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Angel of Ashes

Wenn Engel die Welt beherrschen
von

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Widerstand bis zum Äußersten

Rosa brachte sie in ein wirklich hübsches Zimmer, das beeindruckend hell und freundlich aussah, obwohl die Wände aus Felsen gehauen waren und sich wie eine Grotte wölbten. Das Bett war sehr breit und mit warmen Violetttönen bezogen worden. In einer Ecke stand eine Truhe, die aussah, als ob sie mal zu einem Schiff gehört hätte. Sogar ein Tisch mit Stühlen war bereit gestellt worden. Sheena konnte aber nicht mehr die Augen von dem Bett wenden. Es war Jahre her, dass sie ein Bett gesehen hatte und noch länger, dass sie die Möglichkeit hatte, ein solches zu nutzen.

Rosa lachte leise.

„Ja, das ist schon ein Anblick. Vielleicht solltest du es sofort ausprobieren und wenn du ausgeruht hast, wird bestimmt auch der Rest deiner Gruppe da sein.“

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte Sheena, als sie die Erkenntnis traf, dass sie ihre Freunde ganz vergessen hatte. Sofort trat sie ans Fenster und sah dem Horizont entgegen. Natürlich wusste sie nicht, ob sie in die richtige Richtung schaute, aber ihr Herz schlug wieder ruhiger.

Rosa stellte sich neben sie.

„Seid ihr eine große Gruppe?“

Sheena wandte nicht den Blick vom Himmel.

„Kommt drauf an, was du als groß bezeichnest. Wir waren einige Frauen, ein paar Männer und Kinder.“

„Das ist erstaunlich!“

Sheena wandte sich nun doch stirnrunzelnd um.

„Was meinst du damit?“

„Es ist selten, dass sich Gruppen so erfolgreich durchschlagen. Meist sorgen Hunger und Durst, sowie die ständige Angst dafür, dass die Menschen nicht lange zusammen bleiben können. Eure Gruppe ist fast schon riesig.“

„Warst du etwa alleine?“ Sheena gab der Frage eine bissige Note, doch sie interessierte sich tatsächlich für Rosas Geschichte.

„Nein, meine Schwester war bei mir. Doch bevor Michael mich fand, hatten die Gefallenen uns gefunden. Ich konnte mich verstecken, Ruby starb.“

Sheena fröstelte es. In all der Zeit, in der sie Tod und Grauen erlebt hatte, konnte sie noch immer so etwas wie Trauer und Leid empfinden, während andere ihre Gefühlsregungen auf körperliche Bedürfnisse und Angst reduziert hatten.

„Das tut mir leid.“ Und sie meinte es tatsächlich ernst.

Rosa lächelte traurig. „Danke.“ Sie räusperte sich und sah wieder aus dem glaslosen Fenster.

„Am Anfang war es schier unmöglich zu ertragen, dass ich Ruby verloren habe, so kurz bevor ich gerettet worden war. Ich habe mich so sehr gegen die Engel und ihre Mission gewehrt, dass ich mich fast zu Tode gehungert habe.“

Fasziniert beobachtete Sheena dieses kleine Persönchen mit dem runden Bauch. So sehr sie diese Menschen hier verachtete, Rosa schien vielleicht doch kein willenloses, dummes Geschöpf zu sein. Sie hatte wahrscheinlich genauso mit ihrem Schicksal gehadert wie Sheena dies jetzt tat. Aber einen guten Ausweg für sich gefunden. Sie wirkte gesund, wohlgenährt….und glücklich.

„Aber Michael hat mich irgendwie zu den Lebenden zurück geholt.“ Sie grinste und Sheena wurde flau im Magen. „Er hatte zumindest gute Argumente und ich weiß, Ruby hätte gewollt, dass ich wieder Hoffnung schöpfe.“

„Ich kann das nicht, Rosa. Ich kann es nicht!!!“

Sheena sah wieder dem Himmel entgegen, der sich nun langsam rot färbte. Die Dämmerung brach bereits herein. Wo waren die anderen?
 

