musste doch in dieser Stadt einen Fotografen geben, der genau das machen würde, was er sich vorstellte! Wieso nur verstanden sich die meisten dieser Dilettanten als „Künstler“? Sie waren verdammt nochmal Dienstleister!

Leider war seine Sekretärin ihm bei seiner Suche nur bedingt eine Hilfe gewesen. Zum Glück hatte er sie nicht für ihren guten Geschmack bezüglich Fotografie eingestellt – sonst hätte sie sich gleich einen neuen Job suchen dürfen. Wenigstens war ihr Kaffee gut und konnte Tote aufwecken – oder ihn abends wachhalten, wenn er länger arbeitete. Doch nach ihren fünf Vorschlägen hatte er zähneknirschend beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Schließlich ging es hier um die Zukunft seines kleinen Bruders. Mokuba würde in drei Monaten die Schule abgeschlossen haben und auch wenn sein Name reichen sollte, um ihn die Türen zu sämtlichen Universitäten und Firmen zu öffnen, brauchte er leider eine Reihe von Bildern. Für Bewerbungen, Studentenausweis, Firmenausweis, Visitenkarten, … er selbst würde auch nicht nein sagen, wenn er ein aktuelleres Bild von ihm für den Geldbeutel haben könnte. Erst neulich war er darauf angesprochen worden wie süß sein Brüderchen doch aussähe. Das Bild, das diese Aussage provoziert hatte, zeigte einen zehnjährigen Mokuba, der noch gut drei Köpfe kleiner war als das derzeitige Original.

Genervt öffnete er die nächste Seite und nahm einen Schluck Kaffee, an dem er sich fast verschluckt hätte. Auf den ersten Blick wirkte sie fast schon etwas zu schlicht, auf den zweiten einen Hauch zu seriös. Auf den dritten merkte er, was für einen Ausstrahlung die wenigen Bilder hatten, die man sah. Sie zogen ihn einfach in ihren Bann. Kurz orientierte er sich und schaute im Menü nach, ob es noch weitere Beispiele gäbe, denn ein schwarzer Stuhl in einem weißen Raum, eine Lilie und ein beinahe schon scherenschnittähnliches Porträtbild waren nicht aussagekräftig genug für ihn.

Die Vielfalt der weiteren Arbeiten erschlug ihn. Zu seinem Glück waren auch ein paar einfache Profilbilder dabei, wie er sie für Mokuba wollte. Er schaute nicht nach Preisen, nicht nach dem Namen des Fotografen, sondern klickte sich einfach schnell durch zu dem Kontaktformular. Flink huschten seine Finger über die Tastatur, während er einen Auftrag verfasste. Zufrieden mit sich, überflog er noch einmal alles und schickte es dann ab.

Danach schloss er die restlichen offenen Programme und fuhr seinen Laptop herunter, bevor er ihn einpackte. Vielleicht würde er noch rechtzeitig zu Hause sein, um Mokuba Gute Nacht zu sagen. Das Abendessen hatte er schon wieder verpasst.
 

Der verzweifelte Schrei ihres Bruders riss sie aus ihrer Konzentration. Sie war gerade noch geistesgegenwärtig genug, um die letzten Änderungen an dem Bild, das sie gerade zuschnitt, zu speichern, bevor sie sich vom Tisch wegstieß, aufsprang und den Flur entlang rannte.

„Was? Ist was mit den Kindern?“, keuchte sie, während sie die Türzargen zum Abbremsen nutzte.

