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Hüterin der Maat

von

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"Sie wusste, dass ich ihr meine Hilfe anbieten würde. Als sie ihr Ziel erreicht hat, war sie nicht im Geringsten überrascht."

Anath saß auf dem Teppich ihres Schlafzimmers und streckte die Beine. Eine Schriftrolle glitt ihr aus den Fingern und rutschte zurück auf den Haufen medizinischer Abhandlungen und Handschriften, die sie im letzten Monat zusammengetragen hatte. Ihr Schreibtisch quoll ebenfalls über vor Papyri.

Auf der Bettkante saß eine schwarze Katze und beobachtete sie aus smaragdenen Augen. "Ärgert es dich nicht, von ihr manipuliert zu werden?"

Blinzelnd sah Anath auf und strich sich schwarze Locken aus der Stirn. "Nein ... Nein, ich hatte eher Mitleid mit ihr. Zweifellos hatte sie auch das geplant, aber ich konnte ihr nicht böse sein."

Neiths Schwanz peitschte hin und her. "Wenn das so ist, gibt es ja kein Problem."

Anath seufzte. "Ich glaube nicht, dass die üblichen Methoden in diesem Fall angemessen sind. Immerhin ist sie die Tochter der Totengötter!"

Für einen Moment antwortete Neith nicht. Sie leckte sich in katzenhafter Geste über die Lippen und gähnte ausgiebig. "Selbstverständlich musst du höhere Magie auspacken. Keine Sorge, ich helfe dir. Dafür bin ich ja da."

Sobald die Worte fielen, atmete Anath auf. "Danke, Neith. Du wirst es nicht bereuen."

Die schwarze Katze zeigte sich unbeeindruckt. Anstatt zu antworten begann sie, mit der kleinen rosa Zunge ihre Pfoten zu lecken. Trotzdem folgte ihr Blick der Ärztin, die einen Papyrus nach dem anderen durcharbeitete und sich Notizen machte. Als das Licht des Tages schwand, legte Anath die Wachstafel beiseite und schob das Material halbherzig zu Stapeln zusammen.
 

*

Zitternd betrat Anath ihre Praxis und schlug die Tür hinter sich zu. Neiths Ohren zuckten, aber die Katze erhob sich nicht von ihrem Platz auf dem Schreibtisch. Sie thronte zwischen Büchern und Papyri als beherrschte sie allein das Durcheinander, das in den letzten zwei Monaten dort entstanden war.

Auf jeder anderen Oberfläche und sogar am Boden standen Bronzeteller, in denen Bienenwachskerzen munter vor sich hin brannten und einen warmen Duft verströmten. Flüssiges Wachs sammelte sich in den Tellern.

"Wie kann es sein, dass sie auf keinen einzigen Zauber angesprochen hat? Ist sie mit einem Fluch belegt?"

Neith starrte sie aus unergründlichen Augen an. Anath hatte längst aufgegeben, Erklärungen oder Meinungen aus der schwarzen Katze herauskitzeln zu wollen. "Als Hohepriesterin steht sie unter Isis' und Osiris' Schutz."

"Ich weiß!" Zischend fuchtelte Anath mit beiden Händen in Richtung der Kerzen. "Sie ist so ungeduldig! Ich wünschte, ich müsste nicht auf diese altmodische Methode zurückgreifen."

"Anath, mir gefällt auch nicht, was du tust. Aber du hast dich dafür entschieden. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Zweifel."

Die Ärztin seufzte. Wie immer drang Neith mit ihrem messerscharfen Verstand und dem Blick eines Adlers ohne Umwege zum Kern des Problems vor. Anath konnte ihre Sorgen, ihren Instinkt als Ärztin nicht unterdrücken, aber sie konnte sich darauf konzentrieren, so sorgfältig und vorsichtig wie möglich zu arbeiten.

Als die Kerzen bis auf Stümpfe abgebrannt waren, kratzte sie das Wachs zusammen und formte es zu einem großen Klumpen. Auf einer Ecke des Tisches knetete sie den Klumpen mit beiden Händen, arbeitete vier Gliedmaßen und einen Kopf heraus. Mit der Geierfeder aus ihrem Instrumentenkoffer ritzte sie ein Anch in den Bauch.