Bald darauf hörten sie Flügelschlagen und bevor Rosa etwas sagen konnte, war Sheena auch schon aus dem Zimmer gestürmt. Die Frauen in der Halle sahen ihr überrascht nach, erhoben sich dann jedoch auch um zu sehen, was draußen geschah. Rosa kam mit ihrem Bauch nicht so wirklich mit, denn sie watschelte wie eine Ente und nahm Stufe für Stufe, währen Sheena zwei Stufen nach der anderen übersprang. Die Engel bewegten sich nicht von der Stelle.

Als sie nach draußen gelangte, landeten die fünf Engel bereits. Sie trugen alle zwei bis drei Personen, was Sheena erstaunte. Wie stark waren diese Monster eigentlich?!

Sofort rannten die Kinder auf sie zu, die einen verängstigt auf sie einredend, während andere, begeistert von diesem Abenteuer, versuchten ihr ihre Eindrücke zu erzählen. Sheena musste lachen bei diesem Anblick und sie merkte wie sich in ihre etwas löste, was sie die ganze Zeit verkrampft festgehalten hatte.

Die Engel hatten bisher nur die Frauen und Kinder zur Burg gebracht, aber Sheena empfand dies ausnahmsweise wohl überlegt. Die älteren Frauen umarmten Sheena, froh darüber, dass sie wohlbehalten angekommen waren.

Eine schwangere Frauen, die mit in den Burghof gekommen waren, nahmen sich sofort Zeit, die Neuankömmlinge unter ihre Fittiche zu nehmen und sie in ihr neues Zuhause zu führen. Erleichtert sah Sheena der Gruppe nach, die in den Saal geführt wurde, während mehrere Frauen auf sie einredeten.

Als eine der blonden Engel an ihr vorbei ging, um den anderen zu folgen stutzte sie. Der Rotschopf ging ebenfalls und Sheena musste schwer schlucken.

„Was ist mit den anderen?“ Die Männer…Frank, sie waren doch noch gar nicht auf der Burg.

Japhet blieb neben ihr stehen.

„Sie bleiben zurück!“

„Wie bitte?“

„Wir brauchen Kinder und Frauen. Diese Männer waren zu alt, um der Sache zu dienen.“

Ehe Sheena wusste, was sie tat, hatte sie auch schon zugeschlagen. Japhets Kopf fuhr durch den heftigen Schlag herum und Sheena trieb der Schmerz in ihrer Hand, die Tränen in die Augen. Die anderen Engel kamen sofort auf sie zu, doch sie griffen nicht ein.

„Du widerliches Stück Dreck.“, fauchte sie und eine Art Hass glomm in ihr auf, denn sie noch nie zuvor gefühlt hatte. „Ihr habt mich entführt, gegen meinen Willen und nun lasst ihr meine Gruppe verrecken!!“

Sheena wandte sich um. Sie würde gehen, egal wie. Sofort setzte sie sich in Bewegung, rannte fast, doch ehe sie sich versah, prallte sie gegen eine stählerne Härte, die ihr den Atem raubte. Sem hatte sich vor ihr aufgebaut und schaute mit ausdrucksloser Miene zu ihr herab. Verzweifelt versuchte sie an ihm vorbei zu kommen, doch er packte sie und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Tränen des Schmerzes, der Wut und Verzweiflung traten ihr in die Augen, während sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien.

„Lass mich los.“, schrie sie und trat und schlug nach ihm, doch es schien ihm nichts anhaben zu können. Durch ihren verschleierten Blick erkannte sie, dass Frauen aus der Burg eilten, nur um gleich wieder von den Engeln zurückgeschickt zu werden. Es sollte scheinbar keine Zeugen geben. Sheena spürte, dass sie die Kraft verlor, physisch aber auch mental.

„Warum tut ihr uns das an? Wie kann denn etwas gerecht sein, das gleichzeitig so ungerecht handelt?“, weinte sie. Vor ihren Augen sah sie ihre Freunde, die in der trockenen, kargen Steppe nach Wasser und Nahrung suchten, auf der Flucht vor dem Bösen. Alleine. Von ihr im Stich gelassen. Sie weinte so bitterlich, dass Sem sie bald darauf los ließ und sich neben sie hockte, eine Hand auf ihrer Schulter. Sheena wertete das nicht als tröstende Geste dieses so emotionslosen Mannes, sondern als eine Demonstration seiner Macht über sie. Doch sie konnte sich nicht mehr wehren und so saß sie nur im Staub und benetzte den Boden mit ihren salzigen Tränen, die Hände vor das Gesicht geschlagen, unfähig sich zu beruhigen.