„Wie man es nimmt. Claras Magenverstimmung hat sich endlich gelöst“, knirschte ihr Bruder zurück, der sich nicht traute auch nur einen Schritt auf dem weiß gekachelten Boden zu machen. „Könntest du bitte dem Personal Bescheid geben und mir dann ein wenig helfen? Wenn ich schon deine Bälger wickle?“

Hin und hergerissen, ob sie sich ein Lächeln erlauben sollte, suchte sie ihre Haushälterin und kehrte dann ins Badezimmer zurück, wo ihr Bruder es zumindest geschafft hatte ihrer Tochter eine frische Windel und einen sauberen Strampler zum Schlafen zu verpassen. Er selbst würde eine größere Reinigungsaktion brauchen. Wenigstens hatte er Freizeitkleidung an und nicht seinen gewohnten Anzug. Einen kurzen Moment erlaubte er sich seine Nichte und seinen Neffen aus den Augen zu lassen und schenkte ihr einen Blick, der ihr zu verstehen gab, dass es okay war zu lachen. Als tatsächlich ihre Mundwinkel nach oben gingen, sah er sie finster an: „Das kriegst du irgendwann zurück.“

„Und wie bitteschön? Mein Neffe ist bereits erwachsen, falls du das vergessen haben solltest. Hier sind im Übrigen frische Klamotten. Ist Ethan schon gewickelt?“

Er nickte. „Dann können wir ja jetzt all unsere Aufmerksamkeit dir widmen.“ Der Strahl warmen Wassers traf ihn unvermittelt und seine Reaktion brachte Ethan zum Quieken, bevor er sich auf seine wackligen Beinchen stellte und auf seine Mutter zu tapste, dicht gefolgt von seiner gleichaltrigen Schwester, die deutlich glücklicher aussah als noch vor einer Stunde.
 

Erst drei Stunden später fand Martine die Zeit, sich wieder an ihre Arbeit zu setzen. Schon wieder fragte sie sich, wie sie das alles auf die Reihe bekommen würde, wenn ihr Bruder sie nicht unterstützen würde. Ein Gähnen unterdrückend aktivierte sie ihren Computer, der in der Zwischenzeit in den Ruhemodus gewechselt hatte. Doch wirklich zum Weiterarbeiten kam sie nicht, denn kaum hatte sie das Passwort eingegeben, wies sie ein nerviges Blinken in der oberen linken Ecke daraufhin, dass sie eine neue E-Mail hatte. Vermutlich nur wieder Spam, dachte sie, während sie auf das Symbol klickte. Kaum stand ihre Adresse frei zugänglich im Internet, war sie mit Werbenachrichten nur so überhäuft worden. Es lebe das Kontaktformular! Sie wollte die Nachricht schon ungelesen löschen, als ihr Betreff und Absender auffielen. Das konnte doch nicht... Oder etwa doch? Die Hand auf der Maus zitterte leicht, als sie die Nachricht zum Öffnen anklickte.

Doch. Es war tatsächlich der Seto Kaiba, der sie um ein Fotoshooting bat. Weiter unten hatte er die E-Mail-Adresse und Telefonnummer seiner Sekretärin eingefügt, mit der sie alles weitere besprechen sollte. Aber wie war er ausgerechnet auf sie gekommen? Träumte sie schon? Wenn ja, würde das ein unsanftes Erwachen am nächsten Morgen werden und ihre Kinder würden lachen, wenn sie ihre Mutter sahen, mit Tastenabdrücken übers halbe Gesicht. Wie gut, dass sie wusste, dass sie es in dem Alter noch nicht aus Boshaftigkeit taten. Und sie mochte es, wenn sie lachten – sie konnte diesem Geräusch den ganzen Tag lauschen.

Zur Überprüfung kniff sie sich einmal kräftig in den Arm. Nein, es tat weh. Also schlief sie noch nicht. Unsicher überprüfte sie den Absender erneut. Wie gerne hätte sie bei der Sekretärin angerufen und gleich nachgefragt, aber beim Blick auf die Uhr entschied sie sich, das auf den nächsten Tag zu verschieben. Welcher normaler Mensch arbeitete um diese Uhrzeit noch? Und sie würde mit ihrem Bruder sprechen müssen. Das Shooting war schon für nächste Woche gewünscht und nur für einen Tag angesetzt. Nichts, was es rechtfertigte, ihren Kindern zwölf Stunden Autofahrt zuzumuten (ohne Pausen) - zumal sie so schnell keinen Babysitter in Domino bekommen würde. Sie wäre schon froh, wenn sie ein Studio fand in der der Zeit. Würde er es schaffen für drei, nein sie würde es in zwei schaffen müssen, Tage auf Clara und Ethan aufzupassen?

