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Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten

Erstes Buch
von

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Prolog


 

Die Chroniken von Khad-Arza
 

Die fast nackte, vollbusige Frau tanzte wild gestikulierend barfuß über den langen, hölzernen Tisch des Senats. Dabei schwang sie eine Rassel aus einem Flaschenkürbis, gefüllt mit Pflanzensamen, durch die Luft. Ihre langen Haare wirbelten dabei durch den Raum und ihre seltsam apathischen Augen hefteten sich auf einen Mann nach dem anderen, während sie tanzte und vom Unheil sprach. Senator Puran Lyra hatte wenig Mühe, sie nicht anzusehen, als ihre nackten Füße an ihm vorbei tänzelten. Frauen mit zu großen Brüsten, zu wenig Kleidung und albernen Rasseln waren meistens Lügnerinnen, sie verdiente eigentlich keine Beachtung; wenn der König, dem der Senat unterstand, nur nicht so ein Esoteriker wäre…

„Sprich mit uns, Wahrsagerin!“, forderte der esoterische König des Landes Kisara aufgeregt und starrte sie halbnackte Frau an, die über den Tisch balancierte und rasselte. „Was siehst du für die Zukunft meines Landes?“

„Tod… und Finsternis!“, antwortete die freizügige Wahrsagerin keuchend, warf den Kopf in den Nacken und hob die Arme gen Decke des Raumes, ihre Haare flogen dabei erneut durch die Luft. Als sie das Haupt wieder nach vorn lehnte, sah sie erst der Reihe nach alle Ratsmänner und dann den König aus ihren seltsam milchigen Augen an. Puran Lyra fragte sich kurz, ob sie blind wäre, als ihr Blick auch an seinem Gesicht für einen Moment hängen blieb. Dann wandte sie sich schon wieder ab, ehe er seine Frage selbst hätte beantworten können; als sie jetzt sprach, war ihre Stimme erfüllt von der Apathie einer richtigen Seherin, und Senator Lyra schauderte kurz. Er war Schamane, genau wie das junge Ding auf dem Tisch. Er wusste, wie richtige Seher klangen, wenn sie sahen, ohne ihre Augen zu benutzen.

Diese Frau war keine Amateurin. Was die Rasseln sollten, verstand der Mann zwar nicht ganz, aber was sie sah, war kein esoterischer Unfug. Es waren wirklich die Worte der Geister… keine dahergelaufene Zigeunerin würde so sprechen wie sie.

„Das Ende des Zeitalters… ist nahe, mein König.“, raunte sie gerade, während sie auf dem Tisch direkt vor dem Herrscher geschickt in die Knien ging und dabei auf eine unglaublich erotische Art ihren Körper verbog; eine Art, wie sie im Ratssaal von Vialla verboten gehörte. Puran Lyra beobachtete den König von Kisara, der die Wahrsagerin verblüfft anstarrte, als hätte er niemals eine nackte (oder fast nackte) Frau gesehen. Vielleicht hatte er das wirklich nicht, zumindest hatte der Senator ihn in all den Jahren, die er ihn schon kannte, nie mit einer Frau gesehen. „Mit Feuer und Schatten… wird das Bündnis der Drei Welten zerbrechen…“, wisperte die blonde Frau weiterhin und starrte mit ihren eigenartigen Augen gen Decke. „Die Sieben… wurden von den Schicksalsgeistern erwählt, um die Zerstörung… von Khad-Arza zu verhindern, mein König.“ Alle Augen des königlichen Senats richteten sich auf die Wahrsagerin und der Monarch weitete bestürzt die Augen.

„Zerstörung? Um Himmels Willen! – Und… die Sieben? Welche Sieben?“ Er sagte nichts weiter, als die Frau sich keuchend wieder erhob, ihre Rassel schwang und wieder die Senatoren anstarrte. Zuletzt blieb ihr Blick an Senator Lyra hängen und er erwiderte ihren starren Blick ohne jede Gefühlsregung.

„Mit Feuer und Schatten… werden sie kommen aus dem Osten…“, fuhr sie fort, „Und mit dem Schatten kommt das Ende… der Welt.“ Senator Lyra zog die Schultern zusammen, als sie ihn anlächelte, auf eine verboten betörende Weise. Sie wollte fortfahren, da flog mit einem Mal die Tür des Saals auf und störte die Wahrsagung.

„Mein König! V-vergebt die Störung, aber wir haben eine eilige, entsetzliche Botschaft erhalten!“, rief der Soldat, der gekommen war und jetzt verblüfft stutzte beim Anblick der geschmückten Frau. „Ähm – ähm, Majestät!“

„Sprich!“, forderte der Monarch laut und erhob sich, während die Wahrsagerin zischte und herumwirbelte.

„Er sagt, was ich gesehen habe im Schatten…“, sagte sie, ehe der Soldat zu Wort kam, und das Milchige in ihren Augen verflüchtigte sich. „Sie kommen. Die Bestien, die das Ende der Welt einläuten.“ Der König hatte jetzt genug von der Wahrsagerei und schwenkte seine Hand ungeduldig.

„Sprich, Soldat!“, forderte er abermals und der Mann in der Tür verneigte sich hastig.

„Es ist wegen Ela-Ri, dem Reich des Ostens. Der Inselstaat Dhimorien ist an ihre Truppen gefallen… wir haben die Nachricht gerade eben erhalten von unseren Spähern im Süden.“Auf diese Botschaft herrschte entsetztes Schweigen im Ratssaal und Puran Lyra ignorierte die Blicke, die die Frau mit den großen Brüsten ihm jetzt wieder zuwarf, zu entsetzlich war die Nachricht.

„Das… bedeutet nichts Gutes.“, sagte einer der Ratsmänner heiser.

„Das heißt, das Ostreich dehnt sich immer weiter aus?! Das ist schlecht!“

„Nicht nur schlecht…“, murmelte Puran Lyra und senkte energisch die Augenbrauen, „Mit Dhimorien ist das letzte Land gefallen, das zwischen uns und Ela-Ri stand. Wenn sie es wirklich auf das Zentralreich abgesehen haben, haben wir ein großes Problem.“ Sein Blick wandte sich wieder auf die Wahrsagerin, die ihn immer noch ansah. Als sie spürte, dass er ihren Blick erwiderte, wurde ihr wissendes Grinsen breiter.

„Wenn Mutter Erde und Vater Himmel ihren Zorn über uns ergießen, Senator… dann ist die Zeit der Sieben gekommen. Ich sehe in Euch… sein Gesicht. Ihr habt einen Sohn, nicht wahr, Senator Lyra…? Ich kann… in Eurem Gesicht die Schicksalsgeister sehen…“ Der Schamane erwiderte nichts und fragte sich nur, ob es gut oder schlecht war, was diese Dame alles über ihn zu wissen schien.

Die Geister in seinem Kopf schwiegen ihn an. Das war grundsätzlich ein schlechtes Zeichen.

Die Schatten kamen nicht nur aus dem Osten.

Unruhe


 

Buch Eins

Das Blut der sterbenden Welten
 

Karana war noch nicht aufgestanden. Eigentlich war das kein Wunder, fand Simu, der Morgen graute ja erst. Und es wäre wirklich verwunderlich gewesen, seinen Bruder um diese Tageszeit anzutreffen… aber jetzt, in diesem Moment, wäre es einfach nur praktischer gewesen. Der Blonde seufzte, während er seine Schuhe zuschnürte und einen Blick auf seinen Rucksack warf, als könnte er plötzlich wegrennen. Einen Moment wartete der junge Mann noch, ob sich etwas tat, dann hörte er aus dem oberen Geschoss des Hauses ein dumpfes Poltern.

„Gut.“, sagte Simu sich, „Aufgestanden ist er nicht, aber wach offenbar. Dieser Idiot… kaum sind unsere Eltern mal außer Haus, führt er sich auf wie ein Wilder.“ Mit einem resignierten Seufzen nahm er seinen gepackten Rucksack, setzte ihn auf und ging dann zügig die Treppe hinauf bis zur Zimmertür seines Bruders. Er konnte nicht länger warten, er musste jetzt los. Und es erschien ihm nicht gut, abzuhauen ohne Bescheid zu sagen.

Er zögerte, zu klopfen, und lauschte stirnrunzelnd den eindeutigen Geräuschen aus Karanas Zimmer. Jemand kicherte mit heller Stimme, dann hörte er Rascheln von Laken und das enthusiastische Stöhnen einer Frau.

Karana, du bist echt ein Stecher.

So dachte der Blonde, verdrehte wohlwollend die Augen und klopfte hart gegen die Tür. Sofort verstummten die Geräusche drinnen – um nach kurzer Pause wieder anzufangen. Simu hörte jetzt auch Karana stöhnen. Er zischte und klopfte noch mal.

„Karana!“, rief er dabei empört, und wieder verstummten das Gekicher und das Stöhnen drinnen. Dann ertönte ein genervtes Brummen, wieder Rascheln und einen Moment später ertönte das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels, ehe sich die Tür halb öffnete. Karana stierte ihn zornig an.

„Ich hoffe, du hast einen wirklich dringenden Grund für diese Störung!“, meckerte er los, „Wenn ich gleich keinen mehr hoch kriege, mache ich dich dafür verantwortlich, du Armleuchter!“ Simu sah kurz an seinem Bruder herunter, der nichts trug als seine Haut. Er zog eine Braue hoch bei dem Anblick.

„Na, darum würde ich mir keine Sorgen machen, wenn ich dich so ansehe…“

„Jetzt rede, was willst du?!“, zischte der andere, raufte sich murrend die braunen Haare und gab Simu dabei Zeit, ins Bett zu spähen, das der Tür gegenüber stand. Aus den Laken lugten zwei splitternackte Mädchen und grinsten gespielt unschuldig. Simu brummte.

„Gleich zwei auf einmal? Himmel, Karana, jetzt wirst du aber übermütig. Du kannst doch nicht zwei Frauen zugleich beglücken.“

„Du würdest staunen.“, grinste sein Bruder gehässig, „Wenn du nicht so ein schwuler Sack wärst, der nie ein Mädchen abbekommt, würde ich dir ja was beibringen, aber ich glaube, das hat keinen Zweck.“ Der Blonde grinste nur amüsiert über den Seitenhieb zurück. Er war das ja gewohnt.

„Wie auch immer. Ich wollte mich abmelden, ich verreise. Weiß noch nicht genau, wann ich zurückkomme, könnte länger dauern. Denk daran, dass Mutti und Neisa heute Nachmittag zurückkommen, bis dahin solltest du mit deinem… Damenbesuch hier fertig sein. Du weißt ja, was Vati dazu sagt.“ Karana verdrehte die Augen.

„Vati soll mal friedlich bleiben, wenn er mal daheim ist, höre ich ihn auch ziemlich laut…“, schnaufte er, dann grinste er flüchtig und schloss die Tür wieder. „Viel Glück dann, Simu, komm heil zurück!“ Mehr sagte er nicht, und Bumms, war die Tür zu und Simu stand wie bestellt und nicht abgeholt im Flur. Und schon hörte er das Kichern und Seufzen wieder, so verdrehte er die Augen und machte, dass er wegkam.
 

Der Sommer war so gut wie vorüber. Als Simu das Elternhaus verließ, den Rucksack auf dem Rücken, und das kleine Dorf Lorana in Richtung Tor durchquerte, wärmten ihn die noch warmen Strahlen der aufgehenden Sonne aus dem Osten. Er wusste nicht, wie lange er weg sein würde... die meisten seiner vielen Reisen dauerten länger. Immerhin musste er sie nicht selbst bezahlen, dafür, dass er dem alten Sagal bei seiner Rückkehr berichtete, was in der Welt so los war.

Das Anwesen der Sagals war für die Verhältnisse der einfachen Dorfhäuser ziemlich pompös und respekteinflößend, genauso wie die Familie, der es gehörte. Im alten Anwesen selbst lebten eigentlich nur noch der Alte, das Oberhaupt, und seine Tochter und deren Tochter, seine Enkelin. Simu fand die kleine Niarih vor dem Anwesen auf der Veranda sitzen und Obst schneiden, als er vorbei kam. Das zierliche, blonde Mädchen lächelte ihn freudig an.

„Simu! Du gehst wieder fort? Wohin schickt mein Großvater dich denn dieses Mal?“ Er blieb kurz stehen und lachte.

„Eigentlich bin ich es, der entscheidet, wohin es geht. Hauptsache, ich kann deinem Großvater berichten, was so los ist draußen. Das ist total praktisch, wir beide tun uns gegenseitig einen Gefallen. Er ermöglicht mir, viel zu reisen, und ich ermögliche ihm Einblicke in die Welt. Ein besseres Angebot hat er mir wirklich nicht machen können.“ Das Mädchen widmete sich wieder seinem Obst und kicherte.

„Das freut mich, dass du zufrieden bist. Du weißt ja, dass mein Großvater ein ziemlicher Kontrollliebhaber ist... er muss immer wissen was überall auf der Welt vorgeht. Du ahnst gar nicht, wie groß unsere Familie ist. In jedem Dorf, in jeder Branche, in jedem Zipfel des Landes – und nicht nur das – sind irgendwo Verwandte von uns.“ Simu lachte.

„Na ja, das ist doch was Schönes. Dann bist du quasi überall, wo du hin kommst, daheim, oder?“ Er betrachtete Niarih eine Weile, wie sie lächelnd Obst schnitt. Ihre langen, hellen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, über ihrer Kleidung trug sie eine Schürze, die schon bist dem roten Saft von Beeren und Kirschen bedeckt war. Sie war groß geworden, fiel ihm verblüfft auf, während er sie so ansah. Sie war etwa drei Jahre jünger als Karana, im selben Alter wie seine Schwester Neisa. Aber im Gegensatz zu Neisa würde Niarih niemals eine Frau werden… das war bedauerlich. Er fragte sich manchmal, ob es in Ordnung war, dass ihr Großvater ihr das so wichtige Blutritual verwehren wollte, das Mädchen zu Frauen und Jungen zu Männern machte unter den Schamanen. Es hing damit zusammen, dass Niarih ein uneheliches Kind war und niemand wusste, wer eigentlich ihr Vater war. Uneheliche Kinder galten in der Provinz als wirkliche Schande und Niarih sollte froh sein, dass sie überhaupt leben durfte, so hieß es. Manche Sitten waren wahrlich barbarisch.

Sie riss ihn aus seinen Gedanken, als sie wieder strahlend in sein Gesicht sah.

„Hast du heute schon mit Karana gesprochen? Ist er daheim?“

„Ja, also… er ist theoretisch da, aber im Moment ziemlich beschäftigt. Wenn du ihn besuchen willst, solltest du das später tun.“ Er hüstelte und hätte das gar nicht gebraucht; sein kleineres Gegenüber las seine Gedanken schon vorher und gluckste amüsiert. Sie war Telepathin, genau wie ihr Großvater und der Großteil des ganzen Sagal-Clans. Eine Magierin, deren Fähigkeiten sich auf Hellsehen und Teleport spezialisierten. Sehen ohne Augen konnten viele Schamanen, auch Schwarzmagier wie Karana oder Heiler. Für gewöhnlich waren die Telepathen darin aber begabter als die anderen.

„Verstehe.“, sagte Niarih feixend, „Welche ist es denn dieses Mal? Die Brünette mit den großen Brüsten aus Thuran? Oder die Blonde mit den langen Wimpern aus Mitonha?“ Simu lachte dämlich.

„Ehrlich gesagt, keine Ahnung, es waren zwei, die ich nie zuvor gesehen habe.“

„Gleich zwei? Himmel noch mal, Karana ist wirklich ein furchtbarer Stecher.“ Simu stimmte ihr mit verdrehten Augen zu, ehe sie wieder kicherte. „Aber was erwartest du, Simu? Er ist schließlich von Lyra-Clan. Und die Männer des Lyra-Clans sind grundsätzlich bildhübsch, begabte Magier und klug… vielleicht sind sie dann ja auch grundsätzlich gute Liebhaber.“

„Zumindest hat Karana viel Übung, sagen wir so.“, murmelte der Junge, dem das Thema jetzt doch zu lästig wurde, so verneigte er sich kurz vor der liebenswerten Enkelin von Dasan Sagal. „Ich muss jetzt wirklich los... vergib mir, Niarih. Grüße Karana von mir, falls du ihn siehst, oder auch Neisa, sie ist schon gestern gemeinsam mit Mutti aufgebrochen, um Medizin nach Umray zu bringen. Und richte deinem Großvater aus, ich werde zurückkehren und ihm berichten.“

„Lebe wohl, Simu! Gute Reise!“, rief die Blonde ihm fröhlich nach, während er ihr und dem Anwesen der Sagal den Rücken kehrte, um Lorana endlich zu verlassen.
 

Er schlug die Straße nach Osten ein, in Richtung der Reichshauptstadt Vialla. Die Stadt war zentral und von dort aus gab es viele Möglichkeiten, in alle Richtungen zu gelangen. Das war vorerst ein guter Plan. Er hatte genug Verpflegung mit, um ohne Sorgen nach Vialla zu gehen. Zu Fuß dauerte es ganz schön lange... sein Vater, Puran Lyra, fuhr normalerweise mit der Kutsche nach Vialla, und schon das dauerte lange.

Puran Lyra war nicht wirklich sein Vater. Seine Frau, Leyya, war auch nicht Simus Mutter, ihre einzigen leiblichen Kinder waren Karana und Neisa. Simu selbst war als sehr kleines Kind zu ihnen gestoßen, unter seltsamen Umständen, die bis heute niemand verstand. Am allerwenigsten der junge Mann selbst.

„Ein Mann in Lumpen kam plötzlich in das Dorf, er war sehr in Eile. Er hat mir dich in die Arme gedrückt und mich angefleht, ich solle auf dich aufpassen. Er hat weder seinen Namen gesagt noch sonst irgendwas... dann ist er davon geritten und ward nie mehr gesehen.“ So hatte seine Ziehmutter es ihm einmal erzählt, und die Geschichte ließ Simu keine Ruhe. Er hatte schon als Kind gewusst, dass er nicht Karanas echter Bruder war. Die Lyras waren Schamanen. Puran und sein Sohn und Erbe waren Schwarzmagier, Leyya und Neisa waren Heiler. Und Simu war kein Magier. Der schwere Unterschied hatte den Blonden nie daran gehindert, seine Familie wie eine leibliche Familie zu lieben. Er war auch ein Lyra, er fühlte sich so und wusste genau, dass Puran und Leyya ihn ebenso wie ihren eigenen Sohn liebten und ihm Karana in keinem Punkt vorziehen würden. Das ehrte ihn sehr... aber gerade um dieser großen Ehre gerecht zu werden, wollte er unbedingt herausfinden, was mit dem Mann von damals geschehen war. Und wer seine wahren Eltern waren. Vielleicht lebten sie noch irgendwo? Wahrscheinlicher war, dass sie tot waren... der Mann damals war von Kriegern der Zuyyaner verfolgt worden. Und die Bewohner des blauen Mondes Zuyya waren ein skrupelloses, blutrünstiges Volk, das keinerlei Gnade mit seinen Opfern kannte. Wenn dieser Mann, der Simu zu Lyras gebracht hatte, sein Vater gewesen war, war er unter allergrößter Wahrscheinlichkeit längst tot.

Der junge Mann seufzte und rückte sein Gepäck zurecht, während er der Sonne entgegen schritt. Er war schon so viel gereist... in fast jedem Winkel seines Landes Kisara war er gewesen, nirgendwo hatte er auch nur einen Hinweis auf einen Hinweis gefunden, was damals geschehen sein könnte. Er hatte bereits überlegt, ob er einfach mit der Raumfähre nach Zuyya fliegen und dort fragen sollte. Aber er hielt es für eine dumme Idee... die Zuyyaner galten generell als unkooperativ und würden ihm sicherlich keine Antwort geben, wenn sie ihn nicht sogar gleich strangulierten.

Vielleicht sollte er es einmal auf der Ghia probieren, dem zweiten, viel größeren und grünen Mond Tharrs. Selbst auf Ghia hatten die Sagals Verwandte, hatte er mal gehört, eine Möglichkeit wäre es; denn als Gesandter von Dasan Sagal bekam er natürlich bei jedem Familienmitglied kostenlos Unterkunft, egal, wohin er kam. Das Netzwerk der Sagals war riesig. Es schien keine Information zu geben, die ihnen entging, und wenn am anderen Ende der Welt etwas passierte, waren Sagals gewiss die Ersten, die davon erfuhren. Und selbst der so große und mächtige Telepathenclan wusste nichts über Simus Herkunft. Das war ernüchternd.

Der Blonde verspürte eine eigenartige, innere Unruhe, während er die Straße nach Vialla entlang ging. Kutschen fuhren ab und zu an ihm vorbei oder Reiter galoppierten dahin. Er sah Wagen der Bauern aus den noch kleineren Dörfern, die ihr geerntetes Korn und Gemüse auf den nächsten Wochenmarkt brachten. Während er die Menschen der Provinz beobachtete, stellte Simu fest, dass nicht nur er nervös war. Viele der anderen Menschen wirkten ebenfalls angespannt oder aufgeregt. An sich war das Fühlen von bösen Dingen, die bevorstanden, eine Eigenart der Magier. Aber manche Menschen hatten wohl so etwas wie einen sechsten Sinn dafür, und Simu war offenbar einer davon. Zumindest hatte er schon als Kind oftmals instinktiv gewusst, wenn etwas Schlimmes passieren würde, nicht so stark wie sein Bruder Karana, aber merkbar genug. Jetzt ließ es ihn die Stirn runzeln, während er an einem Wagen vorbei ging, dessen Rad gebrochen war. Der Fahrer stand schimpfend und meckernd am Straßenrand mit dem kaputten Gefährt, aufgeladen waren Massen an geerntetem Obst. Ein paar Passanten waren ebenfalls stehen geblieben, um ihre Hilfe anzubieten oder zu fragen, was geschehen wäre.

„Diese verflixte Straße!“, schimpfte der Obstbauer, „Diese elenden Schlaglöcher, Himmel noch mal! Können diese elenden Aristokraten das nicht endlich mal beheben?! Seit Jahrhunderten ist diese ätzende Straße so fürchterlich! Kein Wunder, dass da die Räder brechen!“ Simu blieb ebenfalls stehen und betrachtete das Desaster. Nein, die Politiker waren ausnahmsweise mal nicht Schuld daran. Puran Lyra war immerhin selbst im Senat, hasste die Straße genauso sehr wie jeder Bauer und hatte schon des Öfteren versuchen lassen, sie zu sanieren – mit wenig Erfolg, weil die Straße sich offenbar wehrte und durch leichte Beben in der Haut von Mutter Erde immer wieder Risse und Löcher entstanden. Offenbar war sie einfach nur ungünstig angelegt und man konnte tausendmal alles neu machen, nichts half. Das dem Bauern zu predigen war jetzt aber sicher keine gute Idee.

„Die Straße, ach!“, schnaufte gerade ein anderer, „Wenn das unser einziges Problem wäre, würde ich Purzelbäume schlagen! Wir werden vielleicht bald alle überrannt und du moserst über die Straße. Komm, wir nehmen alle ein paar Säcke und helfen dir, sie zum Markt zu tragen.“ Simu zog eine Braue hoch, als der Sprecher sich um wandte, um nach dem Obst zu greifen, und ihn dabei anblickte.

„Moment – überrannt?“, entfuhr es dem Blonden, „Wieso überrannt, Mann?“

„Hast du es noch nicht gehört?“, fragte eine Bauersfrau, während nach und nach alle Anwesenden einen Sack Obst vom Wagen nahmen und der meckernde Bauer sich höflich bei den Helfern bedankte. Simu runzelte die Stirn erneut.

„Ähm, nein, was denn gehört?“

„Es kam gestern ein Bote aus dem Osten der Provinz, er hat gesagt, Ela-Ri hat Dhimorien eingenommen! Und es heißt, als nächstes werden sie in Dobanjan landen! Dann wären sie im Süden unseres Landes, stellt euch das vor! Die Monster und Ungeheuer aus dem Ostreich werden uns alle zerfleischen, heißt es! Die Geister sagen nichts Gutes für die Zukunft...“ Der Blonde klappte wortlos den Mund auf.

„Was?! Dhimorien ist gefallen?!“

„Das haben die Soldaten behauptet, die wir getroffen haben, man hat es wohl auch schon dem König in Vialla berichtet.“, antwortete ein anderer Mann beunruhigt, „Ist das nicht furchtbar?“ Da konnte der Jüngere nur fassungslos zustimmen. Ela-Ri, das Reich hinter dem Schlangenmeer, das man gemeinhin als Ostreich kannte, galt als Land der Barbaren, Schlächter und Bestien. Genau konnte man das nicht sagen, weil niemand lebend von dort zurückgekehrt war. Alles, was Simu mit Sicherheit wusste war, dass Ela-Ri einst ein sehr kleines Reich auf dem Ostkontinent gewesen war und dass es sich seit Jahrhunderten Stück für Stück immer mehr vergrößert hatte. Land um Land war an das Ostreich gefallen, und wenn Dhimorien, der Inselstaat ganz im Süden, jetzt auch dazu gehörte, blieb als einziges Land auf dem ganzen Ostkontinenten Tejal im Norden, das nicht gefallen war.

Und das Zentralreich fürchtete seit Jahrhunderten den Tag, an dem das Reich der Bestien, die ihre Toten fraßen und die Schatten verehrten, tatsächlich angreifen würde.

Er wusste jetzt, woher das schlechte Gefühl kam, das er gehabt hatte.
 

„Der Schatten wird kommen… und uns alle fressen. Dann kommt das Ende der Welt... wenn das Zentralreich fällt, werden sie knien, die Maden.“

Karana fuhr aus dem Schlaf hoch, als er plötzlich Geräusche im Haus hörte. Er verdrängte die kichernden Stimmen der Himmelsgeister, die zu ihm sprachen, und hatte keine Zeit mehr, sich über ihre Worte zu wundern, denn just in dem Moment, in dem er sich in seinem Bett aufsetzte, flog die Zimmertür auf und Neisa steckte den Kopf herein.

Karana!“, brüllte sie, „Du sollst aufstehen!“ Ehe er richtig wach werden konnte, kam sie herein und schloss die Tür wieder, um murrend zum Fenster zu rennen und es sperrangelweit aufzureißen. „Verdammt, hier riecht es dermaßen nach Sex, dass es mich echt wundert, wieso Mutti und Vati nicht längst wissen, dass du in ihrer Abwesenheit hier deine Spielchen treibst, Bruder! Himmel noch mal. Wie lange pennst du hier? Die Sonne geht unter, du Trottel.“

Er blickte aus dem jetzt offenen Fenster und gähnte herzhaft, ehe er sich wieder in sein Kissen fallen ließ.

„Ach, verdammt... ich hab die Mädchen gegen Mittag fortgeschickt, als wir fertig waren, und hab mich wieder hingelegt, weil ich todmüde war...“

„Kein Wunder, wenn du die ganze Nacht irgendwelche Tussen genagelt hast. Kriege ich eigentlich jemals sowas wie ein Danke, weil ich dich decke und nicht großkotzig heraus posaune, was du so treibst?“

„Es ist nicht so, dass ich keinen Sex haben dürfte, Neisa... ich bin ein Mann. Ich bin erwachsen und ich bin nicht verheiratet, habe also theoretisch jedes Recht, mit jeder willigen Frau zu tun was ich möchte. Betonung auf willig, ich vergewaltige niemanden, klar?“ Seine jüngere Schwester zischte, stampfte zu seinem Bett, in dem er immer noch lag, und riss ihm die Decke weg. Er brummte, jetzt komplett nackt, und sie zog mit spitzen Fingern ein Höschen aus seinem Bett. „Hey, lass mir die Decke, Neisa...“

„Wem gehört das jetzt wieder?“, fragte die kleine Schwester und betrachtete das Höschen eingehend, „Wie kann eine deiner Schlampen hier ihre Unterwäsche vergessen? Rennt sie jetzt unten herum nackig einher?“ Er grinste dreckig.

„Wäre doch nett, spart Zeit... braucht man bloß noch schnell die Hose aufmachen.“ Er erntete eine nicht ernst zu nehmende Ohrfeige.

„Schwein. Los, steh auf, Mutti war gerade sehr grantig, als wir heim kamen und niemand geantwortet hat. Wo ist Simu, der Penner?“

„Woher soll ich das wissen...“, stöhnte der Bruder und setzte sich auf, um sich über das Gesicht zu reiben. „Ach, warte... er ist weg, irgendwo hin, keine Ahnung... so eine seiner Spionagereisen für den alten Sagal, nehme ich an.“ Sie wurde jetzt ruhiger, seufzte tief und sah zum offenen Fenster in den Sonnenuntergang.

„Apropos Sagal. Niarih lässt dich grüßen, ich habe sie eben im Dorf getroffen. Ihr... Großvater ist in Taiduhr, irgendetwas Schlimmes soll passiert sein. Es heißt, die Schatten aus dem Ostreich kämen, um uns zu zerfleischen.“ Sofort war der Mann auf den Beinen.

„Was? Wiederhole das!“

„Seit wann muss ich dir zweimal sagen, wenn ein Mädchen nach dir fragt?“

„Ach, doch nicht mit Niarih, das danach! Was ist mit dem Osten?“ Sie warf ihm einen langen, dumpfen Blick zu. Ihre Augen waren verschieden... eins blau, eins grün. Karana faszinierte das bildhübsche Gesicht seiner kleinen Schwester, obwohl er genau wusste, dass sie seine Schwester war. Es war nicht so, dass er sie begehrte... das durfte er schließlich nicht. Außerdem war sie noch ein Mädchen... obwohl sie schon vierzehn war, hatte sie ihre Blutung noch nicht bekommen. Erst, wenn sie die bekäme, würde sie das Blutritual erhalten, das sie zur Frau machen würde. Sie war spät dran... wenn er daran dachte, dass ihre Mutter in diesem Alter bereits einen Sohn geboren hatte. Manchmal, wenn sie badete und er ins Bad wollte, sah er sie an und wünschte sich, sie wäre eine Frau und nicht ausgerechnet seine Schwester. Und dann ohrfeigte er sich innerlich für die Gedanken.

„Die Schatten aus dem Ostreich.“, sagte das blonde Mädchen dumpf, ohne den Blick von ihm zu wenden, „Sie kommen. Dann kommt das Ende der Welt. Das Zeitalter von Khad-Arza ist so gut wie vorbei.“

Er senkte den Kopf, ehe er anfing, sich anzuziehen.

„Davon habe ich geträumt. Die Geister haben zu mir gesprochen vorhin, sie sagten das auch. Ich habe es... gesehen, Neisa.“ Sie sagte nichts, als ihr Bruder sie ansah und seine grünen Augen auf ihre verschiedenfarbigen trafen. „Dhimorien ist in den Schatten gestürzt... habe ich recht?“
 

Da Neisa mit Niarih befreundet war, kannte Karana das blonde Sagal-Mädchen schon seit sie Kinder gewesen waren. Seine Bindung zu Niarih war kein wahlloses Begatten wie das, was er mit den anderen Mädchen aus den umliegenden Dörfern so trieb. Die anderen bedeuteten ihm nicht mehr als eine kurzzeitige Befriedigung seiner Triebe. Und sie erwarteten auch nicht mehr von ihm, das war das Gute daran. Sie wussten genau, er würde nie eine von ihnen bitten, seine Frau zu werden... es gab nur eine, die er darum gebeten hätte, und die war weit weg und würde seiner Bitte vielleicht nicht mal folgen, selbst wenn er sie stellte.

Er wollte nicht an sie denken, während er zu Niarih ging, um sie und sich selbst auf ähnliche Weise zu erleichtern wie alle anderen Frauen. Mir Niarih war es kompliziert, weil sie genau genommen gar nicht bei einem Mann liegen durfte. Offiziell war sie noch ein Mädchen, eine Jungfrau, obwohl sie längst ihre Blutung hatte auf ewig dazu verdammt, alleine zu bleiben. Ihr Großvater – Karana legte die Stirn in Falten bei den Gedanken an das Oberhaupt des mächtigen Clans – würde ihr das nie erlauben.

Und der wahre Grund dafür war nicht, dass sie ein uneheliches Kind war.

Karana brauchte nie zu klopfen, wenn er Niarih besuchte, denn sie als Telepathin wusste im Voraus, dass er käme, und öffnete ihm so bereits die Tür.

„Du bist gekommen.“, stellte sie lächelnd fest, „Simu war heute morgen ziemlich empört darüber, dass du es mit zwei Frauen zugleich getrieben hast.“ Er grinste.

„Ja, der Spinner sollte sich vielleicht endlich mal selbst eine nehmen, dann würde er das besser verstehen. Aber du kennst ja Simu, unser Unschuldslamm. Ich glaube, der weiß gar nicht, wozu er seinen Mannknochen benutzen soll. Dabei wären die Mädchen in Thuran sicher nicht abgeneigt, ich meine, ist ja nicht so, dass er nichts zwischen den Beinen hat. Ich beneide ihn, ehrlich gesagt.“ Niarih verdrehte die Augen und zog ihn in das düstere Anwesen, die Tür schließend.

„Du bist so eine Quasselstrippe!“, tadelte sie ihn, „Soll ganz Lorana hören, was du über Simus Sexleben zu sagen hast?“ Karana schnaufte.

„Wenn er eins hätte, meinst du wohl. Ich wünsche ihm ja, dass er eines Tages eine Domina findet, die ihn richtig durchnimmt.“ Er ließ sie nicht antworten, weil er sie an den Oberarmen packte, rückwärts gegen die Tür drückte und gierig küsste. Das junge Mädchen, das gar kein Mädchen mehr war durch seinen Verdienst, zuckte nur kurz, ehe es seinen innigen Kuss mit derselben Leidenschaft erwiderte. Als er mit der Zunge forsch zwischen ihre weichen Lippen drang, entfuhr ihr ein leises Seufzen. Das, was er an Niarih so viel lieber mochte als an allen anderen Nutten, die er so in sein Bett holte, war, dass ihre Hingabe eine ehrliche, liebevolle Zuneigung war und nicht bloß die animalische Lust auf Befriedigung. Sie hatte ihn gern... und er hatte sie gern, deswegen hatte sie ihn vor einiger Zeit gebeten, sie hinter dem Rücken ihrer Eltern zur Frau zu machen. Er war bereits ein Mann, und jeder Schamane, der das Ritual schon bekommen hatte, war befugt, es auch für einen Jüngeren zu machen. So war Niarih vor den Geistern jetzt eine Frau... nur die Sterblichen wussten nicht darum, dass das kleine Mädchen längst erwachsen war.

„Wo ist deine Mutter?“, fragte Karana, als er den Kuss keuchend beendete und mit den Händen bereits erhitzt an ihrem hübschen und doch noch so zierlichen Körper entlang glitt, dabei ihre Bluse geschickt aufschnürend.

„Bei meiner Tante zu Besuch, sie kommt erst morgen zurück. Die Geister haben dir auch furchtbare Dinge erzählt, oder? Mein Vater war ziemlich grantig, als er sich nach Taiduhr teleportiert hat. Die Bestien aus dem Osten... denkst du, sie werden herkommen?“ Karana drehte brummend den Kopf zur Seite, als er ihre Bluse aufgeschnürt hatte und nun ihren nackten, blassen Oberkörper freilegte.

Ihr Vater, hatte sie gesagt. Manchmal fragte er sich, wie sie so schamlos davon sprechen konnte. Oder wie sie es schaffte, das immer nur dann zu tun, wenn sie sicher war, dass niemand es hören konnte, der es nicht hören sollte. Er war wirklich sprachlos gewesen, als sie ihm damals, als sie ihn um das Ritual gebeten hatte, gebeichtet hatte, was der wahre Grund für ihre so spezielle Behandlung war. Damals hatte er gelernt, dass sie sehr, sehr viel ärmer dran war als er angenommen hatte. Uneheliche Kinder hatten es immer schwer. Aber das, was sie war, war viel abscheulicher und bemitleidenswerter.

„Lass uns in dein Zimmer gehen.“, sagte er zu ihr, „Ich... will jetzt nicht über diese beunruhigenden Dinge nachdenken. Wenn mein Vater aus Vialla heimkehrt, wird er sicher Neues zu berichten wissen... über Dhimorien, das in den Schatten fiel.“
 

Dass er sich gerne mit Frauen vergnügte, war kein Geheimnis in der Provinz. Aber mit Niarih tat er es so viel lieber als mit allen anderen… sie war keine notgeile Hure, die sich von ihm besteigen ließ, um befriedigt zu werden, sie bekam während sie mit ihm schlief das Gefühl, sie wäre normal. Ein normales Mädchen wie alle anderen auch, kein Bastard und keine Blutschande, gezeugt von ihrem eigenen Großvater, den das irgendwie zu ihrem Vater machte. Karana beneidete sie um ihre Standhaftigkeit. Er war sicher, wäre er an ihrer Stelle und würde erfahren, dass sein Großvater eigentlich sein Vater war, er könnte weder ihn noch seine Mutter bedingungslos lieben. Er hätte beide verachtet für das Schicksal, das sie ihm beschert hatten, für die Schwäche, die sie gezeigt hatten, nachdem sie nun schon Inzucht betrieben hatten die ungeborene Frucht nicht einfach zu vernichten, bevor daraus ein bemitleidenswertes Kind werden konnte. Niarih dachte nie so... sie liebte ihre Eltern beide. Das einzige, das sie hasste, war dass sie ihren Vater immer nur heimlich Vater nennen durfte.
 

Sie schliefen zweimal miteinander. Die Geister flüsterten in seinem Kopf und Karana versuchte verärgert, sie zu verdrängen, während er mit der jungen Frau vereint war und sie sich stöhnend an seinen verschwitzten Oberkörper klammerte. Er wollte jetzt nichts hören... er wollte verdammt noch mal seine Ruhe, während er bei Niarih lag. Aber die Unruhe war zu drängend und zu wichtig, als dass er sie einfach hätte wegwischen können, und er tat etwas, das er selten tat: er verfluchte die Mächte, die in ihm wohnten, und seine Bestimmung, einmal ein großer Magier und Geisterjäger zu werden wie sein Vater es war. Nachdem er sich dank der Anspannung nur etwas lieblos in ihr erleichtert hatte und sich zurückzog, um sich murrend von ihr herunter zu rollen, schnappte die junge Frau verwirrt nach Luft, ihn anstarrend, der ihr den Rücken kehrte.

„Verdammt, die Geisterstimmen machen mich verrückt...“, stöhnte er und griff an seine Schläfen. Sein Schädel pochte, während das Flüstern jetzt abflaute und er sein eigenes Herz dank der vorangegangenen Vereinigung noch schnell schlagen hörte. „Tut mir leid, Niarih... vielleicht warten wir noch ein bisschen und versuchen es noch mal...“ Er hörte, dass sie sich hinter ihm aufsetzte, dann spürte er sie sich über ihn beugen und ihn zärtlich umarmen. Ihre nackten, kleinen Brüste drückten gegen seinen Oberarm und er zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als ihr noch heißer Körper an seinem die Flamme in seinen Lenden urplötzlich wieder aufweckte.

„Ich sehe... die Schatten auch...“, wisperte Niarih ihm leise ins Ohr und jagte ihm damit einen Schauer über den Rücken. Ihre Stimme war belegt, entweder von der noch anhaltenden Lust oder weil die Geister zu ihr genauso sprachen wie zu ihm. Sie war Telepathin und stammte, das musste man ihrem perversen Vater lassen, aus einer sehr mächtigen, ehrwürdigen Familie der Schamanen. Die Geister sprachen oft mir ihr... „Aber ich sehe sie nicht nur im Osten, Karana... mit Feuer und dem Zorn des Himmels werden sie Lorana zum Himmelsdonner jagen... ich habe es gesehen...“ Er drehte jetzt perplex den Kopf zu ihr und sah in ihre unsicheren, apathischen Augen.

„Lorana? Wer wird uns zum Himmelsdonner jagen, Niarih? Sprich!“ Sie richtete sich wieder auf, ehe er sich auf den Rücken drehte und zuließ, dass sie sich breitbeinig über ihn setzte. Das Feuer kehrte mit einer ungeahnten Heftigkeit zurück und der Anblick ihres im bleichen Mondlicht glänzenden, nackten Körpers über ihm ließ ihn erneut vor Erregung hart werden. Unruhig zischend packte er ihre Hüften. „Wer, Niarih?!“, blaffte er sie an, und sie beugte sich lächelnd über ihn, ebenso erfüllt von der erregten Hitze wie er selbst, als sie sprach.

„Die armseligen Sterblichen, Karana... wir müssen den Sonnenuntergang fürchten. Und die Geier des Todes, die kommen werden, um uns zu blenden.“

Er verstand ihre in Trance gesprochenen Worte nicht. Und er war nicht fähig, sie in sich aufzunehmen, weil das Verlangen nach ihr jetzt so viel realer und greifbarer war als irgendwelche seltsamen Dinge, die die Geister durch den Mund dieser Frau zu ihm sprachen. So erwiderte er nichts auf ihre Warnungen, als er sich seiner Erregung und dem Verlangen nach ihr hingab und sie ungeduldig zu sich herab zerrte, um ihre Hitze erneut zu spüren.
 


 


 

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so! Seid ehrlich: zu viele Infos? Zu wenig Inhalt? Beides?^^' Was haltet ihr von den 'neuen' alten Charas?^^ Karana, Neisa, Simu...? Sind sie anders? Negativ anders oder positiv?^^'

Das Geistermädchen

Der Morgen war beinahe vorüber, als Simu auf seinem Weg nach Osten im Straßengraben in der Ferne ein totes Tier liegen sah. Nicht, dass tote Tiere so ungewöhnlich gewesen wären, an sich, aber im Straßengraben kam das doch eher selten vor. Schon gar nicht auf der Hauptstraße, die ins Reichskapital führte.

Der junge Mann hatte in der Nacht in einem kleinen Dorf gerastet – natürlich hatte dort auch einer der Sagals gewohnt, Simu hatte seinen Verwandtschaftsgrad zu Dasan Sagal, dem alten Oberhaupt, aber schon wieder vergessen – und war noch im Morgengrauen aufgebrochen, um möglichst zügig weiter vorwärts zu kommen. Im Dorf hatte man die Kunde von Dhimoriens Schicksal ebenfalls schon gehört gehabt und den Blonden hatte es ziemlich bekümmert. Nicht, weil er in Dhimorien jemanden gekannt hätte... aber die Vorstellung, dass die Bestienzüchter und Kannibalen aus dem Osten tatsächlich wagen könnten, auf das Zentralreich loszugehen, war unheimlich.

Genau genommen gehörte Dhimorien nur politisch gesehen zum Zentrum. Ursprünglich hatte man das Zentralreich den großen Festlandkontinenten genannt, auf dem auch Kisara lag. Ein langes Meer, das sich Schlangenmeer nannte, trennte diesen großen Massivkontinenten von einem weiteren, schmaleren Festland. Der schmale Kontinent war das geografische Ostreich. Das einzige Land auf diesem Kontinenten, das jetzt noch nicht ein Teil der Großmacht Ela-Ri war, war Tejal im Norden. Genau wie Dhimorien gehörte Tejal seit einigen Jahrhunderten zu den Verbündeten des Zentrums. Und obwohl es am weitesten entfernt von der Reichshauptstadt Vialla war, war es ein wichtiger Verbündeter. Simu war bisher noch nicht in Tejal gewesen, auch wenn es ihn interessieren würde, dieses Land der goldenen Paläste einmal anzuschauen. Seinen Vater hatte die Idee nicht sonderlich begeistert, seinen Sohn über das Schlangenmeer segeln zu lassen, und Simu wollte seine Eltern nicht in unnötige Sorge versetzen.

So dachte er vor sich hin und setzte seinen Weg über die Landstraße fort, bis er an dem vermeintlichen toten Tier im Straßengraben vorbei kam und dabei plötzlich feststellte, dass es gar kein Tier war, sondern ein in eine dreckige Felldecke gehüllter Mensch. Und der Fellhaufen zitterte, so konnte der Mensch darin unmöglich tot sein.

„Ach du liebe Zeit!“, schrie der junge Mann entsetzt und sprang in den Graben, um vorsichtig nach dem armen Schlucker zu sehen. Er zog das schmutzige Fell etwas zur Seite und erkannte mit Schrecken, dass es ein sehr junges, unnatürliche bleiches Mädchen war. Er hatte einen besoffenen Penner erwartet, der keine Heimat hatte, und selbst solche Leute verdienten so ein Elend doch nicht... aber das hier übertraf seine schlimmsten Erwartungen. „Verdammt, hey... ähm, bist du in Ordnung?“, fragte er entsetzt und versuchte, das am ganzen Leibe zitternde junge Mädchen wach zu rütteln. Es klammerte sich im Schlaf – oder ihrer Ohnmacht – panisch an das Fell, das sie sich um den ganzen Körper gewickelt hatte, und es kostete Simu ein wenig Mühe, es ihr vom Kopf zu ziehen. Nicht nur ihre Haut war unnatürlich bleich, stellte er erstaunt fest, als er hellblonde, nein, eigentlich schon fast weiße Haare zu Tage förderte. Simus eigene Haut war schon nicht sonderlich gebräunt, er war von Natur aus recht blass, aber diese Dame hier war gegen ihn Kalksteinfarben. Eigentlich noch blasser als das. Zusammen mit den hellen Haaren ließ das den jungen Mann schnell festlegen, welchem Volk sie angehörte, denn so hell, wie dieses Mädchen war, konnten nur Lianer sein.

Simu versuchte sich zu erinnern, ob er jemals zuvor einem Lianer begegnet war. Hier, auf Tharr, und erst recht im Westen des Zentralreiches, gab es so gut wie gar keine Angehörige dieses Volkes mehr. Die Lianer waren das zweite Magiervolk auf Tharr, neben den Schamanen waren sie aber schon immer eine sehr kleine Minderheit gewesen. Und ihre Magie funktionierte anders als die der Schamanen... Lianer waren Beschwörer. Sie konnten elementare Bestien beschwören, die ihrem Willen gehorchten, was viel furchteinflößender klang als es war, denn soweit der Blonde gelernt hatte, waren Lianer grundsätzlich ein friedliebendes Volk. Und normalerweise lagen sie nicht in dreckige Felle gehüllt im Straßengraben. Er kam nicht dazu, weiter zu denken, da das junge Mädchen jetzt die Augen öffnete und erstarrte, als sie ihn sah. Ihre Augen waren von einem so hellen Blau, dass auch sie beinahe als weiß durchgegangen wären.

„Bist du verletzt?“, fragte Simu die Lianerin, „Hab keine Angst, ich will dir nicht wehtun. Ich... ich möchte nur helfen, wenn ich kann.“ Sie starrte ihn nur fassungslos an und er fragte sich gerade, ob sie stumm wäre, da sprach sie; sie hatte einen eigentümlichen, ganz feinen Akzent, den er noch niemals zuvor gehört hatte.

„Danke... mir... geht es gut, glaube ich.“ Er runzelte die Stirn und sah an ihr herab.

„Sicher? Ich, ähm, sah dich hier im Graben liegen und dachte erst, du wärst ein totes Tier... hast du etwa hier geschlafen?“ Sie nickte, rappelte sich dann etwas unbeholfen wie ein frisch geborenes Kitz auf die Beine und spähte auf die momentan leere Straße. Nervös sah sie nach Osten, dann nach Westen, und hockte sich wieder zu Simu, dabei das Fell wieder um ihren Kopf zerrend, um alles außer ihrem Gesicht darunter verschwinden zu lassen.

„Bitte sagt niemandem, dass Ihr mich getroffen habt!“, wisperte sie dann schüchtern, „Es... es ist alles, was Ihr für mich tun könnt.“ Simu musste schmunzeln, weil sie ihn so übertrieben höflich im Plural ansprach; sah sie denn nicht, dass er auch nicht viel älter als sie sein konnte? Dann erst sickerte die Bedeutung ihrer Worte zu ihm durch und er runzelte die Stirn.

„Wirst du verfolgt?“ Das war nicht abwegig... Lianer wurden immer verfolgt, vor allem in dieser Gegend. Wenn dann mal welche hier waren. Es war beinahe so lange her wie Karana alt war, dass ein Mann, der sich Scharan nannte, ein Medikament erfunden hatte, das die Beschwörungshormone der Lianer unterband und sie somit entwaffnete. Das war eine ziemliche Revolution gewesen, hatte der Blonde gehört, und seitdem war es Gang und Gebe, die Beschwörer zu Sklaven abzurichten. Allerdings weniger auf Tharr, sondern mehr auf dem grünen Mond Ghia...

Das junge Mädchen zog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein und schüttelte wild den Kopf.

„B-bitte, Herr... sprecht nicht mit mir. Ich muss fort von Vialla. Rasch.“ Er zog eine Braue hoch, als sie sich abermals taumelnd aufrappelte, und er hörte jetzt ihren Magen protestieren. Sie schien die eindeutigen Hungersignale zu ignorieren und versuchte hilflos, aus dem Graben zu kraxeln. Sie war beinahe oben, da verlor sie den Halt, stürzte mit einem verzweifelten Wimmern wieder zu Simu herunter und wurde gerade noch von ihm abgefangen, ehe sie auf den harten Grund hätte schlagen können.

„Ähm, soll ich dir nicht doch helfen?“, versuchte er es ratlos, als sie auf seinen Armen lag, aber als er ihr Gesicht zu sich drehte, waren ihre Augen geschlossen und sie wimmerte nur Worte, die er nicht verstand, vor sich hin, reagierte auf sein Rütteln nicht mehr. Offenbar war sie dabei, das Bewusstsein zu verlieren. Er verdrehte die Augen, ehe er seinen Rucksack abnahm, dabei die Lianerin vorsichtig auf den Boden legend. „Du dummes Mädchen.“, tadelte er sie dabei, „Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen? Kein Wunder, dass dein Körper sich weigert, dir zu gehorchen.“ Er zog aus seinem Gepäck seinen Wasserbeutel und gab ihr vorsichtig zu trinken. Als sie schluckte und blinzelnd aufwachte, sah sie abermals sein Gesicht vor ihrem und jammerte.

„Oh nein... i-ich bitte um Vergebung! Ich mache Euch nur Ärger!“

„Ach was, du bist nur ein bisschen blöd, ohne Nahrung hier herum zu eiern. Komm, ich habe etwas zu essen dabei, du kannst etwas haben, wenn du magst. Bevor du noch mal umfällst.“ Sie starrte ihn entgeistert an, als er aus seinem Rucksack in Stoff eingewickelte, gepökelte Fleischstreifen zu Tage förderte und ihr entgegen hielt.

„D-das kann ich doch nicht annehmen!“, keuchte sie und er hielt ihr das Fleisch dichter unter die Nase.

„Na los doch, ich möchte kein schlechtes Gewissen bekommen, dich verrecken gelassen zu haben. Erzähl mir lieber, was du hier im Graben zu suchen hast...“ Er sah zu, wie sie jetzt doch das Essen annahm und es gierig verschlang; sie musste wirklich großen Hunger haben. Simu hockte sich auf einen Geröllbrocken im Graben und wartete geduldig, bis sie sich satt gegessen hatte. „Also?“, kam dann, „Was hast du hier verloren?“ Sie errötete und sah zur Seite, ihm das leere Stofftuch zurückgebend.

„Danke, Herr. Das Fleisch war sehr lecker...“

„Ja, hat meine Mutter gemacht. Sie ist eine gute Köchin. Was machst du hier?“ So leicht ließ er sich nicht ablenken, ganz sicher nicht. Lianer an sich waren hier in der Provinz schon selten anzutreffen. Im Südwesten der Provinz gab es ein Lianerdorf, in dem die wenigen Beschwörer, die nicht versklavt und nach Ghia getrieben worden waren, in Frieden leben konnten. Dieses Dorf anzugreifen oder die Bewohner zu belästigen zog die Todesstrafe nach sich, die letzten Beschwörer Kisaras standen unter dem Schutz des Königs persönlich.

„Ich... bin auf der Suche nach jemandem.“, gestand die Lianerin da und Simu zog eine Braue hoch.

„Im Straßengraben? Wer mag das sein, den du hier zu finden gedenkst?“ Sie zischte.

„D-doch nicht hier, ich... ich weiß... ehrlich gesagt nicht genau, wo ich ihn suchen soll. Ich bin extra nach Tharr gekommen, w-weil ich dachte... vielleicht ist er noch hier.“ Jetzt war der junge Mann schlauer als vorher.

„Dann bist du von Ghia hergekommen? Mit der Raumfähre?“ Das verblüffte ihn... erstens kostete so eine Fahrt mit der Fähre massig Geld und sie sah nicht unbedingt so aus, als hätte sie dieses Geld. Zweitens war auf Ghia die Sklaventreiberei sehr viel harscher und emsiger als sie es auf Tharr jemals gewesen war. Wenn sie von Ghia kam, war sie vermutlich ihrem Herrn entflohen... auf Ghia gab es keine freien Lianer. Und hatte es nie gegeben. Ursprünglich stammte das Volk von Tharr... alle, die nach Ghia gejagt worden waren, waren Sklaven, entmachtet von der Droge, die der König der Sklaventreiber, Scharan, erfunden hatte.

Das junge Mädchen nickte eingeschüchtert, sich wohl bewusst, dass sie zu viel preisgegeben hatte.

„Und dann bist du aus Vialla weg und hierher in der Hoffnung, wer immer dich verfolgt würde dich hier nicht finden.“, schlussfolgerte der Blonde dumpf, „Verstehe. Und das stinkende Fell?“

„Stammt von einem Abfallhaufen in Vialla...“

„So riecht es auch.“ Er grinste und sie sah errötend zu Boden. Simu streckte ihr seine Hand entgegen. „Mein Name ist Simu. Entschuldige, falls ich dich belästige.“ Sie sprang auf und nahm seine Hand, sich dabei demütig verneigend.

„N-nein, Herr! Ihr habt mir das Leben gerettet, ich stehe in Eurer Schuld! Bitte... bitte grämt Euch nicht um meinetwillen! Ich...“ Sie zögerte, ehe sie seine Hand losließ und verlegen zu Boden starrte, „Ich heiße Eneela.“

„Ist doch schon gut, du bist hier keine Sklavin, Eneela.“, sagte er zu ihr und begann dann, aus dem Graben zu klettern. „Was ist das für einer, den du suchst, Lianermädchen? Gehört er zu deinem Volk?“ Sie sah ihm nach und begann dann auch, zu klettern, dieses Mal erfolgreicher als zuvor. Als sie beide wieder auf der Straße standen und Eneela sich ihr Fell über das Gesicht zog, als ein Wagen an ihnen vorbei ratterte, lachte Simu sie aus. „Niemand tut dir was, hier in Kisara sind Lianer sowas wie eine geschützte Tierart.“

Tierart? Na, besten Dank.“, jammerte sie und er klopfte ihr auf die Schulter. Jetzt beantwortete sie seine Frage. „Sein... sein Name ist Dak Kaniy, er... ist mein Vater. Ich weiß nicht, ob er überhaupt hier ist, aber auf Ghia war er nicht und niemand wusste um seinen Verbleib...“ Der junge Mann seufzte.

