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Hüterin der Maat

von

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Die Vorbereitungen für das Totenfest des Osiris brachten den ganzen Tempel zum Summen. Anath behandelte Priesterinnen, die sich Finger eingeklemmt, Zehen angestoßen und Knöchel verstaucht hatten. Ihre Medizin gegen Kopfschmerzen ging zur Neige, aber sie fand keine Zeit, neue zuzubereiten.

Am Abend vor dem zeremoniellen Prozessionszug glänzte der Tempel wie nach einem kräftigen Regenguss. Priesterinnen hatten die ganze vorige Woche die Reliefs gereinigt und mit vorsichtiger Hand Stellen ausgebessert, an denen Farbe abblätterte. Die Statuen leuchteten in neuer Pracht. Keine Ecken, in denen noch Staub lag, kein Garten, in dem trockenes Laub die Erde bedeckte.

Anath eilte von einer Patientin zur nächsten, aber in den kurzen Atempausen beschlich sie ein unangenehmes Gefühl. Trotz der Geschäftigkeit spürte sie, dass etwas in der Luft lag. Die Maat war aus dem Gleichgewicht geraten. Früher oder später würden sich all die aufgestauten Gefühle in einem Gewitter entladen.

Neith wich nicht mehr von Anaths Seite und beobachtete den Himmel, als könnten ihre Smaragdaugen darin die Zukunft lesen. "Wir können nur warten. Wenn es passiert, müssen wir bereit sein, es im Kampf zu schlagen, bevor es großen Schaden anrichtet."

Der Anblick dieser Katzenpupillen, im hellen Licht zu Stecknadeln geschrumpft, gaben Anath Kraft und beruhigten sie. Neith würde ihr beistehen, egal was geschah, und der Segen von Bastet mit ihr.
 

*

Am Morgen des Festes verließ Anath ihre Praxis mit ihrem Arztkoffer und Neith an ihrer Seite. Da sie keine Priesterin war, gab es keinen Platz für sie in der feierlichen Prozession, die den Sarkophag des Osiris durch die ganze Stadt bis auf den Platz vor dem Tempel führen würde. Ihr blieb nichts anderes übrig als sich unter das Volk zu mischen und mit anderen Zusehern dem Zug durch die Straße zu folgen.

Sie begannen am Nil, denn der Sarkophag war mit heiligem Nilwasser gefüllt, dem Blut des Osiris, und arbeiteten sich die Hauptstraße hinauf. Die Farben auf dem Deckel leuchteten in der Sonne. Krone, Kragen und Armreifen des Reliefs strahlten in sattem Gold. Osiris trug in der typischen Darstellung ein weißes Gewand, in den gekreuzten Händen Krummstab und Dreschflegel und auf dem Kopf die weiße Krone, geschmückt mit Federn und einer Sonnenscheibe. Seine blasse Haut erinnerte an die Binden, in die Mumien gewickelt wurden.

Imentet führte die Prozession mit traumwandlerischer Sicherheit an. Jedes Jahr seit ihrer Amtsübernahme hatte sie dieses Fest geleitet, um an den Tod des Osiris zu erinnern. Jeder Schritt, jede Geste und jedes Wort musste ihr in Fleisch und Blut übergegangen sein.

Als Anath sie blinzelnd beobachtete, glaubte sie trotzdem, einen Anflug von Erschöpfung und Überdruss hinter der dicken Schminke zu erkennen. Die Hohepriesterin wirkte abwesend und folgte dem vorgeschriebenen Ablauf nur halbherzig.

Die Menge wuchs und die Luft bebte von den Gesängen der Priesterinnen. Die schwarze Haut der Nubier, die den schweren Sarkophag trugen, glänzte vor Schweiß. Auf halbem Weg zum Tempel begann Neith, Anath am Bein zu kratzen. Sie hob die Katze auf die Schulter, um sie aus dem Labyrinth der hektischen Sandalen zu retten. Jedes Wort, mit denen die Priesterinnen Osiris anriefen, fuhr wie ein Peitschenschlag aus dem Himmel herab.

Vor dem Senmet-Tempel würde die Hohepriesterin den Segen des Osiris über die Stadt und den Tempel sprechen, bevor sie alle Anwesenden zu Bier und Speise einlud. Langsam erklomm sie die sandgelben Stufen. Priesterinnen ordneten die Falten ihres zeremoniellen Gewandes, damit sie sich zu der Menge umdrehen konnte. Als sie die Arme hob, bis zu den Ellbogen von goldenen Armreifen geschmückt, war es, als schwebe der prunkvolle Sarkophag des Gottes, der auf dem Treppenabsatz über ihr stand, zwischen ihren Armen.