Seit dem Tod ihrer Mutter, hatte sie keine Träne mehr geweint. Es hatte einfach nicht gepasst, denn sie war immer die Starke gewesen. Nun saß sie hier wie ein Häufchen Elend, ihrer Freiheit und Selbstständigkeit beraubt und mit einem Schicksal bedacht, welches sie sich nicht ausgesucht hatte und was sie nun nicht mehr ändern konnte.

Irgendwann war sie einfach nur aufgestanden, hatte die Hand des Engels abgeschüttelt und war zurück in das Verlies aus Stein gegangen, hoch in das ihr zugedachte Zimmer.
 

Die Nacht war klar und die Sterne funkelten in einem solch hellen Licht, dass Sheena sie vielleicht bewundert hätte, wenn es ihr nicht so schlecht ergangen wäre. Seitdem sie Sem und die anderen im Hof hatte stehen lassen, war sie nicht mehr aus ihrem Zimmer gegangen, stand nur an dem glaslosen Fenster und hatte weder gegessen noch getrunken, aber der Gedanke an ihre verloren Freunde verhinderte jegliches Durchdringen körperlicher Bedürfnisse. Sie befand sich in einem Kokon aus Trauer, Verzweiflung und unbändiger Wut.

Schon ziemlich bald stand für sie fest, dass sie sich wehren würde. Bisher hatte sie keinen Ausgang oder dergleichen erkennen können um die Flucht zu wagen, aber sie würde einen Weg finden. Wie konnten diese Monster glauben, dass sie sich fügen würde. Vor allem nachdem man sie so verraten hatte.

Tränen traten ihr in die Augen, als sie die Gesichter ihrer Freunde vor sich sah. Die anderen hatten in ihrer Freude über die Sicherheit die ihnen geboten wurde, ganz vergessen, dass sie mal viel mehr Leute gewesen waren. Wahrscheinlich schliefen sie sogar und schwelgten in süßen Träumen, während sie, Sheena, hier stand und an ihrem Zorn erstickte.

Tief im Innern wusste Sheena, dass sie den Anderen Unrecht tat. Sie hatte ihnen immer Hoffnung auf eine bessere Zukunft gemacht, wie konnte sie ihnen dann vorwerfen, dass sie sich freuten und alles andere vergaßen. Sheena war immer anders gewesen und diese Situation bewies es wieder.

Sie wandte sich vom Fenster ab und tigerte durch das Zimmer, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollte. War es sinnvoll, bereits heute Nacht einen Fluchtversuch zu wagen? Nein, gerade nach ihrem letzten Auftritt würde sie unter Bewachung stehen, da war Sheena sich sicher. Außerdem waren die Mauern bestimmt ebenfalls mit Männern bestückt, die Ausschau nach den Gefallenen hielten. Sie blickte einige Zeit auf die schwere Holztür.

Aber sie würde sich die Burg ansehen. Niemand konnte ihr verbieten, sich in der Burg zu bewegen und sie würde die Zeit nutzen, um sich einen Überblick von der Konstruktion des Gemäuers zu machen. Vielleicht würde sie auf eine Möglichkeit stoßen, die Burg irgendwann verlassen zu können.

Ohne weiter nach zu denken, hatte sie ihr Zimmer schon verlassen und hastete durch den Flur. Erst als sie an die Treppe kam, maßregelte sie ihr Tempo. Einen Moment zögerte sie, doch dann entschied sie sich, erst einmal die einzelnen Bereiche, die wahrscheinlich als Schlafgemächer dienten, zu erkunden.