„Lianer gibt es hier nicht viele. Der einzige Ort, wo er sein könnte, ist das Lianerdorf im Südwesten. Und wenn er dort nicht ist, wissen die Bewohner aber vielleicht etwas über ihn.“ Er zeigte in die Richtung, aus der er kam. „Es liegt in dieser Richtung. Frage in den Dörfern nach dem Weg, niemand wird dir etwas tun.“ Er erntete einen verunsicherten Blick von dem Lianermädchen, als er seinen Rucksack zurecht rückte und sich gerade daran machen wollte, wieder nach Osten zu ziehen. „Der Weg ist allerdings ein gutes Stück, du wirst mehrere Tage brauchen. Du könntest in meinem Heimatdorf Unterkunft finden für zwischendurch, wenn du dort sagst, Simu hat dich geschickt, wissen sie sicher Bescheid. Oder hast du selber Geld für eine Unterkunft?“ Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

„Nein...“

„Und zu essen und zu trinken hast du auch nicht.“, erinnerte er sich und er runzelte die Stirn, als ein weiterer Wagen an ihnen vorbei fuhr, während sie am Straßenrand standen. „Hast du irgendetwas bei dir außer deiner Kleidung und diesem stinkenden Fell?“ Abermals schüttelte sie den Kopf und er schwieg eine Weile. Er war noch nicht all zu weit weg von seiner Heimat. Für den Weg würden Wasser und Vorräte reichen, aber wenn er ihr etwas abgab, würde es für ihn nicht bis zum nächsten Dorf reichen... davon abgesehen hatte er nur einen Wasserbeutel und konnte ihn schlecht teilen. Simu seufzte und wandte sich Eneela zu. „Gut, ich bringe dich nach Lorana. Das ist das Dorf, in dem ich wohne. Dann rüsten wir dich besser aus und du kannst getrost zum Lianerdorf gehen. Was hältst du davon?“

„A-aber... ich halte Euch von Euren eigentlichen Plänen ab!“, rief sie panisch, „D-das geht doch nicht...“

„Soll ich dich hier verdursten lassen? Wie gesagt, geschützte Tierart. Wenn ich dir nicht helfe, bekomme ich Ärger vom König. Auch, wenn er ein Freund meines Vaters ist... also gehen wir, komm schon! Wenn wir rasch gehen, können wir vielleicht noch in der Nacht Lorana erreichen.“
 

Karana war noch nicht lange wieder zu Hause, da bekam er unerwarteten Besuch. Die Mittagshitze war noch ziemlich stark, obwohl der Sommer schon vorüber war und der Herbst bald käme. Karana saß vor der Haustür im Schatten, zu seinen Füßen lag sein großer, schwarzer Hund und pennte, während sein Herrchen sich auf seinem Schoß eine Zigarette drehte. In seinem Rücken hörte er das Klappern des Geschirrs aus der Küche, weil seine Mutter aufräumte. Der Schamane hörte jemanden seinen Namen rufen und hob brummend den Kopf, um seinen langjährigen Kumpel Tayson zu erkennen, der daher kam.

„Was ist mit dir denn los?“, begrüßte er den Besucher, „Du hüpfst hier grinsend durch das Dorf, musst du gar nicht arbeiten?“

„Heute nicht, nein.“, sagte Tayson, der vor seinem Freund zum Stehen kam, „Na, das ist aber eine freudige Begrüßung, Zauberer! Wo hast du letzte Nacht wieder gesteckt, im wahrsten Sinne des Wortes, dass du so müde bist?“

„Schamane.“, korrigierte Karana, „Es heißt Schamane, nicht Zauberer. Merk es dir endlich, du hohler Depp!“ Er grinste jedoch bei seinen Worten, während der Hund den Kopf hob und er Tayson argwöhnisch angrinste. Als er Karanas Freund erkannte, schloss er brummend die blauen Augen wieder und schlief weiter. „Also, was ist los? Wenn du mir erzählen willst, dass Dhimorien gefallen ist, ist es überflüssig, denn das weiß ich schon.“

„Was, Dhimorien? Um Himmels Willen!“, rief der Größere entsetzt und Karana linste ihn an.

„Gut, du wusstest es offenbar nicht.“

„Ach Quatsch, ich komme, weil ich echt schräge Sachen gehört habe gestern und dachte, ich frage dich mal, du bist hier schließlich derjenige, der mit den Geistern redet.“ Karana seufzte und rückte ein Stück zur Seite, damit sein Freund sich zu ihm setzen konnte. Er steckte sich die fertige Zigarette in den Mund und zündete sie mit einer kleinen Handbewegung an, nach der aus seiner Fingerspitze eine Flamme schnellte.

„Und? Ich höre.“, sagte er und begann, seinen Hund mit dem Fuß am Nacken zu kraulen. Das Tier brummte zufrieden.

„Drüben in Kamien war der Bär los, das hättest du sehen sollen. Ich wollte gestern nach Koraggh, um mir neuen Tabak zu kaufen, die ganze Stadt war in Aufruhr und nicht nur das, auch die Straßen und alles, Koraggh hat gebrannt, ich glaube, da war eine ganz schöne Schlägerei.“ Karana starrte ihn an.

„Die Stadt hat gebrannt?“

„Ja, zumindest die vereinzelten Gegenden, in denen mal vernünftige Häuser und keine Baracken gestanden haben... du kennst ja die Gegend, die wenigsten Leute leben da in anständigen Häusern. Kamien ist eben die Provinz der ärmsten Schweine überhaupt.“

„Und jetzt sind sie schon so verzweifelt, dass sie ihre eigenen Städte anzünden? Das... ist ja unglaublich produktiv.“ Aber was wunderte es ihn, dachte er sich dazu, in Kamien löste man Probleme gerne auf unproduktive Art.

Die Provinz grenzte direkt an Thalurien, wo er selbst lebte, aber während Thalurien zum Land Kisara gehörte, war Kamien bereits Teil von Senjo, dem Nachbarland im Westen. In der Schule, auf die Karana zusammen mit Simu und auch Tayson gegangen war, waren viele Kinder auch aus Kamien gewesen, weil es in ihrer Provinz einfach keine vernünftige Schule gab. Es gab nichts dort, wenn man ehrlich war, außer trockene Felder, schlechte Ernten und missmutige, brutale Menschen, die in ihrer Armut sämtliche Tugenden über den Haufen geworfen hatten. Die meisten Bewohner waren Bauern, einige waren Handwerker. So etwas wie Politik oder Einfluss des Königs von Senjo gab es in Kamien so gut wie nicht, als abgelegenste, ärmste und unfruchtbarste Provinz des Landes war es einfach ein Ort, an den Beamte verbannt wurden, wenn sie Mist gebaut hatten, und dementsprechend motiviert waren diese Aufseher dann auch und ließen sich meistens von den grimmigen Landsleuten in die Flucht schlagen, verjagen oder gar auffressen. Es herrschten nie gute Zeiten dort, aber brennende Städte waren dem Schamanen zumindest selbst in Kamien neu.

„Ich glaube, sie machen mal wieder den Hauch an wohlhabenden Leuten fertig, den sie da haben.“, warf Tayson da ein, „Oder so, jedenfalls waren die Leute auf den Straßen ziemlich aufgebracht, die ich so gesehen habe. Hab dann schleunigst zugesehen, da wieder wegzukommen, Alter, die hatten richtige Waffen. Speere und Schwerter, die waren richtig gewalttätig. Ich dachte, ich stehe im Wald, als ich das gestern sah.“ Sein Freund zog beunruhigt an seiner Zigarette und sah in den grünen Himmel, aus dem die Mittagssonne auf sie herab knallte.

„Klingt komisch. Tangiert uns aber vermutlich nicht weiter, oder?“

„Ja, das weiß ich eben auch nicht so genau. Der größte Witz an der Sache kommt ja erst noch. Ich bin also raus aus der Stadt und wollte zurück über die Grenze, rate, wen ich rein zufällig getroffen habe.“

„Die Nutte mit den blonden Locken, die wir uns mal geteilt haben?“

„Ähm, nein...“

„Die Nutte mit den braunen Kulleraugen, die ich dir weggenommen habe?“

„Auch nicht. Ähm, derjenige hatte keine Titten, Karana.“

„Was? Verdammt, ich mach es aber eigentlich nicht mit Frauen ohne Titten.“ Tayson verdrehte die Augen.

„Mann, du Stecher, es war Loron! Unser allerbester, liebster, nettester und engster Freund, haha... der Prinz von Holia.“ Karana pustete heftig den Rauch aus seinem Mund und fing an zu lachen bei der so alten Bezeichnung. Loron, ja. Den hatte er gar nicht bedacht. Er war weder wirklich sein Freund noch auch nur annähernd so etwas wie ein Prinz. Das Dorf, von dem sein Vater zufällig selbsternanntes Oberhaupt war, Holia, war nicht viel mehr als ein weiteres Kuhkaff ohne Reichtümer in Kamien.

„Gut, Loron, was hat er gesagt?“

„Er hatte ein Pferd, ich wusste gar nicht, dass er reiten kann, dieser Penner!“

„In Senjo können alle reiten, sie sind das Reitervolk.“

„Wie auch immer, jedenfalls fing er großkotzig an zu erzählen, sie würden die Obrigkeit vernichten und alle Männer zusammensammeln, die sie in der Gegend auftreiben können, und sie würden sich holen, was ihnen zusteht. Das heißt, die ganzen Bauerntrampel in Kamien gehen jetzt voll auf die Barrikaden und basteln sich wohl sowas wie eine Armee... ich frage mich, wohin die damit wollen. In die Hauptstadt Yuron? Ist etwas weit, oder?“ Sein Freund erhob sich und warf den Stummel der Zigarette auf den Boden, wo er ihn austrat. Sobald er stand, erhob sich auch der Hund und kläffte kurz, bis Karana ihm den Kopf tätschelte. „Äh, Karana?“

„Das ist das Problem, verdammt.“, machte er nachdenklich, „Yuron ist zu weit weg und was sie wollen, ist vermutlich sowas wie bessere Lebensbedingungen. Und die haben wir in Thalurien auch.“ Tayson fing an zu lachen.

„Denkst du, sie wollen unsere Provinz angreifen? Mit Mistgabeln?“

„Mistgabeln sind furchteinflößend.“, erklärte der Schamane ernst, „Verdammt – die armseligen Sterblichen, hat Niarih gesagt. Das ist nicht gut. – Aar, bei Fuß!“ Der Hund kläffte erneut, als er an Herrchens Seite kam und der junge Mann den Kopf in Richtung des Anwesens der Sagal drehte.

Die armseligen Sterblichen werden uns zum Himmelsdonner jagen, hatte die Telepathin prophezeit. Wir sollten den Sonnenuntergang fürchten... und die Geier des Todes, die kommen werden, um uns zu blenden.

Der Sonnenuntergang war im Westen. Genau wie Kamien.

Ohne ein weiteres Wort zu seinem Freund zu sagen schritt der junge Mann davon durch das Dorf, der Hund an seiner Seite. Er wurde schneller, je weiter sich sich von seinem Haus entfernte, und ignorierte Taysons Rufen hinter sich. Er musste die Geister fragen, was sie sagten. Er war Schwarzmagier, er war der Sohn des Herrn der Geister, des obersten Vorstehers des höchsten Gremiums der Schwarzmagier in ganz Kisara. Und im ganzen Zentrum, denn kein oberster Rat in anderen Ländern war so weit oben wie der Rat der Geisterjäger, dem Puran Lyra vorstand. Die Geister hatten seinem Willen zu gehorchen und sie würden das tun, wenn er es ihnen befahl. Und er brauchte Antworten. Solange sein Vater nicht im Dorf war, musste er ihn schließlich würdig vertreten...

Im Gegensatz zu Loron war Karana wirklich ein Prinz.
 

„Was machst du denn hier drinnen? Wo ist Karana?“, wunderte Neisa sich, die in der Stube saß und auf ihrem Schoß eine Schüssel hielt, in die sie Kräuter zerkleinerte. Sie sah nur flüchtig zu Tayson auf, der gerade aus ihr unbegreiflichen Gründen zu ihr kam, und sagte nichts, als er sich seufzend neben sie auf das Sofa fallen ließ.

„Der ist weggelaufen mit seinem Hund, keine Ahnung, er war plötzlich weg.“, war Taysons Ansage, wobei er die Schultern hochzog. „Da dachte ich mir, wenn er mich schon sitzen lässt, beglückst vielleicht wenigstens du mich mit deiner liebreizenden Anwesenheit.“ Er schenkte ihr ein amüsiertes Grinsen, als das blonde Mädchen von der Schüssel aufsah, um ihn falsch anzulächeln.

„Ach, dachtest du dir also. Du kannst denken, Tayson? Das erstaunt mich tatsächlich.“

„Ach, sei doch nicht so giftig.“, riet er ihr weiterhin grinsend, „Sonst findest du ja nie einen Mann, der dich an seiner Seite haben will. Wer will schon eine Giftmischerin?“ Sie plinkerte ihn liebreizend an.

„Ein Mörder vielleicht.“

„Und du willst die Frau eines Mörders werden?“

„Ich werde die Frau eines Mannes, der meiner würdig ist. Also stehst du schon mal auf der Abschussliste, hau ab.“ Er lachte und tätschelte ihren Kopf, was sie schnaubend seine Hand weg schlagen ließ. „Lass das, ich arbeite hier, im Gegensatz zu dir Faulpelz!“ Sie verdrehte die Augen und versuchte, sich weiter um ihre Kräuter zu kümmern. Er sah ihr neugierig über die Schulter.

„Was wird denn das mal?“ Neisa lächelte.

„Ein Gift, frisch gemacht von der Giftmischerin.“ Sie schwiegen kurz. „Was war mit Kamien, Tayson? Ich habe euch draußen nur teilweise hören können.“

„Sie haben Koraggh angezündet und versammeln sich mit rasselnden... Mistgabeln, quasi. Was genau sie wollen weiß leider keiner.“

„Und was hattest du in Koraggh verloren?“

„Ich wollte Tabak kaufen. Der Tabak in Koraggh ist billiger.“

„Dafür gehst du extra unter die Ganoven von Kamien? Tapferer Tayson. Nicht, dass Loron kommt und dich vergewaltigt. Ich habe mir sagen lassen, wenn er mal keine geeignete Frau findet, die er schänden kann, nimmt er bestimmt auch einen Mann.“ Der Schwarzhaarige lachte.

„Ich fürchte mich nicht vor Loron. Du solltest das, du bist ein Mädchen. Und du bist hübsch. Und du bist Karanas kleine Schwester.“

„Loron kann mir nichts.“, entgegnete sie ungeduldig. „Karana würde niemals zulassen, dass dieser Frauenschänder auch nur in meine Nähe kommt.“

„Und wenn ich ihn auf dich hetze, aus Frust dass du mir immer den Rücken kehrst, Neisa?“, feixte er, und sie verdrehte die Augen, ehe sie ihre Schüssel auf den Boden stellte und sich die Finger rieb.

„Dafür gibt es einen simplen Grund und den kennst du. Ich werde jedem Mann den Rücken kehren, bis ich meine Blutung und mein Ritual bekommen habe. Du bist kein Schamane und hast keine Ahnung, ja, aber ich habe dir sicher schon zehnmal erklärt, dass Mädchen, bevor sie dieses Ritual hatten – das gilt im Übrigen auch für Jungen – nicht mit anderen das Bett teilen dürfen. Du hörst wohl nie zu!“ Sie lachte ihn einen Moment lang aus. Tayson war nie der Schlauste gewesen von Karanas Freunden. Er und ihr Bruder kannten sich aus der Schule und hingen oft zusammen herum. Und das junge Mädchen wusste genau, wie der Schwarzhaarige sie seit einiger Zeit ansah, wenn sie einander begegneten. Es verschaffte ihr eine befriedigende Genugtuung zu sehen, dass viele Männer sie so ansahen und sie allen arrogant den Rücken kehren konnte. Tayson eingeschlossen. Und wenn sie einst eine Frau wäre, müsste derjenige, den sie in ihr Bett lassen würde, sich schon etwas mehr Mühe geben als sie lüstern anzugrinsen und ihr Müll zu erzählen, was für schöne Augen sie doch hätte. Ein Mann musste sie faszinieren, hatte sie einmal festgestellt, als sie über ihre Ansprüche nachgedacht hatte. Er musste etwas an sich haben, das sie fesselte, das ihr auf gleichzeitig erregende und auch schmerzhafte Art die Luft zum Atmen abschnürte. Manchmal verschlug ihr Taysons doch sehr simples Gemüt auch den Atem, aber besonders erregend war das dann nicht, sondern mehr lachhaft.

„Und?“, fragte der Mann da schon fröhlich weiter, „Wer wird der Glückliche sein, dem dein Vater dein erstes Mal schenkt?“

„Woher soll ich das wissen? Frag doch Vati, wenn er vom Senat zurückkehrt, wenn du ihn so direkt darauf ansprichst, nimmt er sicher dich.“, schlug sie ihm sarkastisch vor und er war blöd genug, ihr zu glauben:

„Was, echt?“ Himmel noch mal! Was erwartete der?“

„Ja, sicherlich doch. Am besten erzählst du ihm auch gleich noch, dass du in etwa so viel Erfahrung hast wie mein Bruder und demzufolge unglaublich treu veranlagt bist. Mein Vater wird dich lieben.“
 

Der Hund schenkte Karana skeptische Blicke, während jener auf einem großen, flachen Felsen mitten in der Pampa hockte und Grashalme zwischen den Fingern so lange drehte, bis sie sich auflösten und auf seinen Schoß fielen. Ausnahmsweise schenkte der junge Mann dem Tier keine Beachtung; er wusste auch so, dass Bruder Hund genauso unruhig war wie er selbst.

Hier draußen war niemand außer ihnen beiden, dem Vater Himmel und der Mutter Erde. Karana spürte das Beben unter sich, das nervöse Zittern der Erdmutter, und das elektrische Vibrieren in der Luft über sich.. Es waren keine guten Zeichen. Die Geister waren nervös... es würden schlimme Dinge passieren.

„Sprecht mit mir, Himmelsgeister!“, rief Karana laut in den Himmel und lehnte dabei den Kopf zurück. Die Sonne blendete ihn, sodass er seine Augen mit der Hand abschirmte. „Was geschieht und was sollen wir tun?!“ Doch die Geister wisperten nur Worte in seinem Kopf, die er nicht verstand. Worte aus der Geisterwelt, deren Sprache er erst verstehen und deuten lernen musste. Das war eine Angelegenheit, die kein Lehrmeister ihm beibringen konnte. Die Worte der Geister konnte nur jeder Schamane selbst deuten. Und sich dabei irren, wenn er Pech hatte.

Karana zischte, ehe er auf die Beine sprang und die Arme gen Himmel riss, um damit ein dumpfes, zorniges Grollen hervor zu locken. Seine grünen Augen verengten sich zu lauernden Schlitzen und verärgert über seine Unfähigkeit fletschte er seine ungewöhnlich spitzen, scharfen Eckzähne, die mehr denen einer Bestie glichen als denen eines Menschen.

„Antwortet, ihr Elenden!“, grollte er, „Ich bin der Erbe des Lyra-Clans, ihr habt... vor mir zu kriechen, wenn ich es verlange, denn allein zu diesem Zweck wurde ich geboren! Geboren, um euch, die Geister, mit meinen Händen allein zu beherrschen! Hört ihr?!“ Als der Himmel ihm antwortete, tat er es auf unerwartete Weise, indem er keine Worte, sondern stattdessen Bilder schickte. Plötzlich sah Karana das Land um sich herum in Flammen aufgehen. Und während de Himmel sich zornig verdunkelte, brach die Erde zu seinen Füßen auseinander und bildete einen gewaltigen Schlund, bereit, alles zu verschlingen, was ihr nicht in den Kram passte. Der Schamane keuchte, als er die Macht der Himmelsgeister auf seine eigene, kleine Seele einhämmern spürte mit einer Wucht, die ihn fast in die Knie zwang. Er hörte die Worte von Niarih, die ihn beunruhigten, während er in der weiten Ferne des Ostens die feuerrote, flammende Sonne aufgehen sah, ein Ball aus tödlicher, monströser Macht.

„Sie werden kommen und uns zum Himmelsdonner jagen... die armseligen Sterblichen. Und wenn Vater Himmel und Mutter Erde ihren Zorn über diese Welt ergießen... kommt das Ende der Welt.“ Er weitete fassungslos die Augen, als die Erde vor ihm in Stücke zerbrach, willig, ihn genauso zu verschlingen wie den Rest von Tharr und niemals wieder auszuspucken – und in der Ferne sah er auf einem der abbrechenden Felsen seine kleine Schwester sitzen, die ihn anlächelte. Ihre verschiedenen, schönen Augen ruhten auf ihm, aber ihre zierliche Hand fuhr zu ihrer Schulter, auf der ein schwarzer Vogel saß, der eine Krähe hätte sein können, dafür aber etwas zu klein geraten war. Und Neisa sprach zu ihm, die Augen immer auf ihn gerichtet, während ihre Finger den Vogel tätschelten.

„Ich werde um dich weinen, Karanachen, wenn du in den Schatten fällst... wenn das Ende der Welt dich verschlingt.“

In dem Moment war es, dass er eine Hand auf seiner Schulter spürte, und eine einzige Berührung riss ihn zurück in die wirkliche Welt, fort von der brennenden Erde und den Geistern. Er fuhr mit einem grausigen Zischen herum zu demjenigen, der es wagte, ihn aus seiner Trance zu reißen, und wäre Niarih dabei fast an die Kehle gesprungen, die plötzlich hinter ihm war. Die Telepathin war darauf vorbereitet und trat einen großen Schritt rückwärts, ehe sie nach Luft schnappte und ihn anstarrte.

„Karana!“, rief sie, „Himmel, reiß dich zusammen, ich bin es bloß!“

„Wenn du dich noch einmal so anschleichst, reiße ich dich in Stücke!“, keifte er sie an, „Ich werde nicht... in den Schatten fallen, die Geister haben gesagt, die Maden werden knien und zu meinen Füßen um den Tod winseln, du verfluchte, elende...!“

„Ähm – bist du noch ganz dicht?“, fragte die Blonde ihn perplex und sah ihn und seine ungewöhnlichen Reißzähne an, während er sie aus vor Zorn glimmenden grünen Augen anfunkelte – dann, mit einem Mal, war es vorbei. Die Macht der Geister verblasste und Karana taumelte einen Schritt rückwärts, dabei die Augen weitend.

„Niarih!“, schnappte er dann, „Was machst du denn plötzlich hier?“ Sie zog eine Braue hoch.

„Bist du in Ordnung? Du warst eben etwas... komisch.“ Sie machte ein verwirrtes Gesicht und der Mann tat es ihr verblüfft gleich.

„Wieso komisch?“ Offenbar hatte sie keine Lust, ihm zu antworten, jedenfalls sah sie ihn eine Weile ruhig an und legte dabei etwas skeptisch die Stirn in Falten, bevor sie leise seufzte und näher kam.

„Was haben die Geister zu dir gesagt?“
 

Er konnte wenig mit dem anfangen, was er gesehen hatte, stellte er fest, als er ihr alles berichtete und sie sich dabei nebeneinander auf den Felsen hockten. Der Hund war am Fuße dessen inzwischen wieder eingepennt, Karana war aber sicher, dass er aufwachen würde, wenn etwas passierte.

„Denkst du, die Leute aus Kamien kommen und greifen uns an?“, fragte Niarih ihn dann, als sie eine Weile da gesessen und dem Zirpen der Zikaden gelauscht hatten. Der Nachmittag war bald vorüber.

„Keine Ahnung.“, gestand Karana verblüfft, „Vielleicht. Tayson lacht sie jedenfalls aus wegen ihrer Mistgabeln. Ist dein Vater zurückgekommen aus Taiduhr? Hat er irgendetwas Neues erzählt?“

„Zumindest nicht von Kamien.“, meinte die Jüngere, „Es heißt aber, der Zugang nach Dhimorien ist komplett weg, niemand unserer Späher kommt dort lebendig hin um zu sehen, was passiert. Es wird vermutet, dass Ela-Ri tatsächlich eine Streitmacht hat, die marschiert, aber wohin und ob jetzt wirklich hierher weiß keiner. Eben weil niemand nach Dhimorien kommt.“

„Was meinst du damit?“

„Na ja, sie haben versucht, mit Booten zu fahren, und alle Boote wurden versenkt. Sie haben versucht, sich zu teleportieren, aber keiner der Späher ist zurückgekehrt. Vater will jetzt runter nach Dobanjan und dort allen Posten der Familie Alarm beibringen. Wenn Ela-Ri wirklich zu uns kommt, ist es von Dhimorien aus nach Dobanjan am dichtesten.“

„Na toll, und unsere Provinz liegt nicht weit von Dobanjan.“, war Karanas Kommentar, „Ich habe kein gutes Gefühl.“ Er linste sie an, während sie beide schwiegen. Niarih war ein hübsches Mädchen und trotz der Blutschande, die sie war, kerngesund. Wenn ihr Vater nicht unbedingt verhindern wollte, dass sie eine anständige Frau wurde, hätte er sich ernsthaft überlegt, ob er nicht einfach um ihre Hand anhalten sollte. Auch wenn sie immer nur zweite Wahl sein würde, angesichts des großen Angebots fand Karana, dass zweite Wahl noch ziemlich gut war. Aber wenn er sie hätte heiraten wollen, hätte er ihren Vater fragen müssen. Und dann hätte Dasan Sagal zwangsläufig erfahren, dass seine jungfräuliche Tochter nicht mehr so jungfräulich war wie sie sein sollte, und er wäre vermutlich nicht so erfreut darüber.

Die Gedanken brachten ihn auf eine dumme Frage.

„Sag mal, Niarih... wieso will dein Vater nicht, dass du eine Frau wirst?“

„Das weißt du doch ganz genau. Du weißt, wie die Verwandtschaftsverhältnisse sind.“

„Aber das hat doch mit dir nichts zu tun, solange du nicht auch einen deiner Brüder oder Onkel heiratest... und zürnen die Geister euch nicht, wenn dir das Blutritual verwehrt wird?“

„Nein.“, lachte sie, „In den Augen der Geister existiere ich gar nicht. Ich bin ein uneheliches Kind und dazu noch eine Blutschande. Ich habe keine Rechte oder Ansprüche auf die Dinge, die sonst jede Frau bekommt. Es ist quasi die Strafe dafür, dass es mich gibt, weil es mich nicht geben sollte. Weil kein Mann mit seiner Tochter das Bett teilen sollte.“

„Und dein Vater tut es aber trotzdem. Oder hat es mindestens einmal... dann sollte doch er bestraft werden und nicht du.“

„Vielleicht, du denkst da zu sehr wie die Nichtmagier. Wir sind Schamanen, Karana. Bei uns ist das anders. Meine Eltern waren sehr großmütig, dass sie mir das Leben gewährt haben. Ich bin so glücklich, dass ich leben kann, und ich werde mich nie beklagen. Meine Eltern sind immer sehr liebevoll zu mir.“ Sie errötete und sah auf ihren Schoß, und Karana schnaubte und beugte sich etwas näher zu ihr hin.

„Ah ja. Du beschwerst dich nicht, sagst du, aber dennoch hast du mich gefragt, ob ich mit dir schlafe und dich zur Frau mache. Das ist irgendwie unlogisch.“ Sie schob sein Gesicht von ihrem weg.

„Weil ich dich gern habe, Karana. Weil ich einmal... nur ein einziges Mal, und wenn es das letzte Mal ist, einfach nur eine Frau sein wollte. Es war verboten, aber es war gut.“ Er grinste und beugte sich wieder zu ihr, dieses Mal nahm er ihre Hand, bevor sie ihn abwimmeln konnte, und küsste sie auf den Mundwinkel.

„Es war aber nicht nur einmal, Niarih... wir tun es immer, wenn du mal alleine daheim bist.“ Sie zitterte, als er ihre Wange hinauf bis zu ihrem Ohr küsste und ihr dann sanft ins Ohrläppchen biss. „Wobei hier auch niemand ist...“

„Doch, dein Hund.“, protestierte sie, ließ aber zu, dass seine Hand nach ihren kleinen Brüsten fasste und vorsichtig begann, ihre Bluse hinauf zu ziehen.

„Aar wird uns schon nicht verpetzen. Ich lasse ihn nachher ein Schweigegelübde ablegen, recht so?“

„Du bist echt ein Lüstling.“

„Und warum genau bist du noch mal hergekommen? Etwa um die Maserung der Felsblöcke zu betrachten?“ Darauf hatte sie keine Antwort und er spürte, wie sie errötete, während er ihre Bluse über ihren Kopf zog und sich dann über ihren nackten Oberkörper beugte, um ihre Brustwarze in den Mund zu nehmen. Und er fühlte sich bestätigt, als ihre Hände mit einer so überzeugend gespielten Schüchternheit nach seinem Hosenknopf griffen, um ihn zu öffnen, dass er sich wirklich etwas ärgerte, sie nicht ehelichen zu können. Sie war eine gute Frau... warum wollte er immer nur Frauen heiraten, die er nicht haben konnte?
 

Als Karana zurück nach Hause kehrte, war die Nacht über Thalurien hereingebrochen. Die Luft stand auf unangenehme, beunruhigende Weise über dem Dorf, es war eine drückende Atmosphäre, die nichts Gutes verhieß. In der Wohnstube erwartete den jungen Mann das bizarre Bild seiner Schwester, die gemeinsam mit Tayson auf der Couch saß und – ebenfalls gemeinsam mit ihm – irgendwelche Pflanzen zerrupfte und sie in eine Schüssel am Boden warf. Aar bellte und wuselte sofort um Neisas und auch Taysons Beine, ehe er zu seinem etwas verblüfften Herren zurückkehrte.

„Was ist hier denn los, wieso bist du noch da, Tayson?“, fragte er, „Und was machst du bitte mit meiner Schwester?“

„Er wollte einfach nicht gehen, deswegen habe ich ihn genötigt, mir mit der Medizin zu helfen.“, erklärte die Blonde darauf, und Tayson warf ihr einen triumphierenden Blick zu, den sie nicht zu bemerken schien und der Karana zornig machte. Schnaufend durchquerte er die Stube, schob seinen Freund zur Seite und setzte sich demonstrativ zwischen ihn und Neisa.

„Mach mal halblang, du Schürzenjäger. Neisa ist für dich tabu, das solltest du wissen.“ Das Mädchen neben ihm verdrehte die Augen.

„Ich kann auf mich selbst aufpassen, Karana. Und sei etwas leiser, Mutti ist schon zu Bett gegangen. Sie hat sich gefragt, wo du bist.“ Er sparte sich eine Antwort auf die indirekte Frage und raufte sich die braunen Haare.

„Was ist das für Zeug, das du da machst?“

„Das wird eine Salbe. Mutti schickt mich morgen nach Aduria, um Salben in die Dörfer zu bringen, die Apotheken brauchen neue Vorräte.“ Karana sah sie dumm an.

Alleine?“

„Nein.“, sagte sie mit einem süffisanten Grinsen, „Tayson begleitet mich. Da du ja nicht präsent warst, wurde er quasi zum Freiwilligen auserkoren. Vati würde Mutti häuten, wenn sie mich echt alleine aus dem Dorf lässt...“

„Und Tayson ist da die bessere Alternative?!“, fragte der Bruder empört und stierte seinen Freund an, der nur fröhlich grinste.

„Bin ich nicht ein Glückspilz, Karana? Ich darf mit deiner süßen Schwester alleine nach Aduria latschen.“

„Mach dir keine Hoffnungen.“, nahm Karana ihm sofort den Wind aus den Segeln, „Ich lasse dich nicht mit ihr alleine, du Sack!“

„Jetzt spiel' mal nicht den Heiligen hier, du bespringst hier doch alles was Brüste hat...“, entrüstete sich der Schwarzhaarige auch schon und Karana zischte und entblößte seine spitzen Eckzähne.

„Ja, ich bin ja auch der Sohn des Herrn der Geister, ich darf das.“ Tayson erwiderte irgendetwas empörtes und das blonde Mädchen neben den beiden schielte grantig herüber.

„Ich hoffe, diese inoffizielle Erlaubnis, jede Frau des Provinz zu nageln, schließt mich nicht ein, Karana.“ Sie wurde ignoriert und Karana erhob sich drohend, seinen Freund ins Auge fassend. Er mochte Tayson, immerhin waren sie Freunde... aber wenn es um seine Schwester ging, war er immer schon stur gewesen. Sie war noch ein Mädchen und kein Mann sollte es wagen, sie so ungezügelt anzustarren wie sein Kumpel es bedauerlicherweise tat. Ihm kam das Bild aus seiner Vision in den Kopf, das Bild des komischen Vogels, der auf Neisas Schulter gesessen hatte. Er wusste nicht genau, warum ihn die Erinnerung daran beunruhigte... nein, es war schlimmer als das. Es machte ihn zornig, der bloße Gedanke daran brachte sein Blut in Wallung und er wusste nicht, wieso genau, während er auf Tayson herab starrte, der auf dem Sofa saß. Plötzlich spürte er in sich das furchtbar drängende Verlangen, seinem Freund sein peripheres Interesse an Neisa einfach aus dem Gesicht zu schlagen. Jedem verdammten Sack wollte er das ausschlagen, er würde jedem einzelnen die Haut bei lebendigem Leibe abziehen, der es wagen sollte, seine Schwester auch nur anzusehen auf eine Weise, die ihm missfiel...

„Was denkst du da, Karana?“ , fragten die Geister, und er hielt für einen Moment inne. Ja, was dachte er da? Sie war seine Schwester... nicht seine Frau.

„Was ist los?“, fragte Tayson ihn verständnislos, „Ich habe sie doch gar nicht angerührt, keine Angst... Himmel, willst du mich umbringen, Karana? Reg dich mal ab, ja?“ Der Schamane kam nicht zum Antworten, weil in dem Moment die Haustür aufging und verblüffender Weise Simu herein kam. Die drei in der Stube blickten zum Flur, wo der Blonde jetzt stand, bei ihm war ein unheimlich bleiches, tot aussehendes Mädchen; allerdings konnte die Leiche gehen, was erstaunlich war.

„Simu?“, rief Neisa, „Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist verreist?!“

„Und wer ist die Frau?“, wollte Tayson interessiert wissen, ehe Karana etwas weiteres sagen konnte. Simu kratzte sich am Kopf.

„Nanu, hier sind ja alle! Ja, ich habe meine Pläne... kurzfristig geändert, sagen wir so.“ Er schob das blasse Mädchen behutsam etwas nach vorne in Richtung Stube. „Hab keine Angst, das ist meine Familie. Niemand tut dir was. Der hier vorne ist mein Bruder Karana, das Mädchen ist meine Schwester Neisa und der Typ auf dem Sofa heißt Tayson, er ist ein Freund meines Bruders.“

„Hey, Momentchen.“, mischte Karana sich ein, als sein Bruder das fremde Mädchen so in die Stube begleitete und sie alle vorstellte, „Seit wann hast du die denn bitte?“

„Was?“, fragte Simu verständnislos.

„Seit wann du eine Freundin hast!“ Jetzt hüstelte sein Bruder und das bleiche Mädchen machte ein entsetztes Geräusch, dabei errötete es unnatürlich heftig, was bei ihrer bleichen Erscheinung echt komisch aussah. Karana musterte sie kurz. Mit den ebenfalls blassen, fast weißen Haaren und den hellen Augen machte sie das leicht als Lianerin erkennbar. Viele Lianer sah man nicht hierzulande... „Sie, ähm, ist nicht meine Freundin.“, warf Simu ein, „Sie heißt Eneela.“

„Kann sie nicht selbst sprechen?“, fragte Neisa verblüfft, und Karana setzte jetzt ein betörendes Lächeln auf, als er sich an die Fremde wandte.

„Ah, du bist also nicht Simus Freundin? Und ich dachte schon, sowas reizendes steht ihm doch gar nicht...“ Die Lianerin starrte ihn an und errötete noch heftiger, Simu schlug sich gegen die Stirn.

„Lass sie bloß zufrieden, Karana... sie ist nichts für dich. Ich habe sie zufällig getroffen und begleite sie morgen zum Lianerdorf bei Zaria. Wir übernachten nur einmal hier. Macht Platz, sie kann auf der Couch schlafen.“

„Ich wollte sowieso gehen, ich muss noch nach Thuran und arbeiten.“, schmollte Karana, „Wir sehen uns dann wohl morgen, Simu. Tayson, beweg' dich, fauler Sack! Aar, bei Fuß!“ Der Schwarzhaarige brummte, schenkte Eneela noch ein liebreizendes Lächeln und beide Männer verließen darauf das Haus; der schwarze Hund folgte Karana auf den Fuß.
 

„Arbeiten?“, wunderte die Lianerin sich, während Neisa ihre Kräuterschüssel aufhob und sich anschickte, sie in die Küche zu bringen. „W-was arbeitet er denn so spät in der Nacht?“

„In Thuran gibt es eine Kneipe.“, antwortete Neisa ihr, „Die haben mitunter auch nachts lange auf und er macht eben die Getränke fertig. Willkommen in Lorana, Eneela... ich hoffe, die Couch ist nicht zu unbequem. Wenn du magst, kannst du auch in meinem Bett schlafen, ich nehme dann Karanas... der wird vor dem Morgengrauen eh' nicht zurückkehren.“

„Ich würde ja nicht freiwillig in Karanas Bett liegen.“, machte Simu dumpf, als seine Schwester an ihm vorbei ging, und sie lachte amüsiert.

„Solange ich noch unfruchtbar bin, dürfte das ungefährlich sein... außerdem habe ich nicht vor, mich da nackt reinzulegen.“ Sie hörte ihren Bruder husten. Die Schüssel in die Küche gestellt kehrte sie zurück und sah, dass die scheue Lianerin – die tatsächlich sprechen konnte – jetzt auf dem Sofa hocke. „Ihr wollt also nach Zaria? Tayson und ich gehen morgen nach Aduria, ich muss Salben verteilen. In Zaria kommen wir auch vorbei, wenn ihr mögt, können wir zusammen hingehen.“

„Moment, Tayson und du?“

„Ja, Karana hat sich gerade voll aufgeregt, wenn er sich jetzt zusammenreißt und sich nicht komplett blau säuft, will er morgen sicher auch mit... na ja, Mutti wäre sicher erleichtert, wenn ich nicht mit Tayson alleine unterwegs wäre. Und mir wäre es auch lieber, ehrlich gesagt... du weißt ja, Sagals Augen und Ohren sind überall und der petzt dann Vati, dass ich mit Tayson alleine herum renne, und dann ist hier aber was los, sobald er aus Vialla zurückkehrt.“ Sie sah zu Eneela, die ein verwirrtes Gesicht machte. „Hab keine Angst vor uns, wir sind gar nicht so unheimlich, wie wir wirken, glaube ich.“ Was die Lianerin darauf entgegnete, machte die kleine Heilerin stutzig.

„Euer Bruder... der, der weggegangen ist, er... hat ganz schön spitze Eckzähne... e-es sieht beinahe aus wie bei... ich...“ Sie stockte und schauderte kurz, ehe sie das blasse Gesicht furchtsam zu Boden senkte. „Ich fürchte mich... vor diesen Zähnen...“ Neisa und Simu tauschten einen nichts sagenden Blick. Eneela schrumpfte in sich zusammen, und als sie fortfuhr, war ihre Stimme kaum mehr als ein stimmloses Flüstern. „Er hat die Zähne des Dämons... das Schicksal meint es nicht gut mit mir.“
 

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So. Ähm. Ist das mit Kamien kacke? oô naja noch hats ja nicht richtig angefangen, aber irgendwie, hmm óo sind Neis aund Tayson auch kacke? xD Und Eneela? xD

Aduria

Leyya Lyra war Heilerin und Mutter dreier Kinder – wobei Simu nicht ihr leiblicher Sohn war, was sie bisweilen aber völlig vergaß. Er war immer bei ihnen gewesen... sie konnte sich gar nicht mehr an die Zeit erinnern, bevor Simu gekommen war. Nur den Tag seiner Ankunft würde sie nie vergessen... nicht das flehende, verzweifelte Gesicht des fremden Mannes, der ihr das Kleinkind in die Arme gedrückt hatte. Danach war er verschwunden und niemand hatte ihn je wieder gesehen. Einerseits wünschte sie sich, dass Simu eines Tages die Wahrheit herausfände über seine Herkunft, dass er herausfände, was damals geschehen war und wer seine richtigen Eltern waren. Andererseits fürchtete sie sich davor, ihn dann zu verlieren... er war doch ihr Sohn. Sie wollte, dass er das blieb...

Sie schalt sich eine egoistische Mimose, während sie am Vormittag in der Küche saß und Teig für Brot knetete. Es war nicht ihr Recht, Kinder behalten zu wollen. Erst recht nicht, wenn sie nicht ihrem Leib entsprungen waren. Dabei war es doch schon so schwer, sich von ihrem wirklichen Kindern loszusagen... Karana würde bald siebzehn werden, wenn der Mond der Stürme kam. Er war schon seit über einem Jahr ein erwachsener Mann... seit er das Blutritual bekommen hatte, das ihn dazu gemacht hatte. Und seit er von seiner Magielehre in Janami zurückgekehrt war, entfernte er sich immer weiter von ihr, so hatte sie das Gefühl. Und es schmerzte sie, wenn sie daran dachte, dass er eines Tages heiraten und seine eigene Familie gründen würde... und von ihr wegziehen würde.

„Du bist dumm, Leyya.“, hatte Puran sie getadelt, wenn sie ihm nachts ihr Leid geklagt hatte, „Alle Kinder werden erwachsen. Aber deine Kinder werden sie trotzdem bleiben. Meine Mutter hat sich auch sehr schwer damit getan, als ich plötzlich nicht mehr ihr kleiner Junge war, der an ihrem Rockzipfel hing, aber so ist der Lauf der Dinge. Karana wird dich immer Mutti nennen, auch mit dreißig noch, und an seiner kindlichen Liebe zu uns wird das überhaupt nichts ändern. Also sei tapfer, ich muss es doch auch sein.“

Recht hatte er ja... er hatte doch immer recht. Er war der Herr der Geister, der Vorstand des höchsten Rates der Schwarzmagier, er war einer der angesehensten und einflussreichsten Männer in ganz Kisara, wenn nicht sogar im ganzen Zentrum. Und dennoch fiel es ihr schwer, sich von ihren Kindern zu lösen. Und sie fürchtete den Tag, an dem ihre kleine Tochter ihre erste Blutung bekäme, was sie dann unweigerlich folgend zur erwachsenen Frau machen würde. Neisa war spät dran... sie war bereits vierzehn. So groß schon und dennoch noch immer ein Kind in ihren Augen.

„Mutti?“ Die Frau hob erschrocken den Kopf, als sie die Stimme ihrer hübschen Tochter vernahm, die in die Küche lugte. „Wir werden jetzt aufbrechen nach Aduria. Simu und das Lianermädchen begleiten uns, er will sie zum Lianerdorf bringen. Brauchen die auch was von der Salbe, wenn ich schon da bin?“ Leyya blinzelte verwirrt und brauchte einen Moment, um die Information zu begreifen.

„Ach, das Lianerdorf – ja, na ja, schaden wird es ihnen nicht, geh mit Simu und frage nach, wie es aussieht mit den Vorräten. Was ist mit Tayson?“

„Der kommt natürlich mit, als ob der sich die Chance entgehen ließe.“, lachte Neisa, „Karana kommt auch mit, eigentlich wollte er mich vor Taysons Anmachen beschützen, aber dank Simu ist das jetzt eigentlich überflüssig, was genau der will, weiß ich also auch nicht... er meinte, irgendwas geht im Westen vor sich, in Senjo drüben. Und da Zaria direkt an der Grenze liegt, denkt er, er wird da schlauer.“

„Du meinst die Unruhen in Kamien?“, fragte die Mutter erschrocken, „Lieber Himmel, das habe ich gar nicht bedacht. Vielleicht solltet ihr besser nicht nach Zaria gehen... es ist wirklich ganz schön dicht an Senjo... ich weiß ja nicht, was da vor sich geht, aber Chitra hat erzählt, dass sie ziemlich gewalttätig werden da drüben, es klingt gefährlich.“ Neisa hob abwehrend die Hände.

„Ich weiß nichts, wie gesagt. Frag Karana, irgendetwas hat Niarih ihm erzählt. Und es muss etwas Schlimmes gewesen sein, immerhin hält es ihn um diese Tageszeit vom Schlafen ab, und du weißt ja, was er für ein Langschläfer ist. Mach dir keine Sorgen, Mutti. Wir werden schon heil zurückkehren.“ Sie lächelte, ehe sie ihre Mutter zum Abschied umarmte und wieder hinaus eilte, um gemeinsam mit Tayson, Simu und dem Lianermädchen schon mal das Haus zu verlassen. Leyya war ganz fasziniert von der kleinen Beschwörerin gewesen, die sie am Morgen von ihrem Ziehsohn vorgestellt bekommen hatte. Obwohl das Lianerdorf nicht weit von Lorana entfernt war, bekam man fast nie welche zu Gesicht. Die Lianer blieben nach der großen Sklaventreiberei vor einigen Jahren lieber unter sich und hatten ungern Kontakt mit anderen Menschen. Obwohl die Jagd auf Lianer auf Tharr inzwischen vom König verboten worden war, gab es immer noch genug Hass auf das Beschwörervolk, vor allem hier in der Nähe von Senjo. Senjo galt insgesamt als das Land mit der größten Feindseligkeit Lianern gegenüber – dabei hatten sie nie etwas Böses getan in Leyyas Augen. Seit Jahrhunderten und immer wieder war das Volk geächtet und verfolgt worden, ihr eigentümliches Aussehen machte es ihnen unmöglich, getarnt zu leben. Gespenstervolk nannte man sie, Bestienrufer. Und egal, wohin sie gekommen waren, waren sie garantiert auf Feinde gestoßen, bis sie sich einmal aufgerafft hatten, für ihre Rechte zu kämpfen. Die Bürgerkriege waren vor allem hier im Westen des Zentrums hart gewesen, hatte Leyya gehört, und es hatte noch mehr Hass und letztlich die Versklavung und Vertreibung nach Ghia mit sich gebracht. Eigentlich waren die Lianer wirklich die größten Opfer der modernen Welt.

Aus dem Augenwinkel sah die Heilerin den großen Hund an der Küche vorbei aus dem Haus rennen, und sie rief ihren ältesten Sohn, der dem zottigen Tier höchstwahrscheinlich zu folgen gedachte. Als Karana zu ihr kam, knetete sie ihren Teig weiter und versuchte, nicht weiter an die Lianer zu denken.

„Was hat Niarih zu dir gesagt?“, fragte sie, „Was ist im Westen? Denkst du wirklich, ihr könnt da sicher hin gelangen? Ich mache mir Sorgen, Karana.“ Zu ihrer Verblüffung warf er einen Blick hinaus, ehe er sich zu ihr neben den Hocker hockte und ein ernstes Gesicht machte. Er ähnelte seinem Vater mehr denn je, wenn er so schaute, und unwillkürlich vergrub die kleine Heilerin ihre zierlichen Finger in ihrem rohen Teig. Oh, sie vermisste ihren Mann immer so, wenn er so lange in Vialla war...

„Hör mir zu.“, sagte ihr Sohn dann dumpf, „Ich weiß nicht, was passiert, aber ich habe ein ungutes Gefühl. Es ist der Himmel... ich spüre seinen Zorn, kann ihn aber nicht zuordnen. Und die Erde... ich spüre ihr Zittern unter meinen Füßen, ganz leicht, aber es ist da, wenn ich still halte. Die Geister sind nervös und bringen mich schon seit gestern um meine Ruhe. Niarih hat gesagt... die armseligen Sterblichen kommen und jagen Lorana zum Himmelsdonner.“

„Du meinst, die Vandalen aus dem Westen?“

„Was immer passiert, es kommen keine rosigen Zeiten auf uns zu. Dhimorien ist an Ela-Ri gefallen, schon vergessen? Letztlich ist es egal, ob der Zorn der Geister aus dem Süden oder dem Westen kommen wird... kommen wird er, da bin ich sicher. Vielleicht solltest du zu Sagals gehen, bis Vati zurückkommt, ich lasse dich ungern alleine hier.“ Sie lächelte.

„Ach, Karana... du bist tapfer. Ich passe schon auf mich auf, keine Sorge. Pass du lieber auf deine Geschwister auf. Vor allem auf Neisa.“ Jetzt wich sein ernstes Gesicht einem flüchtigen Grinsen und er erhob sich, beugte sich herab und küsste sie zum Abschied auf den Kopf.

„Du hast mein Wort, Mutti. Wenn jemand Neisa etwas antun will...“ Leyya hob verblüfft den Kopf, als seine Stimme sich veränderte. Sie schauderte, als er ihr seine ungewöhnlichen Eckzähne zeigte, als würde er sie auffressen wollen, dabei galt diese bedrohliche Geste mit größter Wahrscheinlichkeit nicht ihr. „Dann bringe ich den eigenhändig um.“
 

Das Wetter war trübe an jenem Tag, als die kleine Gruppe gemeinsam Lorana in Richtung Südwesten verließ, um in die Region Aduria zu gelangen. Es war keine besonders dicht besiedelte Region. Die Kreisstadt Egatsop war nicht mal annähernd groß genug für eine Stadt – nicht mal eine Kleinstadt. Und das Dorf Zaria an der Grenze zu Senjo war noch kleiner als Egatsop.

Karana ging mit dem Hund am Schluss der Gruppe und beobachtete das Lianermädchen von hinten, während sie marschierten. Aar sprang vom Weg ab und jagte Schmetterlinge und Libellen wie ein Kind, dabei hatte Karana den Hund schon seit einigen Jahren. Der Schamane konnte seinem sonst geliebten Bruder Hund gerade keine Aufmerksamkeit schenken. Er angelte aus seiner Hosentasche eine zerknautschte Zigarette, um sie sich gedankenverloren anzustecken und dabei die weißlichen Haare der Lianerin zu betrachten, die während sie ging auf und ab wippten. Am Morgen vor dem Aufbruch hatten sie die Lianerin neu eingekleidet, weil ihre eigenen Kleider schmutzig und zum Teil zerrissen gewesen waren. Seine Mutter hatte versprochen, sie zu waschen und zu nähen, und wenn Eneela im Lianerdorf blieb, konnte einer aus der Familie ihr eines Tages ihre Kleidung vorbei bringen, es war ja nicht so weit. Jetzt trug sie Kleidung von Neisa – Neisa war zwar kleiner als Eneela, aber die Lianerin war zierlicher, deswegen passte sie gut in die Sachen. Während Karana sie so betrachtete, fiel ihm auf, dass sie wirklich ungewöhnlich dünn war; sie konnte nicht besonders viel zu essen bekommen haben, wo immer sie vorher gewesen war. Simus Bericht darüber, dass er sie im Straßengraben in ein stinkendes, angepisstes Fell gewickelt gefunden hatte, zeugten auch nicht gerade von einer wohlhabenden Herkunft.

Sie war von Ghia nach Tharr gekommen mit der Raumfähre, hatte der Schamane sich sagen lassen. Das war ungewöhnlich; auf der Ghia waren die Beschwörer seines Wissens ausschließlich Sklaven der reichen Leute, sie konnten nicht frei herumlaufen oder mal eben nach Tharr fliegen.

„Großartig.“, sagte er brummend zu sich selbst, „Wenn sie weggelaufen ist, wird sie vielleicht von ihrem Herrn verfolgt. Vielleicht ist sie es ihm nicht wert, dann haben wir Glück, aber wenn nicht... Ärger mit einem ghianischen Sklaventreiber können wir jetzt gerade so gar nicht gebrauchen.“ Er hütete sich, es laut auszusprechen, und beobachtete stattdessen weiter Eneela, die sich in alle Richtungen umsah und fasziniert die Landschaft betrachtete.

„Der Himmel ist grün...“, hörte er sie zu Simu sagen, ganz beeindruckt, und er verkniff sich ein Grinsen. Das fiel ihr aber früh auf... „Auf Ghia ist er blau...“ Ihre Stimme war glockenhell und sie klang jedes Mal, wenn sie sprach so unsicher und panisch, dass Karana das Gefühl bekam, sie hätte Angst vor ihnen. Eigentlich sprach sie nur mit Simu. Selten mit Neisa – mit ihm oder Tayson wechselte sie kein Wort. Ein Jammer, sie war hübsch... wobei, eigentlich war sie ihm zu dünn. Und sie hatte kaum den Ansatz von Brüsten – selbst Neisa oder seine Mutter hatten da mehr, und die waren beide nicht besonders gut bestückt in dem Punkt.

„Du Lüstling denkst schon wieder nur an das eine, sobald du eine unbekannte Frau ansiehst!“, wurde er plötzlich getadelt und er fuhr zischend herum, um seiner kleinen Schwester ins Gesicht zu sehen. Augenscheinlich hatte sie Tayson entfliehen wollen, der sie zu schwafelte, und hatte sich deswegen zurückfallen lassen.

„Was?“, empörte der Bruder sich auch gleich, „Sie ist nicht Simus Freundin, hat er selbst gesagt!“

„Das erlaubt dir noch lange nicht, sie so anzustarren.“

„Himmel, keine Sorge, sie ist nicht mein Typ.“, brummte er, „Die hat ja kaum Fleisch auf den Rippen.“ Neisa sah ebenfalls nach vorne zu Eneela, ehe sie wissend lächelte und ihn verschmitzt von der Seite anlinste.

„Nein, schon klar. Dein Typ hat größere Brüste. Und am besten schwarze, lange Haare mit Federschmuck.“ Er zuckte, als sie so sprach, und brummte dann abermals. Wie konnte sie es wagen...?

„Sprich nicht von ihr, du dumme Gans.“

„Warum nicht?“, flötete Neisa, sich keiner Schuld bewusst, „Oder bricht es dir das Herz, wenn ich ihren Namen in den Mund nehme? Saidah?“ Karana schenkte ihr einen bösen Blick, der leider nicht lange genug böse blieb, um überzeugend zu sein.

„Verarsche mich nicht, Schwester, ich meine es ernst. Saidah ist weit weg, sie ist in Janami. Ich bin über sie hinweg, es gibt andere Frauen.“

„Welche, die erreichbarer sind als die Königin der Kondorgeister, die einzige Überlebende des mächtigen Chimalis-Clans, ja.“, entgegnete seine Schwester, „Unser Vater heißt deine Schwärmerei für sie auch nicht sonderlich gut, wie du weißt. Immerhin ist sie seine Kollegin im Geisterjägerrat, es wäre schon komisch, wenn seine Kollegin seinen Sohn heiratete.“

„Ich sagte doch, ich bin über sie hinweg. Wenn ich sie jemals wiedersehe, dann an dem Tage, an dem ich wie Vati in den Rat eintrete. Und dieser Tag ist noch etwas hin, fürchte ich. Ist ja nicht so, dass da jeder Depp reinkommt.“

„Über sie hinweg?“, lachte Neisa, „Das sehe ich aber anders... oder willst du mir erzählen, deine unzähligen Bettgespielinnen seien etwas anderes als Ablenkung von deinem ungehörigen Verlangen nach Saidah Chimalis?“

„Ich schlafe gerne mit schönen Frauen, das hat mit Saidah nichts zu tun. Und wenn sie mir eben alle zu Füßen fallen, passt es doch, ich tue ihnen den Gefallen und sie bringen mir die Erleichterung. Wo ist das Problem?“ Sie verdrehte die Augen.