Es war die Chance für sie, aber sie es raubte ihr jetzt schon die Nerven. In Gedanken bereits bei der Vorbereitung schaltete sie den Computer einfach wieder aus, nachdem sie sich die Daten der Sekretärin notiert hatte. Es hatte keinen Sinn mehr in diesem Zustand arbeiten zu wollen. Vielleicht bekam sie so wenigstens mal mehr als drei Stunden Schlaf am Stück.
 

Angestrengt versuchte sie sich daran zu hindern, von einem Bein aufs andere zu springen. Vor Nervosität fiel es ihr schwer ihr sonst so ruhiges Auftreten beizubehalten. Sie hatte erst vor einer Stunde mit Lion gesprochen, der ihr wiederholt versichert hatte, dass alles in bester Ordnung war und sie sich voll auf ihren Job konzentrieren konnte. Allmählich klang selbst er am Telefon gereizt – sie hatte quasi im Zweistundenrhythmus angerufen, um sich zu versichern, dass das Haus noch stand und alle noch lebten.

Dann hatte sie erfahren, dass es sich tatsächlich nur um Porträtaufnahmen handelte, die sie machen sollte – ein kleines Detail, dass ihrer Aufmerksamkeit zunächst entgangenen war. Außerdem war es in der ersten Nachricht so kryptisch umschrieben gestanden, dass sie sich im Gespräch mit seiner Sekretärin innerlich eine Notiz machte, Seto Kaiba einmal beizubringen, wie man Geschäftspost wirklich verfasste. Das konnte sie schließlich auch. Wenigstens würde sie ihn vermutlich nicht sehen, sondern nur seinen Bruder, von dem ihr versichert worden war, dass er sehr nett sein konnte. Sie konnte sich nur annähernd verstellen, was die Sekretärin jeden Tag durchmachen musste, wenn der kleine Bruder des ach so großartigen Seto Kaibas als „nett“ betitelt wurde. Wahrscheinlich war der Typ ein verwöhntes, verzogenes Gör, das dachte, es stände sowieso naturgegeben über allem und jedem. Vielleicht sollte sie der guten Frau einen Monatsvorrat Schokolade von Katze schicken lassen...

Ihre Gedankengänge wurden unterbrochen, als sich die Tür zum angemieteten Studio öffnete. Wenigstens das hatte reibungslos geklappt und sie hatte genug Zeit zum Aufbau ihres Equipments gehabt. Schlagartig war sie ruhig und musterte den jungen Mann, der vorsichtig eintrat, genau. Er war vielleicht sieben Jahre, nein wohl eher acht Jahre jünger als sie selbst und nur noch die schwarzen nach allen Seiten wild abstehenden Haare passten zu den Bildern, die sie vor Jahren in der Zeitung von ihm gesehen hatte. Sicheren Schrittes ging sie auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin.

„Martine?“, fragte der junge Mann, während er ihren kräftigen Händedruck erwiderte. Nicht zaghaft, sondern mit einer Entschlossenheit, die man ihm bei seinem derzeitigen Gesichtsausdruck nicht zugetraut hätte. Allerdings hatte er ihren Namen falsch ausgesprochen.

„Das e ist stumm und die Betonung liegt auf der zweiten Silbe. Aber ansonsten stimmt es. Sie sind Mokuba Kaiba, richtig?“

Es tat ihm sichtlich Leid, dass er sich damit vertan hatte. „Ja.“ Ein Nicken. „Und es stimmt auch, dass ich von Ihnen Fotos für Ihre bald anstehenden Bewerbungen machen soll?“

Wieder ein Nicken.