"Was soll das sein? Ein Seemannsknoten?"

Sie warf Neith einen drohenden Blick zu und knetete die Linien zurück in den Bauch, bevor sie verbissen von vorne begann.

Erst der dritte Versuch blieb von Neiths Kritik verschont. Anath hatte das vage Gefühl, dass ihr Haustier es insgeheim genoss, sie aufzuziehen, aber da sie nichts von feliner Mimik verstand, blieb es dabei.

"Würdest du dich ausnahmsweise dazu herablassen, mir mit dem Spruch zu helfen?", presste sie schließlich heraus.

Neith blinzelte und setzte sich auf, den Schwanz sorgfältig über die Vorderpfoten gelegt. "Ausnahmsweise."

Wenige Momente später standen alle Utensilien an Ort und Stelle. Anath kniete in der Mitte ihrer Praxis, die schwarze Katze wie ein Schatten an ihrer Seite. Sie hob die Wachspuppe mit beiden Händen über den Kopf und holte tief Luft.

Bald füllten ihre Worte den Raum und die Luft verdichtete sich zur Gegenwart der Götter. Respektvoll und mit klingender Stimme sprach Anath die Namen aus, die für den Gebrauch in Zaubersprüchen und Gebeten festgelegt waren. Die Kerzen flackerten, obwohl weder Tür noch Fenster offen standen.

Bereits nach der ersten Anrufung fühlte Anath die Galle in der Kehle, aber sie schluckte und fuhr fort. Das Amulett bebte auf ihrer Haut. Neith hatte Recht. Sie musste zu Ende bringen, was sie angefangen hatte.
 

*

Im Schatten vor den Toren atmete Anath tief durch und wartete einen Moment, bis das Pochen in ihrer Brust nachließ. Als sie einen Schritt nach vorne machte, um anzuklopfen, gaben ihre Knie fast nach.

Aus den Wohnräumen der Hohepriesterin drang ein Laut, der sowohl Einladung als auch Frage bedeuten konnte. Anath schob das rechte Tor einen Spalt auf und trat ein. Dicke Schwaden Weihrauch lagen in der Luft und zwangen ein Husten aus ihrer Kehle herauf. Verstohlen hielt sie eine Hand vor den Mund und durchquerte das prunkvoll eingerichtete, aber leere Wohnzimmer.

"Anath!"

Die Ärztin eilte durch den rechten Durchgang in die Schlafkammer. Zwischen weiten Laken und unzähligen Polstern lag Imentet. Hinter dem missbilligenden Ausdruck verbargen sich Schmerz und Erschöpfung in den Linien ihres Gesichtes. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn und ihr Haar war strähnig.

Anath fiel an ihrer Seite auf einen Stuhl. "Hohepriesterin! Welche Krankheit hat Euch befallen?"

Ein scharfes Zischen entwich Imentets Lippen. "Du wagst noch, zu fragen?"

Natürlich. Anath sackte zusammen und barg das Gesicht in den Händen. Sie wagte nicht, dem Zorn der Hohepriesterin auch nur mit einem Blick zu begegnen. Trotzdem spürte sie die Dunkelheit, die sich um das Bett der Kranken zusammenzog. Neith hatte Recht gehabt, aber der Fehler lag bei ihr, bei Anath allein.

"Es tut mir leid." Die Worte kamen so schwach, dass der Weihrauch sie zu schlucken schien.

"Ich will keine Entschuldigungen." Imentet seufzte, Zeichen ihrer großen Müdigkeit. "Ich will, dass du zurücknimmst, was du angerichtet hast. Nicht mehr und nicht weniger."

Anath biss sich auf die Unterlippe. "Ihr seid gütig ..."

Ungesagtes schwebte zwischen ihnen in der dicken Luft. Anath wagte nicht, Imentet anzusehen, aber sie spürte, dass die andere verstand.

"Nicht mehr und nicht weniger."