„Vergiss Saidah.“, war alles, was sie noch dazu sagen wollte, „Sie ist nichts für dich. Die Geister haben nicht dafür gesorgt, dass ihr eine gemeinsame Zukunft habt.“

„Falsch.“, antwortete Karana monoton, „Die Geister waren es, die uns zusammengeführt haben. Die Geister haben entschieden, dass sie meine Lehrmeisterin wird. Und dass sie mich zum Mann macht. Ihr könnt sagen, was ihr wollt... aber wenn die Geister von Himmel und Erde nicht wollten, dass wir uns vereinen, würde ich das Band nicht spüren, das mich auf ewig an sie binden wird. Sie ist eine Geisterjägerin, eine mächtige Magierin und eines Königs würdig, an dessen Seite sie liegen sollte.“ Darauf kicherte seine Schwester nur diabolisch.

„Ah. Und da ist das Problem. Du bist kein König, sondern bloß ein verblendeter Prinz.“
 

Sie brachten die von Neisa hergestellte Salbe in die kleinen Dörfer von Aduria und brauchten so natürlich etwas länger als nötig, um Zaria zu erreichen. Das Lianerdorf lag knapp südlich von Zaria. Weil Neisa noch nach Egatsop wollte und somit ebenfalls noch etwas südlicher musste, gingen sie gemeinsam durch das Grenzdorf zu dem Ort, der allein den Beschwörer vorbehalten war. Es war bereits Nachmittag, als der hohe Zaun des Dorfes in Sicht kam.

„Es ist nicht so, dass wo anders keine Lianer leben dürfen.“, erklärte Simu Eneela, während sie auf das Dorf zuhielten, „Aber sie sind eben gerne unter sich hier und wollen mit den anderen Menschen möglichst wenig zu tun haben. Das hier ist natürlich nicht der einzige Ort auf Tharr, an dem es Lianer gibt, aber das einzige Dorf, in dem wirklich ausschließlich euer Volk wohnt. Keiner, der kein Lianer ist, wohnt hier.“ Das bleiche Mädchen nickte zögernd und er sah, wie nervös sie auf das Dorf starrte, dem sie sich näherten.

„Wen suchst du noch mal hier?“, wollte Tayson wissen, der zusammen mit Karana und Neisa hinter den beiden ging. Eneela fuhr zusammen und wandte sich schüchtern zu ihm um.

„I-ich... einen Mann namens Dak Kaniy... meinen Vater, Herr.“ Tayson lachte.

„Jetzt hör doch mal auf, uns alle im Plural anzusprechen, Karana steigt sowas schnell zu Kopf, er bildet sich doch so schon genug auf seine Abstammung ein... so als Sohn des größten Magiers der Welt ist das auch kein Wunder.“

„Vati ist nicht der beste Magier der Welt, er ist nur der Kopf des Geisterjägerrates!“, machte Neisa, „Das ist nicht zwingend dasselbe. Wenn, dann ist er höchstens der größte Magier des Zentrums. Aber sicher auch das nicht unbedingt.“

„Wie auch immer, er ist ein verdammt hohes Tier...“

„Na siehst du, Tayson, dann ist es doch berechtigt, uns im Plural anzusprechen.“, feixte Karana und stieß ihn an, „Los, auf die Knie mit dir, du Wurm.“ Simu verdrehte vorne die Augen.

„Höre nicht auf die, Eneela.“, riet er ihr, „Ja, sie sind immer so. Einfach nicht beachten.“ Die Lianerin nickte nur zögerlich mit dem Kopf – dann erreichten sie den Eingang des Lianerdorfes und wurden angehalten von einem Wachposten, der bewaffnet davor stand. Simu wunderte sich. Waffen waren so untypisch für die so friedlichen Beschwörer...

„Halt!“, rief der Wächter und versperrte ihnen mit seinem Speer den Eingang, „Wer seid ihr und was begehrt ihr? Unbefugten ist der Zutritt verboten, das hier ist kein Museum zum Besichtigen.“

„Sachte, mein Freund, das haben wir auch nicht angenommen.“, war Karanas patzige Antwort, „Jetzt halt mal deine Zunge fest und sei nicht so frech.“

„Karana!“, empörte Simu sich, „Das ist nicht sehr diplomatisch!“ Er verneigte sich vor dem weißhäutigen, blonden Wachmann. „Mein Name ist Simu Lyra. Das hinter mir sind meine Geschwister und ein Freund von uns – dies hier ist Eneela. Sie sucht ihren Vater, dürfen wir reinkommen? Meine Schwester ist überdies Heilerin, sie hat Salben, die ihr vielleicht gebrauchen könnt.“ Eneela spähte scheu an dem Wachmann, der die Gruppe misstrauisch musterte, vorbei ins Dorf. Sein Blick verharrte auf dem Hund, der brav neben Karana saß und mit dem Schwanz wedelte.

„Was ist das da?“, fragte er und zeigte mit der Waffe auf den Hund. Karana zog eine Braue hoch.

„Ich würde sagen, das ist ein Hund.“

„Wieso geht mit euch ein wildes Tier?“

„Er ist mein Bruder, er gehorcht meinem Willen.“, war Karanas Antwort, und Simu wusste, dass der grimmige Tonfall, den sein Bruder gerade aufsetzte, alles nur schlimmer machte. Dieser Idiot, konnte er nicht einfach höflich sein? Wieso musste er immer im falschesten Moment beweisen, dass er besserer Herkunft war als die meisten anderen, die er so traf?

Das dachte der Lianer sich wohl auch, er schnaubte.

„Das Vieh bleibt draußen und du am besten gleich mit. Wilde Raubtiere sind hier nicht erwünscht. Habt ihr Waffen dabei? Dann legt sie bitte ab, ihr bekommt sie zurück, wenn ihr geht.“

Karana lachte verblüfft auf.

„Verstehe ich das gerade richtig, alle anderen dürfen rein und nur ich nicht, weil ich einen Hund habe?“

„Eins und eins zusammenzählen kannst du, das ist schon mal was.“, entgegnete der Wächter sarkastisch und Karana schnaubte.

„Ach, dabei hätte Aar als Tier so gut in euer Dorf gepasst, immerhin seid ihr doch die geschützte Tierart von Kisara.“ Ehe die Situation eskalieren konnte, setzte Simu sich als Schlichter ein.

„Karana, bitte!“, zischte er, „Nimm es bitte einfach hin, ja? Lass es einfach gut sein und halt deinen Mund! Wir werden doch nicht lange brauchen und was willst du überhaupt da drinnen?“ Darauf hatte sein erboster Bruder keine Antwort, aber er fletschte grantig seine spitzen Eckzähne wie ein geiferndes Raubtier, was dem Blonden einen Schauer über den Rücken jagte. Er sah aus dem Augenwinkel Eneela noch mehr erbleichen und ihm fiel ein, wie sie am Vorabend erwähnt hatte, sie fürchtete Karanas komische Zähne... er fragte sich, wieso eigentlich. Ja, sie sahen wirklich eigenartig aus, aber eigentlich waren sie kein Grund zur Furcht. Simu drehte sich wieder dem Wächter zu. Er trug einen kleinen Dolch bei sich, den er dem Wachmann vertrauensvoll gab. Die anderen waren unbewaffnet und wurden – nach gründlicher Musterung und auch Durchsuchung von Neisas Tasche mit den Salben – darauf ins Dorf gelassen. Karana blieb mit dem Hund empört draußen stehen und verschränkte die Arme.

„Ist gut, ich schleiche dann solange sinnlos um das Dorf herum, während ihr euch amüsiert!“, hörte Simu ihn noch rufen, und er seufzte kurz. „Viel Spaß dann, ihr Pfeifen! So eine Demütigung, na wartet, ihr Bleichgesichter, ihr werdet schon noch sehen, was ihr davon habt!“ So sprach er und sein Bruder sah ihn samt Aar davon stampfen, vermutlich am Zaun entlang.

„Ist das wirklich in Ordnung, ihn da zu lassen?“, fragte Eneela scheu und sah sich nervös um auf dem Marktplatz, auf dem sie jetzt landeten. „Ich meine, er scheint wirklich wütend zu sein...“

„Er ist jetzt die beleidigte Leberwurst, aber das gibt sich schon wieder.“, meinte Neisa, „Tayson, du hättest ruhig zur Gesellschaft bei ihm bleiben können, du hast hier auch gar nichts verloren, du Penner!“

„Ich kann dich doch nicht alleine hier rein lassen.“, grinste der Schwarzhaarige und sie verdrehte die Augen.

„Gut, und was jetzt, Simu, du großer Reiseführer?“ Simu beantwortete die Frage, indem er vorsichtig einen Passanten aufhielt und sich höflich verneigte, ehe er ihn ansprach.

„Verzeihung, wir suchen die Apotheke. Und wir sind auf der Suche nach einem Lianer namens Dak Kaniy... wisst Ihr zufällig, wo wir ihn finden oder wen wir sonst fragen könnten?“ Der Einwohner des Dorfes zeigte nach Westen.

„Die Apotheke liegt dort – zwei Häuser weiter ist der Sitz des Dorfoberhauptes. Der Vorsteher wird euch sicher weiterhelfen... also, ich kenne zumindest keinen Dak Kaniy.“

Die Nachricht war schon mal ernüchternd – das Dorf war klein, an sich müsste jeder jeden kennen, dachte Simu sich stirnrunzelnd, als sie in der Apotheke im Westen des Dorfes die Salben verkauften. Die junge Frau, die dort arbeitete, war sehr angetan von Neisas Medizin und schien im Vergleich zum Rest des Dorfes nicht so feindselig gestimmt zu sein. Im Gegensatz zu den Schamanen konnten Lianer nicht mit Magie heilen. Sie konnten nur die Bestien beschwören, die sogenannten Lians, elementare Monster, die dann ihrem Willen gehorchten. Demzufolge war Medizin bei ihnen auch nötiger als bei den Schamanen, die sich – Heiler natürlich besser und Schwarzmagier weniger gut – alle zumindest leichte Wunden mit einem einfachen Heilzauber selbst entfernen konnten. Und die Heiler der Schamanen waren im Herstellen von Medizin, was eigentlich gar nichts mit Zaubern zu tun hatte, größten teils besser als menschliche Apotheker, von daher waren Neisa und ihre Mutter in der Provinz immer gefragt und anerkannt.

Der Besuch beim Dorfoberhaupt war dann die letzte Station im Lianerdorf. Das Haus des Vorstehers war weder sonderlich groß noch schön, es war ein bescheidenes Holzhaus wie alle anderen im Dorf. Das ganze Dorf war simpel hergerichtet; die Atmosphäre war gedrückt, während die kleine Gruppe durch die Straßen ging. Passanten warfen ihnen als eindeutigen Nichtlianern schräge, misstrauische Blicke zu. Es schien nicht oft vorzukommen, dass Fremde im Dorf waren... vermutlich wurden sie auch nur grummelnd geduldet, weil sie eine Lianerin bei sich hatten. Simu verübelte den Beschwörern ihre Feindseligkeit nicht mal. Sie waren Jahrhunderte lang diskriminiert, gejagt und geschlachtet worden, es war kein Wunder, dass sie die Menschen und auch die Schamanen im Allgemeinen nicht besonders leiden konnten.

Der Vorsteher des Dorfes war kein besonders auffälliger Mann. Er war weder sehr groß noch sehr klein, weder auffallend hübsch noch hässlich. Aber viel zu sagen hatte er nicht.

„Dak Kaniy, sagt ihr? Den Namen habe ich noch nie zuvor gehört, fürchte ich. Hier in meinem Dorf lebt jedenfalls niemand unter diesem Namen.“ Eneela machte ein enttäuschtes Gesicht.

„Aber... aber wo ist er denn dann? Irgendwo muss er doch sein, ich meine... er war nicht bei den anderen, dort, wo ich aufgewachsen bin...“ Ihre Stimme erstickte beinahe in Tränen und Simu, Neisa und Tayson sahen sich bestürzt an. Der Vorsteher seufzte.

„Es tut mir leid, Mädchen. Und es... es mag ungehobelt klingen, aber bist du denn sicher, dass dein Vater überhaupt noch lebt? Oder dass er wirklich hier auf Tharr ist, und nicht auf Ghia?“ Das junge Mädchen schrak hoch und unterdrückte hilflos ein Schluchzen.

„I-ich... ich weiß nicht genau, Herr... aber... aber wenn er auf Ghia wäre, wäre ich ihm doch begegnet. Und wenn er tot wäre, hätte man mir das doch gesagt...“

„Bist du dir sicher?“, hakte der Dorfvorsteher stirnrunzelnd nach, „Warst du eine Sklavin auf Ghia?“ Sie zögerte mit der Antwort, auf die Simu auch gespannt war – wobei es ihn wirklich verblüfft hätte, wenn sie verneint hätte, so war er auch nicht sonderlich überrascht, als sie zögerlich nickte.

„Wohl in ziemlich feinem Haus, wenn es da, wo du gewesen bist, viele von uns gab.“, orakelte der Lianer vor ihnen mit hochgezogenen Brauen und Eneela senkte den Kopf, ehe sie etwas tat, was Simu sie bisher nicht tun gesehen hatte. Sie zischte hasserfüllt.

„Das kann man so sagen, ja. Und ich möchte niemals wieder dorthin zurück!“

„Himmel, Kind, natürlich willst du das nicht!“, rief der Mann verblüfft, „Du bist hier in meinem Dorf natürlich willkommen. Der Schneider hat ein Zimmer, das er dir geben könnte, und eine Gehilfin kann er auch immer gebrauchen, glaube ich. Aber wenn du weiterziehen und deinen Vater suchen möchtest, ist das natürlich deine Sache. Ich würde mir, so leid es mir tut das sagen zu müssen, allerdings nicht allzu viele Hoffnungen machen...“ Sie wurden unterbrochen, weil plötzlich lautes Poltern ertönte und ein dünner, kleiner Mann herein gerannt kam, wild die Tür aufreißend und brüllend.

„Herr! Dieses verdammte Mistgör, meine Hühner! Sie hat schon wieder eins meiner Hühner geklaut, ich schnappe mir meine Armbrust und erledige sie, verdammt noch mal! Diese elende, unwürdige kleine Kröte, ich habe es von Anfang an gesagt!“

„Himmel noch mal!“, rief der Vorsteher, „Beruhige dich doch! Was ist mit deinen Hühnern?“

„Es fehlt eins, schon wieder! Ich habe diesen Mond bereits drei Hühner verloren! Ich habe sie noch gesehen, sie ist flink wie ein Wiesel durch das Loch im Zaun gekrochen, ich habe es genau gesehen! Das nächste Mal erschieße ich sie!“

„Das ist aber nicht sehr ethisch.“, warf Neisa ein und der Mann in der Tür fauchte sie an.

„Ist es etwa ethisch, anderen die Hühner zu stehlen?! Und das geht seit Jahren so! Nicht nur Hühner, alles mögliche andere muss dran glauben! Und die Löcher im Zaun werden dauernd repariert, nichts hilft, sie findet immer wieder ein neues! Es ist zum Haare ausreißen! Kann sie nicht mal ein anderes Dorf überfallen?!“

„Einen Moment noch, ich komme sofort zu dir.“, sagte der Vorsteher dazu, „Wir sollten uns tatsächlich endlich mal etwas einfallen lassen für diese nervige Göre... vergib mir. Aber erschossen wird niemand!“ Grummelnd zog sich der kleine Mann zurück und die Gäste sahen einander verblüfft an.

„Ist das ein Mensch, der all das Zeug stiehlt?“, fragte Neisa dann, und der Vorsteher seufzte, ehe er nickte.

„Ein Mädchen. Sie hat einst hier gelebt mit ihren Eltern. Ihre Mutter war Lianerin, aber ihr Vater ist keiner. Vor vielen Jahren starb die Mutter und daher gab es keine Verbindung mehr zwischen den beiden und unserem Dorf. Und sie waren unheimlich... alle beide. Die Dorfbewohner haben so lange protestiert, bis ich sie rausgeworfen habe, aber inzwischen bereue ich es, denn seitdem haben wir hier nur Ärger. Ich weiß gar nicht, ob der Vater noch lebt, es ist immer nur die Kleine, die hier Unruhe stiftet. Ein Jammer, mir tut das Kind leid. Wieso sucht sie sich nicht einfach eine Arbeit und verdient ihre Nahrung ehrlich, statt sie zu stehlen?“ Er schüttelte bedauernd den Kopf, dann wandte er sich wieder an Eneela. „Tut mir leid, Mädchen. Ich kann leider nichts für dich tun, was deinen Vater angeht. In der Provinz Noheema gibt es auch noch ein paar von uns, aber sonst ist mir kein Ort bekannt, an dem explizit viele Lianer leben. Bist du auf Ghia geboren worden?“ Eneela nickte unglücklich. „Und was ist mit deiner Mutter, wenn ich fragen darf? Ist sie auf Ghia?“ Wieder ein zögerliches Nicken.

„Sie... war da, bis vor kurzem zumindest. Sie ist... ist... leider jetzt tot.“ Bedrücktes Schweigen. Der Vorsteher neigte den Kopf.

„Vergib mir, ich hätte nicht so forsch fragen sollen... das tut mir aufrichtig leid.“

„Alles, was sie mir gesagt hat, ist, dass sie und mein Vater einst auf Tharr gelebt haben... bis sie nach Ghia gejagt wurden. Sie hat mir nie von ihm erzählt... kein einziges Wort. Ich... habe ihn niemals gesehen, ich dachte... vielleicht ist er entkommen und zurück nach Tharr geflohen, deswegen...“

„So leid es mir tut.“, sagte der Dorfvorsteher, „Was du erzählst, klingt doch eher danach, dass auch er tot ist. Ich kenne deinen Vater nicht, aber würde ein liebevoller Vater seine Familie im Stich lassen und alleine fliehen?“

„Wobei das ja ein Grund sein könnte, wieso die Mutter ihn nie wieder erwähnt hat, vielleicht hat er sie sitzen lassen.“, meinte Tayson verdutzt. Eneela schrumpfte zitternd in sich zusammen, ihre weißen Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie den Kopf tief senkte.

„Nein, das glaube ich nicht...“, wisperte sie, „Wenn sie ihn jemals erwähnt hat, wenn sie von Tharr sprach... war sie glücklich. Sie wirkte nicht so, als... spräche sie über einen Schuft, der sie verraten hat.“ Das Dorfoberhaupt schüttelte abermals den Kopf.

„Ich fürchte wirklich, du musst... dich mit dem Gedanken anfreunden, dass dein Vater nicht mehr lebt. Also, hier zumindest ist nie ein Dak Kaniy gewesen, solange dieses Dorf steht. Es tut mir leid, Mädchen... ich kann wirklich nichts für dich tun außer dir anzubieten, bei uns zu bleiben.“ Er warf hektisch einen Blick auf die drei anderen, „Ähm, das Angebot gilt aber nur für sie, das versteht ihr, oder? Wir sind schließlich ein Lianerdorf...“

„Natürlich, wir hatten auch nicht vor, zu bleiben.“, meinte Simu dazu und neigte höflich den Kopf. „Dann... sollten wir jetzt vielleicht gehen.“

Er sorgte sich um seinen Bruder den sie beleidigt draußen hatten warten lassen. Karana war zwar aus dem Alter heraus, wegen allem, das ihm nicht passte, schmollend davon zu laufen, aber ein ungutes Gefühl hatte der junge Mann dennoch. Und es betraf nicht allein Karana, stellte er stirnrunzelnd fest, als sie das Haus wieder verlassen hatten und in den Sonnenuntergang sahen. Es war spät geworden...

„Gut, Eneela.“, brach Tayson dann fröhlich die Stille, „Das ist doch schon mal was.“

„Was ist was?!“, fauchte Neisa ihn an, „Wir sind nicht schlauer als vorher, du Honk!“

„Wo ist Karana?“, murmelte Simu, der zum Eingang spähte, an dem nur der Wächter zu sehen war. Nun, vielleicht hockte Karana neben dem Tor am Zaun...

Eneela unterbrach ihn, die sich plötzlich auf den Boden hockte und zu weinen begann. Die drei anderen sahen sich ratlos an und Tayson verstand gar nichts mehr.

„Was ist denn?“, wunderte er sich taktlos und Neisa trat ihm für seine Dämlichkeit auf den Fuß.

„Dass du singend ums Feuer tanzen würdest, wenn du hören musst, dein Vater ist wahrscheinlich tot, ist mir klar!“, sagte sie dabei spöttisch, worauf der Mann keine Antwort hatte. „Dein Gefühlsvermögen passt ja auch in einen Babyschuh!“ Die Heilerin hockte sich neben Eneela und versuchte, sie zu beruhigen, ihr eine Hand auf den Rücken legend. Eneela sprach, oder versuchte es, zwischen den Schluchzern war es nicht einfach, sie zu verstehen.

„D-der Witz ist, es ist... nicht mal richtig überraschend für mich, ich... habe doch geahnt, dass es so ist... es... ich... ich weiß nur gar nicht, wo ich jetzt hin soll... w-was, wenn er doch noch irgendwo lebt, ich kann doch nicht einfach hier bleiben und ihn vergessen...“

„Dann geh nach Noheema, wie der Alte gesagt hat.“, schlug Simu ihr vor, sich auch herab beugend, während Tayson verhalten darüber meckerte, er wäre total einfühlsam und es würde nur niemand merken. „Wenn du magst, gebe ich dir eine Landkarte, dann findest du den Weg bestimmt. Jetzt weine doch nicht gleich...“ Neisa sah ihn hilflos an, während sie die aufgelöste Lianerin zu beruhigen versuchte, und Simus Lächeln erstarb, als er sich wieder aufrichtete und den Kopf zur Seite drehte. Warum machte er diesem armen Geschöpf Hoffnung? Er selbst suchte doch seit Jahren nach seinen Eltern... oder Hinweisen auf sie... und hatte noch nicht mal den Hauch einer Spur gefunden, egal, wohin er gelangt war. Er glaubte nicht wirklich daran, dass ihr Vater noch irgendwo lebte... wieso sollte er nach Tharr zurückgekehrt sein, wenn er mit der Mutter gemeinsam nach Ghia getrieben worden war?

„Möchtest du lieber noch einmal mit uns kommen, Eneela?“, bot Neisa ihr da an, „Wir haben genug Platz für einen Gast. Du kannst dich ausruhen und dir in Ruhe überlegen, was du als nächstes tun möchtest... nach Noheema kommt jeder. Sagals haben überall Verwandte sitzen, über die bekommst du überall eine Unterkunft, und mein Vater hat Kollegen, die aus Noheema kommen, die helfen bestimmt auch gern. Jetzt hör auf zu weinen, wir gehen erst mal wieder heim. Es wird Zeit für das Abendessen!“ Eneela wischte sich hilflos über die hellen Augen.

„A-aber... ich kann das nicht annehmen, Herrin! Ihr... Ihr alle wart so gut zu mir, ich verdiene das gar nicht... ich komme mir so elend und nutzlos vor, Ihr... helft mir so sehr und es gibt nichts, mit dem ich Euch entlohnen könnte.“ Tayson hüstelte im Hintergrund und Simu verdrehte die Augen.

„Denk nicht mal dran, mein Freund.“, warnte er ihn eindringlich, während die Mädchen sich erhoben. Eneela schien nicht begriffen zu haben, worum es ging, das war auch besser so. Zu der Lianerin gewandt setzte er ein freches Grinsen auf. „Na ja, wie gesagt, geschützte Tierart. Der König würde uns lynchen, wenn wir dich einfach auf der Straße verrecken ließen.“

Es war Neisa, die ihn aus seinen Worten riss und ihn heftig am Arm packte.

„Um Himmels Willen, Simu!“, schrie sie dabei erbleichend und alle fuhren herum, als sie aufgeregt nach Westen deutete – und die riesigen Rauchschwaden, die dort zu sehen waren. „D-der Wald!“, fiepte Neisa, „Der ganze Wald muss in Flammen stehen!“ Der Blonde riss keuchend die Augen auf, in dem Moment, als eine Alarmglocke im Dorf läutete und plötzlich aus den Häusern die Lianer gestürzt kamen, panisch schreiend und umher rennend.

„Feuer!“, schrien sie, „Es brennt in den Wäldern!“

„W-wie kommt das denn, so trocken war es doch gar nicht!“, machte Tayson, doch Neisa fing schon hysterisch zu schreien und zu wimmern an, während Simu erneut keuchte.

„Das ist kein natürlicher Waldbrand...“, stammelte er, „Das sind Menschen, die uns angreifen!“ Er wechselte einen Blick mit Tayson, dem jetzt offenbar ein Licht aufging, während im Westen die Flammen züngelten und sie dumpf in der Ferne das Grölen von vielen, vielen Männern hören konnten. Kriegern... oder vielleicht eher armseligen Sterblichen.

„Verflucht, das sind sicher die Verrückten aus Kamien!“, stieß der Schwarzhaarige hervor, „N-nichts wie raus hier, bevor die uns alle nieder rennen! Ich hab die gesehen in Koraggh, das waren hunderte! Vielleicht tausend, das waren Massen!“ Neisa schrie vor Angst, als aus dem Himmel plötzlich ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte – ein Krachen, das keinesfalls ein natürlicher Donner war und das ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Simu zerrte an seiner Schwester, die heftig atmend gen Westen starrte in dem Moment, in dem eine gewaltige Wand aus loderndem Feuer die westliche Seite des Zauns komplett zerschmetterte und der wilden Armee der Bauern den Weg ins Dorf frei gab.

„Wir müssen hier weg, verdammt!“, rief Tayson erneut, „Wir können die nicht mit Fäusten erschlagen, die haben Mistgabeln! Und Pferde und – ohne Karanas Zauber sind wir doppelt verloren!“ Damit packte er schon Eneela, die wie festgewachsen da stand und offenbar versteinert war, um sie mit sich zum Ausgang zu zerren.

„Das ist der Zorn der Himmelsgeister!“, wisperte Neisa fassungslos, während sie sich an Simus Arm krallte und noch immer wie hypnotisiert nach Westen starrte, als wartete sie auf etwas Bestimmtes. Simu packte sie, um Tayson zu folgen – der Trottel vom Dienst hatte ausnahmsweise mal recht, sie hatten hier nichts mehr verloren.

„Das ist kein Himmelszorn, Neisa.“, zischte er nur mit einem letzten Blick auf das gigantische, lodernde Feuer, das das in Panik geratende Dorf ergriff, „Das ist Zoras, ich gehe jede Wette ein.“
 


 

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*lustlos* Irgendwie ist es gammlig, oder? Ist es gammlig? Nichts passiert! Eneela fängt schon wieder an mich zu nerven mit ihrem Geflenne, wird Zeit dass Loron kommt xDD

Der Sohn des Jägers

In Kamien regnete es selten. Und wenn es regnete, machte die so eingetrocknete, schlechte Erde das Land auch nicht fruchtbarer. In der Regenzeit war die ganze Region überschwemmt, weil der Boden nicht fähig war, die Massen an Wasser aufzunehmen, die plötzlich mit grollendem Zorn vom Himmel fielen.

„Ihr wolltet doch immer Regen, den ganzen Sommer über?“, spottete Vater Himmel dann, „Da habt ihr ihn, ihr Armseligen!“ Aber der Regen machte die Felder nicht besser... es gab nie fruchtbaren Boden in Kamien.

Zoras Derran war davon überzeugt, dass die Menschen daran Schuld waren – Mutter Erde hatte dieses Gebiet sicher nicht grundlos zum schlechtesten, lebensfeindlichsten in ganz Senjo gemacht. Kein Mensch, der einigermaßen Verstand und Chancen auf einen guten Beruf hatte, war dumm genug, in Kamien zu bleiben. Und die, die blieben, waren der Abschaum vom Abschaum, Menschen, die keine andere Wahl hatten. Unruhestifter, Gauner, Lustmolche... von Tunichtguten gab es in Kamien mehr als genug. Manche, die blieben, waren auch einfach nur dämlich und beharrten auf einer Eingebung der Himmelsgeister... einer davon war sein Vater.

Zoras zischte und umklammerte seine beiden Dolche, die er in den Händen hielt, während er den schwülen Wind des Sommers in seinem Rücken spürte. Dieser Sommer dauerte ewig... die Regenzeit würde aber kommen und wieder alles überfluten. Der Wind kam aus dem Osten... er brachte schlechte Zeichen, der junge Mann wusste das, während er nach Westen starrte in die langsam verblassende Dunkelheit der vergangenen Nacht. Aus dem Osten kam ein gewaltiger Schatten, hatten die Geister gesagt. Zoras hoffte und betete zu den Geistern, dass dieser Schatten Kamien einfach überrollen und alle Nichtsnutze und Mistkerle ermorden würde, die hier lebten... und wenn das ihn selbst einschloss, er hätte wenigstens einmal etwas richtig Nützliches getan, wenn er die Geister der Schatten auf sein Heimatdorf hetzte und es dem Erdboden gleich machte.

Heimatdorf... Holia war nicht seine Heimat. Das war es nie gewesen, er war hier weder geboren noch hatte er vor, hier wirklich zu sterben. Nicht am von allen Geistern verlassensten Ort auf ganz Tharr. Es war ein dummer Zufall gewesen, der ihn und seine Eltern vor etwa acht Jahren hierher gebracht hatte... es war ein Tag gewesen, der ihr Leben für immer verändert hatte. Und das nicht zum Positiven.

„Wenn die Zeit gekommen ist.“, knurrte der Mann und pustete sich die ihm wirr ins Gesicht hängenden schwarzen Haarsträhnen aus dem Blickfeld, „Dann werdet ihr alles büßen... was ihr getan habt, ihr dreckigen... unwürdigen Insekten. Eines Tages werdet ihr jene Nacht bereuen, in der ihr uns hier aufgenommen habt, weil ich... euch zerquetschen werde. Einen nach dem anderen... bis keiner von euch Scheusalen mehr übrig ist.“ Er freute sich darauf, seine Drohung wahr zu machen... eines der wenigen Dinge – vielleicht das einzige – auf die er sich tatsächlich freute.

Er wandte der Finsternis den Rücken zu und ging die kleine Anhöhe hinunter, um zurück ins Dorf zu kehren. Er ließ seine Mutter ungern da unten alleine bei den Rüpeln... aber in der Nacht war sein Vater daheim gewesen, also war sie ja nicht alleine. Und ab und zu brauchte er Abstand von diesem stinkenden Ort voller Scheusale. Er verabscheute das Dorf eigentlich mehr als alles andere auf der Welt... dieses Dorf und seine Bewohner, die seine Mutter schändeten, wann es ihnen passte, was vollkommen normal zu sein schien. Dieses Dorf voller Barbaren, die wie Schweine lebten und von morgens bis abends an nichts anderes zu denken schienen als daran, ihre lüsternen Triebe zu befriedigen. Dabei war es egal, wem die Frau gehörte, die sie dafür auserkoren hatten. Allein die Gedanken daran ließen in dem Schwarzhaarigen den Zorn empor steigen... er wäre längst hier weg, wenn es seine Mutter nicht gäbe.

Er traf auf ihren Gatten, als er Holia betrat. Zoras nannte Ram Derran ungern seinen Vater. Zweifelsohne war er sein Erzeuger, der Sohn war dem älteren Mann wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber ein Vater war er ihm, soweit er sich erinnerte, niemals gewesen. Und das war nicht der Hauptgrund, wieso Zoras ihn fast genauso verabscheute wie das Dorf.

„Wo hast du dich herum getrieben?“, begrüßte Ram Derran seinen Sohn grimmig, als beide Männer sich am mickrigen Eingang des Dorfes im Westen trafen. Der Vater trug seine Jagdwaffen, offenbar wollte er zur Arbeit gehen. „Ich habe dich gesucht, du unnützes Gör.“

„Sag an. Plötzlich so etwas wie väterliche Beschützerinstinkte? Nachdem ich bald siebzehn Jahre lebe? Etwas spät dran, ich bin erwachsen und brauche deine Sorge jetzt noch weniger als ich sie jemals gebraucht habe. Hast du Mutter alleine gelassen? Mal wieder?“ Zoras schob seine beiden Dolche in seinen Gürtel und musterte seinen Vater argwöhnisch. Ram Derran brummte.

„Ich frage auch nicht aus Sorge um dich, sei dir dessen bewusst. Nein, aber vorhin kam Loron und hat nach dir gefragt. Ich musste ihn also vertrösten, da du ja einfach verschwunden bist, und du weißt, wie der Sohn des Dorfoberhauptes reagiert, wenn er nicht das bekommt, was er will. Du solltest ihn besser suchen gehen... ich denke, ihr seid Freunde.“ Er zeigte ein sarkastisches Lächeln, ehe er sich an Zoras vorbei drängelte, um aus dem Dorf zu gehen. Der Sohn fuhr schnaufend herum.

„Freunde?! Dieser Frauenschänder ist nicht mein Freund, der einzige Grund, wieso ich mich mit ihm abgebe, ist, ihn bei Laune zu halten, damit er Mutter nicht wehtut! Eine Aufgabe, die dir als ihrem Gemahl eigentlich mehr zustünde als mir... Vater! Aber ist schon in Ordnung, ich verstehe dich. Hier, in Holia, wo es außer uns keinen einzigen Magier gibt, bist du plötzlich ein toller Hecht... hier ist es egal, was für ein Versager du in Wahrheit bist. Dass deine Frau dafür jeden Tag leidet, ist es wert, sehe ich genauso.“ Er sah zu, dass er wegkam, weil sein Vater wutentbrannt herum wirbelte und mit dem Speer nach ihm zu stechen versuchte.

„Sei geehrt, dass die Geister uns ein Dach über dem Kopf gewährleisten, dank deines ewigen Meckerns wundert es mich, dass sie uns nicht längst mit einem Blitz gegrillt haben! Du undankbarer Hurensohn, verfluchte Scheiße!“ So hörte Zoras ihn schimpfen, und er ignorierte die Tatsache, dass der Idiot seine eigene Frau gerade eine Hure genannt hatte – sowas geschah in blindem Zorn eben. Obwohl Ram Derran ein Idiot war, ein unglaublich untalentierter Magier und ein Rabenvater, eigentlich liebte er seine Frau. Nicht genug, um sie vor Loron oder den anderen Lüstlingen zu beschützen, aber man sollte ja nicht zu viel auf einmal verlangen...
 

Zoras hatte nicht die geringste Lust, Loron aufzusuchen. Aber er tat besser daran, es dennoch zu tun... was tat er nicht alles für seine Mutter, wo sein Vater schon nicht fähig war, sie selbst vor den anderen Männern zu schützen... und ihn nannte Ram undankbar. Die Welt war definitiv ein beschissener Ort, hatte der Schamane gelernt.

Das Haus der Familie Zinca war eine Bruchbude wie jede andere im Dorf, ein Haufen Holz, der gerade eben das Wasser der Regenzeit von oben abhalten konnte. Nichts ließ erkennen, dass hier der selbst ernannte Häuptling von Holia wohnte, Lorons Vater. Wenn es jemanden gab, den Zoras mehr verabscheute als Loron, dann dessen Vater, Arlon. Den größten Widerling von allen, der sich als Häuptling und Witwer die Freiheit nahm, jede Frau des Dorfes nach seinem Belieben auszuleihen, wie es ihm passte. Er fragte sich, ob Arlon daheim war... im Dorf war insgesamt kaum jemand zu sehen an diesem Morgen, was verblüffend war... es waren seltsame Zeiten. An manchen Tagen waren plötzlich Massen an Männern hier gewesen, an anderen – wie jetzt – keiner... Loron jedenfalls war offensichtlich zu Hause, wie der Schamane nach dem Eintreten an den wimmernden Schreien einer Frau und dem grunzenden Stöhnen eines sich paarenden Tieres erkannte. Er schauderte, als er in der offenen Haustür inne hielt, und fragte sich, ob er wieder umkehren sollte – allein die Geräusche verursachten in ihm einen fürchterlichen Brechreiz und das verzweifelte Jammern der armen Tussi, die da gerade ganz offenbar gegen ihren Willen bestiegen wurde, machte ihn rasend vor Wut... er sollte ihn einfach erschlagen, diesen Mistkerl. Zischend riss er sich zusammen, kämpfte gegen die Übelkeit an mit dem Gedanken, dem Bastard notfalls einfach ins Gesicht zu brechen wäre auch nicht weiter schlimm, und stampfte durch das Haus in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Als er das gammlige Fell zur Seite riss, das eine Tür zum Schlaflager ersetzte, fuhren dahinter zwei Menschen zusammen, einer davon war Loron, der sich gerade über seine armselige Schwester hermachte.

„Himmel noch mal!“, empörte der Sohn des Häuptlings sich grantig, „Du bist zu spät, ich bin beschäftigt, Kurzhöschen!“ Zoras zischte ihn an, während er seiner Schwester einen mitleidigen Blick schenkte, die jammernd versuchte, ihren Bruder von sich zu stoßen.

„Bitte, Zoras, sag ihm, dass er aufhören soll! Bitte!“ Loron schlug sie zur Strafe.

„Halt's Maul, Asta, das ist mein Besuch!“ In Zoras' Richtung grinste er fröhlich. „Was denn, mach dir doch ´nen Tee und warte noch kurz, du bist gleich an der Reihe.“

„Ich warte sicherlich nicht auf dich, Loron. Sag jetzt, was du zu sagen hast, oder lass es, dann gehe ich eben. Mein Vater hat mir gesagt, du hättest nach mir geschickt. Meine Geduld kennt Grenzen, Loron.“ Der wenig ältere knurrte wie ein hungriges Tier, ehe er sich durch die Haare fuhr und seine schluchzende Schwester abermals zur Seite schlug, sich dann aus ihr zurückzog und ihr ein modriges Fell überwarf, damit er ihren Anblick nicht länger ertragen musste. Asta wimmerte, als sie sich unter dem Fell zusammen kauerte. In Zoras' Augen war sie wirklich das bemitleidenswerteste Geschöpf in ganz Holia; es gab niemanden, der sie wirklich mochte, sie war ziemlich hässlich und wurde von allen Männern nur als Ersatzmatratze benutzt, wenn alles Bessere gerade besetzt war – das schloss auch ihren eigenen Bruder und Vater ein. Lorons und Astas Mutter war gestorben, als sie dem Mädchen das Leben geschenkt hatte... seitdem hatte Arlon für seine Kinder gesorgt, mehr schlecht als recht. Und sobald Asta zu einer jungen Frau herangereift war, hatte sie nicht nur die Hausarbeit einer solchen erledigen müssen, sondern diente seit jeher auch ihrer Familie – und allen anderen, denen gerade langweilig war – als Vergnügung. Zoras mochte Asta auch nicht sonderlich, aber eigentlich konnte sie nichts für das, was sie war, und alles, was er für das arme Mädchen empfinden konnte, war Mitleid. Er konnte sie nicht beschützen, er hatte es schon mit seiner Mutter schwer genug.

„Gut, du Nervensäge!“, brummte Loron ihn da an, der seine Hose suchte und sich so langsam wie möglich anzog, wobei Zoras brummend in eine andere Richtung sah. Es interessierte ihn nicht wirklich, Loron nackt zu sehen... dummerweise wusste der andere, dass ihn der Anblick abstieß, und ließ sich deswegen extra Zeit. „Asta, hör auf zu flennen! Wir sind noch nicht fertig, also wehe, wenn du versuchst, wegzurennen, dann werde ich es viel grausamer machen. Und du weißt ja, wie es ist, wenn ich es grausam mache... du wirst bluten, du hässliche Schlampe.“ Mit einem dreckigen Grinsen tätschelte er dem Fellhaufen die Stelle, wo er den Kopf seiner Schwester vermutete, und sie schlug schreiend nach ihm, ohne ihn zu treffen. Jetzt angezogen stand der Mann auf, zog den Vorhang vor der Schlafnische zu und stellte sich zu seinem vermeintlichen Freund in die Diele. „Ja, ich hab dich gesucht, weil ich dich brauche.“

„Wofür?“

„Wir werden Koraggh niederbrennen. Und das geht leichter, wenn man einen Zauberer hat, der zufällig Blitze werfen kann... wenn du verstehst, was ich meine.“ Zoras starrte ihn verblüfft an.

„Ihr... wollt was?!“

„Du hast es schon gehört, Kurzer. Das Land ist zum Kotzen, findest du nicht? Von der Regierung schert sich kein Arsch darum, dass wir hier verhungern und verrecken. Die paar Beamten, die diese Provinz hat, sitzen nur auf ihrem Arsch und freuen sich, weil sie Geld haben, und wir verrecken trotzdem. Deswegen werden wir alle Beamten in Koraggh zermalmen, die ohnehin niemand hier braucht. Vater und die anderen haben aus vielen Dörfern aus der Gegend Freiwillige gesammelt, Männer, die bereit sind, zu kämpfen. Wir haben genug Speere, um dieses Kaff einzunehmen und den Teil niederzubrennen, den die Beamten bewohnen.“

„Wozu braucht ihr dann noch mich? Eure Beamten sind nur Menschen. Die zu töten braucht keine Magie.“

„Aber es wirkt furchteinflößender, wenn du dabei bist. Wir stürzen die verdammte Oberschicht, willst du dir das entgehen lassen?“ Der Größere grinste zufrieden, als Zoras unwirsch eine Braue hob. „Hey... ich habe mir sagen lassen, du tötest gerne... unwürdiges Ungeziefer, war es nicht so? Ich hab da von dem Blutbad mit Fjok gehört, erinnerst du dich? Der Sack, der mit uns in der Schule war? Komm schon, das wird ein Spaß.“ Der Schwarzhaarige hob eine zweite Braue.

„Verstehe mich nicht falsch – ich hänge nicht an den hirnlosen Politikern hier, die dürfen gerne sterben. Was mich ankotzt ist, dass ich euch damit einen Gefallen täte. Nenne mir einen Grund, wieso ich das für euch tun sollte... nur, damit ihr imposanter wirkt?“ Loron hörte zu grinsen auf und schwieg einen Moment – denken war nie seine Stärke gewesen, fiel dem Kleineren dabei auf, und er zischte, ehe er einen Schritt zurücktrat. „Gut, wie du willst. Ihr schafft das auch ohne mich, ich habe besseres zu tun.“

„Warte.“, hielt der Häuptlingssohn ihn auf, „Was willst du haben? Du bekommst auch was von der Beute. Geld und so. Und ich besorge dir ein anständiges Mädchen. Ich meine, ein gutes Mädchen, das was drauf hat. Du bist wie so eine frustrierte Hausfrau, ich glaube, du musst einfach mal jemanden richtig durchnehmen, dann bist du auch nicht so grimmig, Alter.“ Er lachte dumm und Zoras brummte.

„Danke, kein Bedarf. Nicht jeder regelt seine Probleme auf deine Weise, Loron. Ich interessiere mich nicht für irgendwelche Huren.“ Er drehte sich ab, um das Haus mürrisch zu verlassen – dafür hatte er nun seine Zeit verschwendet... wurde Zeit, dass er zu seiner Mutter zurückkehrte.

Loron hielt ihn auf, indem er einen Satz machte und ihn packte, ihn unsanft gegen die Wand neben der Haustür rammte, sodass der Kleinere japste, und sich dann über sein Gesicht beugte, dabei höhnisch grinsend.

„Was mich zu der Frage bringt... interessierst du dich denn... überhaupt für Mädchen? Ich meine, du hast noch nie eine genommen, noch kein einziges Mal... das erscheint mir wirklich komisch.“

„Lass mich los!“, fuhr der Schwarzhaarige ihn grimmig an und riss seinen Arm aus Lorons Griff, darauf griff der größere ihm unsanft in die Haare und hielt ihn abermals im Zaum. „Ich warne dich, Loron. Lass mich los, auf der Stelle!“

„Du bist so armselig, du hattest noch nie ein Mädchen... du wirst doch nicht letzten Endes auf Kerle stehen? Das wäre ja die Sensation...“

„Ich bin nicht schwul, deswegen sage ich, du sollst mich loslassen!“

„Vielleicht kannst du ja gar nicht...“, feixte der Braunhaarige weiter und sah überdeutlich auf Zoras' Hose, „Kriegst du überhaupt einen hoch?“ Der Magier zischte, ehe er seinen unfreiwilligen Kameraden von sich stieß und sich empört die Arme rieb, die jetzt durch die festen Griffe schmerzten. Ganz zu schweigen von seiner brennenden Kopfhaut.

„Du irrst dich.“, war alles, was er grantig dazu sagte, „Falls es dich beruhigt und deine Gerüchte vernichtet, ich habe schon mal bei einer Frau gelegen. Im Gegensatz zu dir rede ich nur nicht darüber. Und du tätest besser daran, deine Zunge zu hüten, denn eines Tages schneide ich sie dir raus und lache dich aus... was sagst du dann, Prinz von Holia?“
 

Koraggh war nicht weit von Holia. Zoras sah die Rauchschwaden im Himmel, als er am Abend wieder auf der Anhöhe hockte und diesmal nach Süden sah. Die Sonne ging unter und warf seinen Schatten in bizarrer Form auf das trockene Gras, auf dem er hockte. Auf dem kleinen Hügel stand ein vertrockneter Baum, der schon seit Jahren keine Blätter mehr trug; er war verwahrlost und verreckt wie alles in Kamien. Passend zum toten Baum setzte sich eine Krähe auf einen der Äste, als der junge Mann seinen Kopf nach oben drehte. Seufzend ließ er sich rückwärts ins Gras fallen und verschränkte die Arme im Nacken, hinauf zu dem Ast und der Krähe starrend.

„Ich bin noch nicht tot.“, sagte er grimmig, „Ihr Aasgeier braucht noch nicht herzukommen. Es sind schlechte Zeiten... schlechter als sonst. Die Schatten kommen... nicht wahr? Kommst du aus dem Osten, Vogel? Werden wir alle verschlungen vom Zorn der Geister?“ Der Vogel drehte seinen Kopf in seine Richtung und der Schamane war mehr oder minder verblüfft, als er die Geister des Tieres tatsächlich zu ihm sprechen hörte.

„Du trägst das Schicksal in dir, etwas weit... Größeres zu sein als das, was du bist, Zoras Derran. Und die Schatten, die kommen, werden... dir zu Füßen liegen, wenn du dich rechtzeitig auf den Weg machst.“ Der Mann hustete und setzte sich sofort wieder auf.

„Wie bitte?“, fragte er heiser und starrte den Vogel an, der ihn aus pechschwarzen Augen ebenfalls anstarrte, ohne seine Worte zu wiederholen. „Wieso sprichst du mit mir, Vogelgeist?“

„Weil du ein Schamane bist. Ein Mensch des Geistes... du besitzt die drei großen Gaben. Du kannst hören, ohne deine Ohren zu benutzen, und sehen ohne Augen. Und du kannst... die Macht der Geister rufen. Dein Schicksal ist größer, als du denkst.“ Zoras brummte.

„Na, hoffentlich größer als mein Körper.“ Er sah grimmig an sich herab – er hatte noch nie einen Mann getroffen, der kleiner war als er. Selbst viele Frauen überragten ihn, und es machte ihn wütend, so verdammt klein gewachsen zu sein. Er gab gerne seinem Vater die Schuld, immerhin hatte er ihn gezeugt und es offenbar schlecht gemacht. Aber in Wahrheit wusste Zoras, dass Ram Derran nichts dafür konnte, dass er so klein war.

Die Krähe flatterte vom Ast, um sich vor den Mann ins Gras zu setzen und ihn abermals anzusehen. Verblüfft schnappte dieser nach Luft.

„Was meinst du mit deinen Worten? Was ist mit dem Schatten?“

„Sie kommen aus dem Osten, aus dem Reich hinter dem Schlangenmeer. Angeführt von einem König, der vielleicht mächtiger ist... als die Geisterjäger aus Kisara. Er ist der Meister der Schattenflamme. Vielleicht kann ihn niemand besiegen. Es sei denn, er kann dem Seelenfänger befehlen... dem Todesgeist, der sie Seelen der Sterbenden einfängt und ins Geisterreich bringt... oder sie zerschmettert, wenn sie dessen nicht würdig sind.“ Zoras senkte den Kopf bei diesen Worten und schauderte. Der Seelenfänger... der Todesgeist, ja. Er kannte ihn... er hatte das Gefühl, ihm schon einige Male begegnet zu sein. In Momenten, in denen er geglaubt hatte, er würde sterben.

„Wer bist du, Vogelgeist?“, murmelte er dumpf, „Sprich! Warum sagst du sowas zu mir und nicht zu den Geisterjägern? Wenn sie diesen König nicht besiegen können, kann ich es erst recht nicht, ich bin keiner von ihnen... noch nicht.“ Und ob er jemals dorthin gelangen würde, war fraglich... aber es würde seinem Vater beweisen, dass er nicht nutzlos war. Und Karana würde es zeigen, dass er besser war als der Prinz des Lyra-Clans... besser als einer, der von Geburt an dazu bestimmt war, einmal dieselbe, tödliche Macht zu besitzen, die sein Vater inne hatte. Puran Lyra galt nicht als brutaler Mann, er war vielmehr der Diplomat unter den mächtigsten Magiern Kisaras. Und dennoch konnte er als Herr der Geister, wenn er den Willen aufbrachte, die ganze Welt zerstören, wenn es nötig wäre.

Der Vogel breitete seine schwarzen Flügel aus, ehe er davon flatterte – dabei antwortete er:

„Wir sprechen mit dir, weil wir Geister der Schattenvögel dir dienen, wenn du es verlangst. Die Geier des Todes... blenden diejenigen, die zu viel sehen. Lauf, Zoras, schnell, bevor das Ende der Welt kommt... und fange dein Schicksal, wenn du kannst.“

Der Magier erhob sich taumelnd, dem Tier hinterher starrend, das so verschwörerisch mit ihm gesprochen hatte. Was sollte das heißen, die Vogelgeister dienten ihm? Das hatten sie bisher zumindest nicht getan... jedenfalls nicht, dass er wüsste. Wieso auf einmal? Und was war das für ein Gefasel vom Ende der Welt und vom Schicksal?

Er unterbrach seine unruhigen Gedanken, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Als er sich umdrehte, sah er seine Mutter den Hügel herauf kommen. Sie hatte ihre schwarzen, langen Haare etwas notdürftig zusammengebunden und musste ihren langen Rock aus Fell etwas hochziehen, während sie den Hügel herauf kraxelte. Als sie ihren Sohn erreichte, verschnaufte sie mit einem erschöpften Lächeln.

„Hier bist du... ich habe dich im Dorf nirgends gesehen und dachte mir, dass du hier bist. Du bist kaum daheim heute... was beunruhigt dich, mein Sohn?“ Zoras seufzte kurz und raufte sich die Haare.

„Das kriegerische Verhalten der anderen Barbaren. Sie haben Koraggh angezündet, wusstest du das?“ Er zeigte nach Süden und seine Mutter nickte.

„Asta hat es mir erzählt... ich habe dem armen Mädchen Tee gemacht. Loron hat sie wohl ziemlich übel rangenommen... das arme Ding verdient das nicht!“

„Du verdienst es auch nicht, Mutter.“, war die Antwort, und Zoras sah sie an und strich ihr auch durch die schwarzen Haare. Sie war eine bildhübsche Frau... es war kein Wunder, dass alle Männer in Holia sie am liebsten unter sich hatten, keine Frau im Dorf war annähernd so schön wie Pakuna Derran. Und sie lächelte... immer noch, nachdem sie schon so viele Jahre lang missbraucht und geschändet worden war... Zoras bewunderte sie für ihre Stärke. Eine Stärke, die er selbst nie besessen hatte... er konnte nicht mehr lächeln. Er erinnerte sich gar nicht mehr daran, wann er zum letzten Mal gelächelt hatte, aus ehrlicher Freude heraus... es musste in einem anderen Leben gewesen sein. „Ist Vater noch auf der Jagd?“

„Ja... aber lieber das als mit den anderen im Kampf, ich hätte Angst um ihn.“ Bedrückt sah sie zu Boden, als sie fortfuhr. „Mit Tieren wird er besser fertig als mit Menschen...“ Ihr Sohn brummte.

„Offenbar, der elende Versager.“

„Schimpfe ihn nicht... bitte. Ram kann nichts für das, was... aus ihm geworden ist. Er ist ein liebevoller Mann, es sind die vielen, schweren Schicksalsschläge, die wir einstecken mussten, die ihn immer verbitterter gemacht haben... er macht Fehler, aber er ist kein schlechter Mensch. Es ist dieser elende Ort, der seinen Geist vergiftet, es ist dieses abscheuliche Dorf... ich sehne mich nach dem Tag, an dem wir weg können.“

„Warum gehen wir dann nicht?“

„Weil wir hier eine Bleibe haben... nirgends in Kamien haben wir die sonst. Dein Vater hat... nicht unrecht, wenn er sagt, wir sollten dankbar sein...“

„Wir können das Land verlassen.“, schnaubte Zoras aufgebracht, „Wir könnten nach Kisara gehen! Ihr beide seid doch in Kisara geboren, ihr habt ein recht, dorthin zurückzukehren!“ Pakuna schüttelte furchtsam den hübschen Kopf.

„Wie gern ich das würde... zurück in die Heimat. Es ist nicht so einfach, wie du denkst...“

„Nur wegen Vaters falschem Stolz, den er dort verlieren würde? Wen schert das? Er ist kein begabter Magier, na und? Es gibt viele, die es auch nicht sind, auch in Kisara.“ Er sah seiner Mutter ins Gesicht, die offensichtlich versuchte, sich eine Antwort abzuringen – er war verblüfft, dass es darauf noch eine zu geben schien. Was sonst sprach dagegen, das Land Senjo zu verlassen? Pakuna schien nicht gewillt, die Antwort preiszugeben, sie verneigte sich nur förmlich und erzitterte im kühlen Abendwind.

„Du besitzt selbst eine große Menge Stolz, Zoras...“, wisperte sie, „Ein Stolz, der dir und deinem Namen gebührt. Ich habe dich nach meinem Großvater benannt... er war ein hervorragender, großer Magier. Eines Tages wirst du verstehen, was für eine Art von Stolz es ist, die deinen Vater daran hindert, uns von hier fort zu bringen. Ich werde ihn damit nicht alleine lassen... er ist mein Gemahl und du bist unser einziges Kind. Was bleibt uns denn noch, wenn wir auseinander gehen...?“

Er hatte darauf keine gescheite Antwort.
 

Koraggh war gefallen – wenn das der richtige Fachausdruck dafür war, dass die Kleinstadt von einer Horde wilder, zorniger Bauern mit Mistgabeln überrannt worden und die letzten, wenigen Beamten, die dort noch gewesen waren, im Feuer gebraten worden waren. Zoras fand, gefallen klang nach etwas Größerem. Ein Reich fiel, ein guter Krieger fiel... aber nicht ein Kaff wie Koraggh, schon gar nicht gegen eine Horde Mistgabeln schwenkender Wahnsinniger, die versuchten, die Schuld an ihrem Hunger irgendwem in die Schuhe zu schieben, dessen Intellekt größer war als ihr eigener – und davon gab es genug auf der Welt. Nur in Kamien jetzt vermutlich so gut wie niemanden mehr.