Es war stockfinster, doch ihre Augen gewöhnten sich insofern an die Lichtverhältnisse, dass sie immer einige Meter weit Umrisse erkennen konnte. Schon bald konnte man vermuten, dass die Burg in Ringe eingeteilt war, die von der Eingangshalle bis weit in die Höhe verliefen. Wie viel Zimmer in diesen Berg passten, konnte Sheena nicht einmal erahnen. Wenn man aber davon ausging, dass die Engel tatsächlich eine neue Menschenrasse züchten wollten, dann mussten enorme Kapazitäten vorhanden sein. Sheena durchfuhr ein angewidertes Zittern. Mit diesen Gedanken wurde ihr bewusst, dass sie bereits dabei war, zu ebendiesem Zuchtprogramm zu gehören.

Sie trug das Wesen doch bereits in sich. Viel zu spät wurde ihr richtig klar, was eigentlich mit ihr geschehen war. Die ganze Zeit war sie so sehr damit beschäftigt gewesen wütend auf alle zu sein, dass sie ganz vergessen hatte, wieso sie überhaupt hier war.

Ihr brach der kalte Schweiß und sie musste sich an der kühlen Wand abstützen, weil ihr die Galle hochkam. Gleichzeitig legt sie eine Hand auf ihren Unterleib. Nicht schützend, ungläubig, als würde dieser Albtraum enden, wenn sie sich versicherte, dass dort nichts war. Doch die wenigen Bilder der einen Nacht brachen sich immer wieder Bahn. Der Engel Michael hatte gesagt, dass sie ihre Opfer in Trance setzten, und ja, es waren Opfer in Sheena’s Augen.

Sie lehnte die Stirn gegen die Mauer, denn sie hatte das Gefühl zu glühen. In und um sie herum rasten Bilder und Gefühle, wie auf einer Autobahn und sie konnte nicht einen Gedanken fest halten. Wo war sie nur hineingeraten? Wie konnte sie denn fliehen, wenn sie etwas in sich trug, was sie erheblich behindern würde bei ihrer Suche nach den Überlebenden? In einer Zeit, als alles noch in Ordnung war, hätte man einen solchen Zustand beenden können. Heute war ein solcher Versuch tödlich.

Aber noch hatte sie Zeit. Sie musste so schnell wie möglich einen Ausweg finden, damit sie die Männer fand, bevor sie zu ungelenk war, um sie zu retten.
 

Sheena stieß sich von der Wand ab um ihre Erkundungstour fortzuführen, bestärkt durch den Zeitdruck, der ihr deutlich vor Augen stand. Noch immer flirrten Lichter in der Dunkelheit, aber ihr war nicht mehr übel. Sobald sie einen Ausweg gefunden hatte, würde sie fliehen und die, die sie liebte retten. Als sie nun über den Gang hastete, rannte sie beinahe, erfüllt mit Panik, zu spät zu sein.

Dann prallte sie gegen eine Wand. Sofort sah Sheena wieder Sterne und sie verlor augenblicklich das Gleichgewicht.

Doch statt zu stürzen, umklammerte etwas eisern ihre Oberarme und zog sie hoch. Jetzt war Sheena erst recht übel, vor allem weil sie mit dem Gesicht frontal in dieses Ding gelaufen war. Der rasende Schmerz, der von ihrer Nase in alle Körperteile zu strahlen schien, trieb ihr die Tränen in die Augen. Es drängte sie, die Hände vor das Gesicht zu schlagen, aber sie konnte sich weder befreien, noch durch den Tränenschleier erkennen, in was sie gelaufen war. Ein Wimmern entfuhr ihr.

„Was schleichst du hier rum?“

Diese tiefe Stimme! Sofort weckte sich in ihr eine solche Abneigung, dass sie umso verzweifelter versuchte, sich los zu reißen.

„Nimm deine Finger von mir, du Monster!“, sie wollte stark klingen, aber ihr entfuhr nur ein Zirpen, das nicht einmal einem Vögelchen Konkurrenz machen würde.

Sem schien es nicht im Geringsten Mühe zu machen, Sheena fest zu halten und ihren Tritten auszuweichen. Sie konnte ihn zwar nicht deutlich sehen, aber sie spürte seinen kalten Blick, was sie noch wütender machte.