„Jetzt schauen Sie mich doch nicht so an! Ich fress Sie schon nicht. Im Gegenteil. Wenn Sie weiterhin so schüchtern sind wird das wirklich schwierig für mich. Allerdings brennen mir noch ein paar Fragen auf der Seele.“

Seine Augen wurden größer und sie konnte gut erkennen, was für eine ungewöhnliche Farbe sie hatten. Wenn es ihr nur gelänge, die Aufmerksamkeit des Betrachters später auf diese zu lenken, hätte er sämtliche Stellen ohne weitere Probleme.

„Welche denn?“, wollte er schon etwas selbstbewusster wissen. „Zum Beispiel weswegen ausgerechnet ich angeheuert wurde für diese Aufgabe. Es gibt zwar Kollegen, die höhere Gagen haben, aber ich bin auch nicht gerade billig. Bereits eine Stunde kostet mehr als die meisten ihr ganzes Leben lang für Bewerbungs- und Passbilder ausgeben. Und ihr Bruder war so großzügig mir einen ganzen Arbeitstag zu bezahlen, inklusive Anfahrtskosten.“

„Und Sie sind wirklich Fotografin?“ Mokuba errötete leicht.

„Was sollte ich denn sonst sein?“, konterte sie. Seine Gesichtsfarbe wurde eine Nuance dunkler. Na toll! Das musste sie schnell wieder hinkriegen oder der Beginn der Aufnahmen würde sich verzögern.

„Naja, … ich hatte um ehrlich zu sein einen Mann erwartet.“ Er schien es für sicherer zu halten die Strategie zu wechseln. „Und können Sie bitte aufhören mich zu siezen? Das kommt mir so erwachsen vor - zumal ich Sie ja auch nur mit Vornamen anrede.“

„Einverstanden. Aber nur, wenn du mich auch duzt. Und... so mal unter uns. In der Berufswelt ist es üblich, dass der Ältere eine informellere Anrede vorschlägt.“ Bei diesen Worten hatte sie sich leicht vorgebeugt und ihm tief in die Augen gesehen. Ein schüchternes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Das sagt mein großer Bruder auch immer,...“

„Man sollte auf große Brüder hören. Manchmal wissen sie es wirklich besser. Aber wie gesagt. Nur manchmal. Setzt du dich bitte auf vor die Leinwand auf den Hocker?“ Martine deutete auf besagte Stelle und nahm dann ihre Kamera in die Hand. Das Licht hatte sie schon eingerichtet und auch die Verbindung zu dem Laptop, über den sie später die Bildauswahl machen würde, stand bereits.

„Sie... Du hast auch einen großen Bruder?“ Brav folgte er ihren Bewegungen, mit denen sie ihn bat sich etwas seitlich zu drehen. „Ja. Vier Jahre älter und so besserwisserisch als wären es acht.“ Sie machte die erste Probeaufnahme und kontrollierte kurz. Das Licht stimmte, doch noch war es einfach nur ein netter, junger Mann, den das Bild zeigte. Zeit, ernst zu machen.

„Seto ist sechs Jahre älter.“

„Dann kriegt er bestimmt bald Falten.“

Energisch schüttelte Mokuba den Kopf, konnte aber ein Grinsen nicht unterdrücken. „Falten hat er noch keine. Aber er sieht viel zu selten die Sonne.“

„Also eher der klassische Vampir? Durch den Mangel an UV-Strahlung bleibt seine Haut und er selbst für ewig jung.“

Allmählich verschwand seine Schüchternheit.

„Keine Angst. Ich scheuch ihn an den Wochenenden nach draußen – aber es reicht nie, dass er wirklich braun wird. Neulich waren wir gemeinsam im Park...“ Die Details schienen ihm zu privat. Auch gut. Weiter im Text.