Er war kein Rassist und glaubt nicht, dass das Land Senjo nur strohdumme Lüstlinge hervorbrachte, aber wann immer er Menschen aus seinem Dorf begegnete, wurde ihm vor Augen gehalten, dass seine eigene Familie definitiv anderer Herkunft war als diese Bastarde hier. Sein Vater war zwar auch ein Idiot, aber sein Intelligenzquotient war immer noch um ein vielfaches höher als der von Loron oder den anderen, außerdem war er kein Lustmolch. Von seiner Mutter ganz zu schweigen, die es im Gegensatz zu offenbar jeder hier geborenen Frau nicht einfach hinnehmen wollte, dass jeder, der etwas zwischen den Beinen hatte, sich einbildete, sie reiten zu können wie eine läufige Stute. Zoras selbst war nie in Dokahsan gewesen, der nördlichsten Provinz von Kisara, aus der seine Eltern stammten. Er war in Senjo geboren worden, zu seinem Glück nicht in Holia – aber sein Geburtsort war kaum besser gewesen als dieses Dorf. Er würde die Heimat seiner Eltern gerne einmal besuchen, wenn er könnte... leider war es nicht einfach, von hier weg zu kommen.
 

In der Nacht, als die Sieger aus Koraggh zurückkehrten, gab es ein großes Festmahl. Das ganze Beamtenviertel – die wenigen Häuser, die dazu gezählt hatten – war offenbar geplündert worden, plötzlich gab es Essen im Überfluss und gegorenen Beerensaft, mit dem sich die Menschen betranken, um dann frei von jeder Tugend und jedem Gleichgewichtssinn singend und grölend um das große Feuer zu tanzen, das auf dem Dorfplatz errichtet worden war. So viel zum Intellekt, dachte der Schwarzhaarige sich verbiestert, während er abseits der Feierlichkeiten auf einer zerfallenen Mauer hockte und an einem Knochen nagte, der von dem kleinen Stück Fleisch übrig geblieben war, das er sich ergattert hatte. Er beobachtete die tanzende, betrunkene Meute in der Ferne; die Hitze des großen Feuers blies ihm entgegen und erleuchtete die finstere Nacht, während über ihnen der Himmel grollte. Hier und da fingen die Männer bereits an, sich die Kleidung vom Leib zu reißen und sich über die ebenfalls betrunkenen Frauen herzumachen, die dank ihrer Trunkenheit sogar statt panisch zu schreien lustvoll aufstöhnten, während sie sich in aller Öffentlichkeit wie Tiere begatten ließen. In Holia war das normal. Jeder machte es so, und abgesehen von Zoras schien es auch niemand abstoßend zu finden. Nein, stattdessen stellten sich mehrere Männer dazu und johlten, klatschten und feuerten ihren Kameraden an, schneller zu machen, während sie schon selbst bereit waren, als nächste die arme Frau zu nehmen, die das ausnahmsweise mal offenbar genoss.

„Barbaren...“, stöhnte der Schamane und wandte pikiert seinen Blick von den Ferkeleien ab, ehe er den Knochen auf seinen Schoß legte und mit seinem Dolch aufbrach, um an das wertvolle Knochenmark heran zu kommen; das Beste am ganzen Knochen, dessen Wert die Menschen in Holia definitiv zu wenig schätzten. Besser für ihn, so hatte er mehr davon, weil es ihm niemand streitig machte. Er fuhr zusammen, als er eine lallende Stimme hinter sich sprechen hörte, die ihm wohl bekannt und verhasst war.

„Du bist unnütz, Zauberer... wie du siehst, haben wir Koraggh auch ohne dich nehmen können. So wie eine willige Frau hat es sich gefügt, könnte man sagen.“ Der Kleinere drehte sich um und blickte in Lorons grinsende Fratze. Sein Gegenüber war genauso besoffen wie alle anderen, auf seinen geröteten Wangen glänzte der Schweiß von der Hitze des Feuers – oder irgendeines vorangegangenen Geschlechtsaktes. „Du solltest... vorsichtig sein, weil wenn wir... dich nicht mehr brauchen, schmeißen wir... euch vielleicht raus... haha...“ Zoras zischte.

„Verpiss dich, geh irgendeine Hure nageln, Loron. Ich habe dir doch gesagt, dass ihr mich dafür nicht braucht. Aber du Klugscheißer wolltest ja nicht hören...“ Loron lachte schallend auf und kam einen Schritt näher. Zu nahe, fand der wenig Jüngere grimmig, und er erhob sich hastig, den jetzt ausgelutschten Knochen zur Seite werfend.

„Du beleidigst das Dorf, Kurzer... weil du nicht mit uns feierst! Die Geister waren gnädig, uns diesen Sieg zu geben... mehr symbolisch, eigentlich, aber hey, wir haben Essen... und Schätze gab es.“

„Mich wundert, dass du ein so langes Wort wie symbolisch kennst, Loron.“

„Tja, siehst du mal, wie klug ich bin. Klug genug, um dich ein letztes Mal zu warnen... ich meine, komm, alter Freund! Ich meine es nur gut mit dir. Die anderen im Dorf verachten dich schon genug, oder? Willst du nicht mal etwas...“ Er senkte die Stimme verschwörerisch, „Respekt verdienen? Ist es nicht das, was du dir so krankhaft wünschst...?“ Der Schwarzhaarige verengte seine schalen, grünen Augen zu gefährlichen Schlitzen.

„Garantiert nicht von euch Rüpeln. Wenn, dann will ich ihn von meinem Vater.“

„Oder deinem Busenfreund Karana Lyra, dem Prinzchen der Geisterjäger...“, gackerte Loron, und sein Gegenüber trat ihm unsanft gegen das Bein.

„Halt dein Maul, und Karana ist garantiert der Allerletzte, den ich meinen Freund nennen würde. Wobei, vielleicht der vorletzte, den letzten Platz hast du schon für dich reserviert.“ Der Sohn des Häuptlings lachte laut auf.

„Jaah...“, machte er lallend, „Karana is'... wirklich ein übler Stecher.“

„Da müsstet ihr zwei euch doch blendend verstehen.“, feixte Zoras und kehrte dem Größeren brummend den Rücken, „Lass mich in Frieden.“

„Aber er hat ´ne sehr geile Schwester...“, sagte der andere da noch und der Schamane hielt inne, „Neisa is' ´ne richtig geile, verwöhnte Bratze geworden... eines Tages schnappe ich sie mir und lache Karana aus... oh ja, das gefällt mir... das gefällt mir schon lange. Wenn ich irgendeine andere Hure knalle, denke ich dabei oft an die hübsche Neisa, und dass sie es wäre, die unter mir liegt und vor Panik schreit... ich mag es, wenn sie schreien und sich wehren.“ Eine Faust in seinem Gesicht beendete seine lüsternen Gedanken und Loron stürzte keuchend zu Boden. Zoras zischte, während er seine Faust zurückzog und wutentbrannt auf den Idioten hinab stierte, in seinem Inneren die ungebändigte Lust, ihn jetzt endlich umzubringen... er wollte ihn töten für all seine Widerwärtigkeiten, für jedes seiner Worte, jede seiner Bewegungen... bebend vor Anspannung riss er die Hände empor, bereit, vom Himmel den tödlichen Blitzspeer zu rufen, der alles besiegeln würde. Er würde ihn umbringen, und es würde gut sein... er hatte einen grausamen Tod verdient. Er sah Lorons fassungsloses Gesicht am Boden, der Schlag hatte ihn offenbar etwas nüchterner gemacht. Seine Nase und Lippe bluteten, aber er konnte nur starren, starren in die vor Zorn verzerrte Grimasse des Magiers. „Alter...“, stöhnte er dann kleinlaut, und sein gegenüber zischte ihn drohend an.

„Wage es und rühre dich, du Made!“, brüllte er, „Du elender, verdammter Hurensohn! Wage es und mache nur eine... falsche Bewegung... und die Geister von Himmel und Erde werden dich in Fetzen reißen und dir geben, was du verdienst, Loron! Ich warne dich... wenn du am Leben bleiben willst, lässt du von Neisa die Finger. Du weißt, wer ihr Vater ist... und er würde vermutlich um einiges grausamer mit dir umspringen als ich es tun werde. Es gibt Grenzen... die du nicht überschreiten solltest.“ Mit diesen Worten zwang er seinen Zorn zurück und ließ die Hände sinken, um Loron und Holia den Rücken zu kehren. Er musste hier raus... raus aus der stickigen Luft des riesigen Feuers und den widerlichen Körpergerüchen aller Dorfbewohner, die sich miteinander vermischten. Dass Loron hinter ihm schallend lachte und ihm irgendetwas Sinnloses hinterher brüllte ignorierte er, er stampfte einfach geradeaus in die Finsternis. An Finsternis war er gewöhnt... sie begleitete ihn schon seit so vielen Jahren und sie kehrte immer wieder zurück. Sobald er das Dorf hinter sich gelassen hatte, rannte er. Schneller, so schnell er konnte. Unter seinen sorgsam von seiner Mutter gefertigten Schuhen spürte er das trockene Gras. Er spürte die Haut der Mutter Erde, die sich spannte wie die Haut über dem Bauch einer schwangeren Frau. Der Wind war unruhig über ihm... die Geister waren nervös. Es passierten schlimme Dinge, aber er wusste nicht, wie er sie benennen sollte.

„Die Schatten kommen aus dem Osten... geh und fange dein Schicksal, wenn du kannst.“

„Das sagt ihr so einfach, Himmelsgeister!“, empörte der junge Mann sich keuchend, ehe er sich auf der kleinen, geliebten Anhöhe ins Gras warf und dort japsend im Dunkeln liegen blieb, am Fuße des knorrigen, toten Baumes. Er schnappte nach Luft, was ihm auf dem Bauch liegend schwer fiel, während er seine Hände in die dunkle, trockene Haut von Mutter Erde bohrte. Was genau war es eigentlich, das ihn so aufwühlte? Zoras wusste es nicht mehr... die Orgie in Holia? Loron, der Scheiße laberte? Die Schatten, die kamen und die außer ihm niemand zu bemerken schien?

„Sprecht... mit mir, Geister!“, stöhnte er, „Was... soll ich machen? Ihr sagt... ich wäre ein Mensch des Geistes, ein... Rufer der Himmelsgeister! Was ist mit euren Worten...? Sind die nicht mehr von Belang? Ihr habt mir diese Gaben gegeben, Gaben, wie sie die Geisterjäger besitzen, die über euch gebieten können! War das nur zum Spaß?! Antwortet, Himmel noch mal!“ Doch die Himmelsgeister kicherten nur in seinem Kopf, bis er sich wütend keuchend auf die Knie rappelte und den Himmel anbrüllte mit allem Zorn, der sich in ihm aufgestaut hatte.

Er hasste diese Welt... dieses grauenhafte Land, seine grauenhaften Bewohner, die Geister, die ihm nicht antworten wollten, dafür aber von Schicksal und Schatten sprachen, was ihn verwirrte... allein die Dunkelheit war da und umhüllte ihn wie ein schützender Mantel.

„Wovor läufst du weg?“

Zoras fuhr herum, als er in seinem Kopf eine Stimme vernahm, die er vor kurzem erst gehört hatte – als er hinauf sah, erkannte er auf demselben Ast wie am Abend zuvor denselben, schwarzen Vogel sitzen, der durch die Finsternis auf ihn herabsah. Der Schwarzhaarige brummte.

„Du schon wieder, Vogelgeist?“

„Läufst du vor dem Weg davon, den einzuschlagen dir vorbestimmt ist? Du bist ein Mensch des Geistes.“

„Das sagst du gut.“, brummte der Mensch und richtete sich auf, um dem Tier näher zu kommen. „Und wieso kommst du dann, wenn ich dich gerade nicht brauche?“

„Du brauchst uns, du weißt es nur noch nicht.“

„Sprichst du auch mit anderen Magiern? Sagst du ihnen auch immer Dinge, die sie entweder gerade nicht hören wollen oder die sie nicht verstehen?“

„Es gibt außer dir nur einen anderen Menschen, mit dem wir sprechen. Wir sind die Geister der Todesvögel. Das Privileg unserer Dienste haben nur diejenigen, die... die entsprechenden Veranlagungen haben.“ Zoras runzelte die Stirn und schwieg darauf eine Weile. Er blickte zurück auf das Feuer in Holia und hörte selbst hier in der Ferne das Grölen der Menschen, die feierten, als hätten sie eine Welt erobert.

„Du hast gesagt, du dienst mir. Dienst du mir auch, wenn ich dir befehle, Holia zu zerschmettern mit allen, die darin sind? Oder Kamien?“ Der Vogel flatterte kurz mit den Flügeln, ehe der Geist wieder sprach.

„Das wäre kein besonders sinnvoller Einsatz deiner Fähigkeiten, aber wenn du es mit dem nötigen Nachdruck befiehlst, werden wir dir dienen, das ist richtig. So war die Abmachung.“

„Was für eine Abmachung, ich verhandele nicht mit Piepmätzen!“

„Nein... du ganz sicher nicht... Zoras. Ein Mann mit deinem Namen wird nicht verhandeln, sondern herrschen.“

„Das beantwortet in keinster Weise meine Frage. Was für eine Abmachung, was hast du davon, wenn du mir folgst? Geister sind keine geborenen Diener der Schamanen. Es kommt auf das Gleichgewicht an.“

„Das hast du gut erkannt. Es wird ein Gleichgewicht geben, denn unsere Dienste verlangen ihren Preis.“ Ein Geräusch von schlagenden Flügeln ertönte in der Dunkelheit, als Zoras dem Tier nachrief, was für einen Preis es gäbe – aber die Krähe war bereits wieder im Schatten verschwunden und ließ den Mann verdattert zurück.
 

Er musste auf der Anhöhe geschlafen haben – er wachte jedenfalls auf und der Tag war angebrochen. Sein Rücken schmerzte, weil er auf dem harten Boden gelegen hatte, und trotz der schwülen Luft des Sommers fröstelte er, als er sich keuchend aufrappelte. Ein Blick auf den knorrigen Baum sagte ihm, dass der Vogel nicht da war – langsam fragte er sich, ob er sich das einbildete. Mürrisch rieb Zoras sich den Schlaf aus den Augen und fuhr sich zerstreut durch die schwarzen Haare, die er im Übrigen dringend mal wieder waschen sollte. Mit diesem Gedanken rappelte er sich auf die Beine und blickte hinab auf das Dorf. Das Feuer war erloschen; aber auf dem Dorfplatz waren immer noch viele Männer versammelt, die irgendetwas Wichtiges zu besprechen schienen. Der junge Mann schauderte, als er sich widerwillig daran machte, nach Holia zurückzukehren. Wenn er flink war, war es bei seiner nicht wirklich beeindruckenden Größe nicht schwer, sich unbemerkt durch das Dorf zu schleichen bis zu der schäbigen Hütte, in der seine Eltern lebten. Auf noch eine Konfrontation mit Loron hatte er gerade keine Lust... geschweige denn mit einem der anderen Mistkäfer.
 

Im Haus war es still – Zoras fand seinen Vater in der Wohnstube grimmig vor dem Kochfeuer sitzen und darüber den Schaft eines Jagdspeers härten. Der Mann sah zu seinem Sohn auf, als der in dem mickrigen Türrahmen stehen blieb.

„Wo ist Mutter?“, fragte er lauernd und Ram Derran brummte.

„Wenn sie nicht hier ist, wo wohl sonst? Wo hast du gesteckt? Schon wieder... du hast doch wohl nicht bei der Orgie gestern mitgemacht?“

„Oh, doch, jetzt wo du es sagst, ich habe gestern Nacht plötzlich meine verloren geglaubten männlichen Triebe entdeckt und dachte mir, ich passe mich mal meiner sogenannten Heimat an.“ Zoras schnaufte verächtlich. „Wo ist sie, Ram?“ Ram Derran verengte die Augen zu garstigen Schlitzen.

„Arlon ist heute im Morgengrauen gekommen und hat sie sich ausgeliehen, wie er es oft tut.“

Das war der wirkliche Grund, wieso Zoras seinen Vater verabscheute. Er erzählte das, als wäre es recht, dass seine Frau von einem anderen Mann als Matratze benutzt wurde. Zoras hatte noch nie erlebt, dass sein Vater versuchte, es zu verhindern... dass er versucht hatte, seine Frau, die er angeblich liebte, vor Arlon oder anderen Widerlingen zu beschützen. Er ballte wütend die Fäuste, während sein Vater seelenruhig, wie es schien, wieder den Kopf senkte und sich seinem Speer widmete. Zoras wollte in die Glut treten und diesem Nichtsnutz den Schoß verbrennen. Wer nicht Manns genug war, eine Frau zu schützen, hatte auch keinen Mannknochen verdient... aber er würde sich bestimmt nicht auf das Niveau der anderen Schweine hier herablassen.

„Warum lässt du das jedes Mal zu?!“, blaffte er ihn so nur an und sein Vater knurrte.

„Weil ich keine Wahl habe. Rein körperlich ist Arlon mir überlegen und mit dem bisschen Magie, das ich beherrsche, kann ich nicht mal ein Kaninchen grillen. Was bleibt mir also anderes übrig, du tapferer Held? Misch dich nicht ein. Pakuna ist meine Frau und nicht deine.“

„Aber sie ist meine Mutter! Und als ihr Mann solltest du doch fähig sein, sie zu schützen! Ist es nicht das, was ein Mann für seine Frau tun muss?! Was ein Mann dem Vater seiner Braut verspricht, wenn er um ihre Hand anhält?! Was hast du dem Vater meiner Mutter versprochen?! Dass du sie fröhlich mit allen Raufbolden von Holia teilen wirst?!“

„Ihr Vater war bereits tot, als wir geheiratet haben. Ich habe niemandem etwas versprochen... hier in Holia ist alles anders als es richtig wäre. Wenn ich mich den Befehlen des Häuptlings widersetze, schmeißt er uns einfach raus. Und sie würden dafür sorgen, dass wir nirgendwo hin können, dann werden wir im Winter elendiglich erfrieren. Willst du das, Zoras?“

„Ich wette, dass auch Mutter lieber erfrieren würde als andauernd unter anderen Männern liegen zu müssen!“, brüllte der Sohn wutentbrannt, „Wie kannst du es wagen, so zu sprechen?!“

„Nein!“, brüllte Ram zurück, „Wie kannst du es wagen?! Du bist doch gerade eben erst ein erwachsener Mann, hast du eine Ahnung davon, was man mitunter für das Wichtigste opfern muss?! Hast du eine Frau, die du, wie du großkotzig behauptest, beschützen willst?! Ich sehe zumindest keine! Heirate ein Mädchen und zeige mir, wie du weiser, großer Magier es besser machen möchtest in diesem Kaff! Und glaube mir, wenn Arlon und Loron zum ersten Mal deine Frau ausleihen wollen, werde ich zusehen, wie du sie abgibst und dich auslachen! Wage also nicht... mir etwas vorzuschreiben, du hast keine Ahnung, wie das Leben hier läuft.“

Zoras sparte sich einen weiteren Kommentar, er schnappte nur wütend nach Luft, ehe er seinem Vater den Rücken kehrte und wieder zurück zur Tür stampfte.

„Nein, Vater.“, zischte er dann noch, „Wenn ich einmal eine Frau heirate, werde ich sicherlich nicht mehr hier sein, da verlass dich drauf.“
 

Eigentlich wollte Zoras zu Arlon Zincas Haus, um seine Mutter abzuholen – auf dem Weg dorthin wurde er aber von der doch sehr großen Versammlung auf dem Dorfplatz aufgehalten. Es waren nicht nur Männer aus Holia, es waren auch aus den umliegenden Dörfern grimmige Bauern mit Waffen hier. Und verblüffender Weise war Arlon mitten auf dem Dorfplatz und schien eine Art Schlachtplan aufzustellen. Wenn Arlon hier war, wo war dann seine Mutter?

„Ich sage, wenn wir Koraggh niederbrennen können, können wir auch mehr! Wir holen uns, was uns zusteht!“, hörte er den groß gewachsenen Häuptling gerade rufen, und der erntete zustimmendes Grölen von den bewaffneten Schurken auf dem Platz. „Wie viele Jahre – Jahrzehnte! – haben wir hier gehungert und ums Überleben gekämpft?! Hat jemals irgendjemand etwas für uns getan? Dafür gesorgt, dass wir im Winter genug zu Essen haben, dass unsere Frauen genügend Milch in den Brüsten haben, um unsere Söhne zu säugen?“

„Kein Arsch!“, brüllte ein anderer Krieger weiter hinten darauf, und alle schwenkten johlend ihre Mistgabeln. Zoras runzelte die Stirn.

„Großmaul.“, knurrte er mit Blick auf Arlon, der weiter brüllte, „Was willst du denn tun? Nach Yuron rennen von hier aus und dich beim König beschweren? Dem wird das scheißegal sein. Kamien ist eben die hinterletzte Drecksprovinz... wer einmal hier war, weiß, wieso.“ Vielleicht war die ewige Dürre auch eine Strafe der Geister, weil die Männer hier so unwürdig mit ihren Frauen umgingen – das musste es sein. Eine Strafe der Mutter Erde, die aus Ärger darüber einfach trocken blieb. Arlons nächste Worte rissen ihn aus seinen Gedanken.

„Ich sage, wir gehen über die Grenze nach Kisara! Wieso haben sie dort grüne Wiesen und genug Ernte? Ernte im Überfluss haben sie! Dämonen sind es, die alles Gute in Thalurien wachsen lassen und uns nichts abgeben, sage ich!“ Zustimmendes Johlen und Zoras klappte der Unterkiefer herunter. Das meinte der nicht ernst... und dann kam der Einwand, der das Schicksal von Thalurien besiegeln sollte... Zoras spürte es in diesem einen Moment schon. Es war wie ein Schatten, der sich plötzlich über das Dorf legte, und er würde erst verschwinden, wenn die Welt unterginge.

„Der Schatten... bringt das Ende der Welt.“

„Es sind garantiert die Lianer, Häuptling! Sie sind immer an allem Unheil Schuld, wir sollten sie vernichten! Die Menschen vom Geistervolk verjagen die guten Erdgeister, ich bin mir sicher!“

Auf diesen Ausruf herrschte kurz Stille. Dann ging das Gemurmel los, bis Arlon gebieterisch die Hände erhob.

„Männer! Wartet, nicht alles zugleich! Die Lianer sind ein Volk von bösen, weißen Geistern, das wissen wir alle. Hier in unserem Land gibt es keine mehr, seit die Sklaventreiberei begann... ein Segen, nicht wahr?!“ Er lachte schallend und erntete zustimmendes Gelächter von allen Seiten.

„Es ist gut, dass sie fort sind!“, rief einer, und ein zweiter addierte:

„Der Mann hat recht, wir sollten sie davon fegen, dann kehrt das Grün vielleicht zurück in unser Land! Wenn wir Koraggh nehmen konnten, schaffen wir die Lianer auch! Wenn wir schnell sind und ihnen keine Zeit lassen, ihre Bestien zu beschwören...“

„Es gibt in Thalurien dicht bei der Grenze ein Dorf der Lianer!“, fiel einem weiteren Mann ein, „Die sind es, die nehmen uns die guten Geister weg!“ Es ertönte lautes Grölen und alle schwenkten die Waffen. Auf Arlon Zincas Gesicht schlich sich ein böses Grinsen.

„Das klingt gut... das ist wundervoll! Ich sage, wir bestrafen sie in Thalurien! All jene, die es wagen, uns die Erntegeister wegzunehmen und dafür sorgen, dass wir hungern! Die ganzen Zauberer in Thalurien, es gibt Massen von ihnen dort! Lianer, Schamanen... sie manipulieren die Mächte der Schöpfung zu ihren Gunsten und lassen uns verrecken!“ Die Männer grölten erzürnt. „Tod!“, brüllte der Häuptling und riss sein verrostetes Schwert in die Luft, „Ich sage, Tod!“

„Tod!“, antworteten die Männer und grölten. Als der Jubel verhallte, wagte ein etwas älterer Mann einen bedrückten Einspruch.

„Aber das ist ja das Problem. Sie sind Zauberer, und wir nicht. Wie sollen wir sie besiegen, wenn sie den Zorn des Himmels auf uns lenken?“ Schweigen. Das war der Moment, in dem Arlon Zoras ihn am Rand der Versammlung entdeckte und der Jüngere das Gefühl hatte, er wäre besser vorher weggelaufen. Er war hier falsch.

„Wir haben günstiger Weise ja auch... einen Zauberer. Nicht wahr, Derran?!“ Jetzt wendeten sich alle Blicke auf ihn und Zoras brummte.

„Keine Chance, Arlon. Ich schulde dir nichts, ich helfe dir sicher nicht dabei, die Welt zu erobern.“

„Aber ein einziger Zauberer gegen ganz viele?“, fragte der Alte von eben und Arlon rief lauter:

„Einer, der verdammt noch mal das Zeug hat, Herr der Geister zu werden, wie man munkelt! Seht, Männer, der zukünftige Herr der Geister, der Nachfolger des großen Helden Puran Lyra... reicht einer von diesem Kaliber nicht?!“ Zoras verengte die Augen, während die Männer überzeugt nickten und tuschelten.

„Du kannst mich nicht locken, indem du mir schmeichelst. Du hast weder Ahnung, was für eine Macht Karanas Vater hat, noch, was ich für eine habe.“ Der Ältere grinste ihn mit seinen halb verfaulten Zähnen fröhlich an. Loron hatte seine Hässlichkeit definitiv von seinem Vater – die Mutter hatte Zoras nie kennengelernt.

„Na ja...“, raunte er, „Deine Mutter pflegt aber, mich zu verfluchen und zu schwören, dass du einmal diese Macht haben würdest, um mich dann zu zerschmettern... lügt sie mich etwa an? Und woher weiß sie eigentlich so gut über den Herrn Senator Bescheid, der sie von seinem hohen Ross aus nicht mal sehen dürfte? Himmel, kein Wunder, dass dein Vater kein Interesse daran hat, sie zu schützen, wenn sie ihm ausgerechnet mit dem untreu ist...“ Das reichte.

„Meine Mutter ist keine Hure! Wage es nie wieder, so über sie zu sprechen, und sie hat verdammt noch mal nichts mit Karanas Vater!“ Soweit er wusste, kannten seine Eltern den Herrn der Geister aus ihrer Kindheit, weil er genau wie sie aus Dokahsan stammte... aber das ging Arlon ja nichts an. „Vergiss es, ich arbeite nicht für euren Dreck hier! Die Geister werden nicht zurückkehren, wenn ihr alle tötet, die sie beherrschen können! Ihr werdet nur... das Ende der Welt heraufbeschwören.“ Wieder Schweigen, dann lehnte der Häuptling von Holia sich leicht zurück und reckte den Kopf in den Himmel.

„Loron!“, brüllte er nach seinem hässlichen Sohn, „Komm her und bring sie mit!“ Zoras fuhr herum, als in der Ferne ein Rumpeln aus Zincas Hütte ertönte. Während die anderen Männer sich neugierig reckten, wandte Arlon sich grinsend wieder dem Schamanen zu. „Oh, du wirst für mein Ende der Welt arbeiten, Zoras. Und du wirst es gut machen... das weiß ich. Weil ich weiß, dass du gerne tötest...“ Das Grinsen wurde breiter, als Zoras erbleichte und den Kopf drehte in die Richtung, aus der Loron kam. Er hatte Pakuna bei sich, griff ihr in die langen, schwarzen Haare und stieß sie unsanft vor sich her zur Versammlung. Sie fluchte und wimmerte, er solle sie loslassen, doch Arlons Sohn kicherte nur amüsiert, während wieder alle Blicke auf Zoras gerichtet waren. Der Schamane schnappte panisch nach Luft.

„Nein... das tut ihr nicht. Ich warne euch... wenn ihr meiner Mutter auch nur ein Haar krümmt...“

„Ich sagte doch, du wirst mitmachen.“, frohlockte der Häuptling, „Ich brauche dich, Derran, und wenn du willst, dass ich deine hübsche, bezaubernde Hure von Mutter am Leben lasse... solltest du vor mir knien.“

„Tu es nicht!“, schrie Pakuna und erntete eine Ohrfeige von Loron. Zoras japste und machte schon einen Schritt auf sie zu, worauf Arlons Sohn sie an sich heran presste und ihr einen Arm um den Hals schlang.

„Einen Schritt näher und ich erdrossele sie...“, warnte er sein Gegenüber grantig, „Auf die Knie, Kurzhöschen. Den Augenblick wollte ich schon immer mal erleben...“ Er lachte dreckig. Zoras keuchte und fuhr zu Arlon herum.

„Lasst sie in Frieden! Lasst sie frei und schwört, sie nie wieder anzurühren, dann mache ich, was ihr wollt!“

„Du bist gerade nicht in der Position, Bedingungen zu stellen.“, bemerkte der Ältere, „Wir behalten deine Mutti, damit du spurst. Wenn wir fertig sind, kriegst du sie zurück. Bis dahin wird niemand ihr ein Haar krümmen... sofern du brav mitarbeitest.“ Zoras keuchte abermals und sah zu seiner Mutter, die trotzig den Kopf schüttelte und versuchte, Lorons Griff zu entkommen.

„Ihr könnt... Thalurien nicht einfach... platt machen!“, zischte sie, „Es wird euch nichts nützen! Die Geister... w-werden euch strafen!“

„Ja, ja, damit leben wir.“, gluckste Loron und packte sie fester, „Halt still, dein Gezappel erregt mich.“ Das ließ sie tatsächlich inne halten und verzweifelt japsen.

„Tu es nicht, Zoras! Hör auf deinen Geist, es ist falsch! Da drüben hat uns niemand etwas getan...“

„Habe ich eine verdammte Wahl?!“, brüllte er, „Ich lasse dich nicht verrecken!“

„Selbst, wenn du die Geisterwinde rufst, d-du kannst sie nicht einfach umbringen! Es funktioniert nicht... s-sie haben ihr Netzwerk! Und ehe ihr die Grenze überschreitet, bringen... Sagals euch um.“ Das war ein anderer Punkt. Arlon stutzte und tauschte einen Blick mit Loron.

„Was, Sagals?“, fragte er verblüfft. Zoras brummte.

„Sie sind ein extrem großer Telepathenclan. Eigentlich gibt es überall Spitzel von ihnen und sie werden von eurem Vorhaben erfahren, ehe ihr auch nur die Waffen zieht. Der Kopf des Zweigs sitzt in Lorana, da, wo auch Karana wohnt. Sie sind Telepathen, das heißt, sie sprechen mit den Geistern und sehen Dinge im Voraus. Und es sind zu viele, wir können sie nicht alle ausschalten.“ Der Häuptling fauchte.

„Oh, doch, da wirst du schon einen Weg finden. Wenn nicht... wird deine Mutter eben sterben. Überlege dir gut, was du tust, Derran... du hast nur eine Chance.“ Der Schamane ballte unmerklich die Fäuste vor Zorn, als er zu seiner Mutter blickte, die nur flehend die Lider senkte.

„Bitte... tu das Richtige.“, sagte ihre Mimik, „Bitte tu es nicht um meinetwillen... nicht, wenn du die Finsternis in deinem Geist endlich loswerden willst.“

Finsternis...

Er keuchte, als er den Kopf senkte, sodass ihm seine immer noch ungewaschenen Haare strähnig ins Gesicht fielen. Er hörte über sich das Krähen eines Vogels, als er langsam die Anspannung seiner Fäuste löste. Er hatte keine andere Wahl... er würde seine Finsternis nie loswerden, wenn er jetzt zuließ, dass seine Mutter starb.

Sprich mit mir, Vogelgeist. Was ist der Preis, den ich zahlen soll für eure Dienste? Er hörte das Kichern in seinem Kopf und spürte einen stechenden Schmerz in seinem Körper, tief innen drin, als die Stimme erklang.

„Der Preis ist deine Seele. Manche sterben, wenn sie ihre Seele so aufteilen... vielleicht hat dein Geist ja die Kraft, die nötig ist, um uns zu bezahlen und dich gleichzeitig am Leben zu halten. Du hast einen starken Namen... Zoras.“
 

Zoras sah seine Mutter den Rest des Tages nicht, weil Arlon sie bei sich im Haus einsperrte – vermutlich unter Lorons Bewachung. Während dessen konnte der Schamane ergriffen von Zorn und ungebändigtem Hass auf diese Maden, die es wagten, ihn derart an der Leine zu führen, beobachten, wie sich die größte Masse an Männern in der Gegend von Holia versammelte, die er jemals gesehen hatte. Es waren Männer aus ganz Kamien, die kamen; Krieger wäre gelogen, es waren Bauern und Handwerker, die zufällig Waffen halten konnten. Vermutlich hatten sie die auch in Koraggh geklaut, ebenso wie die meisten Pferde, auf denen sie saßen. Senjo war das Land der Reiter – Pferde gab es selbst in Kamien, auch wenn sie überall anders vermutlich besser ernährt und schneller waren. Zoras war nicht besonders begabt im Zählen, aber er war sich sicher, dass es weit über hundert waren – vielleicht zweihundert oder gar dreihundert. Das war eine ganze Kompanie... er war verblüfft darüber, dass so viele Menschen überhaupt auf dem trockenen, toten Land vor dem Dorf Platz fanden.

Seinen Vater hatte er auch nicht mehr gesehen... eigentlich war ihm auch egal, wo er blieb. Ram Derran war Jäger und kein Kämpfer, Arlon würde sicherlich nicht darauf bestehen, dass er auch mitkam. Bei der Masse an Männern kam es nicht auf einen mehr oder weniger an, außerdem würden noch mehr Männer im Dorf bleiben müssen, irgendjemand musste ja auf die Frauen und Kinder aufpassen. Weniger darauf, dass es ihnen gut ging, sondern mehr darauf, dass sie nicht wegliefen.

Als die Nacht kam, trafen noch immer kampflustige Bauern aus entfernteren Dörfern ein. Sicher waren sie selbst aus Chayneh gekommen, dem Dreckskaff im Norden, in dem Zoras einst geboren worden war. Er war bereits als Baby mit seinen Eltern von dort verschwunden, demzufolge erinnerte er sich nicht an Chayneh – es hatte nur geheißen, es wäre ein schlechter Ort gewesen. Und wenn selbst sein Vater von dort geflohen war mit einer stillenden Frau und einem Säugling, musste es um einiges furchtbarer gewesen sein als Holia. Als die letzten Männer eintrafen, war der nächste Morgen schon beinahe vorüber. Es gab ein spärliches Frühstück aus den Resten des Festmahls aus Koraggh, ehe sich die Meute daran machte, aufzubrechen.

„Tod den Geistern von Thalurien!“, brüllte Arlon, „Ich sage, wir vernichten sie und ihre Länder werden uns gehören! Und diesen Winter werden wir nicht nur satt, nein, wir werden so fett sein, dass wir uns gar nicht mehr aufrappeln können, haha!“ Er erntete johlendes Gelächter von den Männern, die kampflustig ihre Waffen schüttelten. Zoras beobachtete das Heer von weitem – Heer war auch ein falscher Begriff, treffender wäre eine Horde von hirnlosen Barbaren. Er hörte das Trappeln von Hufen, die auf ihn zu kamen, und drehte den Kopf; und straffte angespannt die Schultern, als er Loron auf einem schmutzigen Gaul daher reiten kommen sah, vor ihm auf dem Rücken des Tieres saß Pakuna.

„Ich wollte dich mal höflich an deine Arbeit erinnern, Kurzhöschen!“, rief der Häuptlingssohn von weitem und Zoras unterdrückte ein zorniges Zischen, während seine grünen, schmalen Augen sich in das Gesicht seiner Mutter bohrten, die nur gedemütigt den Kopf zur Seite drehte. Er wollte lieber nicht wissen, was Loron die vergangene Nacht alles mit ihr getan hatte, dass sie ihn nicht mehr ansehen konnte... der Bastard würde dafür bluten.

„Das ist nicht nötig, du Scheusal!“, brachte der Schamane dann gepresst heraus, „Ich halte mein Wort, solange dein Vater eures hält. Wenn ich euch bei eurem sinnlosen Unterfangen helfe, bekomme ich meine Mutter zurück – und wenn nicht, dann Gnade euch Vater Himmel, dessen Zorn ich auf euch lenken werde!“

„Bleib mal locker.“, grinste der Ältere, „Es wäre hilfreich, wenn deren Informationsnetz einfach... weg ist, damit nicht jemand Alarm schlägt, bevor wir unsere Beute haben. Die Lianer sind zuerst dran, die sind immer an allem Schuld, so aus Prinzip.“

„Das ist ein lächerliches Argument.“

„Weißt du, wie egal mir das ist? Sie haben Essen, wir nicht! Und weil sie hier in der Gegend vor der Sklaverei immer Theater gemacht und Krieg geführt haben, ist Kamien heute das, was es ist! Also sind sie Schuld genug. Als nächstes sind dann deine Artgenossen die Zauberer dran. Freust du dich nicht darauf? Wir könnten Karana eins in die Fresse hauen, wenn wir nach Lorana kommen.“ Zoras brummte.

„Das erbaut mich nicht. Karana ist zwar nicht weniger ein Arschloch als du, aber es gibt auf der ganzen Welt genug Arschlöcher, ich kann nicht jedem einzeln den Hintern versohlen. Außerdem wage ich zu bezweifeln, dass wir bis nach Lorana kommen. Der Weg dahin ist weit und es liegen einige Dörfer dazwischen.“ Loron fing zu seinem Ärgernis zu lachen an, während er Pakuna vor sich genüsslich durch die Haare strich. Im Hintergrund johlten die Männer, die sich an den Aufbruch machten, Arlon gemeinsam mit ein paar anderen Dorfchefs vorne weg zu Pferd. Zoras sah Loron sich zu ihm herab beugen, dämonisch grinsend.

„Du solltest dir aber wünschen, dass wir nach Lorana kommen... ich denke, da sitzt der Kopf eures Telepathennetzwerkes? Was wärst du doch für ein großer Zauberer, wenn du eingehst in die Annalen als der Mann, der aus dem Elendsland kam und Dasan Sagal den Kopf abschlug?“ Zoras weitete die Augen wieder und Pakuna wimmerte vor Loron auf dem Pferd, als seine Hände nach vorne auf ihre üppigen Brüste fuhren. „Und wenn die Zentrale des Netzwerkes fällt... fällt auch der Rest in sich zusammen, oder, Kurzer? Dann ist das wohl die einzige Chance, die du hast, um uns zum Sieg zu verhelfen... und ohne Sieg gibt es auch keine Mutti.“ Damit lachte er erneut, sich aufrichtend und Pakuna anzüglich an sich heran drückend, bevor er sein Pferd herum zog und es antrieb. „Beeile dich besser, Zauberer, bevor wir ohne dich am Lianerdorf sind! Und vergiss dein Pferd nicht, zu Fuß holst du uns nie ein!“ Damit war er weg und Zoras fluchte die übelsten Schimpfwörter hinter ihm her, die ihm auf die Zunge kamen. Zischend fuhr er herum, um die Arme gen Himmel zu reißen, den Kopf in den Nacken werfend. Was hatte er für eine Wahl? Er verfluchte die Welt... er verfluchte den Himmel und die Erde und alle Geister, die es wagten, das zuzulassen.

„Vater Himmel!“, brüllte er, so laut er konnte, und in der Ferne hörte er die Pferde wiehern, als das Heer sich aufmachte und gen Süden galoppierte. „Geist des Vogels, dann komm und halte dein Versprechen! Ihr werdet mir dienen und ich werde euch geben, was ihr verlangt! Komm, Himmelsgeist, ich rufe dich, mir zu folgen!“ Ein langes, lautes Grollen erklang aus dem Himmel, als es für die Tageszeit ungewöhnlich finster wurde und der Schamane aus den trockenen Wäldern der Umgebung die Vögel auffliegen sah, die er gerufen hatte. Es waren Massen von ihnen, Aasfresser, Todesvögel, und sie verdunkelten die Sonne, als sie sich am Firmament verteilten. Das Rauschen der schlagenden Flügel klang in Zoras' Ohren wie das Blut, das in ihm aufwallte, als er die Macht spürte, die die Geister ihm verliehen, einhergehend mit einem bekannten, süßen Schmerz in seinem Inneren. Bebend schloss er die Augen und ließ sich in die Macht der Geister fallen, als würde er sich von einer Klippe stürzen. Er spürte die Kräfte an ihm zerren, er hörte das Wispern der Himmelsgeister durch das Rauschen in seinem Kopf hindurch. Der Vogel, der mit ihm sprach, musste direkt vor ihm sein, der Mann konnte ihn vor seinen inneren Augen sehen.

„Dann sprich, Herr, was sollen wir für dich tun?“

Zoras öffnete die glimmenden Augen wieder, um das Tier anzusehen, den vor Krähen schwarzen Himmel und das erzitternde Land unter seinen Füßen. Er bebte selbst ob der gewaltigen Macht, die er beschworen hatte. Es schmerzte, sie so lange festzuhalten, es fühlte sich an wie Feuer, das unter seiner Haut brannte und ihn langsam von innen heraus auffraß... so verlor er keine weitere Zeit und zeigte nach Osten.

„In den Schatten, Geister!“, brachte er mit bebender Stimme hervor, „Vernichtet... das Netzwerk von Thalurien. Sorgt dafür, dass niemand vorher von dem Angriff erfährt... geht, Geister!“ Er brüllte die letzten Worte, indem er die Arme wieder hoch riss, und mit einem Krähen des Vogels vor ihm und einem Donnerschlag aus dem Himmel machte sich die Schattenwelle aus gehorsamen, schwarzen Geistern auf den Weg nach Osten.

Als sie weg waren, strauchelte der junge Mann und stürzte haltlos auf die trockene Erde, um sich den Rest seiner brennenden, ziependen Seele aus dem Leib zu husten, sobald die Macht von ihm abließ und ihm wieder Luft zum Atmen gab. Keuchend beeilte er sich, wieder auf die Beine zu kommen, griff dabei stöhnend nach seinen beiden Dolchen, die in seinem Gürtel steckten. Er musste hier weg... Loron hatte Pakuna mitgenommen. Er musste ihnen nach... und er würde tun, was immer sie verlangten, wenn sie dafür seine Mutter gehen ließen.

„Pferd!“, brüllte er über das verlassene Brachland, um das Tier auf sich aufmerksam zu machen, das Loron ihm gütiger Weise zurück gelassen hatte, damit er die Horde einholen konnte. Das Tier schnaubte nur und dachte nicht daran, zu gehorchen, so stampfte er wutentbrannt herüber, steckte die Waffen zurück in seinen Gürtel und schwang sich grantig auf das Tier, das darauf empört wieherte. Schnaubend packte Zoras die Zügel und rammte dem Gaul die Hacken in den Bauch. „Nach Südosten, du treulose Tomate!“ fauchte er, „Und wenn es möglich ist noch vor dem nächsten Neumond!“ Das Pferd galoppierte los und Zoras strich sich wütend die wirren, schwarzen Haare aus dem Gesicht, die er am Vortag dann doch endlich mal gewaschen hatte. „Oh, und ich werde die Lianer und Thalurien und von mir aus auch ganz Kisara in Grund und Boden stampfen, wenn sie dafür meine Mutter in Frieden lassen!“, schwor er verbittert, „Zerschmettern werde ich sie... für den einzigen Menschen, der mir verdammt noch mal noch am Herzen liegt in dieser Dreckswelt!“ Als er an Holia vorbei galoppierte, sah er Lorons Schwester Asta hinter dem Eingang hervor lugen – sie duckte sich aber sofort, als er vorbei kam, hinter den Zaun und er schenkte dem armseligen Mädchen keine Beachtung mehr. Vielleicht sollte er seine Mutter befreien und nie wieder zurückkehren... seinen Vater, den Ignoranten, konnte er wann anders hier herausholen. Pakuna zuliebe... sie war doch der einzige Mensch, der jemals etwas anderes in ihm gesehen hatte als ein Werkzeug, eine Missgeburt oder einen Nichtsnutz.
 


 

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Yeah. Ist Zoras zu emo? o_o Zu viele Charas auf einmal? Zu verwirrend?

Geisterband

Karana war erzürnt. Nicht in erster Linie, weil er nicht in das verdammte Lianerdorf gedurft hatte – ihm waren die Bleichgesichter völlig egal und in dem blöden Dorf gab es sicher ohnehin nichts Spannendes zu sehen. Aber es ging ums Prinzip! Er war Karana Lyra, er war der Sohn eines Senatoren und außerdem der Sohn des Herrn der Geister, jemanden wie ihn derartig zu behandeln war absolut unwürdig, fand er. Ob die mit seinem Vater auch so umgingen, wenn er mal kam? Als Senator von Thalurien musste er immerhin in alle möglichen Dörfer hin und wieder, um zu sehen, ob alles in Ordnung war und es dem Volk auch gut ging.

„Sowas können sich auch nur die Lianer erlauben, die haben immer ihren Sonderstatus.“, empörte sich der junge Mann grantig, während er einen Kiesel durch die Luft trat und grimmig nebst Hund am Zaun des Dorfes entlang stampfte. „Denen wird niemand je etwas tun, weil sie ja ach so arm dran sind! Was sagst du dazu, Aar? Das ist doch hirnverbrannt, den Lianern hier geht es doch gut! Sie werden weder gejagt noch versklavt, nur, weil sie so eine ethnische Minderheit sind, werden sie von allen mit Samthandschuhen angefasst und denken dann, sie könnten sich alles erlauben!“ Er sah auf seinen schwarzhaarigen Gefährten herunter, der den Kopf hob und ihn zweifelnd ansah. Karana blieb stehen und stemmte die Arme in die Hüften. „Ja, ja, guck mich nur so an, Bruder Hund! Bei mir ist das was anderes, ich darf mir einbilden ich könne alles tun was ich will! - Wozu brauchen die Lianer überhaupt unseren Schutz im System, sie können sich doch wehren! Wozu können sie ihre Lians beschwören? Damit sie für sie Kaffee kochen, oder was? Wobei, das wäre praktisch.“ Aar gab nur ein langes Jaulen von sich, was dem Schamanen wenig weiter half. Manchmal war der Hund aber auch wirklich unkommunikativ.

Karana hatte Aar als Welpen gefunden, als er noch ein Junge gewesen war. Das Tier war verletzt gewesen und Karana hatte es von seiner Mutter wieder heilen gelassen; er hatte von Anfang an gespürt, dass der Hund jetzt zu ihm gehörte. Sie waren sofort ein Herz und eine Seele gewesen, und als Karanas Vater versucht hatte, seinen Sohn dazu zu bringen, den Hund wieder auszusetzen, war Aar stur an seiner Seite geblieben. Hier in Thalurien war es sehr ungewöhnlich, dass ein Hund einem Menschen folgte. Karana hatte gehört, in Fann käme es oft vor, in dem Wüstenland im Südosten des Reiches. Er war nie in Fann gewesen... er kannte auch niemanden, der je dort gewesen wäre. Fann war gruselig und seltsam, hieß es. Aber wenigstens wurden da Hunde toleriert... hier sah man ihn argwöhnisch an, weil er angeblich den Geist einer wilden Bestie kontrollieren und ihm seinen Willen aufzwingen konnte. So war es nicht mit Aar... Aar folgte ihm freiwillig, Karana zwang den Hund zu gar nichts. Aber das würden die Menschen ja doch nicht verstehen... es waren Menschen des Fleisches. Sie hatten keine Ahnung von Geistern... das galt auch für viele Magier. Nicht jeder Schamane war automatisch ein Mensch des Geistes, der sich von den normalen anderen unterschied. Nicht jeder Schwarzmagier war dazu bestimmt, einmal dem Rat der Geisterjäger beizutreten.

„Das gilt auch für dich nicht zwingend.“, tadelten die Geister ihn, als er mit dem Hund mürrisch am Zaun des Lianerdorfes entlang nach Westen schlenderte. Karana zog die Schultern zusammen.

„Mein Vater ist ein großartiger Magier, vielleicht der Beste überhaupt. Wäre es nicht eine Beleidigung für ihn, wenn ich nicht in seine Fußstapfen treten könnte?“

„Nicht jeder, der die mächtigsten Gaben geschenkt bekommt, hat das Zeug zum Geisterjäger, Karana. Ein Mensch des Geistes zu sein bedeutet nicht, Macht zu versprühen, sondern den Aufbau des Kreislaufes zu verstehen. Nicht jeder, der die Geisterwinde rufen kann, kann sie auch beherrschen. Dazu bedarf es einer Stärke, die niemand sehen kann. Dazu bedarf es einer... unerschütterlichen Seele.“

Der junge Mann blieb stehen und seufzte. Das wusste er. Das hatte Saidah ihm auch gesagt. Sie hatte vieles gesagt... Saidah war genauso klug, wie sie schön war, sie hatte den Anmut und die Ausstrahlung einer richtigen Geisterjägerin. Er hatte es immer gespürt, wenn sie ihn angesehen hatte. Sie hatte ihn angesehen und er hatte gespürt, dass sie eine Herrscherin war. Und sie hatte ihn fasziniert. Wie konnte eine einzige Frau so rundum vollkommen sein wie sie? Wie konnte sie zugleich klug, schön und mächtig sein? Vielleicht war ihre fürchterliche Unnahbarkeit der Preis für ihre Vollkommenheit, dachte er sich und setzte den Weg ziellos fort nach Westen. Die Sonne würde bald untergehen.

„Ja, du hast mir vieles gesagt, Saidah.“, brummte er dabei apathisch, „Aber es gibt immer noch... Fragen, die du mir nie beantwortet hast... Meisterin.“

Fragen, deren Antwort er wohl erst an dem Tag bekäme, an dem er dem Rat beitrat, wenn er es soweit brachte. Dem Rat, dem sein Vater als Herr der Geister vorstand, in dem auch Saidah Mitglied war. Es war lange her, dass er sie zuletzt gesehen hatte – es musste jetzt mehr als ein Jahr her sein, dass er seine einjährige Lehre der Magie bei ihr beendet hatte und zurück nach Kisara gekehrt war. Es war so lange her und dennoch fühlte er sich mitunter, als wäre er immer noch bei ihr. Als könnte sie ihm immer noch Fragen beantworten, Dinge beibringen... oder unter ihm liegen als Frau, wie in der Nacht, in der sie ihn zum Mann gemacht hatte.

Ein lautes Brüllen in knapper Entfernung ließ ihn hochfahren, der Hund bellte in Richtung Zaun. Aus dem Dorf kam wutentbranntes Gezeter, dem das Gackern von Hühnern folgte, die offenbar aufgescheucht wurden. Noch ehe Karana begreifen konnte, was hier los war, sah er aus dem Augenwinkel einen Schatten am unteren Ende des Zauns herauskriechen, schneller als er gucken konnte kam er in seine Richtung geflitzt. Es ging zu schnell, als dass er noch hätte ausweichen können, und er riss noch den Mund auf, um auf sich aufmerksam zu machen, da sprang der Schatten ihn bereits an wie ein wildes Tier – oder rannte vielmehr gegen ihn und war ihn damit unsanft auf den Erdboden. Aar bellte in einem fort und das Gebrüll im Dorf schien sich zu entfernen. Karana spürte ein eher unscheinbares Gewicht auf sich und merkte daran, dass es kein Schatten sein konnte, der da auf ihm lag. Schatten wogen schließlich nichts... er hob stöhnend den Kopf, ehe er das schmutzige Etwas auf sich grimmig von sich weg in den Dreck schubste, wo er selbst auch lag.

„Pass doch auf, wo du hinrennst, du Ungeheuer!“, schnaufte er empört, und in de Moment, in dem er das Wesen – es war eindeutig ein Mensch – am Arm zu fassen bekam und es so herum zerrte, dass er das Gesicht sehen konnte, ließ er den Arm vor Verblüffung augenblicklich wieder los, fassungslos auf das starrend, was da plötzlich neben ihm auf der Erde saß. „Moment-... Saidah?!“
 

Nein, unmöglich. Das war nicht Saidah, die hier saß, das konnte gar nicht sein. Saidah war in Janami, im Nachbarland, und selbst, wenn sie in Kisara wäre, wäre ein Loch im Zaun des Lianerdorfes sicher der letzte Ort auf Tharr, an dem sie herum kriechen würde. Saidah kroch nicht, sie war eine Geisterjägerin, eine Frau von Rang und Ehre! Und sie trug auch nicht so zerfledderte Kleider, die vor Schmutz nur so trieften... und sie klaute ganz sicher keine Hühner, schloss der Schamane seine Gedanken, als er auf die Hände der Frau saß, die ein Wurfmesser und ein totes Huhn umklammerten. Aber sein Blick verharrte nur kurz auf ihren Händen, ehe er sich wieder ihrem Gesicht zu wandte – einem Gesicht, das dem seiner Lehrmeisterin so verblüffend ähnlich sah, dass er sich fragte, ob er sich das nicht einbildete in seinem Wunschdenken. Aber es waren die gleichen, blauen Augen, in denen derselbe Stolz lag, dieselbe Anmut, die auch Saidah inne hatte, und sie zeigten die gleiche Macht... und obgleich der Blick der fremden Frau, die wie Saidah aussah, genauso fassungslos war wie Karana sich fühlte, war etwas Betörendes in ihm, das in ihm das Verlangen auslöste, das auch Saidahs Anblick normalerweise erzeugte.

„Nein, nicht Saidah.“, sprach die fremde Frau da kalt, „Ich habe mehrere Namen, aber Saidah hieß ich noch nie.“ Mehr sprach sie nicht, stattdessen erhob sie sich und war im Begriff zu gehen, als Karana schnaubte und sich auch hoch rappelte.

„Hey, willst du dich nicht entschuldigen, dass du mich gerade umgerannt hast?“, fragte er forsch, „Das hat wehgetan, wenn mein Rücken jetzt kaputt ist, bist du Schuld.“

„Interessiert mich dein Rücken?“, fragte sie und sah über die Schulter zurück, „Wenn du da so blindlings durch die Gegend torkelst, bist du selbst Schuld, wenn dich jemand umrennt. Als ich ins Dorf gegangen bin, warst du noch nicht da.“

„Gegangen?“, grinste Karana, „Wohl eher gekrochen... wie unwürdig, bei deinem hübschen Gesicht musst du doch nicht kriechen.“

Er hatte es schon gesagt, bevor ihm der Gedanke kam, dass das jetzt unangebracht war – und er fragte sich perplex, was er da machte. Machte er jetzt ein wildfremdes Mädchen an, das Hühner klaute, in Dreckskleidung einher kroch und offenbar nicht mal dem untersten Stand angehörte? Er hatte das gar nicht sagen wollen... eigentlich hatte er es nicht mal denken wollen. Was sollte der Scheiß?

Dementsprechend sah die Fremde ihn auch ungläubig an, dann sah sie an sich herunter.