Kein Zweifel. Dies war nicht der Moment für Fragen. "Ja, Hohepriesterin."

Ohne ein weiteres Wort holte Anath ihren Instrumentenkoffer, packte einige Arzneien gegen Bauchschmerzen ein und begann mit der Arbeit. Wie erwartet hauste ein besonders hartnäckiger Dämon im Bauch der Hohepriesterin, unersättlich und zerstörerisch. Wenn sie nur daran dachte, dass ihre Wachspuppe ihn dorthin verfrachtet hatte, kam Anath die Galle hoch.

Die ganze Nacht kämpfte sie gegen den Dämon an, verlassen von Re, nur mit eigener Kraft. Mit dem ersten Morgenlicht legte sie eine Atempause ein, öffnete die Fenster und wedelte den letzten Weihrauch hinaus in die frische Brise.

Imentet war in einen fiebrigen Schlaf gefallen, zuckend und unruhig, aber die ersten Sonnenstrahlen weckten sie. Müde hob sie den Kopf und blinzelte. "Ist die Nacht endlich vorbei?"

"Ja ... Re ist zurückgekehrt." Anath zwang sich zu einem erschöpften Lächeln. "Es sieht so aus als wäre der Dämon geflohen. Ihr seid außer Gefahr."

Ein erleichterter Seufzer entfloh der schwachen Brust. Sie schwitzte immer noch, aber die feuchten Umschläge hatten das Fieber eindeutig gesenkt.

Nach und nach sammelte Anath ihre Utensilien zusammen, die im ganzen Zimmer verstreut lagen, und schloss ihren Koffer. Sie hielt auf den Durchgang zum Wohnzimmer zu, als die leise Stimme der Hohepriesterin sie zurückhielt.

"Bleib."

Gehorsam kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück. In den Augen der Hohepriesterin lag nur ein schwacher Schimmer der stählernen Kraft, mit der sie sich zu anderen Zeiten umgab. Stattdessen leuchtete daraus eine überschäumende Dunkelheit, ein Licht schwärzer als die Nacht, die gerade gewichen war.

Anath lehnte sich vor und verschränkte die Arme auf der Decke. Imentets Hand fand ihre und berührte sie zaghaft. Die Ärztin rührte sich nicht. Endlich erlaubte sie sich, die Augen zu schließen. Das Zwitschern der Vögel aus dem Garten verblasste.
 

*

Das leise Prasseln hatte sie früh geweckt. An diesem Morgen stand Anath an der offenen Tür zum Hof und hob die Hände in einer wortlosen Geste des Dankes zum wolkenverhangenen Himmel. Sopdet hatte Regen nach Kemet geschickt, das beste Geschenk überhaupt. Damit hatte die Jahreszeit begonnen, in der der Nil über die Ufer trat. Bereits bei der Vorstellung des fruchtbaren Schlamms auf allen Feldern musste Anath lächeln.

Selbst Neith suchte ihre Nähe häufiger und schmiegte sich an sie, wann auch immer Anath sich nicht bewegte. Als sie die Katze darauf ansprach, dass sie Regen eigentlich verabscheute, hielt diese nur kurz beim Lecken ihrer Pfote inne. "Verabscheuen? Solang ich nicht nass werde, liebe ich den Regen. Er ist Träger der Fruchtbarkeit."

Anath schüttelte nur den Kopf. Selbst Krankheiten und böse Geister gewährten der Priesterschaft eine Pause.

Gegen Mittag ließ die Hohepriesterin sie rufen. Die Ärztin lief leichtfüßig durch die Korridore, ausnahmsweise ohne Instrumentenkoffer und ungerührt angesichts der dicken Wände und des spärlichen Sonnenlichts. Als eine schneidende Stimme sie in das Büro der Hohepriesterin rief, wich die gute Laune allerdings einer düsteren Vorahnung.

Imentet thronte auf ihrem vergoldeten Sitz wie die Tochter der Göttin, die sie war. In ihrem Blick lag weder Fröhlichkeit noch Vergeben. Sie hatte nur wenige Tage gebraucht, um sich völlig zu erholen, und wirkte bereits, als hätte es den Dämon in ihrem Bauch nie gegeben. Ihr Haar glänzte wie der Panzer eines Skarabäus und ihre dunklen Augen durchbohrten Anath mit gezielten Lanzenstichen.