Ihre ersten Worte leuchteten wie Gold und ihre melodische Stimme erreichte mühelos auch die letzten Winkel des Platzes. Sie hieß die Anwesenden willkommen und hob den Blick zum Himmel.

"Sie ist nicht mehr sie selbst. Die Verzweiflung hat die Frau namens Imentet verschluckt. Isfet kommt."

Neiths Warnung drang als ein körperloses Raunen an Anaths Ohr. Sie schluckte und schob sich durch schwitzende Körper nach vorne, bis sie direkt vor den Stufen stand.

Die Hohepriesterin rief mit den rituellen Worten die Ermordung des Osiris in Erinnerung und bat im Namen der Stadt und des Tempels um den Schutz des Gottes, dessen heiliges Blut im Nil floss. Die Worte und Sätze fielen in nahtloser Folge von ihren Lippen, begleitet von den rituellen Gesten, aber mitten in der langen Rede veränderte sich etwas. Imentet verstummte.

Anaths Herz setzte einen Schlag aus. Sie umklammerte den Griff ihres Koffers so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Neith wisperte etwas in ihr Ohr, aber sie hörte nur fernes Rauschen.

In dem Moment, in dem die Dunkelheit aus der Gestalt der Hohepriesterin herausbrach, versengte ihr Amulett die Haut mit hellem Schmerz und sie stürzte vor, zwischen den Reihen der Priesterinnen hindurch. Bevor irgendjemand etwas sagte oder einen Finger rührte, hatte sie bereits die Stelle erreicht, an der Imentet gerade noch gestanden war.

Dort räkelte sich ein Knäuel aus unmenschlichen Gliedmaßen, Zungen, gewundenen Hörnern und gezackten Schwänzen, die hin und her peitschten. Anath zwang sich, es zu ignorieren, und trat in den schwarzen Nebel, der das Ding wie ein Mantel umgab. Die Welt geriet aus den Angeln und Übelkeit drehte ihr den Magen um. Sie presste die Lippen zusammen und setzte weiterhin einen Fuß vor den anderen, bis sie wieder klar sehen konnte.

Der Anblick verschlug ihr den Atem.

"Isfet, das Chaos." Neith sprang von ihrer Schulter. Die Nadelstiche ihrer Krallen auf nackter Haut gab Anath etwas von ihrer Geistesgegenwart zurück. Selbst ohne die Erklärung spürte sie, wie mächtig dieses Ding war, das aus Imentets Verzweiflung gewachsen war.

Zu ihrer Übelkeit gesellte sich bittersüßer Schmerz. Isfets Auftauchen bedeutete, dass die Hohepriesterin die Kontrolle verloren hatte. Zähneknirschend schob Anath den Knoten des Schmerzes beiseite, um der geballten Verzweiflung und zerstörerischen Kraft entgegenzutreten. Darin zog sich alles zusammen, was in den magischen Ritualen des Totenkultes an Ekel, Schrecken und Zweifel entstanden war.

Anath hatte keine Wahl als dagegen anzukämpfen. Sie schluckte die Übelkeit herunter und öffnete ihren Koffer, um sich zu bewaffnen.

"Gehen wir." Neith trippelte bereits den steinigen Weg entlang, der sich vor ihnen durch die Landschaft schlängelte.

"Danke", murmelte Anath. Erklärungen waren nicht mehr nötig.

Seite an Seite wanderten sie durch die Wüste, die sich bis an den Horizont erstreckte. Ein paar verkrüppelte und ausgetrocknete Stauden und Büschel zähen Grases säumten ihren Weg, zweifellos bitterer als alles, was Anath je als Arznei verwendet hatte. Die Luft flimmerte. Die Sonne brannte auf Anaths schwarzen Locken.

Nach wenigen Schritten gesellten sich Gestalten zu ihnen, die am Wegrand lagerten, seltsame Erscheinungen, halb Mensch und halb tierähnliche Wesen. Manche besaßen die Köpfe niederer Tiere, riesige Froschmäuler, spitze Reiherschnäbel, fast so lang wie Anaths Arm, oder Käferpanzer mit zarten Flügeln anstelle der Ohren. Andere besaßen zwar menschliche Gesichter, aber willkürlich zusammengewürfelte Körperteile, große gelbe Hühnerklauen, Rattenschwänze, die an Nacktschnecken erinnerten, klauenbewehrte Pfoten mit struppigem Fell, breite Elefantenbeine, schnüffelnde und rotzverkrustete Rüssel.