„Du hast dir wohl den Kopf angeschlagen bei dem Sturz. Zieh Leine, du Schönling, lass mich in Frieden.“ Damit huschte sie schon davon gen Westen, und Karana starrte ihr verdattert nach. Moment... das musste er jetzt erst mal verarbeiten. Er traf eine komische Frau, die wie Saidah aussah. Er machte sie dumm an, was er gar nicht beabsichtigt hatte – und es war selten, dass er das nicht beabsichtigte bei einer schönen Frau – und wurde abgewiesen. Das passierte auch selten – eigentlich nie. Was für ein merkwürdiger Tag...

Er wusste nicht, was ihn zuerst aufschreckte – Aars Bellen und alarmiertes Knurren oder die Warnung seiner Instinkte, dass etwas Schlechtes geschehen würde. Der Schamane fuhr herum, als Aar knurrend und mit gesträubtem Fell nach Westen starrte, ins Gesicht der untergehenden Sonne, die ein feuerrotes, tödliches Licht in den grünlichen Himmel warf...

Nein, es war nicht die Sonne, die dieses Licht verursachte.

„Das ist Feuer!“, keuchte Karana schon und taumelte zur Seite, im selben Moment ertönte in unmittelbarer Nähe ein ohrenbetäubendes Krachen, ein Donnern, das den Zorn des Himmels einleiten sollte, der dann folgte. Aar jaulte, als Karana durch das Erzittern der Erde von den Beinen gerissen wurde, und ehe der Mann sich versah, ging die Welt um ihn herum in Flammen auf. Das Dorf, das Gras, Himmel und Erde schienen alle gleichzeitig Feuer zu fangen, während es unter ihm bebte und aus dem verhangenen Himmel bösartig donnerte. Wieder kläffte der Hund, während Karana sich hustend auf die Füße rappelte. Aus dem Dorf ertönten panische Schreie – dann erst sah der Schamane eigentlich, was es war, das da aus dem Westen kam. Eine ganze Armee von bewaffneten Reitern näherte sich dem Dorf. Nein, sie war eigentlich schon da – er hörte das Splittern von Holz, das Schreien von flüchtenden Menschen und weit in der Ferne weiterhin das Grollen des Himmels über ihm.

„D-das – das sind die Leute aus Kamien?!“, brachte er fassungslos hervor, als er die grölende Barbarenhorde sich auf das Lianerdorf stürzen sah; sie waren mit einfachen Waffen ausgestattet, aber bei der Plötzlichkeit ihres Angriffs dürfte das reichen, um einen Großteil der Dorfbewohner zu schlachten, bevor die sich fangen konnten. Was war hier los, wie hatten sie einfach so die Grenze überqueren können? Hatte das denn niemand bemerkt in Zaria, um Alarm zu schlagen?

„Nein...“, sagten die Geister zu ihm, „Zaria ist schon vorher gefallen.“

„Himmel – Himmel!“, schrie der junge Mann und erbleichte, während er nichts weiter tun konnte als auf das zu starren, was da geschah. Das Dorf wurde überrannt, Pferde galoppierten bereits an ihm vorbei, um auch von den Seiten ins Dorf einzudringen. Aar bellte und wich jaulend den Hufen der heran eilenden Pferde aus, um nicht zertrampelt zu werden – Karana rettete sich mehr zufällig vor einem wütend grölenden Bauern, der mit einer Hacke nach ihm schlug, und beim Ausweichen stolperte er wieder und wäre fast vom nächsten Mann zertrampelt worden. Einer schwenkte eine brennende Fackel und versuchte, ihn damit zu enthaupten, und Karana fuhr japsend unter der Flamme weg und riss reflexartig die Hände empor, um den Angreifer seinerseits mit einem Schwall magischen Feuers aus dem Sattel zu werfen. Er hatte jetzt keine Zeit, sich mit denen herum zu schlagen – Neisa! Neisa und Simu waren noch im Dorf, genau wie Tayson und das komische Lianermädchen! Verdammt, was machte er hier, er musste zu seiner Schwester!

„Aar!“, brüllte er über das Gemetzel aus Gras fressenden Flammen und galoppierenden Männern hinweg, „Verdammt, Hund, komm auf der Stelle zu mir! Wo ist Neisa, verdammt noch mal?!“ Zurück zum Eingang, war alles, was ihm panisch im Kopf herum spukte, und er wirbelte mit einem Schwung herum, um sich irgendwie lebendig einen Weg zurück zum Tor des Dorfes zu bahnen. Er fand seinen Hund wieder, der zwischen den galoppierenden Kriegern hindurch zu ihm zurück kam, und er schrie nach seiner Schwester, so laut er konnte, um das Getöse zu übertönen – er hörte keine Antwort. Die Schreie im Dorf, das neben ihm lichterloh zu brennen anfing, klangen alle gleich, jeder davon könnte von Neisa stammen... verdammt, er durfte nicht zulassen, dass ihr etwas geschah... sie war seine Schwester, seine Eltern würden ihn umbringen, wenn er sie sterben ließ! War er nicht ursprünglich mitgekommen, um sie vor Taysons lüsternen Absichten zu schützen? Jetzt waren ihm die allemal lieber als eine Horde aus Kamien, die sie sich schnappte – es war kein großes Rätsel, was Männer aus Kamien mit hübschen Frauen und Mädchen machten... und wenn Loron aus Holia auch dabei war...

„Nein!“, schrie er hysterisch, in dem Moment wurde er plötzlich von einem vorbei galoppierenden Pferd um geschmissen, etwas Scharfes traf ihn an der Schulter und hätte ihn sicher geköpft, wäre er nicht gerade zur Seite gestürzt. Er schlug hart auf dem Boden auf und rollte sich mit einem perplexen Schrei gerade noch unter dem nächsten Gaul hinweg, ehe er unbeholfen wieder versuchte, auf die Beine zu kommen. Aar kam an seine Seite und zerrte bellend an ihm, um ihn vom Geschehen fort zu lotsen, doch er konnte hier nicht weg, ehe er Neisa und die anderen gefunden hatte. Er spürte einen grässlichen Schmerz an seiner rechten Schulter und fasste mürrisch danach, während abermals zur Seite hechtete, um einem neuen Angriff auszuweichen. Seine Finger waren verklebt von frischem Blut, als er sie von seiner Schulter löste, und er zischte.

„Verdammt, ihr Bastarde wagt es, mich aufspießen zu wollen...? Oh, ich werde eure Scheißprovinz dem Erdboden gleich machen, dann habt ihr auch keine Probleme mehr mit eurer nicht vorhandenen Ernte! Ich zerreiße euch, ihr Wahnsinnigen!“ Er fluchte ungehalten und riss erzürnt seinen schmerzenden Arm hoch, um dem nächstbesten Reiter einen Blitz aus seiner Hand entgegen zu schleudern. Getroffen ging der Mann in Flammen auf und stürzte schreiend von seinem Pferd, um von seinem Nachfolger niedergetrampelt zu werden. Karana zischte und hob das verrostete Schwert vom Boden auf, das der brennende Typ fallen gelassen hatte, um sich damit weiter seinen Weg zum Eingang zu bahnen. Doch jäh bebte die Erde mit ungeahnter Heftigkeit – und der Boden öffnete sich mit einem grausamen Dröhnen aus der Tiefe unter Karanas Füßen, gleichzeitig krachte es aus dem Himmel erneut. Sowohl Pferde als auch Reiter stürzten gemeinsam mit Karana und Aar in den gigantischen Spalt in der Erde, der jetzt entstand, ein wütender Riss in der Haut der Mutter Erde, die sie gerade mit dem Blut und der Asche irgendwelcher Unschuldigen beschmutzten. Karana konnte nicht schreien – er fiel nur und suchte vergeblich an irgendetwas Halt, während er fassungslos in den jetzt pechschwarzen Himmel starrte – das war nicht einfach nur irgendein Angriff. Das war das Ende der Welt... das war die Macht der Himmelsgeister, die hier mitspielte. Und da sie sich ganz offenbar gegen sein Heimatland wendete, konnte das nur heißen, dass die Bastarde aus Kamien irgendeinen Magier hatten, der für sie Feuerwerk machte. So auf Anhieb kam ihm nur einer in den Sinn, der die Macht besitzen könnte, so ein grausames Unwetter heraufzubeschwören.

„Na warte, Kurzhöschen... wenn ich dich erwische, reiße ich dir die Haut ab dafür... jetzt bist du zu weit gegangen in deinem Wahnsinn!“ Er spürte die Erschütterung der Erde erneut, als er einen heraus stechenden Brocken trockener Erde erwischte, an dem er sich festhalten konnte. Im selben Moment wiederholte sich das ohrenbetäubende Krachen und als Karana empor starrte, sah er gerade noch den monströsen Blitz aus dem Himmel in die Erde schlagen, der augenblicklich wieder alles Land in Brand steckte. Oben bellte sein Hund – er musste sich irgendwie aus dem sich öffnenden Spalt gerettet haben, kam dem Schamanen, und fluchend zog er sich mit aller Kraft hoch, was nicht leicht war mit dem brennenden Schmerz in seiner Schulter. Ein kurzer Schwenk seiner Hand ließ den Wasserzauber Alara einen Teil des Himmelsfeuers löschen, sodass er sich etwas mühsam aus dem bebenden Spalt in der Erde wieder hinauf kämpfen konnte. Viele Reiter samt Pferden waren verschüttet worden, hier und da versuchten auch noch mehr, sich wieder empor zu schlagen. Sobald Karana wieder auf den Füßen stand und herum fuhr, sah er das Ausmaß des Infernos und erstarrte für einen Moment. Das Dorf brannte lichterloh – die Erde war jetzt zerfurcht von den Spalten, die entstanden waren, und das ganze Land schien zu brennen, während der Himmel über ihm unheimlich grollte und bereit zu sein schien, seinen ganzen Zorn auf die Welt zu ergießen. Und aus dem Westen kamen immer noch mehr Reiter über das Grasland auf ihn zu – wie viele waren das denn bitte? Und wo war Zoras, der Bastard, der zweifelsohne für dieses Inferno verantwortlich war? Nicht jeder Schamane war fähig, so ein Unheil mit dem Wetter anzurichten – und erst recht nicht jeder brächte es über sich, das zu tun, um damit Menschen zu schlachten. Seinem ehemaligen Schulkameraden traute er allerdings beides ohne weiteres zu... und in Kamien gab es allgemein nur sehr wenige Schamanen. Dass es zufällig gleich zwei von diesem Kaliber dort geben sollte, bezweifelte er doch stark... wer das Wetter beeinflusste, beherrschte die Gaben. Ein Geschenk, das die Geister nur wenigen machten.

Er kam nicht dazu, weiter zu denken oder nach seinem Hund und seiner Schwester zu schreien, weil plötzlich einer der Reiter direkt vor ihm war und ihn auf der Stelle zertrampelt hätte, wäre der junge Mann nicht wieder rechtzeitig zur Seite gehechtet und hätte dem Pferd rein aus Reflex mit dem ergatterten, rostigen Schwert ins Bein geschlagen. Das Tier wieherte panisch, als er stolperte und schließlich zu Fall kam – der Krieger wuchtete sich brüllend vor Zorn von seinem Pferd, ehe es stürzte, und sprang auf Karana zu, einen Speer erhoben, mit dem er nach dem Jüngeren schlug.

„Du wagst es, mein Pferd zu töten, du nichtsnutziger, dreckiger...?!“, brüllte er, „Ich zermalme dich, du Elend!“ Karana wich dem Schlag ohne Probleme aus und riss sein rostiges Schwert herum, um es gegen den Speer zu schlagen.

„Oh, ja, ich zittere vor Angst.“ Damit schlug er abermals gegen den harten Speer des Bauern – und mit einem Klirren zerbrach das rostige Schwert an dem Schaft, der obere teil der Klinge flog durch die Luft und zu Boden. Karana starrte seine halbes Waffe entsetzt an und der Bauer vor ihm lachte und fletschte die Zähne wie ein geiferndes Raubtier.

„Tja... da brauchst du wohl erst mal ein besseres Schwert, bevor du es noch mal versuchen kannst. Schade, dass ich dir keine Gelegenheit dazu gebe!“ Damit riss er bereits die Waffe empor und Karana warf geistesgegenwärtig die abgebrochene Klinge weg, um die Hände für einen Zauber frei zu haben, da flog plötzlich von hinten etwas mit Wucht gegen das Gesicht des Bauern, der durch die überraschenden Angriff schreiend strauchelte und zu Boden stürzte. Karana fuhr herum, da flog dem fragwürdigen Gegenstand ein Messer hinterher direkt in das Gesicht des Mannes, der darauf noch lauter aufschrie, als sein Auge getroffen wurde. Er zappelte wild, schimpfte und fluchte, während er brüllend vor Schmerzen versuchte, das Messer aus seinem Auge zu ziehen – und Karana erkannte neben dem Mann am Boden ein totes Huhn liegen.

„Was zum...“, murmelte er perplex, ehe er den Kopf zur Seite drehte und die Frau entdeckte, die Saidah ähnelte. „Nein.“, stöhnte er, „Du hast – du hast ihn mit einem toten Huhn erledigt?!“

„Ich habe dir die Pfirsichhaut gerettet, du Bonze.“, war ihr Kommentar, als sie zu ihm nach vorn sprang und dem Bauern am Boden mit einem gezielten Tritt in den Nacken das Genick brach. Als er sich nicht mehr regte, zog die Frau ihr Messer aus seinem Auge und hob ihr Huhn wieder auf. Karana konnte sie nur fassungslos anstarren. „Na ja.“, machte sie dann, „Der Braten kann nur mürber geworden sein. Fleisch ist Fleisch.“

„Warum bist du zurückgekommen?“, keuchte er, „Doch nicht meinetwegen?“

„Ich hätte es lustig gefunden, zu sehen, wie der Dicke dich schlachtet.“, sagte sie zu ihm, „Aber dann hat mir mein Gewissen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bilde dir nichts darauf ein, Bonze.“ Er starrte noch immer nur – war es unpassend, dass er plötzlich tierische Lust bekam, auf der Stelle mit ihr zu schlafen?

„Ja, Karana, das ist mehr als unpassend.“, tadelten ihn die Geister, und er schnappte nach Luft – und dann sah er den nächsten Reiter, der aus dem Westen auf sie beide zu galoppiert kam, in seiner Hand ein weiteres, vermutlich besseres Schwert. Es war reine Instinktsache – es dauerte kaum einen Moment, bis Karana zu der komischen Frau herüber gesprungen war, sich ihr Messer aus ihrer Hand schnappte und sie zur Seite schubste, um die Waffe dem Angreifer entgegen zu schleudern, um noch während die Waffe flog mit jetzt beiden wieder freien Händen und einem grollen aus dem Himmel einen Windwirbel zu erzeugen, den er dem Reiter ebenfalls entgegen warf. Die junge Frau stolperte über die Leiche am Boden und fiel hin, in dem Moment, in dem erst ihr Messer die Hand des Mannes erwischte und dann Karanas Windzauber sowohl ihn als auch sein Pferd mit einem grauenhaften Geräusch in Stücke rissen. Katura war ein nützlicher Zauber... Karana wusste von seinem Vater, dass der Hang zu Windzaubern in seiner Familie lag. Sein Vater war ebenfalls Windmagier, ebenso wie es sein Vater und dessen Vater gewesen waren. Der junge Mann keuchte und spürte, wie die Macht der Windgeister in ihm langsam wieder abflaute, nachdem er den Zauber losgelassen hatte. Es war berauschend, mit Magie zu kämpfen... mitunter etwas zu berauschend, deswegen hob er es sich meistens für Momente auf, in denen er es nicht mehr anders regeln konnte...

Die Erde bebte, während die Reste des Pferdes und des Reiters zu Karanas Füßen im Dreck landeten, mit ihnen auch das Messer, das er wieder aufhob. Er spürte die fassungslosen Blicke der schwarzhaarigen, schönen Frau auf sich, die noch immer mitsamt ihrem Huhn am Boden lag.

„Wieso fuchtelst du Vollidiot mit einem verrosteten Schwert herum, wenn du Schamane bist?!“, schnappte sie verblüfft, während sie benommen versuchte, sich aufzurappeln – er schenkte ihr einen kurzen, eingehenden Blick.

„Wir sind quitt.“, versetzte er, „Dein Leben für meines, Hühnerdiebin.“ Sie wollte antworten – zumindest machte sie den Mund auf – doch da war es etwas anderes, was Karanas Aufmerksamkeit von ihr ablenkte. Ein Schrei aus der Ferne, den er nur zu gut erkannte... jetzt konnte er ihre Stimme von den anderen, sterbenden Maden unterscheiden.

„Karana! Um Himmels Willen, Karana!“

Neisa. Sie war am Leben! Ohne die fremde Frau, der er jetzt schon zweimal auf so komische Art begegnet war, noch eines Blickes zu würdigen, fuhr er herum und rannte zurück nach Osten, in die Richtung, in der er seine Schwester sich vor Panik die Seele aus dem Leib schreien hörte. Nur einen Moment später sah er sie – da waren auch Simu, Tayson und das Lianermädchen, das noch blasser geworden war und das im Schein des flammenden Dorfes noch gruseliger wirkte.

„Ihr seid wohlauf!“, stöhnte Karana, als er über einen weiteren Erdspalt hechtete und schließlich im Getümmel der panisch fliehenden Menschen und immer noch herum galoppierenden Barbaren seine Kameraden erreichte. Aar war auch bei ihnen, und er bellte alarmiert, während er um Simu herum rannte. Neisa warf sich heulend in seine Arme, als er nahe genug an ihr dran war.

„Wo bist du gewesen?!“, schrie sie ihn hysterisch an, „Ich hatte solche Angst, d-du wärst tot! D-diese Barbaren, s-sie kamen aus dem Nichts! Um Himmels Willen, ich habe Arlon Zinca gesehen, sie haben einfach alles niedergebrannt und die Lianer getötet! Sie überrennen einfach alles, es ist so grauenhaft! Wie konnte das denn einfach geschehen?!“ Sie riss ihr Gesicht von seiner Brust und er keuchte, als sie ihn mit tränenden Augen und einem flammenden Blick voll von Verachtung ansah – aber die Verachtung galt nicht ihm. „Töte sie doch, verdammt noch mal, Karana! Jetzt wäre es mal sinnvoll, zu beweisen, dass du der Sohn von Puran Lyra bist! Bring sie um, diese Unholde!“ Er schnappte nach Luft – sie meinte das ernst, das war es, was ihn verblüffte. In ihrer Panik redete sie sicher viel Mist... aber das hier meinte sie völlig ernst.

Seine unschuldige Heilerschwester...?

„Ich sage doch, sie ist zu giftig.“, hörte er Tayson murmeln, „Wie diabolisch.“

„Wir müssen auf der Stelle hier weg, Karana!“, fiel Simu Neisas Geheule ins Wort, während er seine Schwester von Karana weg zerrte, „Jetzt gleich. Das Dorf ist hinüber, wir können hier nichts tun und die Männer aus Kamien zu töten würde es nur schlimmer machen, Neisa. Wir gehen zurück nach Lorana, und zwar rasch. Ich weiß nicht, wieso die Sagals das nicht wie immer vorher gesehen haben, aber dem Alten Bescheid zu geben wird jedenfalls nicht schaden. Wenn die so weiter wüten und sie keiner aufhält, kommen sie vielleicht auch nach Lorana... wir müssen uns beeilen!“

„Zerreißen sollten wir sie!“, keifte Neisa, „Die Lianer haben niemandem etwas getan! Ich werde Dasan Sagal so lange lieb angucken, bis er macht, was ich will!“ Sie riss sich los, als Karana ihre Hand nehmen wollte, und er schnaubte nur, ehe er um sie herum griff und sie mit einem Arm zärtlich an sich drückte.

„Sagal ist zu alt für dich, du dummes Mädchen. Beruhige dich erst einmal... Simu hat recht, wir verschwinden hier. Und zwar so schnell wir können! Lauft, ihr Narren!“ Das ließen sich die anderen nicht zweimal sagen, und sie sahen zu, dass sie weg kamen nach Norden. Neisa ließ sich widerspenstig von ihrem Bruder mit ziehen, fügte sich aber in seine schützende Umarmung, als der Schock sich von ihr löste und sie panisch in Tränen ausbrach. Während sie rannten, fiel Karana verblüfft auf, dass er noch das Messer von der fremden Frau bei sich trug.
 

Die Erde dröhnte. Die junge Frau spürte das Zittern des Bodens unter ihren Füßen, ohne es weiter zu beachten, während sie ihr totes Huhn am Hals umklammerte und dem eigenartigen Kerl zusah, wie er sich mit einer Gruppe von anderen Außenseitern auf den Weg nach Norden machte. Sie konnten nicht von hier sein, sie waren keine Lianer – bis auf die eine Frau, wie sie dann bemerkte. Hier im Dorf durften nur Lianer leben – und wenn man auch nur zur Hälfte etwas anderes war, konnte man das vergessen, das hatte sie am eigenen Leib erfahren, als ihre Mutter gestorben war. Sie umklammerte das gestohlene Huhn fester und wandte den Kopf grimmig zum brennenden Dorf. Die Reiter waren vorbei gerannt, vermutlich waren die meisten jetzt hinter dem Zaun, dort, wo die grausamen Schreie erklangen, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Es war nicht so, dass sie den verblendeten Bestienbeschwörern das bittere Los nicht gönnte. Sie mochten zu Unrecht verfolgt und versklavt worden sein, jedoch nicht hier... und hier genossen sie jetzt mehr Rechte als jeder fähige Handwerker der Menschen. Und anderen sagte man Rassismus nach, wo es doch die Lianer waren, die sie und ihren Nichtlianer-Vater aus dem Dorf verstoßen hatten, weil sie keine richtigen Lianer waren. Und in Zeiten, in denen sie ihre Hilfe gebraucht hätten, hatten sie sie ihnen verwehrt. Es war recht so, dass sie jetzt so zu Grunde gingen...

Ohne das brennende, sterbende Dorf noch eines Blickes zu würdigen wandte sie sich wieder nach Norden. Sich die Beute unter den Arm klemmend zog sie das Kurzschwert aus ihrem Gürtel, das sie trug, das ihr Vater ihr vermacht hatte, als er gestorben war. Sie konnte nicht sagen, warum sie gerade jetzt das Bedürfnis überkam, die Klinge zu ziehen und eine Weile schweigend zu betrachten, in Erinnerung an ihren lieben Vater.

„Es ist ein wertvolles Schwert, das Schattenschwert, Akada.“, hatte er zu ihr gesagt, „Du musst es gut hüten. Vor vielen Jahren bekam ich es von einer Schamanenfrau aus dem Norden. Du hast ein Gesicht, das dem ihren ähnelt... es muss eine Laune der Geister gewesen sein, und es macht mich sicher, dass du es bist, die das Schwert tragen soll, wenn ich es nicht länger ehren kann.“ Das hatte er gesagt und fasziniert betrachtete sie die Klinge ein weiteres Mal, ohne die Runen lesen zu können, die in sie eingraviert worden waren. Das war das einzige Mal gewesen, dass ihr Vater davon gesprochen hatte, aber es hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt – und als sie sich weiter erinnerte, wusste sie plötzlich, warum sie jetzt wieder daran dachte.

„Sie war eine Frau von großer Macht... ihr Mann war ein Meister der Himmelswinde.“

Ihr Blick schweifte unwillkürlich erneut nach Norden, wo die Gruppe von Fremden längst nicht mehr zu sehen war. Der Bonze von vorhin hatte Windmagie benutzt, um den Reiter zu zerfetzen. Zum ersten Mal hatte sie wirkliche Windmagie gesehen, aber sie hatte sofort gewusst, was es war... es stimmte sie grantig, daran zu denken.

„Du bist verrückt, Iana. Du bist absolut gestört. Aber eine Wahl hast du vermutlich nicht.“ Sie zischte ergrimmt, während sie das Schattenschwert zurück in den Gürtel steckte und sich daran machte, den Weg nach Norden einzuschlagen. Hinter ihr ging das Dorf, das ihr lange als Nahrungsquelle gedient hatte, zu Grunde. Und während im Westen die Flammen verrauchten, spürte sie in der Ferne die Schatten aus dem Osten heranziehen.
 


 

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Yeah, Iana. Karana ist dumm <3

Die Seherin

Wenn man den Berichten der vereinzelten Flüchtlinge aus Dhimorien Glauben schenkte, stand das Zentralreich vor einer Katastrophe. Die Armada, mit der der Herrscher des Ostreiches Ela-Ri in Dhimorien eingefallen und mit der er es erobert hatte, war demnach unwahrscheinlich groß und bediente sich grauenhafter Mächte der Magie. Die Flüchtlinge, die es mit Mühe und Not und in großer Eile in die Reichshauptstadt Vialla geschafft hatten, machten in ihren Erzählungen zu großer Wahrscheinlichkeit alles noch dramatischer als es ohnehin war, aber die Schilderungen waren trotz Bedachtes dieser Tatsache beunruhigend und jagten dem König von Kisara und all seinen Ratsmännern einen eisigen Schauer über den Rücken. Dass es wirklich zur Konfrontation mit Ela-Ri käme, war unbestreitbar und niemand zweifelte daran, dass eine Regelung ohne Gemetzel und Blutvergießen möglich war.

Senator Lyra verfluchte die Himmelsgeister, die sich in ihrer schlechten Laune dazu herabließen, ihm zu sagen, dass nicht allein der Osten die Schatten schickte, die sie zu fürchten hatten, aber leider nicht weiter offenbarten, was es sonst noch gab, was ihn beunruhigte. Was immer es war, es hatte ihm in den Tagen, seit die Seherin aus Fann vor dem Senat auf dem Tisch getanzt hatte, jegliche Ruhe geraubt, und das verbesserte seine Laune auch nicht wirklich. Die Sache mit Ela-Ri war grauslich genug, wäre Dhimorien nicht gefallen, wäre er schon seit zwei Tagen daheim bei seiner Frau und müsste nicht rastlos im Palast von Vialla umher rennen. Die Geister schwiegen ihn beharrlich an, egal, wie er es wendete und egal, was er sie fragte; es war, als hätte sich die gesamte Welt gegen ihn verschworen. Dabei ging es Ela-Ri mit Sicherheit nicht um ihn, es hätte ihn gewundert, wenn der Herr des Ostreiches seinen Namen gekannt hätte.

In seine verbitterten Gedanken vertieft wäre er beinahe in den König persönlich hinein gerannt, der ihm auf dem breiten, marmornen Korridor entgegen geeilt kam.

„Herr, Vorsicht, rennt mich bitte nicht um!“, japste der Monarch noch rechtzeitig und Puran Lyra fluchte ungehalten über seine eigene Unvorsicht, ehe er sich ehrfürchtig vor dem Mann verneigte, der um einiges kleiner und älter war als er selbst.

„Vergebt mir, Majestät... es scheint, meine Instinkte versagen mir ihren Dienst. Offenbar werde ich langsam alt.“ Der König zeigte ein verzerrtes Schmunzeln – wäre die Lage des Reiches nicht so furchtbar gewesen, hätte er jetzt vermutlich gelacht. Senator Lyra kannte den König von Kisara seit vielen Jahren – zu seinem Vorteil war der amtierende Herrscher von Kisara sehr angetan von Magiern, obwohl er selbst keiner war, was dem jüngeren Mann schon seit all den Jahren eine Art Ehrenplatz im Senat bescherte – und viele feindselige Blicke der übrigen Senatoren, die behaupteten, er hätte sich die Gunst des Königs magisch herbei geschmuggelt. Als Vertreter des obersten Rates der Schwarzmagier war er einer von nur drei Schamanen im Senat des Königs, außer ihm gab es noch einen Vertreter der Telepathen und einen Vertreter des Heilerrates. Nur war er im Gegensatz zu den anderen beiden Männern nicht nur Vertreter eines Magierrates, sondern tatsächlich Senator der Provinz Thalurien, was ihn zeitgleich zum Vertreter des Rates von eben dort machte. So sehr Puran Lyra seine wirklich sehr angesehene Position auch in Ehren hielt, wenn die Geister so bockig waren wie in diesen Zeiten, verfluchte er sie mitunter.

„Nicht doch, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen, Herr.“, sagte der König gerade zu ihm, und der Schamane seufzte und richtete sich wieder auf. „Wenn Ihr alt werdet, was werde dann ich? Ihr seid doch nicht mal vierzig.“

„Aber so gut wie.“

„Sei es drum, Herr, ich kam, um Euch aufzusuchen.“ Senator Lyra zog die Brauen zusammen und räusperte sich, bevor er sich abermals kurz verneigte.

„Wie kann ich Euch dienen, mein König?“

„Dieses ganze Desaster hat alles aufgehalten. Ihr solltet zurück in Eure Provinz kehren und in Taiduhr Bescheid geben. Die Nachrichten über Dhimorien verbreiten sich natürlich schon von selbst... aber wir werden mehr als nur Boten brauchen, und mehr als Nachrichten, um zu verhindern, dass Ela-Ri bei uns einfällt. Himmel noch mal, und ich habe gedacht, der Krieg gegen Zuyya vor Jahren wäre genug für meine Regierungszeit... dem ist wohl nicht so. Geht, Herr, ich habe Euch eine Kutsche bereit gestellt. Aber vermutlich werde ich Euch bald wieder hier brauchen... und vermutlich werde ich mir wünschen, dass Ihr Eure Kollegen, die Geisterjäger, ebenfalls versammelt, denn in diesen Tagen könnten wir jede Hilfe der Himmelsgeister gebrauchen.“

„Ich werde tun, was immer Ihr verlangt, mein König. Ich fürchte nur, die Geister sind launisch. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll... es gibt schlechte Zeichen. Furchtbar schlechte... leider kann ich nicht genau sagen, was sie bedeuten, weil die Geister mich unentwegt anschweigen. Seid auf der Hut, Majestät... schlimme Dinge kommen auf uns zu mit den Schatten aus dem Osten. Und von woher auch sonst noch.“ Der König schenkte seinem Untertan einen langen, stummen Blick, ehe er nickte und bei Seite trat.

„Ich danke Euch wie immer demütigst für Eure Unterstützung, Senator Lyra.“, versetzte er dann und neigte den Kopf, „Ich wüsste nicht, was ich ohne Euch hier täte. Ihr seid ein Segen für unser Reich.“

„Nicht zu viel der Ehre, mein König. Ich tue, was ich kann, aber letzten Endes bin auch ich nur ein Mann.“

„Oh nein.“, entgegnete der Monarch verdutzt, „Ihr seid mehr als das! Ihr seid ein Herr der Geister. Ihr seid nicht einfach nur ein Mann. Und Ihr habt schon einmal quasi einen Krieg für uns entschieden, als ihr den zuyyanischen Kaiser vernichtet habt.“ Puran Lyra, der bereits im Begriff gewesen war zu gehen, drehte jetzt noch einmal den Kopf und seufzte tief.

„Das waren andere Zeiten. Bitte verlasst Euch nicht auf mich allein, mein König... ich bin jetzt Politiker und kein Feldherr. Ich tue, was in meiner Macht steht, damit die Geister von Himmel und Erde uns helfen, den Schatten abzuwehren und zurück in den Osten zu schicken. Seid Euch dessen sicher, Majestät, wir finden schon eine Lösung. Wo wir gerade darüber sprechen, habt Ihr seitdem die seltsame Wahrsagerin aus Fann gesehen? Sie schuldet uns noch Antworten, denke ich. Sie sprach von... Den Sieben. Und niemand hier scheint zu wissen, was sie gemeint hat, mich eingeschlossen.“ Der König runzelte die Stirn.

„Das ist wahr. Ich habe Gelehrte Bücher wälzen lassen, auch Bücher über Prophezeiungen, aber wenn in einer Prophezeiung überhaupt die Zahl sieben vorkam, dann hat es uns nicht weitergeholfen. Es ging sicherlich nicht um sieben Teelöffel.“

„Es gibt... eine Prophezeiung über sieben Teelöffel?“, fragte der Jüngere perplex und der Herrscher zuckte die Achseln.

„Offensichtlich, ich habe auch nie davon gehört.“ Er kratzte sich am Kopf, ehe er fortfuhr. „Nein, Herr, die Seherin habe ich seit dem Tag nicht mehr gesehen, aber ich habe gehört, sie soll noch in der Stadt geblieben sein. Soll ich sie rufen lassen, auf dass Ihr sie noch einmal fragen könnt? Immerhin ist sie auch Magierin, wie Ihr, und... vielleicht könnt Ihr mehr mit ihren Worten anfangen...“ Der Senator machte eine abwinkende Handbewegung.

„Macht Euch nicht zu viel Mühe, Majestät. Aber falls sie Euch zufällig über den Weg läuft, schenkt Ihr Tee und Kuchen auf meine Kosten, damit sie lange genug da bleibt, bis ich sie erwische.“ Mit einer letzten, höfischen Verbeugung machte er sich letztlich daran, zur Kutsche zu kommen, die im Hof stand und die ihn nach Thalurien bringen sollte, heim zu seiner Familie. Wobei er der auch nur sehr kurz die Ehre erweisen können würde, bevor er weiter in die Provinzhauptstadt Taiduhr musste... mitunter hasste er die Verantwortung, die er so trug.
 

Der Kutscher, der auf dem Bock im Regen saß, grüßte ihn mit einem verhaltenen Lächeln, als der Mann aus dem Palast geeilt kam. Der Mann hatte ihn schon öfter nach Thalurien kutschiert, wenn der König ihm eine Kutsche zur Verfügung gestellt hatte. Der verstohlene Blick, den er ihm jetzt zuwarf, machte Senator Lyra etwas stutzig, aber wirklich erschrecken tat er sich eigentlich erst, als er die Tür der Kutsche öffnete und darin schon jemand saß.

„Da seid Ihr ja endlich, ich habe schon ewig gewartet! Der Hanswurst da vorne wollte mich erst nicht rein lassen, aber wozu kann ich mich teleportieren?“

Puran Lyra schnappte nach Luft und fuhr sich japsend durch die braunen Haare.

„Himmel und Erde!“, rief er erschrocken, „Was im Namen von allem, das heilig ist, machst du hier?!“ Vor seinen Augen, gemütlich in seiner persönlichen Kutsche nach Thalurien, räkelte sich halb nackt wie letztes Mal die blonde Seherin aus Fann. Sie strahlte ihn amüsiert an, überschlug die Beine und rückte etwas zur Seite auf der gepolsterten Bank.

„Wollt Ihr nicht herein kommen und Euch setzen? Wir müssen uns beeilen, rasch. Ich habe Dinge, die ich Euch zeigen möchte.“ Er zischte und errötete gegen seinen Willen.

„Kein Bedarf, gnädige Frau, ich bin verheiratet.“

„Wo denkt Ihr denn hin?“, kicherte sie, „Sind in Kisara alle so spießig? In Fann, wo ich geboren wurde, ist es normal, so wenig zu tragen...“

„Wir sind aber nicht in Fann!“, brummte der Senator, räusperte sich und stieg letztlich doch ein, schlug die Tür hinter sich zu und ließ sich mit bravem Abstand neben die Seherin auf die Bank fallen. Er klopfte vorne gegen die Scheibe, damit der Kutscher die Pferde antrieb, und als das Gefährt sich in Bewegung setzte, rieb die halb nackte Seherin sich die Oberarme.

„Ja, ich merke schon. Mir ist furchtbar kalt! In Fann ist es wärmer. - Ach, Mist verdammter, jetzt habe ich vergessen, was ich Euch sagen wollte!“ Er stöhnte.

„Und dafür lasse ich mich darauf ein, hier neben dir nach Thalurien zu fahren? Himmel noch mal, wenn meine Frau das sieht!“

„Also wirklich, ich habe Euch nicht angerührt.“

„Aber lüstern angesehen, ich habe das genau gemerkt!“

„Wundert Euch das? Ihr seid ein bildschöner Mann. Und das in Eurem Alter.“

„Danke, verkneif dir jetzt besser die fehlplatzierten Komplimente, bevor ich ärgerlich werde. Was ist es, das du mir sagen willst, Seherin?“ Er schielte die junge Frau an, die sich aufsetzte, sich schüttelte und sich die blonden Locken raufte. Blonde Haare waren überdies extrem ungewöhnlich für eine Frau aus Fann. Ihre Haut war gebräunt, wie es dort in der Wüste normal war, aber ihre Haare und die blauen Augen wollten so gar nicht zum typischen Erscheinungsbild einer Fannerin passen.

„Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte!“, jammerte sie neben ihm und trampelte dabei mit den nackten Füßen auf dem Boden der Kutsche herum, „Mir ist kalt und ich habe keine Ahnung, was ich hier soll! Eben war doch noch alles da!“

„Willst du mich verarschen?!“, keuchte der Mann, „Was soll das Theater?“ Doch statt zu antworten jammerte sie nur weiter und er fragte sich verblüfft, ob sie es wirklich einfach vergessen hatte. Als sie weiterhin nölte, band er sich murrend seinen schwarzen Umhang ab und warf ihn ihr über.

„Da, nimm den, dann hast du warm, aber in Lorana will ich ihn wieder haben!“ Er sah, wie sie ihn verblüfft ansah, dann lachte sie amüsiert, wickelte sich in den Stoff und wirkte somit auch gleich viel artiger, weil man bis auf ihre Füße und ihr Gesicht keine Haut mehr sah. So kalt war es nun wirklich nicht, der Sommer war noch nicht mal ganz vorüber. Er warf einen Blick aus dem Fenster der Kutsche hinaus; sie hatten Vialla jetzt verlassen und kamen auf die Landstraße nach Westen. Nach einer Weile des Schweigens wandte Puran Lyra sich abermals an die Seherin. „So, ist dir wieder eingefallen, was du mir zu sagen hast?“

„Was?“, schrie sie und fuhr zu ihm herum, ihn blöd anstarrend, „Wie, eingefallen? Wovon sprecht Ihr?“ Ungläubig starrte er sie an.

„Du verarschst mich, oder? Ich gebe dir eine letzte Chance. Ob dir eingefallen ist, was du mir sagen willst! Du hast vorhin gesagt, du hättest mir Dinge zu zeigen.“

„Um Himmels Willen, wer seid Ihr überhaupt?“, japste die Blonde neben ihm, ohne den Blick von ihm zu wenden, der definitiv von absoluter Dummheit zeugte – meinte die das wirklich ernst? Sie schien lange und angestrengt nachzudenken, ehe sie ihn angrinste: „Wollt Ihr mit mir schlafen?“

„Anhalten!“, schrie Senator Lyra fuchsteufelswild, und augenblicklich bremste der Kutscher. Es gab einen gewaltigen Ruck, durch den die blonde Seherin von der Bank geworfen wurde und gegen das vordere Fenster stieß. Sie japste dabei, ehe sie zu Boden polterte, und als der Mann sie an seinem eigenen Umhang packen und rausschmeißen wollte, traf ihn der diabolische Blick aus ihren Augen – mit einem Mal sah sie ihn an mit diesem Blick, den sie auch im Senat gehabt hatte. In ihren Augen war die Weitsicht einer richtigen Seherin wieder zu erkennen – die definitiv eben weg gewesen war.

„Hütet Euren Zorn, Senator Lyra, spart ihn Euch lieber für einen anderen Zeitpunkt und eine andere Person auf. Ihr werdet derer genügend treffen... im Schatten.“

Der Mann keuchte und ließ sie augenblicklich los, ehe er zurück auf die Bank sank und sie fassungslos ansah.

„Was... was geht hier vor?“, stöhnte er verwirrt, „Eben... eben wusstest du nicht, wer ich bin!“ Sie rappelte sich auf und setzte sich wieder ordentlich hin, ehe sie an das Fenster klopfte, damit der Kutscher den Weg fortsetzte.

„Rasch.“, sagte sie mit derselben, benebelten Stimme wie der aus dem Ratssaal, „Keine Zeit zu verlieren, Herr. Der Schatten wird kommen... und er bringt uns das Ende der Welt.“

„Das hast du schon mal gesagt, das kenne ich. Was meinst du damit?“, fragte der Mann unwirsch und beobachtete skeptisch, wie sie sich zu ihm umdrehte und ihn wissend angrinste.

„Der König von Ela-Ri ist Schamane wie Ihr und ich. Und er ist ein furchtbarer Schamane, er kann die Geister von Himmel und Erde zu seinen Knien zwingen, wenn ihm danach ist... das flüstern die Himmelsgeister in meinen Träumen. Ich habe ihn gesehen. Er ist groß und furchtbar. Er wird kommen und Euer... Schicksal wird er besiegeln... Puran Lyra, Erbe des Ruferclans.“ Der Mann sagte nichts.

„Heißt das, ich werde durch seine Hand sterben?“, fragte er dann trocken und die Seherin zischte.

„Das weiß ich nicht. Ich sagte, er besiegelt Euer Schicksal, aber nicht, dass dieses Schicksal Euren Tod beinhaltet.“

„Wird er nach Kisara kommen mit seiner Armee?“

„Kommen!“, raunte sie Frau und warf den Kopf dabei in den Nacken, „Kommen wird vieles, Herr! Die Schatten kommen aus dem Osten... und die Schatten kommen aus dem Westen.“

„Aus dem Westen?“, fuhr er ihr dazwischen, doch sie riss den Kopf wieder herunter und durchbohrte ihn mit dem Blick einer Seherin, mit Augen, die ihm direkt in die tiefsten Tiefen seines Geistes starren konnten.

„Ich habe von vielen Dingen geträumt, als ich in Vialla war... von Feuer und Blitzspeeren... und vom furchtbaren Schatten des Himmels, der kommt. Die Sieben kommen. Ich habe sie gesehen... im Westen habe ich sie gesehen.“ Das war ein gutes Thema.

„Wer sind die Sieben? Und was sind sie? Antworte, Frau!“ Die Seherin zeigte lächelnd ihre makellosen Zähne.

„Sie sind auserwählt, um die Zerstörung von Khad-Arza zu verhindern. Sie sind noch jung... sie haben keine Ahnung. Nehmt mich mit in Euer Heimatdorf. Dort werden wir ihnen begegnen und ich werde sie Euch vorstellen.“

„Und die retten uns vor Ela-Ri?“, fragte der Senator verdattert, „Sieben... junge Menschen, die wir in Lorana treffen?“

„Nein.“, gluckste die Seherin wissend, „Nicht vor Ela-Ri. Sie retten uns vor dem Ende der Welt. Es war Wille der Geister... sie haben es mir gesagt, als ich noch klein war.“

„Und wie zum Geier sollen sie das machen?“, japste er, „Du löst keine Rätsel, sondern bringst neue, Seherin! Wieso eigentlich die Zerstörung von ganz Khad-Arza? Heißt das, Ela-Ri hängt mit allen drei Welten zusammen, mit Ghia und Zuyya genauso wie mit Tharr? Das ist unmöglich!“ Im selben Moment gab es einen neuen Ruck, der durch die Kutsche ging, als sie durch ein Schlagloch in der Straße fuhren, und beide Insassen wurden empor geworfen, worauf Puran Lyra ärgerlich fluchte. Er hasste diese Straße. Als er wieder zu der blonden Sehern sah, starrte sie ihn fassungslos mit geweiteten, blauen Augen an. Der wissende Blick war verschwunden.

„Wohin fahren wir eigentlich?“, wollte sie wissen, „Fahren wir nach Tejal? Da wollte ich schon immer mal hin, da gibt es goldene Paläste, das ist bestimmt aufregend!“ Der Herr der Geister sparte sich einen Kommentar und lehnte sich mit einem resignierten Stöhnen zurück. Offenbar war ihr Gedächtnis kaputt und ging immer dann aus, wenn er es brauchen konnte. Was für eine seltsame Person sie doch war, diese Seherin.

„Wie ist dein Name?“, fragte er so genervt in der Hoffnung, dass sie den noch wusste. Ausnahmsweise mal enttäuschte sie ihn nicht.

„Ryanne vom Stamm der Yalla.“, stellte sie sich amüsiert vor, „Wir haben in Fann keine Nachnamen, wir nennen stattdessen unseren Stamm. Und wer seid Ihr?“ Er seufzte tief und wünschte, die Fahrt wäre bald vorüber.

„Ich bin Puran Lyra. Freut mich auch.“
 

Ihre Sehkraft blieb verschwunden, obwohl sie noch durch mehrere Schlaglöcher fuhren und dabei durchgeschüttelt wurden – das Beben brachte ihren Verstand nicht zurück, es macht Puran Lyra nur Kopfschmerzen. Was das Geplapper der ahnungslosen Frau neben ihm auch nicht besser machte. Er war heilfroh, endlich Lorana zu erreichen, als es draußen langsam dunkel wurde. Die Luft war schlecht, als der Kutscher auf Befehl vor dem Eingang des schlichten Dorfes anhielt. Es lagen Schatten in der Luft, der Herr der Geister konnte sie genau spüren.

„Da wären wir.“, brummte er, während er die Tür aufstieß und sich an die blonde Seherin wandte, „Gib mir bitte meinen Umhang wieder... wir finden sicher eine Bleibe für dich für die Nacht.“

„Ist ja toll, ich wollte schon immer mal nach Thalurien!“, flötete sie, schälte sich artig aus dem schwarzen Umhang, gab ihn ihm zurück und hopste auf ihrer Seite aus der Kutsche. Dann begann sie mit sich selbst zu reden und die Landschaft zu loben – zwischendurch sprach sie auch von Flammen im Süden, aber ihre Stimme blieb die einer nervigen Göre und hatte nichts mehr von dem unheimlichen Wissen, das irgendwo in ihrem seltsamen Geist schlummerte. Puran Lyra verdrehte die Augen und hörte ihr nicht weiter zu, während er auch ausstieg und dem Kutscher das übliche Trinkgeld gab.

„Morgen gehe ich nach Taiduhr.“, erklärte er dabei, „Wenn der König mich braucht, bin ich vermutlich dort.“

„In Ordnung, ich werde es ausrichten, Herr.“, sagte der Mann auf dem Bock, während sie in der Ferne hinter der Kutsche die Seherin quatschen hörten. „Herr, vergebt mir die Frage, aber... mit wem spricht sie da?“

„Wenn ich das wüsste. Ich wundere mich schon mehr darüber, woher sie den vielen Atem für so viele Worte nimmt. Oder warum sie nicht heiser wird, sie redet jetzt den halben Tag... eine sehr merkwürdige Person. Wo hat der König die nur aufgegabelt?“

„Na, in Fann.“, sagte der Kutscher, „Ich habe gehört, sie soll die fähigste Seherin des Zentrums sein. So hat man ein Kommando nach Fann geschickt, um sie zu suchen, und sie wusste schon vorher, dass jemand aus Kisara käme, was die Gerüchte wohl bestätigt.“

„Also mir macht sie Angst!“, zischte der Herr der Geister, „Sie sieht mich an wie meine Großmutter, ich weiß nicht, ob mir das gefallen will.“ Er lauschte kurz und blinzelte dann, ehe er um die Kutsche herum lugte. „Warte mal – jetzt ist sie ja still?“ Beide Männer schwiegen und lauschten, aber die Stimme der Seherin war nicht zu hören. Der Senator ging um das Gefährt herum und spähte auch hinein – Ryanne der Yalla war verschwunden. „Das ist doch nicht ihr Ernst jetzt!“, empörte der Mann sich, „Ich ertrage die gesamte Fahrt dieses Gequatsche und dann teleportiert sie sich weg?! Das – das... ich drehe gleich durch, ich drehe einfach durch!“ Der Kutscher wollte etwas sagen, aber nicht er war es, der darauf antwortete, sondern eine ebenfalls vertraute Stimme hinter ihm.

„Macht Euch nichts draus, Herr. Sie wird wieder auftauchen, wenn Ihr es nicht erwartet, so fürchte ich. Außerdem passieren hier eigenartige Dinge, während Ihr fort seid.“ Der Herr der Geister drehte genervt den Kopf und seufzte erleichtert, endlich einen angemessenen Gesprächspartner zu finden, als er hinter sich den Kopf des Sagal-Clans erblickte. Seufzend verabschiedete er den Kutscher, der darauf den Weg zurück nach Vialla antrat, während der Mann vor dem inoffiziellen Herrn des Dorfes – oder der Provinz – den Kopf neigte. Eigentlich war Dasan Sagal abgesehen von seiner Familie von nichts Oberhaupt, aber dank seiner unendlich vielen Beziehungen und Stränge, die einfach in ganz Thalurien verliefen und er somit über alles, was geschah, stets die Kontrolle behielt, hatte er im Volksmund den verdienten Beinamen des Herrschers von Thalurien.

„Was meint Ihr damit, Sagal?“, fragte Puran Lyra ihn unwirsch, „Ihr wusstet, dass diese komische Seherin mit mir käme? Und verschwände?“

„Ich wusste, dass sie käme, ja. Ich kann Euch nicht viel über Ryanne Yalla erzählen, aber eines solltet Ihr wissen, wenn Ihr mit ihr sprecht. Ihre Sehkraft hatte sie von Geburt an, und es ist eine mächtige Sehkraft, wie es der Abstammung der Ekalas würdig ist. Ihr kennt den Ekala-Clan, den Telepathenclan, dem Eure Großmutter angehörte... die ihrer Zeit die Seherin Salihah war.“ Der Senator schauderte.

„Sie stammt vom selben Clan? Kein Wunder, dass sie mich an meine Großmutter erinnert.“ Dasan Sagal drehte den Kopf nach Osten.

„Es muss wohl Wille der Geister sein, dass sie ihre eigene Sehkraft nicht richtig kontrollieren kann und sie andauernd zeitweise vergisst. Geduld solltet Ihr haben... das werden wir alle brauchen in der nächsten Zeit. Unheil kommt über das Dorf, ich kann es in allen Knochen spüren.“ Dabei klopfte er mit seinem als Statussymbol getarnten Gehstock gegen sein hinkendes Bein, „Selbst hier.“ Puran Lyra verengte die grünen Augen nachdenklich zu Schlitzen.

„Unheil? Was passiert hier, Sagal...? Ihr seid doch derjenige, der immer alles zuerst weiß...“

„Ja. Normalerweise schon – und dieses Mal nicht. Das ist es, was mich beunruhigt. Aber die Geister schweigen mich an – und meine Verwandten im Westen tun es ebenfalls, ich habe kein einziges Sterbenswort zu hören bekommen. Es ist als... hätten die Geister sie erblinden und verstummen lassen. Ganz plötzlich... einfach so.“
 

Senator Lyra wollte weder an die komische Seherin denken noch an die beunruhigenden Nachrichten des Sagal-Oberhauptes, als er endlich nach Hause kam und seine zierliche kleine Frau ihm stürmisch um de Hals fiel. Sie erzählte irgendetwas, dass die Kinder zusammen mit Tayson und irgendeinem Lianermädchen nach Aduria gegangen wären, eigentlich ging auch das an ihm vorbei. Er war verdammt noch mal zu Hause, und vermutlich würde er das auch nur für diese eine Nacht sein – eine einzige Nacht, in der er zum letzten Mal die drohenden Schatten zur Seite schieben konnte, um ein letztes Mal einfach nur daheim zu sein und sich ganz seiner Gattin zu widmen. Eigentlich war es da sogar passend, dass die Kinder gerade außer Haus waren. Wer wusste schon – wenn es war, wie die Seherin gesagt hatte, und der König von Ela-Ri sein Schicksal besiegelte, vielleicht starb er ja doch... wann hatte er dann noch mal die Gelegenheit, mit seiner Frau das Bett zu teilen?

„Du hast mir wahnsinnig gefehlt, Liebster...“, seufzte Leyya unter ihm, während ihre Hände seine Haut in Flammen setzten und ihre so vertraute, liebevolle Stimme ihn zum Zittern brachte. „Ich habe geglaubt, noch eine Nacht ohne dich halt ich nicht aus, Puran.“

„Frag mich mal.“, stöhnte er, ehe er sich herunter beugte und sie verlangend auf die Lippen küsste. „Sprich nicht mehr, Liebes...“

Sie sprach nicht mehr, und er tat es auch nicht, während sie sich vereinten und sich voll und ganz dem Liebesspiel hingaben, als hätten sie sich seit ewigen Jahren nicht mehr gesehen. Er hörte sie unter sich keuchen und spürte ihre schlanken Arme, die sie um seinen Hals legte, um ihn zu sich herab ins Bett zu zerren. Sie ließen sich Zeit, es war schließlich niemand im Haus außer ihnen, niemand, den sie stören könnten, und niemand der sie unterbrechen könnte. Senator Lyra fragte sich, ob seine Frau ebenfalls spürte, wie die Schatten kamen... vermutlich tat sie das, wenn auch nicht so intensiv wie die Telepathen oder Schwarzmagier. Und sie beide wussten, dass es das letzte Mal war, dass sie sich so liebten, ehe die Finsternis über das Zentrum käme. Er würde seine Frau vermissen... sie war ein Teil von ihm und es machte ihn auf Dauer verrückt, von ihr getrennt zu sein.

Jetzt war sie noch hier... jetzt war sie hier und lag in seinen Armen, presste ihren kleinen, zierlichen Körper gegen die Hitze seines eigenen, als er sich zum letzten Mal mit einem resignierten Keuchen über sie beugte und sich in ihr erleichterte. Sie war so schön warm... seine hübsche, kleine Leyya. Er hatte keine Lust, nach Taiduhr zu fahren.
 

Obwohl er seine Frau bei sich hatte, konnte Puran nur wenig schlafen in der Nacht. Der Morgen graute noch nicht mal, als er es aufgab und sich murrend aus dem Bett aalte. Er hatte ein schlechtes Gefühl... offenbar waren die Geister nicht gewillt, ihm eine Nacht Ruhe zu gönnen. Sie wisperte fremdartige Worte in seinem Kopf, aber dass es um Unheil ging, verstand er auch so. Schatten kamen... was hatte die Seherin gesagt? Was war im Westen?

„Puran... was ist los?“, wisperte seine Frau müde, als er unruhig nach seinen Hosen suchte, die er in der Eile zuvor irgendwo auf den Boden geworfen hatte. Sie setzte sich auf und gähnte. „Der Morgen ist noch nicht mal angebrochen...“

„Ich weiß... aber irgendwie komme ich einfach nicht zur Ruhe. Schlaf weiter...“ Er fand seine Kleider und zog sich halbwegs an, während seine zierliche Gattin sich an den Bettrand schob und abermals gähnte.

„Nein, jetzt bin ich ja beunruhigt... machst du Kaffee, wenn du hinunter gehst?“ Er nickte nur und fuhr sich mürrisch durch die Haare, ehe er einen Blick aus dem Fenster warf. Es war noch dunkel draußen. Es machte ihn verrückt, genau zu spüren, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, aber es nicht genau orten zu können... die Geister von Himmel und Erde schienen sich nicht nur gegen die Sagals verschworen zu haben. Er seufzte wortlos und verließ das Schlafzimmer, während Leyya ebenfalls begann, ihre Kleider zu suchen.