Sie verbeugte sich tiefer als gewöhnlich. "Ich stehe zu Euren Diensten, Hohepriesterin."

"Das hast du immer, Anath, aber es hat nicht gereicht."

Anath verkniff sich die Frage, die ihr auf der Zunge lag, und fixierte einen Punkt auf dem Teppich vor ihren Füßen.

"Ich habe dich um etwas gebeten und du hast zugestimmt, mir zu helfen, oder?"

"Ja, Hohepriesterin."

"Wie viel Zeit ist vergangen, seit ich dich damit beauftragt habe?"

Anath leckte sich über die Lippen. Ihr Ton ließ keinen Zweifel zu, trotzdem verstand sie nicht, welche Anklage Imentet gegen sie erhob. "Etwas über zwei Monate, Hohepriesterin."

Sie hörte das Nicken in Imentets nächsten Worten. "In all dieser Zeit konntest du keinen zufriedenstellenden Weg finden, meiner Bitte nachzukommen. Im Gegenteil, dein letzter Versuch hat mir sogar geschadet!"

Anath senkte den Kopf. Sie wusste, dass das Desaster mit der Wachspuppe eine Schande für jeden Arzt bedeutete, aber diesen Vorwurf hatte sie nicht erwartet. Die Hohepriesterin wusste besser als alle anderen, dass niemand die Entscheidungen der Götter voraussagen konnte.

Das Leinen ihres weiten Rockes raschelte, als Imentet sich erhob. "Du bist nicht nur als Ärztin gescheitert."

All das, was sie mit diesen Worten nicht sagte, brannte lichterloh in ihrem Blick. Anath hatte sie als Vertraute, als Freundin enttäuscht. Sie hatte Kräfte entfesselt, die sich gegen die Hohepriesterin und die Frau gerichtet hatten. Sie hatte ein unverzeihliches Verbrechen begangen. Selbst dass sie ihr nachher das Leben gerettet hatte, wog diese Wahrheit nicht auf.

"Es tut mir leid, Hohepriesterin." Sie holte tief Luft. "Ihr seid die Tochter der Isis." Imentet konnte sie bestrafen, wie sie wollte, aber sie war ein Kind der Totengötter. Daran konnte selbst Anath nichts ändern.

Ein leiser Seufzer streifte ihre Ohren. Anath stockte der Atem, aber später bekam sie Zweifel, ob sie richtig gehört hatte.

"Ich werde dich nicht entlassen, denn dieser Tempel braucht seine Ärztin. Aber du wirst keinerlei Versuche mehr unternehmen, die mir oder irgendjemandem unter diesem Dach schaden könnten. Hast du das verstanden?"

"Ja, Hohepriesterin."

Mit letzter Kraft hielt Anath sich aufrecht, bis Imentet sie mit einer müden Geste entließ. Dann eilte sie zu den Toren, schlüpfte hinaus und lief durch den menschenleeren Korridor.

Erst zwei Ecken weiter blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen, und drückte die Stirn gegen den kühlen Stein. Imentet war ganz Hohepriesterin der Isis, aber alles an ihr hatte nach nur mühsam kontrollierter Dunkelheit gerochen. Nach dem kleinen Lichtblick, den die Möglichkeit einer magischen Heilung geöffnet hatte, war erneute Enttäuschung gekommen und hatte sie mit Anaths Hand ins Gesicht geschlagen. Kein Wunder, dass Verzweiflung ihr Ka zu verschlingen drohte.

Anath wollte sich nicht ausmalen, was das Kippen des Gleichgewichts zwischen Maat und Isfet für den Tempel und ganz Kemet bedeuten würde. Aber sie begann zu ahnen, dass sie keine andere Wahl hatte.

Unter ihrem Kleid vermischten sich das Pulsieren ihres Amuletts und das Pochen ihres Herzens, bis sie kaum mehr zu unterscheiden waren.



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