„Bist du taub, lass los!!!“, brüllte sie und versuchte sich aus dem Griff zu drehen. Jedoch verschlimmerte dies den Druck und ihre Arme protestierten schmerzhaft. Sem machte nicht einmal den Mund auf. Es kam ihr vor, als ob eine Statue aus eiskaltem Stein sie gefangen hielt und so langsam bekam sie Angst. Weniger vor dem Engel, mehr vor der Situation an sich. Sie war hilflos und eingeschränkt in ihren Bewegungen, noch dazu schmerzten die Teile ihres Körpers, die in dem Griff gefangen waren.

„Was soll denn das?“, wimmerte sie. „Ist das so ein dreckiges Machtspielchen?“ Sheena wehrte sich nun nicht mehr, sondern versuchte die Schmerzen ein wenig erträglicher zu machen, in dem sie ihm entgegenkam. Erst jetzt schien auch er sich zu entspannen und seine Hände hielten sie nicht mehr ganz so fest, auch wenn er sie nicht losgelassen hatte.

„Du solltest hier nicht rum laufen.“

Fassungslos schaute Sheena zu ihm auf. Er schien niemals aus der Fassung zu geraten oder auch nur eine einzige Gefühlsregung zu haben. Ganz im Gegenteil zu ihr selbst, die tausende Emotionen in sich vereinte.

„Ich dachte, wir sind hier in Sicherheit! Das habt ihr uns doch so verkauft, oder nicht? Was soll mir also passieren?“, giftete sie trotzig.

„Menschen sehen bekanntlich nicht im Dunkeln, richtig?“

„Lass mich raten, ihr komischen Viecher seht wahrscheinlich bei Tag und Nacht.“ Sie versuchte noch einmal sich zu befreien, aber er war echt stur.

„Zumindest würden wir weder irgendwelche Treppen hinab stürzen noch gegen Wände laufen. Dies könnte dir aber passieren. Daher rate ich dir, zurück in dein Zimmer zu gehen. Du schadest nur dir und dem Kind.“

Sofort kochte es in Sheena. Wen interessierte das Kind? Sie nicht und selbst wenn, dann war es immer noch ihr Kind. Sie würde nicht zulassen, dass die Engel Anspruch darauf erhoben, mochte einer von ihnen der Vater sein oder nicht.

„Das ist immer noch meine Entscheidung!“

„Das sehe ich anders.“ Er schob sie nun sachte aber bestimmt den Gang hinunter. „Du gehst nun zurück.“

Sheena schlug seine Hand weg.

„Was gibt dir das Recht mir zu sagen, was ich zu tun habe?“

Sie mochte sich wie ein kleines Kind benehmen, aber Sem war für sie wie ein rotes Tuch, seit dem Augenblick, als er das erste Mal vor ihr gestanden hatte. Sie wusste noch immer nicht wieso und konnte nicht einmal das genaue Gefühl bestimmen, was sie in seiner Gegenwart hatte. Sie wusste nur, dass die Berührung seiner Hände auf ihrer Haut brannte. Auch als sie geträumt hatte, schien er es gewesen zu sein, der sich in ihren Kopf gestohlen hatte. Er stürze sie in Verwirrung und Rage, das brachte sonst keiner fertig. Und nun schien es, dass sie immer ausgerechnet Sem über den Weg lief, zweimal an einem Tag in ihn hinein rannte und ihm nicht aus den Weg gehen konnte.

Nun schob er sie unbeirrt weiter.

„Sieh mich als deinen Leibwächter, solange du noch nicht bereits bist, dich uns anzuschließen.“

„Du meinst wohl „unterwerfen“. Kannst du mir mal sagen wieso ausgerechnet du mein Wächter-Dings-Bums bist?“

„Wünscht du dir jemanden anderes?“

Die Frage war so tonlos gestellt, dass sie nicht wusste, was er mit der Frage bezweckte.

„Ich will, dass ihr mich in Ruhe lasst! Ich wollte niemals hier her kommen und schwanger werden wollte ich auch nicht.“

„Wärst du lieber gestorben? Die Gefallenen hätten euch früher oder später gefunden.“

Sie standen nun tatsächlich vor Sheenas Zimmer und sie ärgerte sich, dass Sem sie so leicht hatte hier her zwingen können.