Im Dunkeln die hölzerne Treppe herab taumelnd und sich langsam in Richtung Küche vor tastend bemerkte der Mann erst, als er unten angekommen war, dass in der Stube aus unerfindlichen Gründen noch Licht brannte. Vielleicht waren die Kinder zurückgekommen, fiel ihm ein, und er stellte verdutzt fest, dass sie ganz schön lange in Aduria unterwegs waren – es war doch schon fast wieder Morgen...? Als er jedoch die Wohnstube betrat, erwartete ihn eine Überraschung.

„Guten Morgen, Senator. Oder ist es noch Gute Nacht, immerhin ist es noch dunkel... aber die Hälfte der Sieben wird bald eintreffen, da dachte ich, ich komme vorsorglich!“

Der Mann blieb wie angewurzelt in der Stubentür stehen und starrte auf die blonde Seherin, die gemütlich auf der Couch saß und aus einer Tasse trank, als wäre es vollkommen normal, dass sie da war – in seinem Haus, einfach so, mit seiner Tasse, auf seiner Couch, ohne auch nur ansatzweise um Erlaubnis gefragt zu haben – weiter denken konnte er nicht, weil ein empörtes Zetern seiner Frau oben ihn aus seinen Gedanken riss.

„D-das ist nicht dein Ernst!“, keuchte er noch, dann ertönte lautes Poltern auf der Treppe und Leyya kam im Nachthemd herab gestürzt, in ihrer Hand war sein schwarzer Umhang.

„Puran!“, fauchte sie, „Warum, zum Geier, sind auf deinem Umhang blonde Haare?!“ Er fuhr zu ihr herum und wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da sah sie auch in die Stube und wurde augenblicklich blass. „Moment – wer ist das denn?!“

„Leyya – warte, lass mich erklären, das ist nicht so, wie du denkst...“

„Um Himmels Willen, Puran!“, japste seine Frau fassungslos und starrte abwechselnd die Seherin und ihn an, „Das glaube ich einfach nicht – wer ist die Frau?! Deren Haare irgendwie zu denen auf deinem Umhang passen...“

„Ja, das sind auch ihre Haare...“

„Und zugeben tust du es auch, ich fasse es nicht!“

„Leyya, Himmel noch mal, sie ist eine Seherin aus Fann und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie sie hier reingekommen ist!“

„Eine Seherin aus Fann also!“, schnaufte Leyya Lyra empört, „Blond! Mit großen Brüsten! Und du Lügner hast mir immer erzählt, du stehst auf kleine Brüste wie ich sie habe!“ Er verdrehte die Augen – wie konnte jemand nur so viel falsch verstehen? Was dachte sie von ihm, nachdem sie seit über siebzehn Jahren verheiratet waren? Zeit, sich darüber aufzuregen, was für einen Unfug seine Gattin redete oder was diese dreiste Frau aus Fann in seiner Stube verloren hatte, bekam er allerdings auch nicht, denn just in diesem Moment schenkte letztere ihm einen wissenden Blick aus ihren eigenartig violetten Augen, Leyya ignorierend.

„Ah, sie sind da... keinen Moment später als erwartet.“

„Wovon redet sie, wer ist da?!“, keifte Leyya und zerrte an Purans Arm, in dem Augenblick polterte es hinter ihnen und die Haustür flog mit einem lauten Krachen auf. Puran Lyra hatte irgendetwas Furchteinflößendes erwartet bei den Worten der Frau aus Fann – und war umso erleichterter und auch verblüffter, als durch die Tür seine drei Kinder und Tayson kamen; bei ihnen waren Karanas Hund und ein fremdes Mädchen, das unverkennbar eine Lianerin sein musste. Der Hund bellte und Karana schnappte nach Luft.

„Huch!“, machte er, „Ihr seid ja alle wach?! Um Himmels Willen, Vati! D-die Bauern aus Kamien, sie haben das Lianerdorf überrannt!“
 

Senator Lyra war überzeugt davon, dass zu viel auf einmal passierte. Erst nahmen die Schlächter aus Ela-Ri Dhimorien ein, dann verfolgte ihn eine Seherin aus Fann aus eigenartigen Gründen, dann kamen seine Kinder aus Aduria und erzählten von grauslichen Überfällen auf die Dörfer nahe der Grenze. Er fragte sich, ob er nicht doch nicht träumte und gleich aufwachen würde, als er zusammen mit seiner Familie und den übrigen Leuten in der Stube stand und sich berichten ließ, was seine Kinder beobachtet hatten. Er suchte in dem Gesicht seines einzigen biologischen Sohnes nach irgendeinem Zeichen des Scherzes, irgendeinem Zeichen der Trunkenheit, die erklären könnte, warum er so etwas sagte... aber sein Verhalten schien absolut ernst zu sein, er machte keine Witze. Ebenso wenig das wimmernde Lianermädchen, das auf der Couch kauerte und von Simu mit Tee und Decken versorgt wurde. Und ebenso wenig seine Tochter, die sich allen ernstes von Tayson einen Arm umlegen ließ, was sonst nicht ihre Art war, während sie apathisch in die Luft starrte.

„Noch mal langsam, Männer aus Kamien haben die Grenze überfallen und das Dorf niedergebrannt?!“, keuchte er dann, als Karana schwieg, und er sah rein instinktiv zu der Seherin aus Fann. „Wusstest du das, Seherin?“

„Seherin?“, wunderte Tayson sich, der als einziger den Ernst der Lage nicht zu begreifen schien und selig Neisas Oberarm streichelte. „Häh, die Frau ist eine Seherin?“

„Was? Wer?!“, staunte Ryanne Yalla neben Puran auf der Couch und sah zu der Lianerin, „Sie ist eine Seherin?! Oh mein Himmel, ist ja aufregend!“ Der Herr der Geister stöhnte.

„Oh nein, sie hat ihr Gedächtnis schon wieder verloren...“

„Was?!“, zischte seine Frau, „Was ist denn das jetzt für eine komische Geschichte, sie ist nicht mal wirklich eine Seherin?“

„Doch, aber sie vergisst es mitunter – du glaubst mir kein Wort, oder?“

„In der Tat, Liebster.“

„Wie auch immer – wieso wusste Sagal das nicht vorher, wie er alles vorher weiß?“, mischte Simu sich ein, der Neisa mit sanfter Gewalt aus Taysons Arm entfernte und ihr stattdessen auch eine Decke umlegte. „Das ist merkwürdig...“

„Ja, in der Tat.“ Der Senator erhob sich und ignorierte die quasselnde Seherin, die versuchte, die Aufmerksamkeit des jammernden Lianermädchens zu bekommen. „Wenn die Männer aus Kamien über unsere Grenzen herfallen, ist das quasi eine Kriegserklärung – wobei ich nicht sicher bin, ob der König von Senjo davon etwas wusste. Wie auch immer, ich muss nach Taiduhr, um mit dem Senat zu sprechen, wir müssen auf der Stelle etwas tun, um sie aufzuhalten – sie werden so weiter machen, wenn wir nichts unternehmen.“

„Und dann kommen sie hierher... und bringen die Flammen über Lorana!“, stöhnte Neisa, die bedrohlich schwankte und von Simu festgehalten wurde, „Ich weiß, dass sie kommen, Vati! Geh nicht fort, bitte!“ Er seufzte nur und warf einen Blick auf seine schmollende Frau, dann auf Karana, der plötzlich die Augen weitete und erbleichte.

„Du gehst jetzt fort?“, fragte er dabei dumpf, „Was machen wir, falls sie wirklich kommen?“ Sein Vater drängte sich an ihm vorbei in den Flur.

„Sprich mit Sagal, das ist seine Sache hier. Aber meine Sache ist die Provinz, ich bin dafür verantwortlich, dass hier alles läuft. Und was im Westen läuft, sollte nicht laufen, das ist das Problem. Leyya... komm bitte zu mir, mein Liebes.“

Leyya Lyra machte ein unwirsches Gesicht, als sie ihn in den Flur begleitete und er seinen Umhang von der Treppe nahm, den sie dort liegen gelassen hatte. Er war weder angemessen gekleidet noch gekämmt, um vor den Senat zu treten, aber auf derlei Kleinigkeiten musste er wohl verzichten; dafür war keine Zeit.

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich würde dich betrügen, oder, Leyyachen?“, murmelte er dumpf, als er sich den Umhang überwarf und mit den Fingern genervt seine Haare kämmte. „Ich habe jetzt leider keine Zeit, dir das zu erklären, so gern ich das würde. Wenn ich mir beim Schmied ein Pferd leihe, bin ich bis zum Morgen in Taiduhr, ich muss wirklich los.“ Sie seufzte und griff seinen Umhang, als er sich abwenden wollte.

„Ich habe Angst...“, wisperte sie tonlos, „Passiert hier wirklich so Schlimmes?“ Puran Lyra seufzte und schloss sie in die Arme, ehe er ihr Gesicht hochzog und ihre Stirn küsste.

„Ich werde die Geister um Gnade bitten... sei tapfer. Am besten, ihr verschwindet von hier, weit weg... wenn von Südosten Ela-Ri kommt, solltet ihr so weit wie möglich fort von hier. Am besten geht ihr zu meiner Cousine nach Yiara rauf, weiter nördlich könnt ihr kaum kommen. Da seid ihr weit weg von Thalurien und von Kamien oder Ela-Ri...“

„Was?“, keuchte sie, „Wir sollen weg?“

„Es würde mir schlaflose Nächte ersparen, wenn ich euch bei Alona in Sicherheit wüsste... ich bitte dich, Liebes. Geht noch heute, wer weiß, wann die aus Kamien hier sein können... sieh mich an.“ Sie tat es, als er mit beiden Händen ihre Wangen erfasste, „Tu, was ich sage, Leyya. Bitte. Ich kann euch hier nicht beschützen... die Zeichen sind schlecht, es kommen böse Dinge auf uns zu. Ach ja, und wenn die Seherin ihr Gedächtnis zurück bekommt, frag sie, wer jetzt die Sieben sind, von denen sie dauernd redet.“

„W-was? Puran, welche-...“ Weiter kam sie nicht, weil er ihr mit einem innigen Kuss das Wort abschnitt. Sie rührte sich zunächst nicht, gab dann aber doch dem Druck seiner Lippen nach, bis er den Kuss schließlich löste und ihr seufzend durch die langen, dunklen Haare strich.

„Tu, was ich sage. Ich... ich vermisse dich, Leyya.“ Ein weiterer Kuss besiegelte seinen Abschied, bei dem er spürte, wie seine kleine Frau vor Furcht erzitterte. Als Puran Lyra seine Gattin losließ und aus der Haustür ging, wusste er, dass er sie fürs Erste zum letzten Mal gesehen hatte.

„Der König von Ela-Ri wird aus dem Schatten kommen und Euer Schicksal besiegeln... Senator Lyra.“
 

In der Stube der Familie Lyra ging ein wildes Durcheinander los, als der Familienvater das Haus in aller Eile verlassen hatte. Karana schnappte unsicher nach Luft und lehnte sich an die Wand, während Neisa irgendwo neben ihm hysterisch zu fluchen begann und über Kopfschmerzen jammerte. Er hörte ihr nicht zu – hängen geblieben waren nur ihre letzten Worte zu ihrem Vater.

„Und dann kommen sie hierher... und bringen die Flammen über Lorana!“

Die armseligen Sterblichen... die kommen und Schatten bringen. So, wie Niarih gesagt hat... verdammt, das war es, was sie gesehen hat.

Er fuhr zusammen, als er spürte, wie er angestarrt wurde, und zum ersten Mal, seit er heimgekehrt war, nahm er die blonde, halb nackte Frau auf der Couch wirklich wahr, die jetzt direkt in sein Gesicht sah – es war ihr Blick, der ihn zusammenfahren gelassen hatte, bemerkte der jung Mann verdattert und suchte in ihren erstaunlicherweise leicht lila schimmernden Augen nach irgendeiner Antwort.

„Wer genau ist das jetzt eigentlich?“, hörte er Tayson neben sich fragen, und dann sprach die Fremde – als sie es tat, verstummten plötzlich alle anderen im Haus, selbst Aar war ganz ruhig, während er sich an Karanas Füßen zusammenrollte.

„Da seid ihr, ich habe darauf gewartet, dass ihr kommt. Deswegen bin ich ja hier... weil es hieß, ich würde euch hier treffen... Schicksalskinder.“

Alle, eingeschlossen die wieder in den Raum gekehrte Leyya, starrten die Frau verblüfft an. Karana versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, aber die beunruhigenden Vorahnungen schwirrten weiterhin durch seine Gedanken und ließen ihm keine Ruhe.

„Wer bist du?“, fragte er und versuchte, sich Autorität zu verschaffen als Vertretung seines stolzen Vaters. Die Frau räkelte sich zufrieden auf dem Sofa, worauf der Schamane von Tayson neben sich ein entzücktes Grinsen wahrnahm.

„Mein Name ist Ryanne vom Stamm der Yalla. Ich bin aus Fann gekommen, euretwegen.“, entgegnete die Frau mit einem so wissenden und gleichzeitig grausigen Lächeln auf den Lippen, dass es Karana einen eisigen Schauer über den Rücken jagte – wobei der Anblick ihrer üppigen, weiblichen Rundungen eher einen heißen Schauer auslöste. „Die Geister von Himmel und Erde haben beschlossen, Sieben auszuerwählen, deren Bestimmung es ist, Khad-Arza vor der Zerstörung zu bewahren.“

„Was, Khad-Arza?“, schnappte Simu von irgendwo, „Das hat doch aber nichts mit Kamien zu tun?“ Ryanne der Yalla riss ihren Arm in seine Richtung, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Sei still, ich spreche jetzt! Ihr seid noch nicht vollständig, aber ein Großteil von euch ist... hier anwesend. Ich habe eure Gesichter gesehen in meinen Träumen, lange bevor ich sprechen konnte. Jetzt, wo ich euch sehe, weiß ich, dass ihr die Schicksalskinder seid... auserwählt, das alles hier zu beenden. Und meine Bestimmung ist es... euch das nahezulegen.“ Sie lächelte auf ihre mysteriöse Weise, als sie der Reihe nach Simu und Eneela, dann Neisa, ihre Mutter, Tayson und Karana anblickte. „Schatten kommen...“, wisperte sie, „Und Krieg wird es geben... zu der Zeit, zu der Vater Himmel und Mutter Erde ihren Zorn über unsere Welt ergießen... ist die Zeit der Sieben Schicksalskinder gekommen.“ Sie erntete eisernes Schweigen. Schließlich sprach Karana, der dabei die Hände zu festen Fäusten ballte vor Anspannung. Er spürte, dass etwas in seinem Kopf schmerzhaft pochte; etwas, das verhinderte, dass er die Worte der komischen Frau für einen üblen Scherz hielt. Wäre es ein Scherz, würden seine Instinkt nicht Alarm schlagen und ihn warnen... vor einer Zukunft, die er sich nicht selbst ausgesucht hatte. Es waren die Geister gewesen, die ihm vorbestimmt hatten, was einst aus ihm werden würde.

„Mit Feuer und Schatten, Karana... kommt das Ende der Welt. Und wenn das Reich fällt, werden sie kriechen... dann werden sie alle kriechen.“

Panisch stolperte er ein paar Schritte in Richtung Stubentür. Der Hund erhob sich alarmiert und die anderen sahen ihn an, während er erbleichte und keuchend nach seinem Kopf fasste.

„Du weißt es, oder, Karana?“, flüsterte die Frau aus Fann grinsend, „In dir drin hast du es schon... immer gewusst. Du bist schließlich der Sohn des Herrn der Geister.“

„Schweig!“, fuhr er sie an, „Nein, du... hast keine Macht über mich, und auch die Geister werden mir nicht sagen, wohin ich zu gehen habe! Zerfetzen... werde ich die Bastarde aus Kamien, die es wagen, uns so schamlos hinterrücks anzugreifen! Zerfetzen werde ich sie, hörst du, Weib?!“

„K-Karana!“, keuchte seine Mutter neben ihm und griff nach seinem Arm, und wutentbrannt riss er sich los und fauchte sie an wie ein wildes Raubtier, dabei seine spitzen Eckzähne entblößend. Leyya Lyra erbleichte und fuhr zurück, während die anderen nur ungläubig starrten – allein die Fannerin grinste noch immer. Ihr Lächeln verschwand, als er sich in den Flur aalte und versuchte, zur Tür zu kommen – sobald er ihr den Rücken kehrte, hörte er sie mit scharfer Stimme sprechen.

„Willst du davonlaufen, Karana? Nicht ich bin es, die Macht auf dich ausübt, sondern die Geister des Schicksals. Wenn du dich weigerst, wird Khad-Arza wohl sterben... ist das dein Wunsch? Das Bündnis dreier Welten zu vernichten?“ Karana zögerte – seine eigene Antwort überraschte ihn selbst heimlich mehr als alle anderen, die hinter ihm erschrocken die Luft einzogen.

„Dann sei es so! Wenn ich allein die Macht besitze, drei Welten zu vernichten, nenne ich das wahre Glorie, Seherin aus Fann.“ Das gesagt machte er Kehrt und verließ mit großen Schritten gefolgt vom Hund das Haus.
 


 


 

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ähm... yeah xD

Die Launen der Himmelsgeister

Leyya Lyra brachte Tee in die Stube, als Karana eine Weile weg war. Die anderen saßen verwirrt und schweigsam auf der Couch und teilweise auch auf dem Boden um den kleinen Stubentisch herum. Neisa beobachtete die Frau aus Fann mit einem unwohlen Gefühl, während die seelenruhig ihren Tee trank und offenbar mit Karanas Verschwinden ihre Sprache verloren hatte. Was war das gewesen? Sie waren von den Geister zu etwas erwählt worden? Warum sie? Zu was genau eigentlich? Was sollte der Unfug? So fragte die blonde Heilerin sich verdrossen und rührte ihren Tee nicht an. Sie saß zwischen der Fannerin und Eneela auf der Couch; letztere hatte sich endlich von ihrem Schock erholt und kauerte wie ein Häufchen Elend in der Ecke des Sofas, ohne jemanden eines Blickes zu würdigen. Neisa wurde das Gefühl nicht los, dass Karana die Lianerin besonders ängstigte, warum auch immer. Er konnte anstrengend sein, aber Angst hatte sie keine vor ihm... er war ihr Bruder. Und er würde ihr niemals ein Haar krümmen... jedem, nur ihr nicht.

Der Himmel grollte, während Neisa ihre Teetasse in die Hände nahm und apathisch herum drehte, ohne zu trinken. Sie konnte nicht trinken... ihr Kopf schmerzte und alles, was geschah, verwirrte sie extrem.

„Wir werden noch heute aufbrechen nach Yiara.“, sagte ihre Mutter gerade, die sich neben Tayson und Simu auf den Boden vor den Tisch hockte. Sie war nervös... was ihr Vater wohl zu seiner Frau gesagt hatte, bevor er gegangen war? Neisa beunruhigte der Gedanke, dass ihr Vater einfach so schnell weg gemusst hatte... sie mochte es nicht, lange ohne ihn zu sein. „Wir werden bei Tante Alona unterkommen... wir müssen weit weg von hier, falls die aus Kamien wirklich herkommen... im Norden sind wir sicher.“

„Was?“, fragte Neisa tonlos und Simu sah sie über den Tisch hinweg kurz an.

„Das ist eine gute Idee. - Tayson, was ist mit dir? Du solltest heim nach Gemi gehen und deine Mutter auch warnen.“

„Hmpf, ihr glaubt echt, die kommen und spießen uns hier auf...? Ich meine, vielleicht wollten sie es nur den Lianern zeigen, in Senjo hassen sie Lianer...“ Simu sagte erst nichts.

„Also, ich bin ziemlich davon überzeugt, dass sie nicht nur aus Spaß hier so einen Krawall machen... du hast doch gesehen, wie die abgegangen sind im Dorf unten. Wir sollten das ernst nehmen... erst recht, wenn es wirklich Zoras Derran war, der das Himmelsfeuer gerufen und die Erde beben gelassen hat.“ Tayson zog nur eine Braue hoch und Neisa zischte, jetzt doch etwas Tee trinkend. Zoras, ja... Karanas einziger ernst zu nehmender Rivale in der Schulzeit war er gewesen, was die Macht der Magie anging. Es stieß ihr noch jetzt übel auf, an ihn zu denken im Zusammenhang mit dem Angriff auf das Dorf.

„Zoras macht das nicht.“, behauptete sie dumpf und erntete darauf bohrende Blicke, vor allem von Tayson, der dann blöd lachte.

„Ähm, hallo? Wenn einer, dann der... der jähzornige Kampfzwerg ist ja wohl durchaus fähig dazu...“

„Ja, aber das ist nicht seine Art.“, protestierte die Heilerin grimmig, „Wir alle kennen Zoras als Lorons Schlägerjungen, aber er würde nicht wahllos irgendwelche Menschen töten! Da sind verdammt noch mal Leute gestorben, das könnt ihr nicht einfach einem etwas verzogenen Mutterkindchen in die Schuhe schieben, weil ihr euch in der Schulzeit nicht gemocht habt...“ Sie trank hastig etwas Tee und sah dabei zu der Frau aus Fann, die sie jetzt grübelnd musterte und ihren Blick dann zu Tayson wandte. Jener brummte gerade.

„Ah ja. Und woher... bist du dir da so sicher, Neisa? Seit wann bist du denn so dicke mit Zoras Derran? Ausgerechnet?“ Sie schnaufte und fuhr zu ihm herum.

„Hast du eine Klatsche?!“, keifte sie aufgebracht und hätte fast ihre Tasse nach ihm geworfen, da war es ihre Mutter, die eingriff.

„Lasst den Unsinn! Himmel, haben wir keine anderen Probleme, Neisa? - Tayson, du solltest wirklich heim gehen, ihr könnt gerne mit uns nach Yiara kommen, deine Mutter und du. Aber wir sollten jetzt das Wichtigste zusammenpacken und... ach, Himmel, wo steckt denn Karana so lange? Kann der mal wiederkommen?“ Sie jammerte unglücklich und Neisa ließ sich ergrimmt wieder zurück ins Sofa fallen, die Tasse abstellend und sich unruhig durch die Haare fahrend. Dann zeigte sie auf die Seherin.

„Sprich, Frau!“, verlangte sie kaltherzig und mit einer Autorität, die sie offenbar von ihrem Politikervater geerbt haben musste, „Was hast du gemeint vorhin damit, dass wir auserwählt seien? Wir alle? Und wieso sollen wir die Zerstörung von Khad-Arza verhindern?“

„Vermutlich, weil es sich in einer zerstörten Welt schlecht leben lässt.“, war Simus Antwort, ehe die Blonde sprechen konnte, und Neisa murrte.

„Danke für die Information...“ Zum Glück setzte die Seherin sich jetzt aufrecht hin, stellte die leere Teetasse weg und sah Neisa einen Moment ins Gesicht.

„Es ist, wie ich gesagt habe. Sieben sind auserwählt. Hier sind einige dieser Sieben versammelt.“

„Wir sind fünf.“, bemerkte Tayson klug und die Seherin grinste.

„Du bist eine der Sieben, Neisa. Und Eneela Kaniy gehört ebenfalls dazu, genau wie Simu. Und der, der raus gerannt ist. Das heißt, vier der Sieben sind bereits versammelt... es war Wille der Geister, dass ihr euch begegnet.“

„Halt, Moment, und ich?“, wollte Tayson empört wissen und pustete sich ein paar wirre, schwarze Haarsträhnen aus dem Gesicht. Die Frau aus Fann beäugte ihn nachdenklich und dachte offenbar angestrengt nach.

„Hmm... nein, du nicht. Ich dachte zuerst, aber beim näheren Hinsehen, nein.“

„Wie jetzt?“, stöhnte der junge Mann beleidigt, „Warum nicht?“

„Weil du den Intelligenzquotienten eines gekochten Hühnchens hast...“, machte Simu kleinlaut, wurde von Tayson aber ignoriert. Die Seherin schnaubte.

„Das ist keine Vereinigung für Leute, die zufällig in der Gegend sind, ich kann das nicht beantworten, du Honk! Verdammt, jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte!“ Neisa verzog das Gesicht und verschränkte die Arme.

„Dabei, uns zu erklären, was genau das jetzt bedeutet und was wir denn machen können, um die Welt zu retten... zu siebt.“ Die Seherin jammerte.

„Ja, das weiß ich ja eben nicht mehr! Dieser Horst da hat alles vermasselt!“ Sie zeigte auf Tayson und er schnaufte. „Eben war es noch da! - Himmel, wo bin ich hier noch mal?“

„Ist ja grausam, kann man dagegen etwas tun?“, wunderte Simu sich an seine Mutter gewandt, die nur die Schultern zusammenzog.

„Jedenfalls fürchte ich, wenn sie ihr Gedächtnis nicht bald wieder hat, müssen wir sie mit nach Yiara nehmen, wenn wir erfahren wollen, was sie zu sagen hat...“
 

Mittag war schon vorüber, als Karana zurück nach Lorana kehrte. Es war bewölkt und aus dem Himmel kam ein dumpfes, unheilschwangeres Grollen, als er auf der Dorfstraße stehen blieb und hinauf starrte. Die Geister waren launisch... es geschahen schlimme Dinge. Dinge, die er nicht beeinflussen konnte, und das wurmte ihn. Die Bauern aus Senjo saßen ihnen jetzt im Nacken und würden vermutlich mit der Tür ins Haus fallen – und er hatte keine Ahnung, was er machen konnte, um sie aufzuhalten, ohne dabei ganz Thalurien zu sprengen.

Und vielleicht sollte er das einfach tun...?

„Ach, das ist doch hirnverbrannt!“, schimpfte er und griff sich fluchend an den schmerzenden Schädel. Die Geister kicherten in seinem Kopf und er verfluchte sie ebenfalls für ihre Schadenfreude.

„Mit Feuer und dem Zorn des Himmels werden sie Lorana zum Himmelsdonner jagen... die armseligen Sterblichen.“

Karana schnappte nach Luft – plötzlich wusste er, wo er hin musste. Er wurde schneller, als er durch das Dorf hetzte, um zum Anwesen der Sagals zu kommen, während Niarihs apathische Worte noch durch seinen Kopf spukten. Er wusste nicht, warum seine Füße ihn nach dem ganzen Weg von Aduria hierher noch immer tragen konnten, warum sein Verstand überhaupt noch arbeitete bei dem Überfluss an Informationen, die es gegeben hatte... am liebsten wollte er sich irgendwo hinlegen und schlafen. Aber etwas in ihm trieb ihn dazu, weiter zu rennen, weiter zu denken... eine grauenhafte, innere Wut in ihm, ein Zorn auf die Geister, die es wagten, sich derartig über sie alle hinwegsetzen zu wollen...

Niarih kam ihm bereits entgegen, als er das Anwesen ihrer Eltern erreichte; wie immer musste sie vorher gewusst haben, dass er kommen würde. Der Hund rannte die junge Frau beinahe um und bellte sie fröhlich an, aber weder seinem Herren noch der Telepathin war nach Lachen zumute.

„Karana!“, keuchte sie, „Du bist zurück... ich habe dich gesehen in den Feuern von Aduria...“

„Du Elende!“, zischte er sie an, „Du... hast gewusst, sie würden angreifen, oder nicht?! Du hast es gesehen und du hast gewusst, was sein würde... sie werden her kommen, oder? Sieh mich an, Niarih, du verd-...“ Er wurde unterbrochen, als sie zurückwich und ihn mit einem kurzen Telekineseschlag zurückstieß.

„Reiß dich am Riemen, junger Mann, ich habe nichts von dem gewusst, was passiert!“, machte sie, „Jetzt wissen wir, dass sie kommen werden, die Leute aus Kamien... aber nicht genau, wann. Mein Großvater hat mit dem Dorfoberhaupt gesprochen, wir müssen die Gegend verlassen, wenn wir können... dein Vater ist ja schon nach Taiduhr, um mit dem Senat zu sprechen, mehr können wir im Moment nicht tun...“

„Wieso habt ihr das nicht vorher gewusst?“, brummte er verblüfft, „Ihr seid doch hier die Sagals, ihr habt überall Spione und Kontakte, warum wusste niemand rechtzeitig Bescheid von euch?“ Jetzt etwas ruhiger musterte er sie und sah, wie sie verwirrt die blauen Augen weitete und unsicher den Kopf wegdrehte. Sie wusste es wirklich nicht... er sah Menschen an, wenn sie logen. Und Niarih war insgesamt auch nie eine Lügnerin gewesen. Deswegen hasste sie es ja auch, ihren Vater nicht Vater nennen zu können...

Besagter Vater, offiziell Großvater, tauchte in diesem Moment hinter Karana auf und erschreckte den Jüngeren fast zu Tode, indem er plötzlich sprach.

„Vermutlich deswegen, weil die Geister gerade extrem launisch sind und Unheil über das Land bringen wollen... in Form von schwarzen Vögeln, die kamen und einer ganzen Reihe meiner Außenposten den Garaus gemacht haben, wie ich inzwischen weiß. Wenn die Geister mich tatsächlich verfluchen wollen, ist es ein verdammt mächtiger Fluch, den sie sprechen... der ganze Reihen meiner Verwandtschaft entweder getötet oder erblinden lassen hat.“

Die Botschaft schlug ein wie ein Blitz und Karana fuhr zu dem Mann herum, Niarih hinter sich schiebend, als wäre er ein Feind. Dasan Sagal musterte ihn mit seinem scharfen, misstrauischen Blick, der den jungen Mann normalerweise sehr beunruhigte – es fühlte sich immer an, als wüsste der Alte ganz genau, was er mit seiner Tochter trieb... und es wäre skandalös, würde das jemand erfahren. Er konnte es gar nicht wissen, tröstete Karana sich dann immer, sonst hätte er längst etwas unternommen gehabt. Auf seinen Stock gestützt und das hinkende Bein etwas abgespreizt verlagerte der Kopf des Sagal-Clans sein Gewicht murrend etwas zur Seite.

„Was?“, machte Karana, „Ganze Reihen von Leuten? W-wie denn das?“

„So, wie ich gesagt habe, es waren Vögel. Manche hatten Glück und ihnen wurden bloß die Augen ausgehackt. In den Grenzdörfern und überall dort, wo die Punkte waren, an denen wir früher etwas davon hätten erfahren können. Ich weiß noch nicht mit Sicherheit, wer es gewesen ist, aber ich werde ihn in die Finger bekommen und dann werde ich sein Schicksal besiegeln. Soll der arme Wicht nur glauben, nur weil ich alt und ein Krüppel mit nur einem funktionierenden Bein bin, sei ich leicht zu töten. Wenn sie kommen aus Kamien, schicke ich sie zum Himmelsdonner. Geh, Karana, um meine Enkelin kümmere ich mich schon selbst.“ Er ging an dem Schwarzmagier vorbei zu seiner heimlichen Tochter, um ihr über die blonden Haare zu streicheln. „Geh ins Haus, rasch. Wir wissen nicht, wann sie kommen, und wenn sie es tun, wird es ungemütlich werden, Niarih.“ Das Mädchen nickte und warf im Hineingehen einen letzten Blick auf Karana, der ihr seufzend nachblickte und sich zu einem Lächeln zwang. Er hatte sie gern... er wünschte, ihr Vater wäre jetzt nicht da und er könnte mit in ihr Zimmer kommen, um sie zu lieben. Er vermisste es... er hatte schon mehr als einen Tag lang bei keiner einzigen Frau gelegen, fiel ihm dazu ein, und er dachte flüchtig an das diebische Mädchen aus dem Lianerdorf, das er getroffen hatte – das Mädchen, das wie Saidah aussah und auch in etwa ein ähnliches Verlangen in ihm ausgelöst hatte. Ach, was dachte er da? Dafür war gar keine Zeit...

„Herr...“, sprach er dann langsam, als Dasan Sagal ebenfalls schon im Begriff war, zurück ins Anwesen zu gehen, und der alte Mann drehte den Kopf und schenkte Karana einen wissenden Blick. Der junge Mann wusste sehr gut, dass Sagal ein begabter Telepath war, er konnte vermutlich seine Gedanken lesen und wusste, was er fragen wollte, bevor er es selbst tat. Ihm waren Leute, die so viel wussten, irgendwie unheimlich... aber der Vorteil an ihnen war, dass sie einem Fragen beantworten konnten. „Herr, bei uns ist eine Frau aus Fann, zumindest behauptet sie das. Gibt es Blondinen in Fann? Das wusste ich gar nicht.“ Sagal seufzte und drehte sich ganz zu ihm herum.

„Du meinst die Seherin vom Stamm der Yalla, die dein Vater mitgebracht hat. Sie kommt tatsächlich aus Fann; gerade weil sie so untypisch für eine Fannerin aussieht, ist sie die Seherin. Es war eine seltsame Laune der Geister, ihr blonde Haare und quasi violette Augen zu verschaffen in ihrem Geburtsort. Aber seltsame Launen der Geister und eigentümliches Aussehen kennzeichnen... ja oft die Mächtigsten.“ Während er sprach, fixierte er den Jüngeren eingehend und Karana wusste tief in seinem Inneren, dass der Mann an seine spitzen Eckzähne dachte, die auch ziemlich eigentümlich waren.

„Ich bin etwas verwirrt wegen etwas, das sie gesagt hat... sie sprach von Sieben, die auserwählt seien, Khad-Arza vor dem Untergang zu retten. Und sie... meinte mich. Unter anderem, meine ich.“

„Als ich einmal in Fann war vor vielen Jahren, habe ich dort auch mit Leuten gesprochen, die etwas Ähnliches erwähnten. Sie sagten, es gäbe eine Legende, die die Geister von Himmel und Erde einst unter die Menschen brachten, in der von Sieben Geisterkindern die Rede war; es hieß, sie sollten kommen, wenn das Ende der Welt käme, und ihr Erscheinen würde das Schicksal des Dreiweltenbündnisses besiegeln. Wenn sie jetzt wieder davon sprechen... heißt das wohl, dass das Ende der Welt jetzt tatsächlich kommt.“

„Hat diese Legende zufällig auch gesagt, warum wir und wie wir das machen sollen?“

„Ist es wirklich das, was dich am meisten besorgt, Karana?“, war die dumpfe Antwort, „Der Wille der Geister ist oft unvorhersehbar und eigenartig. Du als Schwarzmagier und begabter Junge müsstest das... eigentlich wissen.“ Karana senkte bitter den Kopf und sagte eine Weile nichts; Sagal war schon dabei, sich abzuwenden, als der Jüngere es auch tat und sprach.

„Nein... am meisten wundert mich, dass ein Teil meines Geistes irgendwie schon immer gewusst hat, dass es einmal so kommen würde. Und es wurmt mich tierisch, dass mein ganzes Leben von Beginn an darauf ausgerichtet ist, dass ich vor den Geistern krieche und als ihr Söldner fungieren soll.“
 

Er war nervös; es lag nicht nur daran, dass er jetzt nicht zu Niarih konnte, obwohl er sich, als er auf dem Weg nach Hause abermals an sie dachte, wirklich wünschte, er könnte sie besuchen wie vor ein paar Tagen, wie er es hin und wieder tat, wenn ihre Eltern nicht daheim waren. Viel nervöser machten ihn die Gedanken an das unmittelbar vergangene und das, was ihnen bevorstand – wenn die Rüpel aus Kamien wirklich nach Lorana kamen? Wer wusste, wie viele Dörfer sie inzwischen schon platt gemacht hatten? Die Geister warnten ihn vor dem unguten Gefühl, das ihn überkam, als er seine Schritte wieder beschleunigte – er wäre beinahe in die Seherin aus Fann hinein gerannt, die plötzlich, als er gerade an seinem Elternhaus ankam, vor seiner Nase auftauchte; gerade noch konnte er bremsen und zischte sie an.

„Was stehst du mir im Weg, Frau?! Hast du als Seherin etwa nicht gewusst, dass ich komme?“ Ihre Antwort war nicht ganz das, was er erwartet hatte.

„Moment, dich kenne ich, dich habe ich schon mal gesehen. Ich weiß nur nicht, wo...“ Karana starrte sie einen Moment lang an.

„Moment – natürlich hast du das, du warst gerade in unserer Stube. Ich bin Karana Lyra!“

„Tatsächlich? Nein, doch nicht wirklich Lyra? Ich hab schon mal einen Lyra getroffen, aber das war in Vialla im Senat des Königs. Das warst du aber nicht...? Obwohl, du siehst ihm ähnlich.“

„Ja, das war mein Vater, den du da getroffen hast...“ Er zog die Stirn in Falten – was war denn mit der auf einmal? Er sah ihr skeptisch ins Gesicht. „Hast du das etwa wirklich vergessen?“

„Ach.“, machte sie amüsiert, „Das passiert oft, ich vergesse plötzlich einfach alles, was ich wichtiges im Kopf haben sollte! Nein, aber als ich sagte, ich hätte dich schon mal gesehen, dachte ich eigentlich an was anderes... ich hab mal von dir geträumt.“ Er seufzte und musterte sie, während sie plötzlich begann, grummelnd auf ihrer eigenen Sprache zu murmeln und offenbar nachzudenken. Für die Jahreszeit war sie wirklich erstaunlich wenig bekleidet – sie trug nicht mal Schuhe und das Bisschen, das sie trug, bedeckte nur gerade so das Nötigste ihres Körpers. Er beobachtete argwöhnisch, wie sie sich die blonden Locken raufte und ungehalten fluchte, bis sie ihm plötzlich wieder aus großen Augen ins Gesicht starrte.

„Ich weiß es!“, johlte sie dann, „Du bist der Führer der Schicksalskinder, da habe ich dich gesehen!“ Er musterte sie einen weiteren Moment, ehe er leise seufzte.

„Wenn du doch so gut sehen kannst – gehorchen dir die Geister? Haben sie dir gesagt, ob die Leute aus Kamien kommen?“ Auf ihr hübsches Gesicht schlich sich ein diabolisches Lächeln, als er an ihr herunter blickte und schließlich wieder ihre Augen fixierte. Mit einem Mal war ihre Vergesslichkeit dahin – er sah an ihren Augen, wie sie sich Schlag auf Schlag veränderte.

„Wenn Lorana brennt, wirst du es sein, der kriecht, Karana Lyra... wenn die Geier des Todes aus dem Schatten kommen und dir die Augen aus picken.“

Er starrte ihr nach, als sie an ihm vorbei schritt und ins Dorf marschierte, und mit einem Keuchen folgte Karana ihr letztlich und holte sie am westlichen Rand des Dorfes ein, wo sie hinter den Häusern des Tischlers und des Bäckers abgeschottet von der Dorfstraße waren. Der Hund war ins Haus gerannt und seinem Herrchen nicht weiter gefolgt.

„Warte!“, zischte er und packte ihren nackten Oberarm, ehe er sie gegen den hölzernen, hohen Zaun stieß und verhinderte, dass sie weglief, „Was redest du, Weib?!“ Ihr Blick bohrte sich bis in die Tiefen seiner Seele, so fühlte es sich an, und das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter.

„So ärgerlich...? Zügele deinen Zorn, Karana... nicht ich bin es, die dich wirklich wütend macht.“ Während sie sprach, strich sie mit der freien Hand wie zufällig über seine Brust hinab und gelangte zu seinem Gürtel, worauf er die Brauen hoch zog und herunter blickte. Die Geste war eindeutig; er fragte sich noch einen kurzen Moment, ob das eine Falle wäre, aber dann siegte das erwachende Verlangen nach der Frau vor ihm und er beugte sich herab, um ihren Hals zu küssen.

„Wütend machtest du mich, wenn du jetzt weglaufen würdest.“, sagte er dann, während er die Hand hob und nach dem dünnen, seidigen Stoff angelte, der ihre üppigen Brüste bedeckte.

„Oh nein, nicht doch...“, murmelte sie mit ihrem wissenden Lächeln, „Ich würde nicht wagen, den Prinzen der Geister zu entehren...“

Die Stimme, mit der sie sprach, erregte ihn. In dem Moment, in dem ihre Hände geschickt seine Hose öffneten und er sie mit einem Knurren wie dem eines wilden Tieres fester gegen den Zaun stieß, um sie ein Stück hinauf zu schieben, war er froh darum, dass Niarih keine Zeit hatte. Er war nervös... die innere Unruhe, die die Geister ihm bescherten, machte ihn ungeduldig, er hätte jetzt nicht die Ruhe, sich für Niarih viel Mühe zu geben – und sie verdiente viel Mühe. Zumindest würde er nicht wagen, sie an einem Zaun hoch zu schieben und sie im Stehen zu nehmen. Die blonde Frau schlang mit einem leise Seufzen die Beine um seinen Rumpf, als er sie unruhig gegen die hölzerne Wand presste und ihr dann mit seinen Lippen den Mund verschloss, um ihr Stöhnen zu dämpfen, als er ihr gab, was sie verlangt hatte.

Er hatte keinerlei Bindung zu der Frau; eigentlich hatte er zu keiner Frau Bindung, mit der er schlief, Niarih war eine Ausnahme. Aber auch Niarih Sagal war nicht Saidah... die Seherin aus Fann war es ebenfalls nicht, stellte er enttäuscht fest, nachdem er an ihr seinen Druck erleichtert hatte und sie keuchend wieder am Zaun entlang zu Boden rutschte, während er sich aus ihr zurückzog und seine Hose wieder zuknöpfte. Es war Ablenkung vom Wesentlichen; das war Sex eigentlich immer. Er zwang sich, jetzt nicht an Saidah zu denken, während er den Kopf mürrisch nach Süden drehte.

„Was glaubst du, Seherin?“, fragte er sie, „Wann kommen sie her?“ Er drehte das Gesicht wieder zu ihr und beobachtete sie, wie sie ihre spärliche Bekleidung zurecht rückte.

„Warum fragst du mich? Du bist doch hier der, der mit de Geistern spricht, Sohn des Ratsvorstehers.“ Er zischte grantig.

„Verarsche mich nicht, Ryanne von den Yalla. Ich kann unausstehlich werden, wenn ich wütend werde.“ Sie grinste.

„Vermutlich... lass mich sehen, Karana...“ Dabei trat sie einen Schritt auf ihn zu und er reckte skeptisch den Kopf hoch, als ihre Finger nach seinen Lippen fassten. Sie schoben sie auseinander und fassten nach seinen spitzen Eckzähnen. Sofort fuhr er zurück und schob sie schnaubend zurück.

„Was wird das denn?“

„Ich habe von dir geträumt, als ich noch in Fann war.“, gestand sie ihm mit einem dämonischen Lächeln, während sie die Hand wieder sinken ließ, „Von dir und deinen schicksalhaften Eckzähnen. Die Zähne des Dämons... fürchtest du dich vor dem, was dir bevorsteht?“

„Nein.“, gab er schroff zu hören, „Ich fürchte nur den Zorn der Himmelsgeister und dass sie beschließen, mir meine Gaben zu nehmen.“

„Du fürchtest dich nicht davor, dass deinem Heimatdorf oder deiner Familie etwas zustößt?“

„Nicht, solange die Geister mich nicht im Stich lassen. Und das werden sie nicht wagen.“ Auf sein Gesicht stahl sich ein triumphierendes Lächeln, als er ihr Grinsen verschwinden sah. Er mochte die Reaktionen der Leute, wenn er so redete – sie waren so unterschiedlich. Die Seherin runzelte einen kurzen Moment die Stirn, ehe sie einen Schritt rückwärts tat.

„Vorsicht.“, murmelte sie, „Hüte deine Zunge, die Geister hören jedes Wort, das wir sprechen... erzürne sie besser nicht mit deiner Arroganz.“ Karana lehnte grinsend den Kopf zurück und vergrub dabei die Hände in den Taschen seiner Stoffhose.

„Soll ich dir was verraten, Seherin? Die Geister haben mich doch auserwählt, sagst du... bin ich dann etwa nichts Besonderes? Ich sage dir, die Geister... beneiden uns um unsere Gaben, und deswegen haben sie uns ausgewählt. Ist es nicht so? Macht mich das nicht zu ihrem Herrn?“ Ryanne der Yalla senkte das Gesicht, um seinem Blick auszuweichen, ehe sie abermals lächelte.

„Aber auch ein Herrscher braucht die Loyalität seiner Generäle.“
 

Der Himmel grollte böse über dem Land. Die untergehende Sonne tauchte Thalurien in ein gefährliches, krankes Licht, als die Familie Lyra ihre Sachen für die Reise nach Yiara soweit gepackt hatte. Es gab nicht viel Gepäck; Leyya hatte ein paar Proviantpäckchen vorbereitet und die Wasserschläuche mit Wasser gefüllt. Jetzt flickte sie alte Wolldecken, die unterwegs zum Schutz vor der zunehmenden Kälte in der Nacht dienen sollten. Der weg hinauf in die Nordprovinz Dokahsan war weit, sie würden mehrere Tage wenn nicht Wochen dorthin brauchen zu Fuß. Simu fragte sich, während er in der Küche saß und Karanas Hund am Kopf kraulte, ob die Seherin sie nicht hinauf teleportieren könnte, wenn sie tatsächlich mitkam. Das würde jedenfalls Zeit sparen. Der Hund bellte, als der Blonde sich seufzend auf dem Stuhl zurücklehnte. Hinter ihm spülte Neisa Geschirr vom Mittagessen, während sie darüber murrte, wo Karana wohl geblieben war. Tayson versuchte, ihr zur Hand zu gehen, wurde aber immer wieder energisch von ihr abgewiesen. Simu gegenüber am Tisch saß das Lianermädchen und machte ein bedrücktes Gesicht, dabei zum Fenster starrend.

„Hey, Eneela.“, sprach er sie leise an und sie fuhr richtig zusammen, als hätte er sie geschlagen, ehe sie ihn erbleichend ansah.

„J-ja?“

„Ist alles in Ordnung?“ Sie nickte betrübt und verneigte sich im Sitzen ehrfürchtig vor ihm.

„V-vergebt mir, Herr, i-ich war in Gedanken.“

„Hör doch endlich damit auf, mich im Plural anzusprechen.“, stöhnte er genervt, „Ich wollte dich fragen, ob du schon weißt, wohin du jetzt gehst. Wir werden Lorana heute Nacht verlassen, hier ist es zu gefährlich. Tayson kommt vermutlich mit, offenbar ist es ihm egal, was aus seinem Dorf wird...“ Er warf dabei einen skeptischen Blick auf Karanas Kumpel, der versuchte, sich der armen Neisa anzunähern. Tayson war an sich kein schlechter Mensch, das wusste der Blonde – er war nur fürchterlich simpel. Vermutlich kam ihm gar nicht in den Kopf, dass seine Mutter sterben könnte, er war einfach nicht fähig, Dinge richtig ernst zu nehmen, hatte Simu oft das Gefühl. Er kannte Tayson schon viele Jahre, sie hatten sich in der Schule als Jungen kennengelernt. Und irgendwie war seitdem weder sein Intelligenzquotient noch sein Verantwortungsbewusstsein größer geworden.

Eneela antwortete und riss ihn damit zurück in die Realität.

„Ich weiß es nicht genau, ehrlich gesagt... sagtet Ihr nicht, im Osten des Landes gäbe es mehr Lianer? Vielleicht finde ich dort meinen Vater...“

„Vielleicht kannst du die Seherin fragen, sie weiß sicher was über ihn!“, riet Tayson ihr unverhofft und sie blickte ihn konfus an.

„Glaubt Ihr?“, wisperte sie, „Ich meine, sie kennt meinen Vater doch nicht mal...“

„Sie kann dir sicher was dazu sagen, sie ist eine Seherin.“, orakelte Neisa beim Geschirr spülen, worauf die beiden Männer sich ansahen und dann zu der Lianerin blickten. Da war etwas dran, stellte Simu erstaunt fest. „Natürlich nur, wenn sie nicht gerade ihr Gedächtnis verloren hat.“, addierte seine Schwester da schon und Eneela seufzte deprimiert.

„Aber... a-aber mein Vater ist auch gerade mein kleinstes Problem, ich... mir tun diese Leute aus dem Dorf so leid... sie mussten sterben, weil... weil... wieso überhaupt?! Wie können Menschen so etwas Grausames tun?!“

„Das sind keine Menschen, das sind Rammler aus Kamien.“, schnaubte Tayson und Neisa addierte ein pikiertes Zischen. Die Lianerin senkte bedrückt den Kopf.

„Und... und, was ist, wenn die Frau aus Fann recht hatte? Wenn wir wirklich... zu etwas auserwählt sind?“

„Das kann jeder erzählen.“, schnaubte Tayson, „Die Drogen will ich auch, die die nimmt.“ Simu fuhr zu ihm herum und brummte.

„War ja klar, dass du dich aufregst. Kannst du, verdammt, nicht einmal ernst sein?“

„Dann sag mir, wieso ihr alle und nicht ich!“, empörte der Schwarzhaarige sich, „Gerade du, Simu! Karana und Neisa sind Zauberer und die da kann beschwören! Aber du bist genauso ein verdammter, langweiliger Nichtmagier wie ich! Was hat er, was ich nicht habe, Neisa?“ Neisa sah ihn blöd an.

„Ein Gehirn?“

Simu ignorierte das folgende Gespräch, während er wieder auf Eneela sah und dabei an anderes dachte. Ja, er war nur ein Mensch... dachte er jedenfalls. Er hatte seine Eltern oft mit Ahnungen überrascht, die sich später als korrekt erwiesen hatten, er schien seit seiner Kindheit eine Art sechsten Sinn zu besitzen, wie ihn die Schamanen ebenfalls hatten. Aber dass er ein Schamane oder auch nur ein halber war, hatte Leyya Lyra längst ausgeschlossen; sie als Heilerin war fähig, seine Gene zu identifizieren, oder sie wäre es, wäre er ein Magier. Aber da sie nichts gefunden hatte, konnte er keiner sein. Zaubern konnte er auch nicht und hatte es auch nie probiert... aber Tayson hatte recht, warum gehörte er dann zu einer so komischen Truppe, die auserwählt war, um die Welt zu retten? Vielleicht gerade, weil er kein Magier war...

„Komm doch mit uns, Eneela.“, hörte er da seine Schwester sagen und hob den Kopf wieder, worauf auch die Lianerin hoch schreckte.

„W-was?“, fiepte sie panisch. Neisa zog die Brauen hoch.

„Du solltest mit uns nach Yiara kommen. Meine Tante hat ein großes Haus, da kannst du auch schlafen. Wenn das Schicksal uns zusammengeführt hat, wäre es vielleicht dumm, die Geister zu erzürnen, indem wir uns trennen... natürlich nur, wenn du magst.“ Eneela errötete und neigte hastig den Kopf.

„I-ich danke Euch, Herrin... ich weiß gar nicht, wie ich Euch für alles danken soll... ohne Euch wäre ich verloren...“ Ehe sie wieder damit beginnen konnte, sich unterwürfig zu bedanken und für ihre Ohnmacht zu entschuldigen, spürte Simu seinen seltsamen sechsten Sinn plötzlich Alarm schlagen. Er konnte das Gefühl nicht genau beschrieben, er wusste nur, dass etwas Schlechtes kam – einen Moment später ertönte draußen ein lautes Donnern und aus dem Dorf erklangen laute Schreie der Panik.

„Die Bauern aus Kamien!“, schrie jemand, „Sie greifen Lorana an! Schlagt Alarm!“

Neisa schrie und Simu sprang sofort vom Stuhl auf in dem Moment, in dem auch seine Mutter mit dem Gepäck in den Flur eilte.

„Um Himmels Willen!“, keuchte sie, „Sie sind schon hier?! Und wo ist Karana?!“

„Und die Frau aus Fann?“, stöhnte Tayson, dann wurde er von Neisa am Arm gepackt und aus der Küche gestoßen.

„Raus aus dem Haus!“, schrie sie aufgebracht, „Sofort raus hier, Mutti auch! Wir müssen hier raus! Verdammt, bewegt euch doch! Wo ist Karana, Himmel noch mal?!“ Simu keuchte, während er geistesgegenwärtig Eneela am Arm packte und sie gemeinsam aus dem Haus der Lyras stolperten, hinaus auf die Straße. Aar bellte alarmiert und um sie herum ertönten Schreie von Dorfbewohnern, in dem Moment, in dem Simu die Welt zum zweiten Mal brennen sah. Als er den Kopf nach Süden wandte, stand das Dorf in Flammen – und hinter dem Feuer erklang das Getöse der heran nahenden Reiter aus Kamien, die kamen, um ihnen allen den Schatten zu bringen.
 


 


 


 

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haha. Inhaltloses Baka-Kapitel xD

Herr der Schattenvögel

Das Lianerdorf stand in Flammen. Zoras hatte keine Angst vor dem Feuer, das er zum größten Teil selbst verschuldet hatte mit dem Blitz, den er auf das Dorf geschleudert hatte, als die Krieger – oder Bauerntrampel – zum Angriff geblasen hatten. Die Flammen waren sie Töchter von Vater Himmel, der sie mit seinem Blitzspeer gezeugt hatte, und Mutter Erde, von der sie sich ernährten. Er konnte das Feuer zügeln und verschwinden lassen, wenn er wollte... es gab keinen Grund, sich zu fürchten. Aber dennoch jagte ihm der Anblick des besiegten Dorfes einen Schauer über den Rücken und versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, als er durch die Trümmer eilte auf der Suche nach Arlon Zinca. Er stolperte über am Boden liegende Trümmer und Leichen, größten Teils Lianer, aber auch von den Männern aus Kamien waren welche getötet worden von den wenigen Beschwörern, die geistesgegenwärtig genug gewesen waren, um sich zu wehren. Der junge Mann fuhr sich erzürnt durch die schwarzen Haare und strich sie sich aus dem Gesicht, während er an einem weiteren Trümmerhaufen vorbei stampfte und dem notgeilen Rammler davor keinerlei Beachtung schenkte, der dabei war, irgendeine am Leben gebliebene Lianerfrau zu vergewaltigen. Das konnten sie gut in Kamien. Frauen schänden und Gewalt anwenden, wo es nur ging. Die ganze Bagage widerte ihn derartig an in dem Moment, dass er das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Der Geruch von Blut und verbranntem Fleisch lag in der Luft, in seinen Ohren rauschte noch das Blut des vorangegangenen Kampfes, das sich jetzt mit dem verzweifelten Schreien der armen Frauen und dem lüsternen Stöhnen der siegreichen Kerle mischte. Seine Glieder schmerzten noch vom Lenken der mächtigen Geister von Himmel und Erde und behinderten ihn dadurch leicht am Gehen. Er hasste es... aber die großen Mächte hatten auch ihren Preis. Wenn er viel gezaubert hatte, fing sein Körper irgendwann an zu streiken – das war normal, das hatten alle Schamanen. Und wessen Körper nicht stark genug war, dem mächtigen Druck der Geisterwinde standzuhalten, wurde von der Macht zerschmettert, sobald er versuchte, sie zu rufen.

Den nächsten Mann, dem er begegnete, packte Zoras am Kragen und zerrte ihn wutentbrannt an sich heran und etwas hinab, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein.

„Wo ist Arlon Zinca aus Holia?!“, fauchte er ungehalten, „Sprich, du elender Mehlwurm, oder ich zerreiße dich im Namen der Geister in tausend Fetzen!“ Der Bauer schnappte fassungslos nach Luft und zeigte panisch nach rechts.