„Das ist jetzt weniger vampirmäßig. Ich hatte schon um meine persönliche Sicherheit gefürchtet, als der Auftrag per E-Mail kam. Aber vor jemandem, der mit seinem Bruder etwas unternimmt, brauch ich wohl keine Angst zu haben. Apropos,... Ich hab gehört, du hilfst ihm auch ab und zu bei seiner Arbeit.“

„Ja. Aber nur soweit es mit der Schule zu vereinbaren ist. Also nicht regelmäßig. Eher bei besonderen Veranstaltungen, wie Turnieren. Dann ist er immer froh darüber, dass er nicht alles allein machen muss.“

„Wahrscheinlich ist er auch ziemlich stolz auf dich, weil er sich so gut auf dich verlassen kann.“ Ihre Worte taten das Übrige. Sie führte das Gespräch noch eine Weile weiter und fotografierte immer mal wieder, doch das eine Bild hatte sie längst im Kasten.

„Möchtest du dir die Bilder mal anschauen? Schließlich musst du dich damit wohl fühlen, wenn durchs ganze Land bald Bewerbungen damit geschickt werden“, brach sie ab, während er neugierig zu ihr hinüber an den Laptop kam. Sie ging mit ihm die Bilder chronologisch vor und sah wie er mit seiner Enttäuschung kämpfte, als er die ersten sah. Er sah auf ihnen nicht schlecht aus, aber wenig überzeugend, zu schüchtern, zu unsicher. Doch seine Miene hellte sich mit der Zeit auf, bis ihm schließlich die Luft wegblieb. Sie waren bei dem Bild angelangt, dass sie hatte erzielen wollen. Dem jungen Mann, der sie vom Display her ansah, merkte man sein Alter an, doch er wirkte entschlossen, erfahren und selbstbewusst, gleichzeitig umgänglich und seine Augen schienen von sich aus zu leuchten. „Wahnsinn!“ Begeistert drehte Mokuba sich endlich zu Martine um. „Das ist es!“

„Ich würde dir aber auch noch gerne die anderen zeigen. Vielleicht sind dort auch noch ein paar gute dabei.“ Sie zwinkerte ihm zu, während sie innerlich strahlte. Wieder einmal hatte sie es geschafft.
 

Nachdem sie sich auf eine Auswahl von fünf Bildern geeinigt hatten, schoss sie noch ein paar Aufnahmen, die er für den Studentenausweis, aber auch seinen Pass würde verwenden können. Sie musste gar nicht mehr zu ihm hinüber sehen, als sie ihm diese zeigte, um zu wissen, wie wenig er von ihnen hielt. „Ich werde nie verstehen, warum man auf den Passbildern nicht lächeln darf“, maulte er ein wenig.

„Läufst du denn immer nur fröhlich lächelnd durch die Gegend?“

„Nein.“

„Siehst du. Durch Bilder, auf denen du einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck hast, wird es leichter dich auch an Tagen, an denen dir nicht nach Lachen zu mute ist, zu erkennen.“

„Aber ich kenne jemanden, der fast immer gelächelt hat. Ein ehemaliger Mitschüler meines Bruders. Joey hat fast immer gelächelt und mich so manches Mal aufgemuntert. Von ihm müsstest du ein lächelndes Passbild machen – denn seine Mundwinkel bekämst du nicht nach unten.“

Ihm fiel nicht auf, wie sie plötzlich erstarrte und sich etwas Trauriges auf ihre Züge schlich. Dafür war er viel zu sehr in seine Erinnerungen vertieft.

„Ich frag mich wirklich, wo er mittlerweile ist. Vermutlich in die Staaten zu seiner kleinen Schwester. Oder er macht mit Yugi Ägypten unsicher – na wohl eher sicher. Yugi ist sein bester Freund und hat ihm Duell Monsters beigebracht. Oder...“, dachte er laut weiter, während Martine ihm eine CD mit den Bildern brannte und gleichzeitig darauf wartete, dass der Drucker die Probeabzüge ausspuckte.