„Ich wäre lieber mit meinem Freunden gestorben, als zu etwas gezwungen zu werden, was ich nicht will. Ich werde niemals diese Leben hier akzeptieren, also solltet ihr mich am besten auf der Stelle gehen lassen.“

„Ich denke nicht, dass das möglich ist. Leg deine Hand auf deinen Bauch!“

Sheena hob irritiert die Augenbrauen. Er konnte es sicher sehen.

„Wovon sprichst du?“

Er nahm ihre Hand und legte sie auf ihren Unterleib.

Eiseskälte schien plötzlich durch ihre Venen zu schießen.

„Was in Gottes Namen…“, brachte sie nur mühsam hervor und starrte an sich hinab. Sem jedoch nahm den silbergrauen Blick nicht von Sheenas Gesicht. Als versuche er, ihre Reaktion zu analysieren.

Verzweifelt sah Sheena auf und blickte direkt in die Augen von Sem. Ihr war alles Blut aus dem Gesicht gewichen und ihr fehlten die Worte.

„Das ist kein gewöhnliches Kind, Sheena. Es wird in allem besser und schneller sein, als ihr Menschen es je wart. Dieses Kind begründet eine neue Zukunft aus Menschen, die ihren Vorfahren um einiges voraus sein wird.“

Sheenas Hand lag noch immer auf ihrem Bauch in dem sie bereits Leben spürte.
 

Sie wusste nicht, wie sie ins Zimmer und dann ins Bett gelangt war. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie wusste nur, dass sie seit Stunden auf einem Bett lag, über deren Komfort sie sich nun keine Gedanken mehr machte. Ihre Handflächen presste sie flach auf die Matratze, als wolle sie die Erdhaftung nicht verlieren, während sie die Bewegungen in sich auszublenden versuchte.

Wie konnte das sein? Sie war keinen ganzen Tag schwanger und nun erwachte dieses unerwünschte Ding in ihr zum Leben. Ein Ding, ja, das war es. Irgendeine Kreatur, halb Mensch, halb Monster. Sheena zitterte schon eine ganze Weile unkontrolliert, während die Welt um sie herum wie ein Wirbelsturm schnell seine Bahnen zog.

Sie würde ihre Freunde nicht retten können. Sem hatte ihr nicht gesagt, wie schnell das Kind wuchs, aber Sheena befürchtete, dass es nur wenige Wochen dauern würde, bis sie entbinden musste. Die Bandbreite dieses unglaublichen Projekts der Engel wurde ihr jetzt erst richtig bewusst. Sie konnten innerhalb einer sehr kurzen Zeit die Welt mit ihren Nachkommen bevölkern. Sie mussten die Menschen nur wie Tiere ein Kind nach dem anderen zur Welt bringen lassen.

Plötzlich sprang Sheena auf und rannte zu einem Nachttopf aus Keramik. Sie schaffte es gerade, ihrer langen Haare zusammen zu halten, bevor sie sich so lange übergab, bis sie nur noch Galle schmeckte. Ob das nun die morgendliche Übelkeit oder die Situation war ihr egal. Sie legte das schweißnasse Gesicht auf den Rand der Schüssel und schloss die Augen.

Es gab nur eine andere Möglichkeit, als das Kind zur Welt zu bringen. Sie würde trotz allem fliehen und bei dem Versuch, ihre Freunde in der Steppe zu finden, sterben. Die zweite Option schien ihr im Moment die wünschenswertere.
 

Rosa, die begleitet wurde von Michael, fand Sheena dann auf der Erde, neben dem Topf, kauernd und vor sich hin starrend. Dunkle Haarsträhnen klebten ihr in Gesicht und Nacken. Rosa warf Michael einen besorgten Blick zu, bevor sie sich leise neben Sheena setzte und ihr sanft eine Hand auf den verkrampften Rücken legte. Michael verschwand sofort wieder.

„Liebes, ist die Übelkeit sehr schlimm?“

„Verschwinde!“ Sheenas Stimme war dünn und brüchig, aber das was sie sagte war unmissverständlich ernst gemeint.