„D-der Häuptling von Holia ist irgendwo in dieser Richtung, ich habe ihn gesehen mit seinem Sohn! Himmel noch mal, brate mich nicht, Zauberer!“ Zoras stieß den Kerl von sich und zischte angewidert.

„Keine Sorge, ich esse kein Gammelfleisch.“ Mit diesen Worten beeilte er sich, in die besagte Richtung zu kommen – er fand Arlon tatsächlich samt Loron knapp außerhalb des zerstörten Dorfes. Seine Mutter war bei ihnen und offenbar unversehrt, wie sie vor einem Trümmerhaufen am Erdboden kniete und verbittert zur Seite starrte und Loron hinter ihr hockte und ihre schwarzen Haare streichelte.

„Aah, da ist ja unser Kampfzwerg.“, grinste er dann und hob den Kopf, und Pakuna keuchte, während ihr Sohn sich wutentbrannt vor Arlon aufbaute.

„Gebt mir meine Mutter.“, verlangte er, „Ich habe getan, was ich für euch tun sollte, jetzt ist sie frei! Das Lianerdorf ist Geschichte, Arlon, wir hatten eine Abmachung.“

„Nein, halt, nicht so hastig.“, antwortete Arlon barsch und der Jüngere starrte ihn an, „Ich habe nicht gesagt, dass du nur das Lianerdorf zermalmen sollst. Schalte das Netzwerk aus, sagte ich. Und der Kopf des Netzwerkes lebt noch, nämlich in Lorana. Das bedeutet, wenn wir Lorana als nächstes kalt machen, sind die Sagals Geschichte und wir können uns... etwas mehr Zeit lassen. Vor allem mit den Frauen.“ Er grinste schäbig und Zoras hörte Loron hinter sich schon erregt grunzen, entweder weil er Pakuna befummelte oder ob der Vorstellung, sich mit den gefangenen Frauen genügend Zeit lassen zu können. Angewidert verzog der Schamane das Gesicht und verfinsterte bitter seinen Blick.

„Das ist abartig, Arlon. Ich sehe nicht ein, dir bei deinen Machenschaften zu helfen, verdammt! Sucht euch einen anderen Magier, der euch die Füße küsst!“ Er wusste, dass er umsonst sprach, als er Loron hinter sich kichern hörte – sobald Zoras sich herum drehte, sah er, wie sein verhasster Mitbewohner seiner Mutter ein Messer an die Kehle drückte, sie dabei am Haaransatz zurück reißend und gegen sich pressend, sodass sie japste. „Verdammt, Loron!“, keuchte der Schwarzhaarige auch, „Lass sie auf der Stelle in Frieden oder ich zerschneide dich in tausend Stücke und verfüttere dich an die Schweine!“ Mit diesem Brüllen riss er bereits drohend die Arme hoch, obwohl er genau wusste, dass es nichts brachte... Loron wusste genau, dass er ihn nicht angreifen würde, solange er Pakuna bei sich hatte. Abgesehen davon war Zoras jetzt nicht in der Lage, viel zu zaubern, nachdem er mit der Macht der Vogelgeister ein ganzes Dutzend oder mehr der Sagals ausgeschaltet und mit einem Blitz ein Dorf zerschmettert hatte.

Er hasste diese Leute. Er hasste die Leute und die Gegend, in der er aufgewachsen war. Durch die Bahn weg war er nur schlechten Menschen begegnet in Senjo. Ob es die Männer in seinem Geburtsort Chayneh waren, die Räuber aus dem Wald, die ihn und seine Eltern mondelang gefangen gehalten hatten, oder die Männer aus Holia... Zoras hatte gelernt, dass die Menschen von Natur aus schlecht sein mussten. Eines Tages würde er die Macht besitzen, die alle zu vernichten, und es wäre richtig so.

Er spürte, dass Arlon hinter ihn trat, während er bebend vor Wut Loron und seine Mutter anstarrte. Er fühlte den warmen Atem des abartigen Häuptlings neben seinem Kopf und hörte seine raue Stimme zischen:

„Du solltest dir das gut überlegen, Zoras Derran... ihr wart es, die zu uns gekommen sind, wir waren so gütig, euch eine Bleibe zu gewähren in Holia... dafür solltest du dankbar sein! Dein Schussel von Vater hat es begriffen... nur du nicht.“ Der Magier knurrte wütend.

„Das war nicht mein Wille, glaub mir.“

„Wenn du uns jetzt angreifst, stirbt Pakuna mit uns... das willst du doch nicht?“, feixte Arlon gehässig, „Es wäre ja ein Jammer um die schöne Frau... liegst du eigentlich auch bei ihr, wenn dein Vater mal nicht will? Oder wieso hängst du so an ihr in deinem Alter?“ Er weitete die Augen in blankem Entsetzen und sah, wie Pakuna vor ihm nach Luft schnappte, während Loron sie immer noch festhielt. Arlon grinste gehässig und trat neben Zoras, um ihn anzusehen. „Was denn, das entsetzt dich wohl? Aber da sie offenbar die einzige Frau ist, die dich interessiert, müssen doch solche Gerüchte entstehen... wie die, dass du auf Männer stehst, gibt es auch die, dass du deine Mutter fickst, wenn gerade keiner hinsieht...“ Ein Schlag ins Gesicht ließ Arlon schreien und dann zu Boden stürzen, und Zoras zog keuchend vor Wut seine Faust zurück. Loron knurrte.

„Alter! Reg dich ab, oder ich überlege mir etwas Tolles für Pakuna...“

„Töte ihn, Zoras!“, japste Pakuna, und Zoras fluchte ungehalten, ehe er Arlon am Kragen seiner Felljacke wieder hoch zerrte.

„Das sind Lügen, du Unhold!“, knurrte er finster, „Was willst du von mir, damit ich meine Mutter zurück bekomme?!“

„Das habe ich dir gesagt.“, zischte der Ältere und rieb sich die blutende Nase, die sicher gebrochen war, „Wir ziehen nach Lorana! Vernichte das Netzwerk, du wirst zu Ende bringen, was wir begonnen haben. Wenn das Land unser ist und wir genügend zu Essen haben – und genug Frauen – kannst du Pakuna wieder haben. Dabei fällt mir ein...“ Arlon grinste dreckig und Zoras zischte, während er ihn losließ und sich angewidert die Hände an der schwarzen Hose abklopfte. „Wohnte nicht euer Schulfreund Prinz Lyra in Lorana?“ Loron lachte schon los, ehe Zoras antworten konnte.

„Ja, stimmt! Von wegen Freund, Alter. Wenn wir ohnehin nach Lorana gehen, gehört dem Schönling mal so derbe die Fresse poliert, dass keine Frau mehr freiwillig für ihn die Beine breit macht...“ Der Schwarzhaarige sparte sich einen Kommentar. Natürlich war das der wichtigste Punkt bei der ganzen Aktion, Karana Lyras Arroganz und Überheblichkeit waren da natürlich weniger wichtig, geschweige denn die Tatsache, dass der Sohn des Senators sich selbst offenbar für den König der Welt hielt – ähnlich wie Loron, nur war Karana in seiner Rolle weitaus überzeugender und allen ernstes auch beliebter. Zoras hatte ihn und seine Anhänger schon in der Schulzeit nicht leiden können... das war wohl der einzige Punkt, in dem er mit Loron einer Meinung war.

Murrend kehrte er Arlon den Rücken und fixierte dessen Sohn mit einem scharfen Blick.

„Gut, in Lorana spiele ich für euch den Hampelmann. Danach bekomme ich meine Mutter wieder! Und wehe, ihr tut ihr ein Leid an, Loron... ich warne dich nur ein einziges Mal.“ Er sah seiner bleichen Mutter ins Gesicht, dann erregte Lorons Kichern seine Aufmerksamkeit, als er sich schon abwandte, um zu gehen.

„Oh ja, und in Lorana wohnt auch Karanas Schwester. Mann, die wollte ich schon seit Jahre mal ordentlich durchnehmen... darauf freue ich mich schon.“ Der Magier ballte grimmig die Fäuste, ehe er sich zur Ruhe zwang und den Widerlingen und Pakuna den Rücken kehrte.

„Du bist abscheulich, Loron. Ich wünsche dir, dass dir eines Tages der Blitz in die Eier schlägt und sie dir abschneidet!“, sagte er grimmig, „Und wenn du Neisa Lyra tatsächlich nimmst, werden die Geister dir nicht nur zürnen, sondern dich auf ewig verfluchen... du weißt, wer sie ist. Ich an deiner Stelle würde mich vor ihr fürchten.“
 

Sie würden am Morgen aufbrechen – jetzt, wo die Nacht hereingebrochen war, waren die Männer erstens zu trunken von ihrem Triumph und zweitens zu beschäftigt damit, sich über ihre ergatterte, weibliche Beute herzumachen, um sich weiterhin Mühe zu geben. Zoras hasste es, sich lange mit diesen Rüpeln aufhalten zu müssen... jetzt noch in dem zerstörten Lianerdorf eine Nacht zu verbringen war makaber. Zum Glück hatten sie nicht viel Zeit zum Rasten... wenn er nicht nur sinnlos herum saß oder lag, konnte er sich besser ablenken von dem Grauen, das hier passierte... an dem er mit Schuld war.

Er hatte kein schlechtes Gewissen, wenn er tötete; er hatte es schon öfter getan, bereits als kleiner Junge, und es war recht so. Das einzige, was ihm sauer aufstieß, war der Grund, aus dem er es tat... und für wen er es tat. Eines Tages würde er Kamien zerschmettern, schwor er sich verbiestert, als er rastlos durch die verbrannten Grasländer nahe der Ruinen streifte. Die verkohlten Grashalme färbten seine Unterschenkel grau und die Asche verdreckte seine mühsam von Pakuna angefertigten Schuhe. Er brauchte eine neue Hose... die, die er trug, trug er seit Jahren schon, und obgleich er für einen Mann viel zu klein war, war er zu groß für die Hose, sodass er sie am unteren Saum hatte aufreißen müssen und sie ihm nun so gerade über die Knie reichte. An Lorons dämlichen Spitznamen Kurzhöschen, der daher rührte, hatte er sich schon gewöhnt... besser das als dass man verbreitete, er hätte was mit Männern oder seiner Mutter.

Angewidert dachte er flüchtig an die Nacht seines Blutrituals, in der er zum Mann geworden war; das erste und letzte Mal, dass er jemals bei einer Frau gelegen hatte, und das auch nur, weil er gemusst hatte. Er hatte generell kein Problem mit Frauen... aber mit dieser einen hatte er sich nie vereinen wollen. Ein weiterer Punkt in seinem Leben, den er seinem Vater niemals vergeben würde, der das zugelassen hatte. Die Rituale der Geister mussten geehrt werden... wie jedes Mädchen bei ihrer ersten Blutung zur Frau gemacht werden musste durch einen erfahreneren, möglichst mächtigen Mann, so machten auch die Jungen ihre ersten Erfahrungen im Bett mit Frauen, die älter als sie waren, die ihnen zeigten, wie man es richtig machte. Normalerweise... mit Pech artete es auch nur in einer Orgie zweier sturzbetrunkener, apathischer Leute aus.

Er wollte nicht weiter über die Rituale oder Vereinigungen nachdenken – von letzten bekam er so schon genügend mit, wenn er sich so das Stöhnen der Rammler im Dorf anhörte. Seufzend blieb er abseits der Kriegerhorde bei einem üppig gewachsenen, knorrigen Baum stehen, ehe er sich schließlich zwischen die Wurzeln kauerte und sich mürrisch gegen den Stamm lehnte. Es war dunkel geworden... oben sah er den grünen Mond Ghia, der hell strahlte. Er war ungewöhnlich groß in jener Nacht, Zoras fragte sich verwirrt, was das heißen mochte... ein Rascheln neben ihm riss seine Aufmerksamkeit zurück auf die Erde.

„Das Ende der Welt wird kommen mit dem Schatten aus dem Osten.“, sprach der Vogelgeist, als der Mann die Krähe wieder erblickte, die neben ihm auf einer hoch ragenden Wurzel gelandet war. Er stöhnte kraftlos.

„Du schon wieder.“

„In der Tat. Du schuldest uns deinen Preis, Zoras Derran.“

„Muss ich jetzt sterben?“, brummte der junge Mann und fuhr sich abermals durch die schwarzen Haare. Der Vogel antwortete nicht.

„Wenn du stirbst, wird dein Geist einer von uns. Aber du hast noch Aufgaben zu erfüllen in dieser Welt, ehe du das wirst... Seelenfänger.“

„Wieso nervst du dann jetzt schon, dass du meine Seele willst? Ich will schlafen, verdammt. Ich bin vollkommen erschossen nach diesem Tag... und morgen wird schlimmer.“ Er dachte flüchtig daran, dass er mehr als nur Herumzaubern vor sich hatte, wenn er beabsichtigte, den Kopf der Sagals in Thalurien zu töten. Von der Erscheinung her mochte Dasan Sagal nicht den Eindruck erwecken, als wäre er ein mächtiger Magier – wer fürchtete schon einen alten Mann, der am Stock gehen musste, weil sein seines Bein kaputt war? - Aber Kopf seines Clans war er wohl nicht unverdient. Und die Sagals waren ein Telepathenclan... sie konnten hellsehen, das hieß, er musste schneller sein als der Alte, wenn er etwas erreichen wollte. Er suchte in seinem Inneren das Gefühl der Vorfreude, das Verlangen nach dem Triumph über einen derartig mächtigen, bedeutsamen Mann... er fand es nirgends. Er fand nur ein schwarzes Loch der Erschöpfung, in das er sich fallen lassen wollte... als Zoras wieder nach links sah, war der Vogel verschwunden. Stöhnend lehnte er sich wieder zurück und schloss unruhig die Augen, um etwas Schlaf zu finden.

Die Geister ließen ihm keine Ruhe. Er hörte den Himmel über sich finster grollen, während die Windgeister in seinem Kopf wisperten und von Unheil sprachen. Vor Zoras' Augen brannte die Welt. Er spürte das Beben der Erde, als würde sie wirklich erzittern, und schließlich brach sie unter ihm auf und versuchte, ihn in ihrer gähnenden Schwärze zu verschlingen. Über ihm stürzte der Himmel auf die Erde herab, während er fiel, und er wollte schreien – aber kein Ton kam aus seiner Kehle, stattdessen war es das Krächzen einer Krähe.

„Mit Feuer und Schatten... wird das Bündnis der Drei Welten zerbrechen... und dann kommt das Ende der Welt.“ Noch während er sprach, ergoss sich plötzlich ein gleißendes, brennendes Licht über der Vision und Zoras fuhr aus dem Schlaf hoch, als die Geister in seinem Kopf in schallendes Gelächter ausbrachen.

„Fürchtest du dich... vor dem, was kommt, Zoras, Herr der Schattenvögel?“, raunten sie amüsiert, „Ja, fürchte dich... vor deiner Bestimmung, die dir schon lange vor deiner Geburt auferlegt wurde. In den Schatten wirst du fallen, Zoras...“

„Verdammt, verschwindet!“, zischte der Mann und sprang grimmig auf die Beine, um die kichernden Stimmen aus seinem Kopf zu vertreiben. Als es still wurde, grollte der Himmel erneut und Zoras seufzte, während er sich wieder hinsetzte und gegen den Baum lehnte.

Ging die Welt eigentlich tatsächlich unter? Er träumte so oft davon... so oft sah er die Flammen, die gefolgt von Schatten kamen und die Welt verschlangen. Und was war jetzt die Bestimmung, von der die Geister sprachen? Sicher hatte es etwas mit den Vögeln zu tun, denen er befehlen konnte... er hoffte nur, dass es etwas war, das ihm die Macht gab, das Ungeziefer auf der Welt zu vernichten, das nur Unheil brachte... und das dafür sorgte, dass er seine Mutter beschützen konnte, wenn sein Vater in diesem Punkt schon versagte. Und der erste, den er mit dieser Macht töten würde, war Arlon Zinca; der es wagte, seine Mutter wieder und wieder zu beschmutzen mit seiner abartigen Abscheulichkeit.
 

Der Morgen graute und überzog den Himmel mit einem matten, finsteren Grün, als die selbsternannte Armee von Kamien – Zoras zog es vor, es Haufen von randalierenden Wilden zu nennen – sich aufmachte, um durch Thalurien nach Norden zu stapfen und am Abend Lorana zu erreichen. Lorana, das Heimatdorf von Dasan Sagal – und das Heimatdorf der Lyras.

Zoras war nie dort gewesen; die Schule, die er gemeinsam mit Loron und auch den Lyrakindern besucht hatte, war im Dorf Mitonha; es lag dichter an der Grenze zu Senjo als Lorana. Mitonha würde sicher als nächstes dran glauben müssen, grübelte der Schamane angestrengt, während sie marschierten und er die Umgebung an sich vorbeiziehen ließ. Das Pferd, auf dem er ritt, trug ihn gehorsam den anderen Reitern nach. Neben sich erblickte er ein weiteres Reittier, auf dem zwei gefesselte Lianerinnen saßen, die man wohl erbeutet hatte; da einige Männer gefallen waren beim Dorf, waren diverse Pferde reiterlos und konnten somit die Beute tragen.

„Wenn wir nach Lorana kommen, sorgst du besser schnell dafür, dass wir keinen Widerstand bekommen, Kurzhöschen.“ Der Schwarzhaarige drehte sich grimmig nach links, als er Lorons Stimme hörte. Der hässliche Sohn des Dorfoberhauptes grinste ihn mit seinem schiefen Gebiss herrisch an – hinter ihn auf das Pferd gebunden saß eine weitere Lianerin, die das Gesicht bebend abgewandt hatte und vor Zorn zu kochen schien.

„Was willst du schon wieder, Loron?“, brummte der Schamane argwöhnisch, als Loron weiterhin grinste.

„Na, dass du irgendwelche bösen Geister auf das Dorf hetzt – wir sind hier in Thalurien. In Kamien gibt es so gut wie gar keine Zauberer, aber hier gibt es viele davon, in Lorana wohnen diverse Schamanen, oder nicht? Und es wäre sehr schade um die hübsche Pakuna, wenn unsere Invasion...“ Zoras war verblüfft, dass Loron so ein Wort überhaupt kannte, „Schief laufen würde, weil uns Sagal oder gar die Oberbonzen namens Lyra in den Weg kommen...“ Zoras zischte.

„Willst du mir drohen?“

„Vielleicht... weil es Spaß macht, deine Gesichtszüge entgleisen zu sehen, haha.“ Der Ältere lehnte sich grinsend zurück gegen die Lianerin, die darauf nach Luft schnappte. Zoras schwieg einen Moment, ehe er wieder nach vorne sah, sein Pferd vorantrieb und dabei wie zufällig den Griff seines einen Dolches am Gürtel streifte, Loron keines Blickes würdigend.

„Ja, Loron, präge dir meine Gesichtszüge gut ein. Eines Tages werden sie das Letzte sein, das du auf dieser Welt sehen wirst.“
 

Als das Dorf Lorana in Sicht kam, dämmerte es längst wieder. Sie hatten den kleinen Fluss überquert und auf ihrem Weg nach Norden jeden einzelnen niedergestreckt, der ihnen begegnet war. Der Zaun von Lorana war aus Holz, wie es bei den meisten Dörfern üblich war; nur die größeren Städte konnten sich Steinmauern leisten, selbst in Thalurien war das so. In Kamien war an Mauern nicht mal zu denken. Die Holzzäune hielten wilde Tiere ab, aber einer Armada von Wilden konnten sie nie standhalten. Vermutlich war Lorana auch seit mit Zuyya Frieden herrschte nicht mehr angegriffen worden... normalerweise war Thalurien eine friedliche Provinz. Dafür sorgte der alte Sagal mit seinem Netzwerk normalerweise, indem er jeden Störenfried beseitigen ließ, ehe er Unheil anrichten konnte...

Dieser Mann verdiente gebührenden Respekt und keinen Meuchelmord, dachte Zoras sich verbiestert, als er die Arme in die Luft riss und den Blitzspeer des Himmels zu sich rief, um das Dorf in Brand zu stecken. Ein grollen erfüllte die heraufziehende Nacht, das von den panischen Schreien der Dorfbewohner durchschnitten wurde, als der Zaun Feuer fing und mit einem lauten Krachen die Erde erzitterte. Zoras schloss bebend die Augen und ließ die Macht seine Adern durchströmen wie kochendes Blut, die Energie der Himmelsgeister ließ jede Faser seines Körpers erzittern, während er versuchte, das Grauen auszublenden, das er mit einem einzigen Hieb seiner Arme in Richtung Boden verursachte. Dumpf hörte er das Grölen der Barbaren, die sich auf das Dorf stürzten wie geifernde Raubtiere, irgendwo stieß Arlon Zinca irgendeinen Kampfschrei aus, der die Männer aus Kamien noch mehr anstachelte, jeden niederzumetzeln, der ihnen in den Weg käme. Sie rannten an Zoras vorbei, vor ihnen krachte der Zaun, der zerschmettert wurde. Der Schamane spürte zu seinen Füßen die zornig bebende Erde; es war nicht verwunderlich, dass sie zürnte, wenn ihre friedlich auf ihr lebenden Kinder getötet wurden wegen des Wahnsinns dieser geistlosen Horden, die das Leben nicht verdienten... weniger jedenfalls als die Bewohner von Lorana.

„Hast du jetzt ein schlechtes Gewissen?“, neckten die Geister ihn innerlich und kicherten, „Erst rufst du das todbringende Gewitter des Himmels herab und tötest Massen von Menschen, dann tut es dir plötzlich leid? Entscheide dich... auf wessen Seite du stehen willst, Zoras Derran.“

„Ich stehe auf der Seite, die die Geister mir vorgeben!“, zischte er in dem Moment, in dem er die grünen Augen wieder öffnete, ehe er die gackernden Stimmen aus seiner Seele verdrängte und heftig nach Luft schnappte. Er hatte noch etwas zu tun... und er musste es schnell machen. Wenn er Pakuna zurück hatte, würde er mit ihr davon rennen, weit weg von Kamien, irgendwo hin in den schützenden Schatten der Erdgeister, in den die Barbaren ihm nicht zu folgen wagen würden.

Mit einem Fluchen riss er seine beiden Dolche hervor und lenkte das Pferd durch das brennende Dorf. Das Tier scheute und stieg panisch ob der Flammen, es bedurfte einiges an Kraft und Willen, um es überhaupt voran zu treiben. Ihm kamen flüchtende, panische Menschen entgegen, Männer, Frauen und Kinder, die aus ihren in Brand gesteckten Häusern rannten und versuchten, ihr Leben zu retten. Ein Baby weinte auf den Armen seiner Mutter, die es schützend an sich presste. Einer der Männer aus dem Dorf schlug wütend schreiend mit einer Axt nach Zoras' Pferd, gerade noch rechtzeitig konnte der Jüngere das Tier herum reißen und dem Angriff entkommen. Das Pferd wieherte panisch.

„Ihr Hurensöhne!“, blaffte der Mann am Boden ihn an und schwang seine Axt erneut, „Wir haben euch verdammt noch mal nichts getan! Die Geister werden euch verbrennen für diese Untat, ihr Meuchler!“

„Hüte deine Zunge, du Wurm!“, zischte Zoras und funkelte ihn grimmig an, „Nimm dein Weib und deine Kinder, sofern du welche hast, und lauf, so schnell dich deine Beine tragen! Glaub mir, ich bete, dass der Tag tatsächlich kommt, an dem die Barbaren brennen werden.“ Er konnte das verblüffte Gesicht des fremden Mannes nicht weiter beobachten, er hatte keine Zeit. Brummend wendete er das Reittier erneut und lenkte es eine weitere, kleine Gasse hinab, weg von der größten Feuersbrunst. An ihm stolperten weitere, panische Flüchtlinge vorbei, und schließlich bremste Zoras grantig und drehte das Pferd planlos im Kreis. In der Ferne hörte er das Krachen von einstürzenden Häusern und irgendwo schrie ein Kind nach seinen Eltern.

„Sagal!“, brüllte er dann so laut er konnte, die Dolche nervös umklammernd, „Komm, wenn du dich traust, alter Mann! Ich zerreiße dich und dann ist dein... verdammter Clan Geschichte! Zeig dich, du Feigling!“ Er wusste, dass es waghalsig war – er korrigierte sich und wusste jetzt, dass es lebensmüde gewesen war, als er plötzlich eine scharfe Klinge auf sich zukommen sah, der er nur ausweichen konnte, indem er sich geistesgegenwärtig vom Pferd zur Seite fallen ließ. Das Tier wurde getroffen und ergriff panisch wiehernd die Flucht, davon in die Dunkelheit. Zoras hustete, als er hart auf den Boden aufschlug, und sofort rappelte er sich wieder auf die Beine, um die Klinge jetzt an die Brust gehalten zu bekommen, sodass er augenblicklich still hielt. Vor ihm stand zweifelsohne der Kopf des Sagal-Clans – er trug das Emblem seiner Familie auf seiner Kleidung, in der einen Hand hielt er ein gutes, scharfes Schwert, mit dem er ihn jetzt bedrohte, die andere Hand stützte sich auf einen Gehstock. Obwohl er sein eines Bein nicht gebrauchen konnte, wirkte dieser Mann keinesfalls schwächlich oder panisch. Er war vollkommen gefasst und strahlte eine dermaßene Überlegenheit und Autorität aus, dass Zoras beinahe selbst in die Knie gegangen wäre, als ihn der Blick aus den blauen Augen traf, die so viel gesehen hatten.

„Einen Feigling nenne ich einen Mann, der hinterrücks andere überfällt und ihnen ein Chance lässt, sich zur Wehr zu setzen... Zoras... Derran. Wähle deine Worte sorgfältig, wenn du mit mir sprichst, denn eines Tages werde ich sie an dein Grab schreiben.“ Der Jüngere erzitterte und zischte, als er einen Schritt zurücktrat, um dem Schwert zu entkommen.

„Ihr seid Dasan Sagal... der Kopf des Sagal-Clans. Ihr kennt meinen Namen, Ihr müsst ein großartiger Seher sein.“

„Dazu bedarf es keinerlei Größe.“, war die kaltblütige Antwort, „Ich sehe in dein Gesicht und weiß, wie dein Name ist. Bist du gekommen, um mit mir zu plaudern? Ich würde dir ja Kaffee anbieten, aber der ist leider verbrannt... so fürchte ich.“ Der Schwarzhaarige zischte, sprang zurück und packte seine Dolche.

„Ich bin gekommen, um Euch zu töten!“, versicherte er, „Und da Ihr ja so auf Ehre besteht, tue ich es nicht mal... hinterrücks, so war doch der Begriff? Nein, alle Welt soll wissen, dass ich... Euch getötet habe, dass ich die Macht der Geister genug lenken kann, um das zu beenden... was ich begonnen habe an den Grenzen!“ Dasan Sagal verengte seine Augen zu grantigen Schlitzen.

„Tu, was du nicht lassen kannst... es ist vergeudete Zeit. Dir ist etwas anderes bestimmt als das nutzlose Niedermetzeln von Menschen... die dir nie ein Leid getan haben. Du weißt das... du fühlst dich doch selbst fehl am Platz in Holia... ist es nicht so?“

Zoras knurrte und riss die Arme empor, bereit, anzugreifen. Der Kerl wusste eine Menge – und er hasste es, wenn Leute einfach so Dinge über ihn wussten, die sie nicht wissen konnten. Mit einem Schrei stürzte er sich nach vorne, um den Mann zu erstechen, doch der andere war schnell genug, ihn mit seinem Schwert zurückzustoßen. Zoras schlug mit dem zweiten Dolch nach ihm und nach einer geschickten Handbewegung hatte er dem älteren Mann die Waffe aus der Hand geschlagen. Dasan Sagal machte keinerlei Anstalten, zurückzuweichen oder sich sein Schwert wieder zu holen, als Zoras ihn abermals angriff, und in dem Moment, in dem er ihn beinahe an der Kehle erwischt hätte, hob der Alte kommentarlos seine Hand und schleuderte den Schwarzmagier mit einem gekonnten Telekineseschlag gegen die brüchige Wand eines brennenden Hauses. Mit einem Poltern stürzte Zoras zu Boden und fluchte, ehe er sich aufrappelte. Ein weiterer Angriff mit Telekinese riss ihm seinerseits den einen Dolch aus der Hand, und zischend riss Zoras die nun leere Hand empor und ließ den Himmel zornig grollen über dem brennenden Dorf.

„Ich habe... keine Angst vor dir, Sagal!“, brüllte er, „Ich lenke... den Zorn des Himmels über euch alle, wenn es mir passt! Komm, Blitz, dienen sollst du mir, Speer des Himmels, wenn ich es befehle! Zerschmettern sollst du all jene, die es wagen... sich deiner Macht zu widersetzen!“ Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug der Blitz aus dem Himmel in seine Hand ein, und als wäre es Wasser tauchte er den verbliebenen Dolch in die geballte Magie in seiner Hand, worauf auch die Klinge zu glühen begann, sobald er sie empor riss. Er spürte, wie die Macht ihn durchströmte wie flüssiges Feuer, wie es seinen Körper erhitzte und wie die Ladung des Blitzes in seiner Hand in seinem Inneren zu schmerzen begann. Sagal rührte sich nicht, außer dass er seine freie Hand abermals hob und dem gewaltigen Zorn des Himmels entgegen starrte, als wüsste er genau, wann der Tod auf ihn wartete. Warum lief er nicht weg oder machte irgendetwas, um sich zu schützen? Es war nur ein kurzer Moment, in dem beide Männer einander starr ins Gesicht sahen, in dem beide inne hielten und Zoras das Rauschen des Blutes in seinem Kopf stärker hörte als das Donnern des Himmels über ihm... dann riss er beide Arme nach vorne und schleuderte sowohl die Macht des Blitzzaubers als auch den aufgeladenen, glimmenden Dolch auf sein Gegenüber, mit jeder Faser seines Körpers bereit, ihn zu vernichten.

Er war nicht wirklich überrascht, dass der Ältere sich als Telepath rechtzeitig mit einem Schutzschild das Leben retten konnte – Schutzschilde aus Magie waren eine Spezialität, die nur Telepathen beherrschten, und da Sagal ein überaus begabter Seelenmagier war, war es kaum ein Wunder, dass sein Schild mächtig genug war, einen Zerstörer aufzuhalten und mit einem Krachen ins Nichts explodieren zu lassen. Die Erde erzitterte, als die konzentrierte Magie des Blitzes verpuffte, und die Druckwelle der Macht riss beide Kontrahenten gewaltsam von den Beinen. Zoras war schneller wieder oben und sammelte fluchend seinen zweiten Dolch wieder auf, ehe er sich wieder voran stürzte, Sagal packte, der noch darum kämpfte, wieder auf die Beine zu kommen, und ihm den Dolch blitzschnell an die Kehle presste. Der Ältere hielt stillschweigend inne, während Zoras über ihm keuchte und heftig nach Luft schnappte.

„Ihr... seid tot, Sagal!“, zischte er dabei mit vor Wut verzerrter Stimme, während er ihm die Waffe an den Hals hielt. Sagal schnaubte.

„Worauf wartest du dann noch? Ich habe keine Waffe mehr und dank meines verflixten Beines kann ich nicht so schnell aufstehen wie du. Du hast leichtes Spiel, nicht wahr? Warum tust du es dann nicht?“ Zoras schrie ihn an.

„Halts Maul! Ich tue es, verdammt, ich reiße dir die Eingeweide heraus und werfe sie Arlon ins Gesicht, wenn er mir dann meine verfluchte Mutter zurückgibt!“ Er zitterte. Er tat es nicht... er wollte es tun, aber der Blick des Mannes unter ihm machte ihn wahnsinnig. Er wusste zu viel... es war eine Schande, einen so begnadeten Magier einfach niederzustrecken... die Geister würden ihn dafür lynchen...

„Das... ist nicht dein Platz, Zoras.“, sagte Sagal unter ihm in einer Seelenruhe, die garantiert keinem Todgeweihten stand. Er wusste, dass er zweifelte – Zoras war sich ganz sicher, dass der Typ genau spürte, dass er zögerte. Jetzt war es zu spät... jetzt wurden die Zweifel zu groß, seine einzige Chance war vertan. Er stöhnte kraftlos, als er bebend den Dolch fallen ließ und auf die Füße sprang, während ihn das Gefühl der Ohnmacht zu erdrücken schien. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, hysterisch zu heulen anzufangen.

„Ich... ich hasse Euch, warum seht Ihr mich so an?!“

„Es ist nicht Wille der Geister, was du hier tust... du weißt es doch selbst.“, sagte der Telepath und rappelte sich mit etwas Mühe hustend auf die Beine. „Dir ist Größeres vorbestimmt... Herr der Schattenvögel.“

Das war der Moment, in dem Zoras seinen Hass vergaß und ihn nur noch anstarrte.

„Warum wisst Ihr von den Vogelgeistern?“, fragte er stimmlos und Sagal brummte.

„Ich traf einst deinen Namensvorgänger, als ich noch ein Junge war. Er war ein weiser Mann und ein großer Schamane, der Großvater deiner Mutter, nach dem du benannt worden bist. Die Macht der Kondorgeister... die Macht der Aasgeier liegt dir im Blut, deshalb ist es deine Bestimmung. Aus dem Osten kommt der Tod bringende Schatten von Ela-Ri über uns... die Zeit ist gekommen, in der du deinem Schicksal... folgen solltest. Ich habe dich gesehen in meinen Visionen... ich sah dich als Herr über den Schatten, vor dem wir sonst weglaufen, in deiner Hand der Speer der Macht... der dein Schicksal mit dir tragen wird.“ Zoras taumelte.

„W-wovon redet Ihr da?! Ich – was meint Ihr damit?!“

„Die Antworten, Zoras Derran, kommen immer dann, wenn du aufhörst, nach ihnen zu suchen. Merke es dir... ich vermute, sie wird bald kommen und dir deinen Speer bringen.“

„Was?! Sie?! Wer, zum Henker?“, keuchte der Jüngere und wurde panisch, als der Telepath sich abwandte, um zu gehen.

„Deine Waffe hat sie schon gefunden... sie weiß nur nicht, dass du es bist, dem sie zusteht... den die Geister auserwählt haben als ihren Träger. Der letzte Erbe, heißt es, soll sie tragen... die Hellebarde von Yamir, die in den Schatten fiel und verschwand.“ Mehr sprach er nicht, ehe Zoras ihn aufhalten konnte, löste der Mann sich vor ihm in Luft auf und war verschwunden. Der Schwarzmagier fluchte wütend und sah sich rasch um. Er hatte weder Sagal getötet noch hatte er noch sein Pferd. Was sollte er jetzt machen? Knurrend sammelte er seine Dolche wieder auf und steckte sie ein, ehe er sich daran machte, zurück zur Dorfmitte zu rennen. Er würde Arlon im Inferno finden und ihm Pakuna wegnehmen, und wenn er es mit Händen und Füßen tun würde. Er würde sich schon etwas einfallen lassen... er musste.

Allerdings kam er nicht weit, weil er auf dem mittleren Dorfplatz urplötzlich eine Warnung seines Geistes vernahm, ehe er mit einem mal einen kräftigen Schlag in den Rücken erhielt, der ihn zu Boden schleuderte. Wutentbrannt fuhr Zoras herum und riss seine Hände empor, bereit, jedem Angreifer mit dem Blitzzauber Demora das Gesicht explodieren zu lassen, dann hielt er inne, als er sein Gegenüber erkannte.

„Du wagst es, Zoras... ich habe dich stumm im Geiste gewarnt, die Sache am Lianerdorf war ja wohl mehr als genug! Und jetzt wagst du es, hier aufzutauchen und mein Heimatdorf anzuzünden...?! Du verfluchter, elender, geistloser Bastard von einem Hurensohn, ich werde dich in tausend Fetzen reißen, dass du es wagst, die Luft zu atmen, die verdammt noch mal mir als Geisterjäger zusteht!“ Der Schwarzhaarige war für einen Moment unfähig, sich zu rühren – er hatte Karana Lyra sehr lange nicht gesehen, und dank seines vor Zorn verzerrten, furchteinflößenden Gesichtes hätte er seinen ewigen Rivalen beinahe nicht wiedererkannt. Aber seine Worte bewiesen genug, dass es Karana war... nur Karana traute sich, so arrogant zu sprechen.
 

Karana war nicht dumm. Die Geister hatten ihn plötzlich gewarnt, als das Inferno begonnen hatte, und die Seherin aus Fann zur Seite stoßend hatte er sich sofort daran gemacht, Zoras Derran zu finden... es war unwahrscheinlich bis unmöglich, dass irgendein anderer für dieses Desaster verantwortlich war als er. In Kamien gab es sehr wenige Schamanen, und dass zufällig zwei von derartig großer Macht dort herum liefen, war doch sehr unwahrscheinlich. Es hatte ihn also nicht überrascht, als er seinen größten Rivalen endlich gefunden hatte, und er musste sich schwer beherrschen, um ihn nicht einfach auf der Stelle in Fetzen zu reißen. Größter Rivale war dabei gut gesagt – eigentlich war dieser Bauerntrottel aus Holia tatsächlich der Einzige, der wirklich jemals eine ernsthafte Konkurrenz für Karanas Position gewesen war. Der Einzige, der die gleiche, furchtbare Macht besaß, die Geister von Himmel und Erde zu rufen und zu lenken, wie es auch die Geisterjäger taten. Und das, obwohl seine Herkunft alles andere als ehrwürdig war, im Gegensatz zum Clan der Lyra war die Familie Derran eigentlich absolut unbegabt in Sachen Magie, soweit Karana wusste. Nicht, dass er je einen getroffen hätte abgesehen von Zoras und seinen Eltern.

Er bebte vor Zorn, als er die Arme empor hob und zusah, wie sein Gegner sich blitzschnell wieder aufrappelte, zischend seine beiden Dolche ziehend.

„Karana.“, brummte er dabei, „Auf dich habe ich beinahe schon gewartet, seit ich hörte, dass sie Lorana überfallen wollen. Du bist recht spät dran!“ Karana fluchte und schleuderte einen Windzauber nach ihm, dem der Schwarzhaarige aber gekonnt auswich. „Was denn... so wütend? Haben die Geister dich verraten und dir nicht rechtzeitig... Bescheid gesagt?“

„Halt deine Fresse, oder ich reiße dir die Zunge auf die brutalste Weise heraus, die mir einfällt!“, schwor der wenig Ältere bebend, „Du brennst mein Heimatdorf nieder, und ganz davon abgesehen, dass es mein Heimatdorf ist, was haben wir euch getan?! Dieses hirnlose Gemetzel kann ja wirklich nur aus Kamien kommen, einer von allen Geistern verlassenen Drecksprovinz! Sollen die Himmelsgeister euch verfluchen... und dann schicke ich dich persönlich zum Himmelsdonner, Zoras!“ Zu seiner Verblüffung zeigte der Kleinere ein dämonisches Grinsen, ehe er seine Dolche hoch riss und ihn aus seinen ungewöhnlich schmalen Raubtieraugen anstarrte.

„Ja, Karana. Ich... zittere vor Furcht.“ Karana zischte und spuckte ihm vor die Füße, ehe er die Hände nach vorne riss und mit einem Krachen aus dem Himmel einen weiteren Windzauber produzierte, den er auf sein Gegenüber warf.

„Ich reiße dir deine verdammten Eingeweide heraus für das hier!“, brüllte er, „Ich bringe dich verdammt noch mal um! Und bevor es zu Ende ist, wirst du vor mir auf Knien rutschen und um einen schnellen, schmerzlosen Tod betteln!“

Er hörte das ohrenbetäubende Krachen, als Zoras seinen Blitz aus dem Himmel rief und damit den Windzauber zerschmetterte, mit dem er angegriffen hatte. Im nächsten Moment war es Karana, der dem Blitz ausweichen musste, und fluchend sprang er zur Seite und entkam der geballten Himmelsmagie, ehe er abermals herum fuhr und sein Gegenüber erneut angriff.

„Katura!“ Zoras schleuderte einen seiner Dolche auf ihn, dem er durch einen weiteren Hechtsprung zur Seite ebenfalls ausweichen konnte, aber als er wieder herum wirbelte, traf ihn der zweite Dolch mit einer Wucht in die Seite, dass er aufschrie und zu Boden kippte. Er war schnell... er war unheimlich schnell, das würde ihn das Leben kosten, wenn er das unterschätzte, kam ihm, und keuchend rollte er sich zur Seite, als Zoras sich mit einem wutentbrannten Schreien auf ihn stürzen wollte. Ein weiterer Blitzzauber traf krachend die Erde neben Karana und er spürte die Spannung, die im Boden entstand, als er zischend den Dolch aus seiner Seite zerrte und keuchend nach der Wunde fasste, die entstanden war. Sie blutete ziemlich heftig, aber die Klinge schien nur das äußere Fleisch verletzt zu haben. Glück gehabt...

Karana hatte keine Zeit, erleichtert auszuatmen, denn prompt war sein Kontrahent abermals über ihm, packte ihn am Kragen und zerrte ihn wütend empor, mit einer Hand ausholend und darin eine gleißende Blitzkugel entstehen lassend. Der Ältere japste und kniff von dem grellen Licht geblendet die Augen zusammen, als Zoras ihn noch anbrüllte:

„Du kannst mich mal, Karana! Ich habe verdammt noch mal keine Angst vor dir und knien werde ich sicherlich nicht... nicht einmal dann, wenn du deines Vaters Platz als Herr der Geister einnimmst! Knien werde ich... vor einem Mann, den die Geister zu ihrem König gemacht haben, aber nicht vor einem größenwahnsinnigen Snob wie dir!“ In dem Moment schleuderte er seinen Blitzzauber auf Karana, und er hätte ihn unweigerlich getroffen, hätte der Ältere nicht in dem Augenblick die Hände nach vorne gerissen und seinen Gegner mit solcher Wucht in den Magen geboxt, dass dieser rückwärts taumelte und sein Zauber daneben ging. Zoras fluchte und ließ ihn augenblicklich los, worauf Karana sich wieder auf die Füße rappeln konnte und einen von Zoras' Dolchen aufsammelte, die Waffe empor reißend. Er zwang sich, nicht den Verstand zu verlieren – nicht jetzt, in diese Moment. Wenn er Zoras beseitigen wollte, brauchte er einen kühlen Kopf... er konnte Lorana nicht mehr retten, das Dorf brannte lichterloh. Aber er hatte die Pflicht, denjenigen zu zerreißen, der Schuld daran war, dass so viele unschuldige Dorfbewohner im Inferno starben... er wusste nicht, wo seine Mutter und seine Geschwister waren... oder Niarih. Die Gedanken daran, dass auch nur einer von ihnen umgekommen sein könnte, machten ihn wahnsinnig, und er schrie wütend, als er sich frontal auf den Schwarzhaarigen stürzte und ihn mit seinem eigenen Dolch zu erstechen versuchte. Zoras war davon nicht sonderlich überrascht und es kostete ihn nicht mehr als eine simple Handbewegung, um Karana den Dolch aus der Hand zu schleudern und ihn mit einem weiteren Blitz wieder zurück zu Boden zu werfen. Hustend fuhr Karana noch am Boden liegend herum, als der Gegner seinen Dolch wieder selbst packte und sich dann die Waffe voran seinerseits auf ihn stürzte. Gerade noch schaffte er es, an seinen Gürtel zu fassen und das Knochenmesser herauszuziehen, das er der Hühnerdiebin beim Lianerdorf abgenommen hatte, ehe er es mit einem Schwung seines Arms quer über Zoras' Oberkörper riss und ihn damit zur Seite schleuderte. Sein Gegner schrie auf, als das Messer seine Kleidung zerfetzte und sich auf seiner Brust ein unschöner, blutender Schnitt auftat. Karana zischte und rappelte sich auf, dabei das Knochenmesser umklammernd, verblüfft von seiner ungewöhnlichen Schärfe.

„Na? Noch mehr so großkotzige Sprüche oder war es das, Kurzhöschen?“, brummte er dann, als der Kleine fluchend über seine blutende Wunde wischte und die Hände dann abermals hoch riss, in einer hatte er noch immer seinen Dolch.

„Töricht, Karana...“, zischte er bebend, „Dieses Mal... werde ich dich erledigen. Und die Geister werden über den Tag jubeln, an dem sie... deine Fratze und dein abartiges Grinsen nicht mehr ertragen müssen!“ Damit warf er den Kopf in den Nacken und riss die Arme in den Himmel hinauf, ehe er die Geister anbrüllte. „Vater Himmel! Gib mir deinen Zorn, deinen Schatten, damit er diesen Unwürdigen verschlingt und niemals wieder ausspuckt! Kommt, Himmelsgeister, und dient meinem Befehl!“ Es krachte aus dem dunkel bezogenen Himmel und Karana taumelte rückwärts, als er beobachtete, wie sein Gegner den Kopf wieder herab riss und ihn angrinste mit einem Blick so voll von Schatten und Bosheit, dass der Größere einen Augenblick lang nicht fähig war, sich zu regen. In seinem Blick war die Macht, nach der Karana immer suchte... das war die bodenlose, Tod bringende Macht eines Geisterjägers, eine Autorität in diesen grauenhaften Schlitzaugen, die der eines Dämonenkönigs gleichkam. Karana schnappte fassungslos nach Luft und ließ prompt das Knochenmesser fallen, um die Arme selbst zu heben und die Windgeister zu rufen, damit sie ihn davor bewahrten, seine Seele an diese Kreatur des Todes abgeben zu müssen. Hinter Zoras wurde die Welt schwarz, als würde er aus dem Nichts einen fürchterlichen, fliegenden Schatten beschwören, der seine Schwingen über dem Inferno ausbreitete auf eine Weise, die Karana nicht nur wegen ihrer Furchtbarkeit übel aufstieß – das waren die Schwingen eines Vogels. Er hatte diese Macht schon mal gesehen... aber bei einer anderen Person. Und der Vergleich löste in ihm plötzlich einen dermaßenen Brechreiz aus, dass er nicht mehr fähig war, dem Himmel zu befehlen.

„Das ist nicht möglich... wie kannst du... den Schattenvögeln befehlen, Zoras...?! Gerade du...?!“, japste er entgeistert, und er hörte die Himmelsgeister in seinem Inneren auflachen.

„Knie, Karana... so, wie du es sonst immer verlangst! Demut sollen sie dich lehren, die fürchterlichen Krähen, die nur den Großkönigen gehorchen... fürchtest du dich?“

In dem Augenblick, in dem Zoras seinen Schatten auf ihn hetzte und er spürte, wie die Welt um ihn herum in Bosheit explodierte, überkam ihn auch eine seltsame Kälte, die er nicht erwartet hatte, während er stürzte. Irgendetwas packte seinen Arm und zerrte ihn aus dem Schatten, und das Letzte, was er hörte, bevor er das Bewusstsein verlor, war das Kichern der Geister.

„Schicksal, Karana... es wird dich immer wieder einholen. Du kannst nicht davonlaufen... versuche es nicht erst.“ Dann wurden ihre Stimmen dumpf und rückten in weite Ferne, schließlich war es angenehm still.
 


 


 


 

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Die Geister dissen Karana xD hahahaha xD

Neisas Schicksal

Lorana brannte. Es war ein furchtsamer Schauer, der Neisa Lyra über den Rücken jagte, als sie ihre Mutter aus dem Haus zerrte, in dem sie aufgewachsen war... es war wie ein bösartiger Traum. Es war viele Jahre her, dass sie das Dorf zuletzt brennen gesehen hatte; damals hatten die Zuyyaner es angegriffen, letzten Endes hatten die Dorfbewohner die Angreifer aber in die Flucht schlagen können, nicht zuletzt dank der Hilfe von Sagal und ihrem Vater... und ihr Vater war jetzt nicht zugegen.

Irgendwo bellte Karanas Hund und das blonde Mädchen hörte Simu schreien – das Klirren von Metallwaffen, die aufeinander stießen, durchriss das Szenario des Grauens. Die Reiter kamen von allen Seiten, die meisten aber aus dem Süden. Sie trugen Waffen, mit denen sie nach den umher rennenden Dorfbewohnern schlugen, mit denen sie Türen und Fenster der bereits in Flammen stehenden Häuser zerschmetterten und dabei laut grölten.

„Wir reißen euch nieder!“, brüllte einer der Männer, „Und wenn ihr tot seid, haben wir euer Land, ihr Maden!“

„Lange genug haben wir in unserem Dreckloch gehungert!“ Neisa konnte nur starren – ein Reiter auf einem großen, schwarzen Pferd kam brüllend genau auf sie zu, während sie stocksteif vor ihrer Haustür stand, am Arm ihrer Mutter klammernd, die sie im letzten Moment geistesgegenwärtig zur Seite riss. Der Reiter fuhr zornig herum und schlug nach den Frauen, dann schrie er mit einem Mal und sackte in sich zusammen, ehe er von seinem Reittier stürzte. Hinter dem Pferd sah Neisa Tayson, der sich von irgendwo ein Schwert geschnappt hatte und jetzt triumphierte.

„Mann, ich bin gut... ein Schlag und weg ist er. - Verdammt, lauft, Neisa, Herrin, los doch!“

„Wir fliehen nach Yiara zu Tante Alona!“, keuchte Leyya Lyra und zerrte an ihrer Tochter, „So, wie ich es Vati versprochen habe! Um Himmels Willen, wo ist Karana?!“

„Ich weiß es nicht...“, heulte die Tochter panisch und schrie, als sie herum wirbelte und einen weiteren Mann auf sich zu eilen sah. Ihre Mutter zerrte sie weg und rannte los, doch der Angreifer schleuderte ein Wurfmesser nach ihnen, das genau Neisas Hand getroffen hätte, sodass sie sich schreiend aus dem Griff ihrer Mutter befreite und darauf hustend zu Boden stolperte. Sie hörte Leyya irgendwo panisch aufschreien und ihren Namen rufen... wo waren Simu und Tayson jetzt hin? Den Hund konnte sie auch nicht mehr hören... und wo war das Lianermädchen Eneela?

Sie wurde zurück ins Geschehen gerissen, als der Reiter vor ihr anhielt und sein Pferd wiehernd stieg – mit einem Kreischen rollte das Mädchen sich zur Seite, um nicht von den Hufen zertrampelt zu werden. Der nächste Hieb des Kerls traf sie an der Schulter und sie spürte mit Entsetzen, wie das Metall der Klinge sich in ihr Fleisch bohrte. Keuchend fasste sie nach der Wunde und versuchte es hysterisch mit einem einfachen Feuerzauber, der zwar das Pferd erschreckte und zurückweichen ließ, nicht aber den Reiter beeindruckte. Sie war Heilerin... elementare Magie war nicht ihre Stärke, aber mit Heilzaubern würde sie sich nicht verteidigen können. Nicht, solange der Mann nicht zu Fuß kam... dann hätte sie vielleicht eine Chance. Sie rappelte sich auf die Beine und schrie nach Simu und ihrer Mutter, ehe der Mann, der sich hartnäckig an ihr zu vergreifen versuchte, abermals auf sie einschlug und sie dem Hieb um Haaresbreite ausweichen konnte. Sie stolperte zur Seite und zurück in Richtung Haus, verzweifelt versuchend, irgendeinen Ausweg zu finden – sie musste verdammt noch mal hier weg! Wenn sie es aus dem Dorf hinaus schafften, könnten sie vielleicht nach Yiara fliehen... wo war diese verdammte Seherin überhaupt, konnte die sie nicht teleportieren?

„Karana!“, schrie sie panisch in der Hoffnung, ihr Bruder wäre vielleicht im Gegensatz zu allen anderen, die sie so rief, in ihrer Hörweite; doch sie bekam keine Antwort, nur die panischen Schreie der Dorfbewohner und das Brüllen der Reiter, das Klirren von Waffen und das Knattern des lodernden Feuers stachen ihr in den schmerzenden Kopf. Heulend rief sie ihren Bruder erneut, dabei versuchend, wieder den Hieben auszuweichen – sie schaffte es tatsächlich, an ihm vorbei zu rennen, ohne zu Schaden zu kommen, doch weit kam sie nicht. In dem Moment, in dem sie glaubte, doch irgendwo Karanas Stimme zu hören, fuhr sie keuchend herum und war für den Bruchteil eines Moments unaufmerksam... das sollte ihr Schicksal besiegeln. Neisa spürte einen kräftigen Schlag im Genick und dann, wie sie jemand packte und an sich heran zerrte, ihr unsanft die Kehle zu drückend – sie spürte den Schmerz nicht mehr, den sie vom Erdrosseln erwartet hatte, denn bevor sie ihn hätte spüren können, versagte ihr Bewusstsein ihr seinen Dienst. Die Welt wurde schwarz vom Rauch, der über dem brennenden Dorf aufstieg...
 

Leyya Lyra versuchte nicht, die Tränen zu unterdrücken, als sie an der Böschung nahe dem Fluss im Gras kauerte und zusehen musste, wie das Dorf verbrannte, in dem sie so lange gelebt hatte. In der Nacht, in der Karana geboren worden war, waren sie und ihr Mann nach Lorana gekommen... und es war ihnen in den Jahren so sehr ans Herz gewachsen, dass Leyya mitunter vergaß, dass sie nicht ihr ganzes Leben dort gewesen war. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor... und dennoch war es nur ein winziger Moment. Bei ihr war nur noch Tayson, der sie heldenhaft vor einem großen Kerl gerettet hatte, der versucht hatte, sie mitzunehmen. Was Männer aus Kamien generell mit Frauen machten, war kein Geheimnis... dabei war es egal, von welchem Stand oder welcher Herkunft diese Frauen waren. Hauptsache, es gab jemanden, an dem sie sich erleichtern konnten... diese Barbaren.

Die Heilerin fluchte die abartigsten Schimpfwörter und Verwünschungen in Richtung Dorf, sie wünschte den Rüpeln, der Himmelsdonner möge sie fressen, der Seelenfänger möge ihre Geister zerreißen und niemals zulassen, dass sie ein weiteres Leben erhielten. Sie schrie nach ihrem Mann, weil sie sich an ihn klammern wollte, wie sie es sonst tun würde... und sie hatte nur Tayson, mit dem sie ihren Gram teilen konnte. Wo waren ihre Kinder?

„Hey, da kommt Simu!“, keuchte der Schwarzhaarige neben ihr in dem Moment und die Frau fuhr japsend herum, worauf beide über die Böschung spähten – da kam der Adoptivsohn tatsächlich auf sie zu gerannt, sobald er sie gesehen hatte, wurde er schneller. Als er die Böschung herab ins seichte Wasser am Ufer des kleinen Flusses sprang, fuhr er sich hektisch durch die Haare.

„Ihr seid wohlauf, Himmel sei Dank!“, stöhnte er und seine Mutter fiel ihm heulend um den Hals.

„Um Himmels Willen... w-wo sind Karana und Neisa?!“

„Wo sind das Lianermädchen und die Seherin?“, fragte Tayson der Solidarität zuliebe hinterher und der Blonde keuchte heftig.