Zum Abschied drückte sie ihm beides in die Hand und wünschte ihm viel Erfolg bei dem, was er in seiner Zukunft erreichen wollte. Mokuba bedankte sich artig, fügte aber noch hinzu: „Wenn du wieder in Domino bist, kannst du dich ja bei mir melden. Dann kann ich dir sagen, wie es ausging.“ Er kramte einen zerknitterten Zettel hervor, auf dem eine Telefonnummer stand, und drückte ihn ihr in die Hand. Sie hatte kaum noch Zeit, ein „Mach ich“ hervorzubringen, da war er auch schon durch die Tür. Vermutlich wollte er so schnell wie möglich seinem großen Bruder, die neuen Fotos zeigen. War sie auch so gewesen in dem Alter? So unentschieden, ob sie schon erwachsen sein wollte, oder doch lieber noch Kind?

Ihr Equipment war schnell wieder abgebaut und in ihr Auto verladen. Es war zwar nur ein schlichter grauer Kombi, aber sie war stolz, mit ihm durch die Gegend fahren zu können. Ihr erstes eigenes Auto und nicht mehr die Limousinen ihres Bruders, bei denen auf dem Fahrersitz meistens ein Chauffeur saß. Anschließend fegte sie noch durch und schloss ab. Den Schlüssel schmiss sie von außen in den Briefkasten und stieg dann in ihren Wagen. Bei einem kleinen Café, das Coffee to Go anbot, hielt sie kurz, um sich mit ihrem Lieblingswachmacher einzudecken, und verließ dann die Stadt. Es war später geworden, als sie sich gewünscht hatte, und nur der Gedanke an ihre eigenen Sicherheit verhinderte, dass sie das Gaspedal durchdrückte, um herauszufinden, wie schnell man die Strecke tatsächlich fahren konnte.
 

Auch wenn es nur Bilder für den Lebenslauf gewesen waren, war dieser eine Auftrag für sie der Durchbruch in Domino. Mokuba war sich nicht zu fein, ihren Namen zu erwähnen, jedes Mal, wenn er für ihre Arbeit ein Kompliment erhielt. Neben Privatpersonen aus der Wirtschaft wurden so auch Modelabels auf sie aufmerksam, die sie nun immer häufiger buchten. Anfangs wurde noch gemurrt über ihre Preise, doch dann stellte man fest, was eine Kampagne mit ihren Bildern tatsächlich monetär bedeutete und plötzlich galten sie als angemessen, wenn nicht sogar günstig.

Martine wiederum hielt Wort und traf sich mit Mokuba, sooft sie in der Stadt war. Mal waren sie Eis essen, mal schleppte sie ihn in eine Buchhandlung. Im zweiten Jahr nahm er sie mit in den Stadtpark zu seinem Lieblingsort mit Seto. Es gelang ihr, ihn alleine auf der Brücke über den kleinen, künstlichen See einzufangen, während er halb flüsterte: „Wir sind viel zu selten gemeinsam hier.“ Als er sie wenige Monate später um Rat fragte, was er seinem Bruder schenken sollte, schickte sie ihm ebendiese Fotografie. Sie begann auch über sich zu erzählen. Was sie sonst noch machte, von ihren Kindern (er schien überrascht), von ihrer Liebe zur Musik, von ihren Gemälden. Als sie ihm die Identität ihres Bruders endlich verriet, war seine Reaktion vergleichsweise harmlos.