„Komm ich bring dich ins Bett.“

Rosas dicker Bauch kam in Sheenas Blickfeld und sofort wurde ihr wieder schlecht. Sie würgte trocken, während sie die helfende Hand fort schlug.

„Bitte geh.“, wimmerte sie.

Rosa seufzte leise. „Du kannst hier nicht liegen bleiben, Kleine. Wenn du durch mich nicht aufstehst, werde ich Japhet oder Sem holen müssen.“

„Was ist hier los?“

Sheena schloss erneut die Augen. Konnte Rosa nicht ihre Gedanken für sich behalten? Sem war eine Landplage und sie wollte ihn weder sehen, noch dass er ihr zu nahe kam. Sie stemmte sich auf die Ellenbogen und erhaschte einen Blick auf Rosas mitleidiges Gesicht. Sem stand in die Tür mit verschränkten Armen und musterte sie wie ein kleines, unwillkommenes Insekt. Alleine damit er verschwand, versuchte sie alles um vom Boden hoch zu kommen. Rosa kam ihr zu Hilfe, doch Sheena wehrte sie rüde ab.

„Versteht ihr denn nicht, dass ich eure Hilfe nicht will?“, brachte sie zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor, doch Rosa schien ihr gar nicht zuzuhören. Sie stützte Sheena bis diese auf dem Bett lag.

„Es ist selten, dass den Frauen schlecht wird, Liebes. Das hat sicher mit deiner Einstellung zu dem Kind zu tun. Die Kleinen sind intelligent.“

Rosa sagte das mit solch einer Wärme in der Stimme, dass sich Sheenas innere Abwehr erneut meldete. Was wuchs da in ihre heran? Ein Alien? Sie warf Rosa einen verächtlichen Blick zu, ignorierte Sem vollständig.

„Warum habt ihr dem Kind dann nicht diesen Umstand erspart?“

Rosa ging drauf nicht ein, sondern verließ das Zimmer mit den Worten, dass sie Sheena etwas zu Essen besorgen würde. Nur Sem blieb wo er war und ließ sie nicht aus den Augen. Sein kalter Blick war nervtötend.

„Kannst du bitte durch die gleiche Tür verschwinden wie die Zuchtkuh?“

Sie wandte sich um, sodass sie ihn nicht mehr sehen musste. Sie hörte Schritte und hoffte, dass Sem verschwunden war, doch stattdessen trat er wieder in ihr Blickfeld und stand nun an ihrem glaslosen Fenster.

Es fiel ihr schwer, Sem nicht anzuschauen. Er war ganz in schwarz gekleidet und sein nackter Oberkörper zeigte, dass er nicht nur mächtig, sondern auch stark war. Seine weißen Schwingen warfen riesige Schatten auf das Bett und Sheena hatte das verrückte Gefühl, ihnen ausweichen zu müssen. Als sie aufsah traf ihr Blick den seinen. Er hatte ihre Reaktion bemerkt.

"Was macht dir mehr Angst, das was wir sind oder das was wir vorhaben?"

"Wer sagt, dass ich Angst habe?", sie schaffte es nicht, seinen grauen Augen Stand zu halten.

"Vielleicht verstehe ich die Menschen oft nicht. Sie sind unberechenbar in allem was sie sind und tun. Aber eins wird immer ihre größte Schwäche sein, die Fähigkeit zu fühlen."

Er kam näher und Sheena krallte die Hände in die Decke, damit sie nicht zurück wich. Mit Gefühlen hatte er sicher keine Probleme.

"Ich spüre und rieche deine Angst. Sie ist immer zu jeder Zeit bei dir, wie ein Schatten. Selbst wenn du alleine bist. So haben wir dich gefunden."

Er wirkte selbstgefällig und Sheena musste sich Mühe geben, ihn nicht spüren zu lassen, was sie von ihm hielt. Sem seufzte.

"Genauso wie dein Zorn. Das ist das Seltsame bei dir. Die Angst macht dich stark, da du in deinem Zorn bereits bist, alles zu tun, um dieses Gefühl zu überwinden."