All diese Gestalten streckten verschiedene Arme, Klauen oder andere Gliedmaßen nach Anath aus, riefen sie mit krächzenden, heulenden und klagenden Stimmen zu sich. Sie wussten, dass sie als Ärztin überragende Fähigkeiten besaß. Sie bettelten um ihre Aufmerksamkeit und heilende Berührung.

An den meisten erspähte sie irgendeine Verletzung oder Krankheit, verkrustete Wunden, Öffnungen, aus denen stinkender Eiter trat, oder Ausschläge, die sie entstellten. Manche besaßen seltsame Eigenschaften, die sie nicht einordnen konnte. Einem vogelähnlichen Wesen wuchsen Dornen aus den Augenhöhlen. Einem lockigen Mann lief schlammiges Wasser aus dem linken Armstumpf.

Neith trippelte unbeeindruckt voran. "Sieh nicht hin."

Anath konnte nicht anders. Alles in ihr schrie und drängte sie, diesen armen Gestalten zu helfen, egal wie, selbst wenn sie nicht wusste wie. Gleichzeitig verschmolzen ihre abnormen Erweiterungen und Erscheinungsbilder miteinander. Die Bilder legten sich übereinander und verblassten vor ihren Augen.

Die Ohnmacht betäubte sie.

Sie hatte unter den besten Ärzten im Haus des Lebens gelernt. Es gab nichts, das sie nicht behandeln konnte, aber der Anblick dieser bizarren Verformungen trieb sie fast in den Wahnsinn. Sie wusste, dass alle litten, dass sie sich vor Schmerz krümmten.

Trotzdem musste sie den Blick abwenden und sich zwingen, vorbeizugehen.

"Sieh nicht hin. Mach die Augen zu."

"Ich kann nicht", zischte sie gereizt und schlang trotz der Hitze die Arme um den Oberkörper. Die Geste half gegen das Gefühl, in tausend Stücke zu zerspringen.

"Komm, gleich sind wir da."

Neith hatte Recht. Auf einmal standen sie vor einer Tür, die mitten aus dem Sand aufragte. Dunkles Holz, verziert mit kunstvollen Schnitzereien. Dergleichen hatte Anath noch nie gesehen. Vorsichtig trat sie näher und strich mit der Hand über die unregelmäßige Oberfläche. Das brennende Verlangen, den Leidenden hinter ihr zu helfen, ebbte ab.

"Weißt du, was dahinter liegt?"

Neith betrachtete die Tür lange, bevor sie antwortete. "Vielleicht Imentet."

Anath sog zischend die trockene Luft ein. "Ist sie noch am Leben?"

"Ich weiß es nicht."

Die Ärztin warf die schwarzen Locken zurück und straffte sich. Wenn Neith etwas nicht wusste, gab es noch Hoffnung. Sie musste einfach glauben, dass Imentet irgendwo auf sie wartete.

"Gut. Holen wir sie."

Damit stieß sie die Tür auf, Skalpell in der linken Hand.

Dahinter lag eine riesige Halle in staubiger Dämmerung, durchsetzt von mächtigen Säulen und menschenleer. Vorsichtig trat Anath ein und sah sich um. Farbige Bilder der Götter und ihrer Geschichten bedeckten die Säulen vom Sockel bis zur Decke, die so hoch war, dass sie im Schatten verschwand. Die eckigen Gestalten verrieten einen alten Stil. Durch die hohen schmalen Fenster drang blasses Licht ein und zeichnete Streifen auf die Steinfliesen.

Anath wagte kein einziges Wort. Die einzigen Geräusche, die die zeitlose Stille durchschnitten, waren ihre eigenen Schritte.

"Wir sind nicht allein."

Bereits vor Neiths Warnung hatte sie die Bewegung erspäht. Im breiten Mittelgang, der hinter den Fenstern wieder in staubiges Dunkel getaucht war, erhob sich etwas Helles und kam näher.

Nach und nach schälte sich ein riesiger weißer Löwe aus den Schatten. Mit langsamen Schritten trottete er heran und setzte sich vor dem ersten Lichtstreifen auf die Fliesen. Sein Kopf mit der wilden Mähne verschwand fast in der Dunkelheit des Gewölbes. Sein Schwanz zuckte vor wie ein weißer Blitz. "Wer stört mich bei meinem Mittagsschlaf?"

Anath schluckte, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.