„Na und?“, erwiderte er schlicht. „Kann sich doch keiner aussuchen, in welche Familie man hineingeboren wird. Und auch wenn wir uns sehr nahe stehen, würde ich nie behaupten, dass Seto und ich genau gleich sind. Und du scheinst dich von Pegasus auch sehr zu unterscheiden.“

Sie gab ihm Tipps, als er anfing mit seiner Handykamera zu experimentieren, damit er überhaupt mal private Aufnahmen von Seto bekam. Sie beschwerten sich gegenseitig über ihre großen Brüder. Er begleitete sie in einen Kochkurs für die Zubereitung von Meeresfrüchten. …
 

Die in ihrem Zenit stehende Herbstsonne wärmte sie beide, während sie sich an einem kleinen Tisch vor dem Café in der Fußgängerzone nahe der Uni ein Eis schmecken ließen. Martines Arbeit hatte sich an diesem Tag verzögert, weil das gebuchte Supermodel, sich geweigert hatte rechtzeitig aufzustehen und so den Flug nach Domino verpasst hatte. Doch anstatt ihrerseits zu zicken, hatte Martine nur gefragt, wann es weiter gehen würde und sich dann auf den Campus der Universität von Domino begeben. Sie war hauptsächlich auf Wirtschaftsthemen ausgerichtet und hatte nicht viele Studenten, deshalb war es relativ leicht gewesen, Mokuba für die Mittagspause abzupassen. Ihn von einem großen Eisbecher zu überzeugen, hatte danach keinerlei Überredungskunst mehr bedurft.

„Jetzt sag schon. Wie hast du den Sommer verbracht?“, wollte Mokuba wissen, nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten. Er schien auf irgendetwas hinaus zu wollen, wobei sie noch nicht wusste, was es genau war.

„Die ganze Familie war ihm Hotel. Wir haben den Geburtstag der Zwillinge gefeiert und Chef hat sie mit einem Tauchkurs überrascht. Dafür hätte ich ihn erwürgen können! Anfangs bin ich mehrmals pro Tag ins Meer gestürmt, weil ich der Meinung war, dass meine Kinder schon viel zu lange unter Wasser gewesen waren. Aber anscheinend haben sie Kiemen und inzwischen Schwimmhäute. Ansonsten war es ruhig. Lion hat zwischendrin arbeiten müssen, aber er war lange genug draußen, um sich einen Sonnenbrand zu holen. Das sah wirklich klasse zu den roten Hosen aus! Und bei dir?“

„Ich war mit Freunden weg. Seto wollte nicht mit. Hat behauptet, er wäre ungern das fünfte Rad am Wagen. Mir hat er versprochen, dass er sich auch was sucht zum Urlaub machen – aber ich kam nach zwei Wochen wieder und das Personal meinte, er wäre den ganzen Tag drinnen bei seiner Arbeit gewesen.“ Seine fröhliche Stimmung war verschwunden. „Du musst mir helfen, Martine! Dir gehört doch das Hotel und er braucht dringend mal wirklich Urlaub.“

„Erstens nein, zweitens nein und drittens kann ich nicht beurteilen“, entgegnete sie, seinem Hundeblick ausweichend. „Mir gehört das Hotel nicht, sondern Chef, und ich denke wirklich nicht, dass es eine gute Idee wäre, deinen Bruder in die Anlage zu lassen. Er würde vermutlich nach einem Tag durchdrehen und dem Hotel dann die Rehakosten aufbürden.Und das kann ich wirklich nicht zulassen.“ Sie nahm einen langen Schluck ihres Kaffees und überlegte, wie sie ihren Standpunkt noch deutlicher machen konnte. „Außerdem ist da frühestens nächsten Sommer wieder was frei und das, was du mir gerade erzählt hast, klingt so, als ob eine Sofortmaßnahme nötig wäre. Ich kenn in Kanada ein paar sehr lauschige Plätzchen, die auch jetzt noch gutes Wetter haben und gar nicht so weit weg sind von der Zivilisation. Wäre das nicht eher etwas für ihn?“

Energisch schüttelte Mokuba den Kopf. Es war nicht zu übersehen, dass sie ihm auswich. Die Frage blieb nur, wieso? Was machte sie an dem Gedanken, sein Bruder könnte in das Hotel, bei dem sie mitgewirkt hatte, kommen, so nervös? Wenn er sie richtig verstanden hatte, war die Familie eh nicht immer anwesend und man sah nicht, zu welcher Familie es gehörte.