"Und das Fazit deiner Analyse ist?"

War das etwa der Deut eines Lächelns? In dem Moment trat Japhet in den Raum. Sein Blick ging abschätzend zwischen Sem und ihr hin und her, bevor er die Antwort gab, die Sheena nicht von ihm erwartet hätte.

"Du hast zwar Angst und lehnst uns und unsere Idee ab, doch du wirst es schaffen. Das ist deine Natur, deshalb haben wir dich ausgesucht."
 

Sheena wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte. Sie sah in die tiefschwarzen Augen von Japhet und hatte Schwierigkeiten sich auf ihn zu konzentrieren, während die Gedanken Ping Pong spielten.

"Ihr habt mich...ausgesucht?"

Sie war verwirrt.

Sem ging zurück zum Fenster und sah stumm hinaus, während Japhet sich ans Fußende des Bettes setzte. Irgendwie hatte die Situation etwas von einem Gespräch, wie es Eltern führten, wenn sie ihrem Kind etwas Unangenehmes beibringen mussten.

"Du hast deine Gruppe alleine geführt, für sie Nahrung und Wasser gesucht und sie vor den Gefallenen versteckt?"

Er wusste das doch! Sheena nickte vorsichtig.

"Seitdem eure Welt zerstört wurde, kämpfen die wenigen Überlebenden der Sintflut um ihr Leben. Am Anfang waren es noch ganze Familien, oft zusammengeschlossen zu Gruppen von bis zu fünfzig Personen. Doch in den letzten Jahrzehnten hat Hunger, Durst und Leid dafür gesorgt, dass sich die Gruppen aufgespalten haben."

Er blickte zu Sem, der jedoch sah unverwandt hinaus.

"Die Menschen sind von ihrer Art schon von jeher egoistische Natur gewesen. Sie sind sich selbst am nächsten. Daher ist deine Gruppe eine Seltenheit, sogar einzigartig."

Sie starrte Japhet noch immer verständnislos an.

"Wollt ihr damit sagen, dass es sonst nur wenigen gelungen ist, eine solch große Gruppe durchzubringen?"

"Es ist niemandem außer dir gelungen!"

Sheena überkam ein beklemmendes Gefühl. Die Vorstellung, dass es außer ihren Freunden ihr kaum Menschen zusammen überlebt hatten, machte sie traurig.

"Na schön, gut möglich, aber was hat das mit euch zu tun? Das ist meine Familie. Wir haben immer zusammen gehalten. Für mich war das vollkommen selbstverständlich."

Sheena wurde unruhig, wollte dieser seltsamen Situation entkommen. Sie schlug die Decke zurück und versuchte aufzustehen, aber der Schwindel kehrte mit einer solchen Wucht zurück, dass sie zunächst sitzen bleiben musste. Japhet saß noch immer auf dem Bett, doch Sem stand von der einen zur nächsten Sekunde neben Sheena. Leider hatte sie nicht die Kraft ihm einen bösen Blick zu zuwerfen.

"Ihr seid diejenigen, die meine Familie auseinander gerissen habt. Die Hälfte meiner Gruppe ist wahrscheinlich tot, weil ihr das getan habt, was die Gefallenen nicht geschafft haben. Ihr habt uns getrennt." Wie ein Feuerball durchzuckte Sheena, Wut, Hass und Verzweiflung. Wie sehr sie diese Wesen verachtete.

Etwas bewegte sich protestierend in ihrem Unterleib und Sheena verkrampfte sich.

"Wir haben dich genau deshalb zu ihrer Führerin auserkoren."

"Zu was?", presste sie gequält hervor und legte eine Hand auf ihren Unterleib. Sem ließ sie nicht aus den Augen und seine Lippen waren nur noch eine schmale Linie.

"Du wirst die neue Menschheit in eine bessere Zukunft führen. Sie brauchen auch dann eine starke Person, die ihnen den Weg weist, wenn wir nicht mehr auf Erden weilen."

"Fahrt zur Hölle!"

Von Schmerzen zerrissen, sackte Sheena in sich zusammen. Das Baby hatte eindeutig eine andere Meinung dazu.



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