"Ein Mensch ... Oh, ihr haltet euch für so wichtig, ihr glaubt an eure Kraft, aber ihr wisst nicht, wie klein ihr seid vor wirklicher Macht." Die tiefe Stimme dröhnte in ihren Ohren und bebte in ihrer Brust. Als er das Maul in einem endlosen Gähnen aufriss und die gelblichen Zähne eines Raubtiers zeigte, lief ein kalter Schauer Anaths Rücken herunter. "Nun sag schon, was gibt dir das Recht, hier zu sein, hmm?"

Der Schweiß in ihrem Nacken und unter ihren Achseln war erkaltet und fühlte sich an wie Eis. "I-ich ..." Mühsam räusperte sie sich. "Ich suche Imentet. Ich muss sie zurückholen."

Der weiße Schwanz zuckte hin und her. "Die kleine Priesterin? Sie ist längst verschwunden."

Einen Moment lang wurde Anath schwarz vor Augen. Mit aller Kraft hielt sie sich aufrecht. Nein, das akzeptierte sie nicht.

"Aber nun zu dir, Kind ... Ich glaube, du bist nicht so schlimm wie die anderen. Ja, du hast mehr Substanz. Das gefällt mir." Ein tiefes Brummen gesellte sich zu den Worten. Die scharfen Augen der Raubkatze verengten sich wie in einem Lächeln. "Ich habe mich entschieden. Ich werde dir einen Wunsch erfüllen. Was wünschst du dir am meisten?"

Anath starrte ihn an. Neith drückte sich stumm an ihre Seite, aber sie bemerkte die Katze nur flüchtig.

"Komm, keine Scheu. Ich meine es ernst. Ihr habt doch alle etwas, das ihr wollt, obwohl ihr genau wisst, dass ihr es nicht haben könnt. Was ist dein Wunsch?"

Der Anblick der spitzen Eckzähne hatte ihre Gedanken gelähmt. Gleichzeitig erinnerte sie sich an die schrecklichen Gestalten, die ihren Weg gesäumt hatten. Der Löwe besaß echte Macht, die ihre Fähigkeiten weit überstieg. Er könnte sie zwischen seinen langen Krallen zerfetzen oder auf einen goldenen Thron heben.

Die Versuchung war groß. Aber in dem Moment stieg Imentets Gesicht aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auf, wie sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Die großen dunklen Augen, die so unschuldig wirken konnten, und ihre bronzene Haut, bevor die Erschöpfung sie gezeichnet hatte. Ihr unbeugsamer Blick. Sie brauchte diese Imentet.

Ihre Lungen füllten sich mit kalter Luft als hätte sie lange Zeit den Atem angehalten.

"Gib mir die Hohepriesterin zurück!"

Der Löwe legte die weißen Ohren an und duckte sich.

Hastig ging Anath in die Knie und fasste ihre Messer fester, obwohl sie wusste, dass sie kaum etwas ausrichten würde. Neith stieß ein leises Fauchen aus.

Aus dem halb geöffneten Maul knurrte der Löwe sie an, bevor er sich heftig schüttelte und die Mähne verschwand. Stattdessen wanden sich zwei geriffelte Hörner aus seinem Schädel. Anath hielt die Luft an. Einen Moment lang sah die weiße Löwin sie mit diesem Blick an, eher sanft als bedrohlich. Im nächsten zerfiel sie zu Asche, die ein heftiger Windstoß durch die Halle wirbelte.

Anath musste husten. Als sie wieder aufblickte, waren sowohl Staub als auch Halle verschwunden.

Blinzelnd versuchte sie, die Dunkelheit mit ihrem Blick zu durchdringen. In der Nähe erkannte sie dumpfen goldenen Schimmer und das Glitzern heller Edelsteine auf Sarkophagen, die wie verschiedene Götter geformt waren. Die Stille lastete auf ihren Ohren als wäre sie taub geworden, eine andere Stille als vorher in der hohen Halle. Die diamantenen Augen der toten Götter schienen sie zu beobachten.

Sie warf einen Blick zu Neith, die ihn aus tiefen grünen Augen erwiderte. "Du bist stark geworden."

Anath seufzte nur. "Es geht mir nicht mehr um die Maat. Nur um sie."

"Solange es dir Kraft gibt, ist egal, wofür du kämpfst."

Anath nickte. Alles war gesagt. "Ich muss alleine weiter."

Die schwarze Katze setzte sich und legte den Schwanz sorgfältig über die Vorderpfoten. Ihr Fell verschmolz mit den Schatten, nur die grünen Augen strahlten ein unheimliches Licht aus. "Ich weiß. Du hast dich entschieden, mich zurückzulassen. Das ist der letzte Schritt."

"Es tut mir leid."

"Geh."

Anath ging ohne sich umzublicken.



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