„Eher nicht. War auch nur so eine Idee“, ruderte er zurück. „Magst du dein Eis noch?“

„Ja. Wieso?“

„Weil es gerade am Wegschmelzen ist und ich ihm einen grausamen Tod ersparen will.“ Flink vertauschte er seinen bereits leeren Becher mit ihrem noch halbvollen, bevor sie sich über den Tisch beugte, um die Aktion rückgängig zu machen. Wenigstens hatte er einen großen Löffel von ihrem Eis ergattert. Während sie aufaß, ließ sie ihn nicht mehr aus ihren misstrauischen Augen. Als ob er sich so eine Aktion zweimal an einem Tag erlauben würde.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Meine beiden liebsten Strippenzieher... Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Alistor
2020-09-01T12:17:21+00:00 01.09.2020 14:17
Oh wie schön 😍
So haben sich Martine und Mokuba also kennen gelernt.
Seto ist selbst bei Bewerbungsfotos wählerisch. Das Fotoshooting hast du super beschrieben. So wurden die beiden beste Freunde.
Das Kapitel ist dir sehr gelungen

Antwort von:  flower_in_sunlight
01.09.2020 15:15
Ich laufe gerade von der Nasenspitze bis zu den Ohren rot an! Das ist ne ganze Menge Lob!
Antwort von:  Alistor
01.09.2020 15:42
Lob wem Lob gebührt
Von:  Onlyknow3
2015-10-07T17:34:21+00:00 07.10.2015 19:34
Ein sehr gutes Kapitel, das auch erklärt wie Mokuba auf die Idee kam Seto zu Beurlauben und in dieses Hotel von Joey zu schicken. Mir gefällt wie hier Martine, sich eines besseren belehren lassen muss in Bezug auf Reiche Kinder, weil Mokuba ja so ganz aus dem Klischee heraus fällt was das betrifft. Auch freut es mich das sie durch dieses Shooting mit Mokuba bekannt wird und so immer wieder große Aufträge bekommt. Bin echt neugierig auf das was da noch kommt. Weiter so freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  flower_in_sunlight
09.10.2015 14:58
Vielen Dank.

Eigentlich hätte das Kapitel noch als letzten Absatz eine Nachricht von Martine an Mokuba anhalten sollen (ursprüngliche Idee). Da es aber selbsterkärend ist, dass sie nach Silvester doch zugestimmt hat, endete es eben mit dem Eisklau.
Und ich mag die beiden einfach zusammen, wenn sie Pläne gegen ihre Brüder aushecken. ^^
Von:  Seelendieb
2015-10-07T11:50:35+00:00 07.10.2015 13:50
HOi ho...

Alsoooooooo~~~

Ich werde mir angewöhnen, in Zukunft deine Kapitel nicht mehr zu lesen, wenn ich gerade am Essen bin... WArum?
Ich war sehr fasziniert von der BEschreibung, wie Seot sich einen Fotografen suchte.... Als ich dann jedoch las, dass es sich NUR(!) um Bewerbungsfotos!!! handelt, musste ich anschließend den Monitor meines PC wieder säubern.... Ich lag lachend am Boden!

Tolles Kapi! Der Biss ist wieder da ;)
Antwort von:  flower_in_sunlight
08.10.2015 13:46
Dein armer Monitor! :-D

Freu. Freu. Freu.
Von:  Niua-chan
2015-10-06T17:15:06+00:00 06.10.2015 19:15
Es war schön zu lesen wie die beiden sich kennengelernt haben und es ist interessant wie eng befreundet sie sind. das war vorher noch nicht so deutlich glaube ich.

Antwort von:  flower_in_sunlight
08.10.2015 13:41
Danke.
Sonst wurde von Ihrer Freundschaft immer nur aus der Sicht von Seto oder Chef berichtet - und die beiden wissen das zum Glück nicht so genau.


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