„Ich weiß es nicht... ich werde zurückgehen und sie suchen! Ich habe sie nirgends finden können und... den Hund habe ich auch aus den Augen verloren. So, wie ich ihn kenne, wird Bruder Hund Karana schneller finden als ich... aber was wird aus Neisa? Habt ihr irgendwen aus dem Dorf gefunden? Ich habe den Tischler gesehen, er war tot... von Sagal oder Chitra keine Spur, auch Niarih war nirgends, aber ich habe Sagals andere Enkel Azan und Tilan gesehen, sie waren wohlauf und wollten versuchen, sich nach Osten durchzuschlagen.“

„Um Himmels Willen, warum sind das so dermaßen viele Reiter?“, murmelte Tayson und lugte wieder über das Gras in Richtung der Rauchschwaden, „Aber das Gröbste scheint vorüber...“

„Ja, Lorana ist gefallen.“, war Simus Antwort, und Leyya Lyra erzitterte am ganzen Körper vor Panik – was geschah mit ihren Kindern? Sie wollte aufwachen... sie wollte aufwachen und feststellen, dass sie im Bett lag, ihr Mann neben ihr, der sie beruhigte und ihr zuflüsterte, es wäre nur ein Alptraum gewesen... sie wusste in ihrem Inneren bereits genau, dass sie nicht aufwachen würde.

„Der Schatten... ist bereits auf dem Vormarsch. Und dann kommt das Ende der Welt.“

Sie fuhr zusammen, als Simu sich vor sie hockte und sie fest ansah.

„Mutti. Sieh mich an, bitte.“ Sie wimmerte, als er ihre Wangen fasste und versuchte, die Tränen von ihrer mir Ruß verdreckten Haut zu entfernen. „Mutti, ich finde sie. Tayson wird mit dir nach Yiara gehen, bleibt auf jeden Fall zusammen! Ich finde sie und wenn nicht, dann rufe ich Vati. Wir werden alle nach Yiara kommen, das verspreche ich dir, Mutti! Hörst du mich?“ Sie wimmerte, als er so auf sie einredete, und heulend wagte sie es, zu nicken.

„I-ich kann nicht fort, Simu... i-ich kann nicht! Ich habe Angst...“

„Tayson hilft dir.“, sagte er und sah dabei Karanas Kumpel an, der nur verwirrt dreinschaute. „Vertrau mir! Ich gehe zurück, jetzt, wo sich der Aufruhr gelegt hat... ich glaube, sie schlagen Lager in den Trümmern und vergnügen sich. Wenn jemand es gewagt hat, Neisa oder Karana etwas anzutun, reiße ich ihn in Stücke.“

„Du bist so tapfer...“ keuchte sie, „D-du bist... so tapfer, Simu... ich frage mich, wie kann... es sein, dass du nicht Purans Sohn bist, wenn du doch... so tapfer bist...?“ Er zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln.

„Deine Worte ehren mich, Mutti. Wer weiß, vielleicht ist... oder war mein leiblicher Vater ja auch tapfer.“ Er wollte gerade gehen, in dem Augenblick gab es ein kurzes Knallen direkt neben ihm und alle drei fuhren schreiend herum – aus dem Nichts war die Seherin aus Fann aufgetaucht und machte jetzt ein perplexes Gesicht.

„Meine Güte!“, rief sie laut, „Hier bin ich also gelandet!“

„Ryanne!“, machte Tayson, „Das war doch der Name?“

„Was?“, japste sie, „Äh, keine Ahnung, mit wem du redest, wer bist du überhaupt?“

„Na toll.“, stöhnte Tayson, und Simu rappelte sich auf und packte die Blonde am Arm.

„Hör zu, Seherin! Kannst du meine Mutter und Tayson nach Yiara teleportieren?“

„Was denkst du von mir?“, fragte sie beleidigt, „Woher sollte ich das können?“

„...du hast dich gerade eben von wo auch immer hierher teleportiert.“

„Was? Ist das dein Ernst? Ist ja klasse, und wie macht man das? Hab ich gar nicht gemerkt...“ Der Mann brummte und ließ sie los.

„Nervensäge... dann geh mit ihnen zu Fuß, wir werden dich sicher noch mal brauchen, sobald du dein Gedächtnis wieder hast! - Tayson, du darfst sie schlagen, vielleicht hilft das ja. Aber nicht jetzt, seht erst mal zu, dass ihr wegkommt.“

„Oh mein Himmel, wohin gehen wir?“, rief Ryanne entzückt, „Machen wir eine Reise? Ich will ans Meer!“

„Ja... Meer gibt es in Yiara eine Menge.“, sagte Leyya, als sie sich langsam ebenfalls erhob und zu Tayson sah, „Wir sollten tun, was Simu sagt. Kommst du mit uns?“

„Natürlich!“, machte der Schwarzhaarige und sprang auf, ehe er an seinen Gürtel fasste, an dem jetzt ein rostiges Schwert hing. „Das hab ich einem der Rüpel geklaut... ich beschütze euch Weiber schon.“

„Du bist toll!“, freute sich Ryanne, „Darf ich mit dir schlafen?“

„Argh!“, schrie Simu, „Jetzt nicht, haut endlich ab! Ich suche Neisa, Karana und Eneela, dann komme ich mit ihnen nach, das verspreche ich!“ Bevor wieder irgendjemand protestieren konnte, machte der Blonde sich auf den Weg. Leyya Lyra sah ihm besorgt nach, ehe sie sich daran machte, seinem Befehl zu folgen. Der Weg nach Yiara war weit...
 

Neisa wusste nicht, wo sie war, und erst recht nicht, wieso. Das letzte, an das sie sich erinnerte, waren die Flammen in Lorana und dass sie Karana gesucht hatte. Jetzt lag sie irgendwo, ohne ihre Umgebung richtig wahrnehmen zu können. Als sie die Augen öffnete, schwindelte ihr und ein fürchterlicher Schmerz stach durch ihren Kopf, sodass sie keuchte. Da waren Geräusche... sie konnte sie nur dumpf hören, wie durch einen dicken Schleier hindurch, und durch einen weiteren Schleier erkannte sie nach und nach Stücke ihrer Umgebung. Bunte Farben tanzten vor ihren Augen und ließen sie unruhig erzittern... der Geruch von verbranntem Fleisch und Holz stieg ihr in die Nase und Panik kam in ihr auf. Sie träumte nicht... Lorana brannte wirklich! Sie musste hier weg, sie musste Karana, Simu und ihre Mutter finden...

„Hilfe...“ stöhnte sie kraftlos und war verwirrt, wie schwer ihre Zunge war; wie betäubt erschien ihr ihr ganzer Körper, während sie so lethargisch auf irgendetwas Weichem, Modrigem lag, vielleicht einem gammligen Fell. Keuchend versuchte sie sich auf die Seite zu drehen, dann hörte sie vor sich eine amüsierte Stimme und sie wurde etwas unsanft aufgesetzt. Weil sie wieder umgefallen wäre, wurde sie im Rücken von einem Arm gestützt, dann spürte sie, wie man ihr eine Schale an die bebenden Lippen hielt.

„Ich... l-lasse mich nicht vergiften...“ stöhnte sie und versuchte kraftlos, ihren Kopf zur Seite zu drehen und nach demjenigen zu schlagen, der sie da festhielt und jetzt offenbar vor ihr hockte – sie konnte kein Gesicht erkennen. Der Schwindel wurde stärker. Der Mensch vor ihr lachte.

„Ich vergifte dich nicht, das bringt dich wieder auf die Beine... Neisa.“ Sie schauderte und in ihrem Inneren schlug irgendetwas Alarm, als sie glaubte, die Stimme zu erkennen. Nur, woher? Es war nicht Karana, nicht Simu und auch nicht Tayson... irgendetwas zog sich krampfhaft in ihr zusammen, als sie fieberhaft nachzudenken versuchte, mit wem sie es zu tun hatte... sie hatte das Gefühl, dass es kein angenehmer Zeitgenosse war.

Die Schale wurde ihr abermals an die Lippen gehalten und sie nippte gezwungenermaßen an ihrem Inhalt; es fühlte sich an wie Feuer, als sie schluckte, und gleichzeitig durchfuhr sie eine unnatürlich wallende Hitze, die sie japsen ließ. Auf jeden Fall war Alkohol drin... gegorener Beerensaft oder etwas Ähnliches... es schmeckte süßlich und nicht sonderlich gut, aber es benebelte ihre Sinne noch mehr und sie spürte, wie ihre Kopfschmerzen abklangen, sobald sie mehr trank. Statt der Schmerzen verspürte sie nur mehr Hitze, wie eine Flamme, die in ihrem Körper empor stieg.

„Verschwinde...“, wimmerte sie und schloss bebend die Augen, als sich die Welt davor zu drehen schien; die Person vor ihr kicherte amüsiert und schien die Schale weg zu stellen, im nächsten Moment spürte das blonde Mädchen Hände, die seinen zitternden, erhitzten Körper berührten.

„Ich habe immer gewusst, dass ich den Tag erleben würde, an dem du fern von Karanas Schutz sein würdest... an dem du unter mir liegen und zulassen würdest, dass ich dich richtig durchnehme, du Flittchen. Oh ja, und es ist gut... dein Dorf ist tot und wo Karana steckt, weiß der Geier... ich denke, Kurzhöschen wird ihn aufgeschlitzt haben. Vielleicht sollte ich ihn belohnen... andererseits, nein, er verdient keine Belohnung dafür, dass er seine Pflicht für unser Dorf getan hat.“ Neisa japste und versuchte bei allem Schwindelgefühl und trotz der fürchterlichen Wärme in ihrem Inneren, sich zu wehren und die Hände weg zu schlagen, die jetzt nach ihren Brüsten fassten und sie unsanft drückten. Wovon redete der Kerl? Sie versuchte immer noch, die Stimme zuzuordnen... die Reiter aus Kamien. Es musste einer von denen sein, niemand aus Lorana würde es wagen, sie derart anzufassen. Sie war noch Jungfrau... sie durfte noch gar nicht unter einem Mann liegen, ehe sie das traditionelle Blutritual durchgemacht hätte... wie konnte er es wagen?

„Lass mich... los...!“, keuchte sie und versuchte, sich unter ihm weg zu aalen, was sich als schwierig erwies, weil ihr jegliche Kraft fehlte, jemanden weg zu stoßen. Der Mann über ihr lachte.

„Ja, ja, versuch es nur. Der Beerensaft macht dich dusselig, dein Körper wird dir nicht gehorchen, Neisa. Du bist meine Gefangene und ich werde mit dir machen, was ich will.“

„Mein... mein Vater wird dir dafür die... Haut abziehen, wenn er das erfährt...!“, zischte sie und kämpfte mit aller Macht gegen den Alkohol, aber erfolglos. Sie schrie halbherzig, als sie spürte, wie der Kerl über ihr an ihrer Bluse riss und versuchte, sie ihr vom Leib zu zerren.

„Schade, dein Vater ist aber leider nicht hier, um dich zu retten... und dein arroganter Arsch von einem Bruder ebenfalls nicht. Keiner wird kommen... wir sind außerhalb der Trümmer deines Dorfes.“ Sie hörte das Lachen und schauderte, als ihr plötzlich einfiel, woher sie den Typen kannte.

„Himmel, nein, Loron!“, schrie sie jetzt kräftiger als vorher, „Verdammt, du widerwärtiger, schamloser, dreckiger Mistsack! Ich zerfetze dich, w-wenn ich dich erwische! Ich zerreiße deine Nerven und deine Muskeln, sodass du dich nicht mehr bewegen kannst und elendiglich verreckst, so, wie du es... v-verdienst! Lass mich los! Die Erdgeister werden... werden dich verschlingen, du Unhold!“ Er lachte abermals, als sie ohne jegliche Kontrolle über ihre Motorik nach ihm zu treten begann.

„Ja, schrie für mich, Neisa!“, amüsierte er sich und sie brauchte ihn nicht erkennen zu können bei dem bunten Farbgewimmel vor ihren Augen, um sein lüsternes Grinsen mit den dreckigen Zähnen zu sehen. Loron – das hätte ihr früher einfallen müssen. Der Kerl war mit ihren Brüdern in die Schule gegangen und hatte es schon immer lustig gefunden, andere zu demütigen und zu entehren... besonders die Frauen, seit er das richtige Alter dafür erreicht hatte. Sie schrie, obwohl ihr die Stimme versagte, und strampelte wild, als seine widerlichen Hände über ihr Gesicht und durch ihre verklebten und rußigen Haare fuhren, bis er sie am Haaransatz packte und herum zerrte, dann spürte sie sein Gewicht auf ihrem Körper, als er sich auf sie legte. Verdammt, warum hörte sie denn keiner?! Wo war Karana, dieser treulose Sack?! Wo war Simu? Sie wünschte sich jetzt sogar Tayson, der käme, um sie zu retten, und sie würde ihn freiwillig heiraten, wenn er nur verhinderte, dass Loron sie besudelte auf eine Weise, die alle Geister für immer erzürnen würde... verdammt, was sollte sie machen?
 

Das Inferno war vorbei. Die Flammen gingen zurück im Dorf, die meisten Häuser waren zerstört oder brannten noch immer, die Menschen waren tot oder geflohen. Und wieder stampfte Zoras Derran durch ein verendetes Dorf und suchte wutentbrannt nach Arlon, der noch immer seine Mutter hatte. Er hatte eine Menge gezaubert und seine Kräfte waren jetzt am Anschlag angelangt. Es war gut, dass Karana verschwunden war... er fragte sich benommen, was genau er eigentlich mit seinem Gegner gemacht hatte, als er die Schattenvögel gerufen hatte, damit sie für ihn den Rest erledigten. Ob Karana jetzt starb? Plötzlich war aus dem Nichts eine fremde Frau gekommen, die seine Konzentration unterbrochen und die Krähen verjagt hatte, und als Karana vermutlich bewusstlos umgefallen war, hatte sie ihn mitgenommen, Zoras dabei angefaucht wie ein wütendes Raubtier und war davon geeilt. Der Schwarzmagier hatte das Gefühl, dass er den Blick aus ihren kalten, blauen Augen nicht so schnell vergessen würde – das konnte einem ja Alpträume verschaffen, Himmel. Er hatte sie vorher nie gesehen, vielleicht war es eine von Karanas Bettgespielinnen – von denen hatte der eingebildete Sohn des Senators jedenfalls eine große Menge, das hörte man überall im Umkreis. Die Frauen kicherten, wenn sie Karanas Namen hörten, und so ziemlich jede, die Zoras kannte, würde unter Garantie sofort die Beine breit machen für den Schönling aus Lorana. Nicht, dass ihn das kratzte... Frauen waren ihm egal. Er verstand nur nicht, was sie alle an ihm fanden... was hatte Karana zu bieten? Sicher war es, weil er von adeliger Herkunft war, weil sein Vater einer der mächtigsten Männer Kisaras war und weil er – das musste der Schwarzhaarige zugeben – wirklich ungewöhnlich gut aussah. Selbst Lorons Schwester Asta schwärmte für ihn... wobei die sicher keine Chance bekommen würde, sie war unbedeutend und hässlich. Dabei war sie ein sehr liebenswerter Mensch, Zoras fand, Asta verdiente viel mehr einen Mann als Karana auch nur eine halbe Frau.

Er hielt kurz inne und fasste murrend nach der Wunde auf seiner Brust, die er seinem ewigen Kontrahenten zu verdanken hatte, und versuchte krampfhaft, die Fetzen seines Ärmellosen Hemdes von seiner Haut zu pulen. Es war schade um das Hemd... seine Mutter würde schimpfen, weil er es schon wieder geschafft hatte, eins zu zerstören. Aber dieses mal war es wirklich nicht seine Schuld. Die Stofffetzen waren verklebt von Blut und dem Ruß des Infernos, sie ließen sich nicht ablösen und er zischte, als er nur einen winzigen Fetzen ab bekam, was höllisch schmerzte.

„Verdammt, Karana!“, stöhnte er, „Wenn ich dich jemals wiedersehe, werde ich dir die ganze Haut verbrennen, du wirst dir wünschen, nie geboren worden zu sein! Ich hoffe für dich, dass du krepierst mit deiner komischen Wildkatzenfreundin!“ Er zischte erneut, als er weise beschloss, die noch immer blutende Wunde in Frieden zu lassen; sollte sie doch von selbst verheilen. Er war kein Heiler, den einzigen, sehr schwachen Heilzauber, den auch Schwarzmagier anwenden konnten, beherrschte er sowas von absolut gar nicht, das konnte er vergessen. Davon abgesehen, dass es nicht gereicht hätte, um den Schnitt auf seiner Brust zu schließen. Verdammt noch mal.

„Arlon!“, brüllte er wutentbrannt, als er weiter durch das Dorf nach Westen stampfte, „Zeig dich, du Drecksack! Ich reiße dir die Eingeweide heraus, wenn du mir nicht auf der Stelle meine Mutter zurückgibst! Ich habe verdammt noch mal getan, was du wolltest!“ Genau genommen hatte er das nicht... Dasan Sagal war schließlich noch am Leben. Aber das musste der Chef von Holia ja nicht wissen... sobald er Pakuna hatte, würde er mit ihr weglaufen und diese verdammte Armada sich selbst überlassen – und beten, dass Puran Lyra über den Verlust seines Dorfes so ausrasten würde, dass er sie alle zerfetzte. Offenbar war der Herr der Geister nicht da gewesen beim Angriff... sonst hätte er ihn garantiert verhindert oder früher beendet. Wozu war er sonst der Herr der Geister, wenn er dazu nicht fähig wäre?

Die Geräuschkulisse kam Zoras so bekannt vor... das Knarren der letzten Häuser, die gleich zusammenbrechen würden, das Grölen der bereits angetrunkenen, feiernden Bauern und das Schreien und Wimmern der Frauen, die sie geschnappt hatten und jetzt schändeten. Er drehte demonstrativ das Gesicht ab von diesen Szenarien, wenn er an Rüpeln vorbei eilte, die gerade irgendein unschuldiges, junges Mädchen an irgendeiner noch stehenden Wand vergewaltigten. Hätte er noch die Kraft dazu und bräuchte er sie nicht noch, um mit seiner Mutter weg zu laufen, hätte er jeden einzelnen Kerl getötet, den er so mit einer Frau erwischte... so, wie er Arlon am liebsten töten würde, sollte er ihn auf seiner Mutter erwischen. In Holia war er irgendwie immer der Einzige gewesen, der es jemals gewagt hatte, eine Frau vor einem Mann zu retten oder zu schützen. Von den anderen Männern im Dorf war er dafür immer ausgelacht worden... der Frauenbeschützer des Dorfes war er genannt worden, und sie hatten über ihn gelästert und ihn unmännlich genannt. Zoras fragte sich, ob es nicht viel unmännlicher war, wenn keine Frau freiwillig zu einem kam und man sich mit Gewalt holen musste, was man begehrte, weil man ohne nicht dazu fähig war... er war eben kein Mann aus Kamien. Obwohl er in Kamien geboren war, hatte er die ärmste Provinz Senjos nie als seine Heimat betrachtet, keinen einzigen Moment seines Lebens. Und wenn er mit Pakuna wegliefe, wohin sollte es gehen? Kisara, möglichst weit nach Nordosten, weg von Senjo. Weg von Kamien. Sein Vater durfte von ihm aus in Holia versauern oder nachkommen, wenn ihm mal aufgegangen war, dass das Dorf, das ihnen ja ach so gnädig Schutz geboten hatte, ein Dreckskaff war...

Er unterbrach seine grimmigen Gedanken, als er das Dorf verließ und Arlon immer noch nirgends sah. Fluchend wirbelte er herum und starrte zurück in die qualmenden Trümmer. Wo war denn dieser Sack? Er brüllte wütend seinen Namen, erhielt aber abermals keine Antwort – als er sich wieder umdrehte und zum Rand des Wäldchens spähte, das nordwestlich des Dorfes lag, entdeckte er aber immerhin die zweite Wahl, Arlons Sohn. Der würde ihm hoffentlich verraten können, wo sein widerlicher Vater war. Als er näher kam, sah er, dass Loron sich auch gerade an irgendeiner Frau zu schaffen machte, und Zoras stöhnte und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken, der ihm jedes Mal kam, wenn er so kopulierende Menschen beobachten musste – wobei Loron zum Glück noch seine Hosen an hatte, was ihm hoffentlich den Anblick seiner erigierten Genitalien ersparte... oh, er verabscheute Penisse ja so dermaßen... es gab eigentlich nichts, was er mehr verabscheute und was ihm mehr Furcht einflößte.

Das blonde Mädchen unter Loron versuchte verzweifelt, sich zu wehren und jammerte, während der Prinz von Holia amüsiert gluckste und sie offenbar auszuziehen versuchte – und als Zoras nahe genug an beiden dran war, um zu erkennen, um wen es sich hier eigentlich handelte, wünschte er sich gleich noch mal, Puran Lyra würde sämtliche Männer aus Kamien mit einem Zerstörer grillen und jedem einzelnen die Eier abschneiden für das Vergehen, das dieser Sack da unternahm... mit seiner einzigen Tochter Neisa.

Zoras war nicht Puran Lyra und Neisa war nicht im Entferntesten seine Tochter – sie war ja bloß zweieinhalb Jahre jünger als er – aber er spürte in dem Moment, in dem er sie erkannte, einen dermaßenen Hass in sich empor steigen, einen so ungebändigten, grauenhaften Zorn, dass er seine doch sehr beschränkten Kräfte für den Moment völlig vergaß. Er hatte Karana immer gehasst... aber gegen seine Schwester hatte er nie etwas gehabt. Nein, gegen jeden, nur nicht gegen sie.

Mit einem einzigen Satz war er bei Loron, packte ihn gewaltsam an den Armen und riss ihn mit einer verblüffenden Kraftreserve von Neisa herunter, dass der Ältere verdutzt aufschrie, als er zu Boden geschleudert wurde. Neisa wimmerte – sie war noch angezogen, nur ihre Bluse war halb aufgerissen. Jetzt kauerte sie sich zusammen und zischte, die Augen dabei öffnend, die irgendwie fiebernd wirkten.

„Ja, richtig so!“, keifte sie, „Zerfetze den Mistkerl, reiß ihn in Stücke, wer immer du bist! Spieße ihn verdammt noch mal an seinem Schwanz auf und lasse ihn im Wind austrocknen wie ein Bettlaken!“ Zoras hatte keine Zeit, sich über Neisas ungeahnt sadistische Ader zu wundern, die er bisher nicht gekannt hatte, er widmete sich lieber Loron, der aufgesprungen war und wütend zischte. In seiner Hose zeichnete sich deutlich die Erregung ab, aber sie wurde schnell kleiner, als der Braunhaarige empört die Arme hob.

„Bist du behindert, Zoras?! Was zum Geier bildest du dir ein, mich jetzt zu stören?!“

„Ich habe dich gewarnt... dass die Geister dir zürnen würden, wenn du es wirklich wagst, sie anzurühren! Sie werden dich bis in deine Träume verfolgen, bis du am Wahnsinn stirbst, Loron! Verpiss dich, aber plötzlich, ehe ich es mir anders überlege und dich gleich hier und jetzt auf die brutalste Weise töte, die mir einfällt!“ Loron starrte ihn an – und lachte dreckig.

Nein... das ist doch nicht dein Ernst, du... du stehst selber auf sie?! Alter, du, der Heilige, der es nie mit einer Frau treibt...“

„Ich stehe nicht auf sie!“, empörte Zoras sich, „Aber das würdest du sowieso nicht verstehen. Leute ohne Gehirn haben da keine Chance.“

„Alter... du willst sie ja sowas von ficken, lüg mich nicht an... du bist nur wählerisch, die bei uns sind dir natürlich nicht gut genug, nein, wenn Zoras Derran eine Frau fickt, muss es natürlich die hübscheste, klügste und beste sein, Neisa Lyra.“ Zoras brüllte ihn an und brachte noch einen kleinen Blitzzauber zu Stande, den er nach ihm schleuderte und den Gegner damit zu Boden warf. Loron hustete.

„Ich warne dich ein letztes Mal, verpiss dich und verrecke, Loron, das ist meine allerletzte Warnung!“ Loron musste nicht wissen, dass er viel mehr als so eine kleine Demora nicht mehr schaffen würde... es reichte, wenn der Dämlack dachte, er könnte ihn jetzt grillen. Neisa applaudierte hinter ihm.

„Zeig es ihm, reiße ihn in Stücke! Hörst du, verpiss dich, Loron! Mein Vater wird dich umbringen, wenn er das erfährt, das sage ich dir!“ Oh ja, darauf hoffte der Schwarzhaarige definitiv auch. Er zischte in Lorons Richtung, als er seine beiden Dolche drohend zog und sie in seine Richtung hielt. Jetzt erhob sich Arlons Sohn wieder und zischte ebenfalls wütend, als er rückwärts trat.

„Dafür bezahlst du, Zoras. Deine Mutter wirst du jetzt... jedenfalls sicherlich nicht bekommen!“ Damit wandte er sich ab und lief davon, die beiden Schamanen am Waldrand zurück lassend.
 

Zoras seufzte bitter, als er seine Waffen wieder einsteckte und zu Neisa sah, die hilflos versuchte, sich aufzurichten, dabei aber immer wieder torkelnd umfiel und dann stöhnte. Loron musste ihr Drogen gegeben haben... was sollte er jetzt machen?

„Bist du verletzt?“, fragte er dumpf, „Hat Loron dir was angetan?“

„Er ist nicht weit gekommen... ich reiße ihm die Eier ab, oh ja!“, fluchte das blonde Mädchen und stierte ihn aus benebelten Augen an. Ihre Pupillen waren riesig geworden, das sah wirklich ungesund aus. Zoras hockte sich zu ihr und räusperte sich.

„Wo sind diene Eltern, weißt du das?“

„Nein!“, zischte sie, „Mein Vater ist in Taiduhr... meine Mutter, keine Ahnung. Wir wollten eigentlich nach Yiara... i-ich habe... alle im Inferno verloren, keine Ahnung. Du hast mich gerettet...“ Er hörte ihr nicht zu, als sie anfing, debil vor sich hin zu lallen, offenbar vollkommen eingenommen vom Rausch des Alkohols. Er konnte sie nicht hier liegen lassen... wenn nicht Loron zurück käme, käme der nächste Rüpel. Karana war verschollen und von den anderen, die zu ihr gehörten, war auch keiner zu sehen... verdammt, er musste doch seine Mutter retten!

„Deine Mutter wirst du jetzt jedenfalls nicht bekommen!“, erinnerte er sich an Lorons letzte Worte, und er stöhnte. Das war ja klar gewesen... das hieß, er müsste sich mit Loron und Arlon um sie prügeln, und dazu war er in diesem Moment definitiv nicht in der Lage... er hatte keine Kraft mehr, zu zaubern, und die Wunde auf seiner Brust schmerzte jetzt noch mehr, nachdem er Loron gepackt hatte... so angeschlagen, wie er war, war das absolut aussichtslos. Zoras blickte wieder auf Neisa, die jetzt nach vorne gegen ihn kippte und ihn herzlich umarmte. Dabei drückte sie gegen seine Wunde und er schrie erschrocken.

„Aua, verdammt!“

„Du hast mich gerettet, ich will deine Frau werden... zum Dank.“ Zoras stöhnte und schob sie von sich weg.

„Oh nein, du willst garantiert nicht meine Frau werden. Und selbst wenn, dein Vater hat da auch noch ein Wörtchen mitzureden, und der will das sicher auch nicht. Du sagst, ihr wollt nach Yiara...?“ Sie kicherte betrunken.

„Mir ist heiß, wenn du zärtlich bist, schlafe ich mit dir...“ Bei dem Gedanken errötete er über und über.

„Neisa, nein!“, rief er zornig, „Jetzt sieh mich endlich an, hast du überhaupt begriffen, wer ich bin?!“

„Mein Retter!“, johlte sie und er verdrehte die Augen. Also nicht... obwohl ihn der Gedanke ziemlich ehrte, dass sie mit ihm schlafen wollte – wenn auch nur deshalb, weil sie betrunken war. Wenn er nicht so kaputt und es nicht verboten gewesen wäre, wäre er sicher nicht abgeneigt gewesen... Himmel, was dachte er da? Aber nur, weil er sich nie eine Frau nahm, hieß das nicht, dass er keine mochte... nein, er musste jetzt damit aufhören. Wahrscheinlich dachte er sowas auch nur, weil er vom vielen Zaubern so benommen war.

Plötzlich sah Neisa ihn völlig ernst an, ihr Blick hatte sich schlagartig verändert – in dem Moment war es, in dem er ihr in das trotz des Infernos so hübsche Gesicht blickte, dass er den Schauer der Geister spürte, die in seinem Kopf zu flüstern anfingen. Und als sie sprach, wusste er, was er zu tun hatte... es war der Wille der Geister gewesen, der ihn jetzt zu ihr gebracht hatte.

„Die Schicksalsgeister haben mich erwählt... den Schatten zu vernichten. Ich sehe... in deinem Gesicht so... viel Macht... ich habe keine Angst. Wir hatten beschlossen, nach Yiara zu meiner Tante zu fliehen. Sicher sind die anderen schon auf dem Weg dorthin... fort von... den Schatten.“ Zoras sah sie eine Weile schweigend an, dann kehrte er ihr den Rücken und griff hinter sich, um ihre Arme zu packen.

„Komm. Kletter auf meinen Rücken, Neisa. Ich... bringe dich zu deiner Familie zurück. Rasch, vielleicht holen wir sie ja noch ein.“ Er spürte, wie sie sich rührte und dann artig tat, was er verlangt hatte, sich an seinen Hals klammernd und die Beine um seine Taille schlingend, was irgendwie schmerzte. Er zischte und erhob sich etwas mühsam. Sie war nicht schwer, aber es fiel ihm schon nicht leicht, sein eigenes Gewicht noch lange zu tragen. Weit kommen würde er nicht... nach Yiara ging man viele Tage. Er bat Pakuna innerlich um Vergebung und hoffte, dass die Rüpel ihr nichts wirklich Schlimmes antäten, während er weg war... aber er konnte sie hier nicht liegen lassen und um seine Mutter zu retten müsste er ohnehin erst seine Kraft zurück haben. Wenn er sie schnell zu ihren Leuten brachte und dann zurück eilte, gab es vielleicht noch eine Chance. Seine Mutter war stark... sie würde sich ihren Geist nicht brechen lassen. Und töten würde man sie nicht, dafür war sie Arlon zu schade. Ließe er dagegen Neisa alleine, würde man ihr Schlimmeres antun... er hatte doch keine Wahl.

Ihr verarscht mich, Geister... eines Tages zahle ich euch das heim.

So dachte Zoras Derran, als er grimmig den Weg nach Norden einschlug, um das betrunkene Heilermädchen nach Yiara zu bringen.
 


 


 


 

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Langweiligerer Titel ging nicht, sorry xD

Mondfinsternis

Loron war wütend. Nicht in erster Linie, weil sein Schlägermagier ihm die Nummer mit Neisa versaut hatte, eigentlich ging es mehr darum, dass seine Überlegenheit am laufenden Band untergraben wurde. Ganz besonders von Zoras... das war das Problem. Der junge Mann spuckte verärgert auf den Erdboden und stampfte zurück in das verkohlte Dorf, um irgendetwas zu suchen, dem er den Schädel einschlagen und sich abreagieren könnte. Irgendein dummes Kind würde sicher noch übrig sein, das er zerschlagen konnte. Er war so armselig... zu mehr taugte er nicht, als kleine Kinder zu erschlagen und Frauen zu schänden. Er hasste es...

Es war etwas mehr als acht Jahre her, dass Derrans in Holia angekommen waren. Das war seltsam gewesen... Schamanen traf man selten in Kamien. Loron, damals noch ein kleiner Junge, hatte es für sehr praktisch befunden, den etwa gleichaltrigen Schamanenjungen zu seinem neuen besten Freund zu küren... nicht etwa, weil er ihn auf Anhieb gern gehabt hätte. Im Gegenteil, Zoras war schon immer komisch gewesen, Loron hatte ihn immer eher abartig gefunden und vermutlich war es andersrum genauso. Nein, es war mehr darum gegangen, dass es extrem unpraktisch für ihn gewesen wäre, hätte er den kleinen Magier gegen sich gehabt. Und dass Zoras Derran ein ziemlich guter Magier war, hatte sich dann ziemlich schnell herausgestellt, als der Knirps zum ersten Mal Karana Lyra die Stirn geboten hatte. Und Karana war schließlich der großkotzige, unheimlich tolle, begabte Sohn des Herrn der Geister... etwas gegen den in der Hand zu haben hatte Zoras für den Sohn von Arlon Zinca doppelt wertvoll gemacht. Er selbst war nur ein Mensch, er konnte nicht zaubern. Körperlich war er Karana haushoch überlegen, und Zoras eigentlich auch, wobei sein bester Freund mit den Jahren vor allem für seine sehr geringe Körpergröße unglaublich kräftig in den Armen geworden war. Aber sobald einer der beiden anfing, zu zaubern, hatte Loron keine Chance mehr. Das war es, was ihn jetzt so nervte... Zoras war schon lange nicht mehr sein braver Mitläufer, der ihm gehorchte und auf seinen Befehl hin andere Leute verprügelte. Und das Schlimme war, dass er dem kleinen Kerl definitiv nicht länger überlegen war. Es bedurfte Zoras bloß eine Handbewegung, um ihn zu töten oder mit ihm anzustellen, was immer er wollte. Aber wenn Zoras ihm nicht mehr gehorchte, mit wem sollte er dann die Leute einschüchtern und sich den Respekt verschaffen, den er haben wollte? Er konnte sich noch so oft Prinz von Holia nennen, er war einfach kein richtiger Prinz. Diese Drecksäcke, sie würden eines Tages dafür bezahlen, das galt für Karana und auch für Zoras und jeden, der sonst noch so in den Kreis derer gehörte, die Loron nicht leiden konnte.

Während er grimmig über seine verlorene Würde über einen Trümmerhaufen kraxelte, stolperte er an dessen Füßen beinahe über eine tote Frau, die da am Boden lag, und fluchend machte er einen Satz, um nicht zu fallen. Als er herumfuhr, bewegte die Tote sich schwach, blieb dann aber wieder reglos liegen. Loron schnaufte, trat näher und beugte sich über die vermeintliche Leiche. Es war eine junge Lianerin, vermutlich eine aus dem Dorf, die sich irgendwie befreit hatte und dann hier etwas gegen den Kopf bekommen hatte. Ihr Hinterkopf war mit Blut verschmiert. Die Frau erzitterte und er verzog den Mund zu einem gehässigen Grinsen. So tot war sie gar nicht... wenn sie lebte, konnte sie ihm immerhin als Wutventil dienen. Das war überaus praktisch, dass die hier zufällig herum lag. Oh, er würde das arme Ding leiden lassen, bis es keine Kraft mehr zum Schreien hatte. Mit diesen Gedanken packte er die Lianerin, hob sie sich über die Schulter und transportierte sie wie einen Mehlsack raus aus Lorana.
 

Das Dorf war verlassen. Simu seufzte resigniert, als er die Ruinen erreichte, die vor kurzer Zeit noch seine Heimat gewesen waren. Er sah keinen Menschen, den er kannte... wenn er aus der Ferne johlende Krieger – oder eher Rüpel – aus Kamien erblickte, versteckte er sich, damit sie ihn nicht auch noch erschlugen. Wie sollte er seine Geschwister und Eneela finden, wenn er tot war? Oder zumindest bewusstlos... nein, die Männer aus Kamien würden ihn als Mann eher totschlagen als ohnmächtig; er war ja keine Frau, für ihn hatten sie keine Verwendung mehr. Hoffte er zumindest... er beschloss tapfer, dass er lieber tot wäre als ein Spielzeug der Perversen aus Kamien. Was man aus der Gegend hörte, ließ ihn denen alles zutrauen...

Er fuhr zusammen, als er plötzlich hinter sich Stimmen hörte, und er sah zwei der Barbaren auf sich zu kommen, die sich lautstark unterhielten, wie großartig sie doch wären. Er hatte keine Chance, sich zu verstecken, da hatten sie ihn auch schon entdeckt. Aber zu seiner Verblüffung lachten sie ihn nur betrunken an.

„Nich' wahr, Kleiner?! Denen ha'm wir's ja... voll gezeigt!“

„Jo!“, addierte der zweite, „Wir sollten... auf Arlons Zauberer anstoßen, der sie umgemäht hat, hahaha!“ Sie winkten Simu lallend zu und der Blonde schauderte, erwiderte das Lachen dann kalt, damit sie nicht auf die Idee kamen, er wäre gar keiner von ihnen, wofür sie ihn, besoffen wie sie waren, wohl hielten.

Arlons Zauberer? Dann habe ich mich ja nicht getäuscht damit, dass Zoras da mitgemacht hat...

Der Blonde sah den Rüpeln nach und zischte grimmig, ehe er den Kopf hob und gen Himmel blickte. Zoras war zwar schon immer ein jähzorniger Zwerg mit Komplexen gewesen, aber wenn er ehrlich war, hätte er Karanas ewigem Rivalen nicht zugetraut, dermaßen skrupellos zu sein, ganze Dörfer auszulöschen... und schon gar nicht für Kamien. Soweit Simu das mitbekommen hatte, war diese eigenartige Freundschaft zwischen dem kleinen Schamanen und Loron immer nur Mittel zum Zweck gewesen, dass Zoras wirklich etwas für Kamien übrig hatte, war ihm definitiv neu. Eigentlich konnte es ihm aber auch egal sein... vielleicht hatte Karana seinen Gegner ja gefunden? Vielleicht hatte Karana dem verblendeten Kampfzwerg ja die Meinung gegeigt... wenn, dann war es schon vorbei, nirgendwo grollte der Himmel oder zuckten Blitze. Er sah nach oben und betrachtete die von Qualm verschleierte, blassgrün schimmernde Ghia. Zuyya war verschwunden... der kleinere der beiden Monde war entweder komplett vom Rauch verschluckt worden oder der Schatten, der über Tharr zu kommen schien, kam auch über Zuyya.

Der junge Mann beeilte sich, weiter durch das Dorf zu hasten und nach den anderen zu suchen, während er an den seltsamen, kleinen Mond dachte. Die Bewohner der Zuyya waren noch viel furchtbarer als die Menschen aus Kamien. Der Unterschied lag darin, dass die Barbaren aus dem Westen dumm wie Brot waren... das machte sie leicht zu schlagen. Die Zuyyaner dagegen waren gerissene Strategen, die noch sehr viel weniger Skrupel hatten als jeder noch so gemeine Sack aus Kamien. Von dem letzten, großen Krieg zwischen Tharr und Zuyya hatte Simu als Kind nur das harmlose Ende mitbekommen. Bevor er geboren worden war – wobei er sein wirkliches Geburtsjahr nicht kannte, man vermutete ihn immer etwa aus demselben Jahrgang wie Karana – musste es sehr viel furchtbarer gewesen sein, wie seine Eltern mitunter erzählt hatten, die alles miterlebt hatten. Nicht nur das... sein eigener Vater war es schließlich gewesen, der den alten Kaiser des zuyyanischen Imperiums erschlagen hatte. Das hatte Puran damals zu einem großen Helden gemacht und Simu bewunderte seinen Vater dafür, obwohl jener so gut wie nie darüber sprach, und wenn, dann äußerst ungern und nur das Nötigste. Vermutlich war es eigentlich viel mehr das, was Simu an ihm bewunderte – im Gegensatz zu seinem Sohn Karana versuchte Senator Lyra nicht, seine Position auszunutzen, um seine größenwahnsinnige Ader zu befriedigen; so eine Ader schien Puran nicht zu besitzen, obwohl er von Geburt an dazu bestimmt gewesen war, etwas Großes und Besonderes zu werden. Und da behaupteten andere immer, Adelige wären von Natur aus arrogant und eingebildet. Wenn dem so war, war an Puran irgendwas kaputt. Simu hoffte, sein Vater wäre nicht zu besorgt, wenn er von Loranas Fall erfuhr... es war sein eigenartiger Instinkt, der ihm versicherte, dass er nicht extra nach Taiduhr laufen müsste, um ihm zu berichten. Die Geister würden es ihm schon selbst erzählen... vielleicht erwähnten sie dabei zufällig auch, dass die Familie soweit in Sicherheit war... das hieß, zumindest Leyya war das. Simu wünschte sich grummelnd, er könnte auch mit den Geistern sprechen, damit sie ihm halfen, Neisa und Karana zu finden... hastig setzte er seine Suche fort und gelangte weiter nach Westen.
 

Eneela hatte Schmerzen. Sie wusste gar nicht, woher sie kamen, sie waren einfach überall. Ein dunkler Schleier lag über ihren Augen und als sie sie öffnete, sah sie nur die Schatten, die sie zu verfolgen schienen. In ihrem Kopf hämmerte der Schmerz, als sie keuchend die Luft einzog und versuchte, aus der Schlucht der Ohnmacht heraus zu kriechen. Es gab kein Tageslicht mehr... alles war dunkel, das einzige Licht, an das sie sich erinnerte, waren die lodernden Flammen des Dorfes. Wo war sie? War sie tot und schwebte jetzt haltlos zwischen der Geisterwelt und der Welt der Lebenden? Die heftigen Schmerzen sprachen aber dafür, dass sie noch lebte... als Toter spürte man doch sicherlich keine Schmerzen...

Sie versuchte unglücklich, sich zu bewegen, konnte sich aber nicht regen. Ihre Glieder waren schwer und ihr Atem ging rasselnd, als sie heftig nach Luft schnappte. Der Schatten beugte sich über sie und schien sie anzugrinsen, was sie erschreckte, so drehte sie wimmernd den Kopf weg.

„Lass... mich...“, stammelte sie und war erschrocken darüber, dass sie kaum Stimme hatte. Was war eigentlich geschehen...? Das Lianermädchen hatte sein Zeitgefühl komplett verloren...

Das Feuer.

Ja, das Feuer war da gewesen, es hatte gebrannt. Sie verkrampfte sich vor Panik, als sie an das Feuer zurückdachte. Sie hasste Feuer... sie fürchtete sich vor den Flammen, die sie zu verbrennen drohten, und zitternd kauerte sie sich zusammen, soweit sie es schaffte. Feuer verfolgte sie... egal, wohin sie kam, es brannte immer.

„Tötet das Mädchen! Wage nicht, wegzulaufen, Eneela, oder ich reiße deiner Mutter die Haut vom Leib und tanze darin... du würdest mir doch sicher zutrauen, dass ich das tue...?“

Sie schnappte panisch nach Luft, als vor ihren inneren Augen die Flammen erneut aufloderten, die Flammen, die versucht hatten, sie zu töten... und sie spürte noch immer, wie sie sie packten, sie sah noch immer die höhnisch grinsende Fratze des Dämons vor ihren Augen. Sie wollte schreien, aber es kam kein Ton aus ihrer Kehle – alles blieb ihr vor Gram im Hals stecken, als sie nur an die furchteinflößende Grimasse dachte, in den Augen ein fürchterlicher Wahnsinn, der sie in den Schatten zu treiben versuchte...

„Nein!“, schrie sie mit mehr Stimme als zuvor und fuhr herum, um sich hysterisch aus dem Halbschlaf zu reißen, dann wurde sie erneut gepackt und heftig gerüttelt. Als sie abermals die Augen öffnete, zog sich der Schleier zurück und sie erkannte über sich die grinsende Fratze, die sie so sehr fürchtete und verabscheute...

„Du bist wieder wach, na endlich. Und ich dachte schon, ich müsste jetzt noch Jahre darauf warten, du blöde Hure.“

Mit Verblüffen erkannte Eneela, dass der Mann, der sich über sie beugte und sie grimmig angrinste, nicht der war, für den sie ihn zuerst gehalten hatte. Und eigentlich sah er ihm auch gar nicht ähnlich, nicht mal im Ansatz. Sie kannte den Kerl nicht, er hatte unordentliche, braune Haare, die aber von Ruß und Sand verdreckt waren, und ein ziemlich hässliches, gebräuntes Gesicht. Und sein Grinsen war ganz anders... ihm fehlten Zähne und die, die er hatte, waren schief. Eneela zitterte und starrte den Typen verwirrt an – die Erleichterung darüber, dass er nicht der war, den sie fürchtete, hielt nur so lange an, bis sie merkte, dass sie nackt war. Moment, wo waren ihre Kleider?

„W-wer bist du?!“, japste sie fassungslos und starrte wieder in das wirklich sehr hässliche Gesicht, und der Typ über ihr schnaubte und zupfte dabei an seinen eigenen, schmutzigen, abgenutzten Kleidern.

„Willst du das wissen? Wirklich? Ist ja toll, hast du gar keine Angst?“

„Was hast du vor?!“, japste sie weiter und er fing schallend zu lachen an.

„Ich habe dich aus dem brennenden Dorf gerettet und hole mir jetzt die Belohnung dafür.“ Ehe sie schreien oder protestieren konnte, verschloss er ihren Mund mit seinem. Sie war zu entsetzt, um sich zu regen, während sie spürte, wie er sich über sie legte und mit den Händen über ihren nackten, ungeschützten Körper fuhr. Rein aus Reflex begann sie, sich zu winden und zu versuchen, ihn weg zu stoßen, während sie den Kopf zur Seite riss und schrie.

„Nicht! Um Himmels Willen, lass mich in Ruhe!“

„Nein, ganz sicher nicht, nachdem Kurzhöschen mir meinen Spaß mit Neisa versaut hat, musst du leider dran glauben. Also beschwere dich bei Kurzhöschen, er ist Schuld.“ Sie japste entsetzt. Moment, Neisa? Die kannte sie doch, war das nicht das Heilermädchen, die Schwester von Simu und Karana? Sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, weil seine Finger ihre Brüste ergriffen auf eine Weise, die sie niemals zugelassen hätte. Eneela schrie und strampelte, dafür fing sie sich eine Ohrfeige von dem fremden Typen und keuchte. Es schmerzte – das Pochen in ihrem Kopf wurde schlimmer und verwandelte sich in ein immer währendes Dröhnen, als seine Hände sich brutal in ihr Fleisch gruben wie die Klauen eines Raubtieres. Sie wand sich verzweifelt und schlug ihm gegen die Brust, was ihn nicht zu kratzen schien.

„Hilfe!“, heulte sie kraftlos und viel mehr als die Ohrfeige zuvor schmetterte sie jetzt sein Lachen nieder, das er erwiderte.

„Alter, kein Arsch wird dir helfen. Du bist nichts wert, Gespensterweib... keine Sau interessiert hier, was mit dir passiert. Es kommen höchstens noch mehr Kerle an, die dich dann nach mir nehmen... versuche es also gar nicht erst. Halt doch still, du Luder!“ Sie schnappte panisch nach Luft und trat wild nach ihm, ohne ihn wirklich zu treffen, als er sich abermals über sie beugte. Sein Gewicht drückte sie gegen den harten Boden, auf dem sie lag, und sie hatte keine Chance mehr, ihn zu schlagen, als er ihre Hände packte und sie über ihrem Kopf auf die Erde pinnte, sie dort mit einer seiner eigenen Hände festhalten. Sein Griff schmerzte und sie wimmerte hysterisch, als er versuchte, sie zu küssen, und sie abermals den Kopf weg riss. Jetzt wurde er ärgerlich und packte mit der freien Hand ihr Kinn auf eine so brutale Weise, dass es irgendwo in ihr knackte. Sie schrie, und wo sie den Mund gerade offen hatte, küsste er sie erneut. Sie verspürte einen grauenhaften Brechreiz, als seine Zunge in ihren Mund drang, und japsend riss sie ihr Gesicht aus seinem Griff, wobei er ihre Lippe biss und sie zu bluten begann.

„Verschwinde, lass mich!“, schrie sie panisch und der Kerl brummte, ehe er sie erneut ins Gesicht schlug und dabei grinste.

„Oh ja, wehre dich, dummes Flittchen. Schrei nur, es wird dich ohnehin niemand hören, der dir helfen kann!“ Und sie schrie – aber weniger, um ihm den Gefallen zu tun, sondern eher, weil er ihre Hände jetzt wieder los ließ und dafür ihre Hüften packte, um ihren Unterleib im Zaum zu halten. Jetzt konnte sie wieder nach ihm schlagen, aber er setzte sich auf und war damit außerhalb ihrer Reichweite, worauf sie noch lauter schrie in der verzweifelten, panischen Hoffnung, dass es doch irgendwer hörte... irgendjemand musste ihr doch helfen!

Lians. Sie war Lianerin... sie konnte eine Lian beschwören und ihn damit davon schleudern... sie hatte es schon einmal getan... sie musste sich nur konzentrieren...

Alle Konzentration entwich ihr mit einem Schlag und wurde durch irrsinnige Panik ersetzt, als sie wieder zu ihrem Peiniger blickte, der jetzt ihre Oberschenkel packte und sich dann energisch gegen ihren Unterleib presste. Sie spürte das, was an Männern so fürchterlich war, zwischen ihren Schenkeln und wie es sich skrupellos einen Weg in ihren Körper suchte, und in ihrer Panik versuchte Eneela, rückwärts zu kriechen, sich weg zu allen, irgendetwas zu tun – sie kam nicht weit, da erntete sie einen neuen Schlag ins Gesicht, der sie benommen machte und ihre grässlichen Schmerzen steigerte. Keuchend sackte sie in sich zusammen und erzitterte, als der Typ sich wie eine bösartige Sturmwolke wieder über sie beugte und den Schatten verstärkte. Eneela japste machtlos und fragte sich, wieso ihre Lungen überhaupt noch arbeiteten...

Die Benommenheit des vorangegangenen Schlags verließ sie auf einen Schlag mit dem grauenhaftesten, mächtigsten Schmerz, den das Mädchen jemals erlebt hatte, in dem Augenblick, in dem der Kerl seinen Unterkörper abermals gegen ihren rammte und dabei auf unsanfte Art in sie eindrang. Plötzlich war er in ihrem Körper und der Schmerz war so fürchterlich, dass Eneela die Luft weg blieb und sie glaubte, im nächsten Moment zerreißen zu müssen. Dann stieß sie einen gellenden Schrei aus, bei dem sich ihre panische Stimme überschlug... worauf der Kerl nur zischte.

„Los, beweg dich, du dämliche Tussi!“, schnauzte er sie an und schlug nach ihr, während er begann, heftig in sie zu stoßen, und sie schrie nur noch lauter und bewegte sich in sofern, dass sie versuchte, von ihm weg zu kommen – sie schaffte es nicht, egal, wie sehr sie sich bemühte, und panisch strampelte sie in der Hoffnung, so irgendwie diese grauenhaften Schmerzen verringern zu können.

„Lass mich los! Hör auf, lass mich in Ruhe!“, schrie sie, „Hilfe! So helft mir doch, bitte! Hilfe!“

„Tanz!“, zischte er und stieß ein weitere Mal gewaltsam zu, „Langsam nervt mich dein Gebrüll, wenn du dich brav fügst, ist es schneller vorbei. Und dieses Geschrei ist nicht sonderlich befriedigend, wenn ich später taub bin, bist du Schuld!“ Darauf schrie sie noch lauter, sofern sie konnte, und versuchte mit aller Kraft der Verzweiflung, sich unter ihm raus zu winden, allerdings ohne Erfolg. Grantig packte er ihre Hüften und hielt sie fest, und Eneela brach panisch in Tränen aus, als jede weitere Bewegung sinnlos zu werden schien. Sie spürte die Schmerzen in ihrem ganzen Körper, es brannte und alles zog sich in ihr zusammen, während der grauenhafte Typ einfach nicht aufhören wollte und immer weiter stieß, schneller, tiefer, heftiger – und mit jeder Bewegung wurden die Schmerzen grausamer, bis sie in einem fürchterlichen Höhepunkt gipfelten, der sie abermals gellend schreien ließ und der sie sicher sein ließ, dass sie jetzt sterben würde. Zur Antwort schlug der Typ ihr wutentbrannt ins Gesicht; als die Welt schwarz wurde, dankte Eneela den Himmelsgeistern dafür, dass sie jetzt sterben durfte... und diese Qualen nicht weiter ertragen musste. Ja, sterben war gut... nie wieder Schmerzen... sie sehnte sich nach ihrer Mutter.
 

Loron schnaufte empört, als die Lianerin unter ihm in sich zusammen fiel wie eine schlaffe Puppe.

„Alter?! Wach wieder auf!“, wütete er und schlug sie – keine Reaktion. „Warum wird die gleich ohnmächtig, diese blöde Nutte?! Na warte, du dreckige, elende...!“ So fluchte er und stieß wütend so lange in sie hinein, bis sie blutete; aber ohnmächtig brachte sie ihm keine Befriedigung mehr, wie sie so schlaff da hing und sich nicht bewegte. Zornig schrie er sie an und zog sich angewidert aus ihr zurück, um nach ihr zu treten, weil sie es wagte, ihm zum zweiten mal an diesem Tag seine Befriedigung zu versauen.

Er kam nicht weiter, denn in dem Moment spürte er plötzlich, wie ihn jemand am Kragen packte, er wurde herum gezerrt und dann hatte er plötzlich mit solcher Wucht eine Faust ins Gesicht bekommen, dass sein Nasenbein mit einem unschönen Knacken brach und er einen Zahn verlor. Er schrie auf und stürzte zu Boden, wurde aber gleich wieder gepackt und jetzt bekam er einen Schlag in den Magen, der ihn Blut spucken ließ. Danach hatte Loron erst eine Chance, seinen Gegner zu erkennen – und er war verblüfft.

„Wie jetzt – Simu?!“

„Du Hurensohn!“, fuhr der blonde Bruder von Karana ihn an mit einem Zorn in der Stimme, den Loron bei ihm niemals erlebt hatte. Er bekam noch einen saftigen Schlag ins Gesicht und hustete. „Du elender Arsch, verrecke und fahr zum Himmelsdonner!“, brüllte der Blonde ihn an, „Wie kannst du es wagen, du widerwärtiger, des Lebens unwürdiger Hurensohn?! Wie kannst du?! Mögen die Geister dir die Seele herausreißen und sie fressen, du widerwärtiges Scheusal!“

„Alter, i-ist sie dein Mädchen, oder was?!“, schnappte Loron und bereute es sofort, als er einen Tritt gegen das Bein bekam und laut aufjaulte.

„Ein Mädchen muss nicht mein Mädchen sein, damit ich es vor dir beschütze, du notgeiler Dreckskerl, du widerlicher Schandfleck der Menschheit!“

„Mann, du gehst ja mehr ab als Zoras...“, stöhnte Loron, „Dabei hatte ich vor dem schon Schiss, als er mir Neisa weggenommen hat, dieser Hundsarsch!“ Das ließ sein Gegenüber kurz stutzen.

„Neisa?“, zischte er und das leise, bedrohliche Knurren, das er von sich gab, war viel furchteinflößender als alle Schläge, dachte der Prinz von Holia schockiert, als sich die blauen Augen des blonden Mannes voller Abscheu und Hass in seine Seele zu bohren schienen. Nein, er hätte Neisa besser nicht erwähnt...

„Zoras hat sie, ich hab ihr nichts getan!“, empörte er sich keuchend und spuckte hustend Blut, „Keine Ahnung, schlag ihn doch zu Brei statt mich!“ Zur Antwort schlug Simu ihm wieder ins Gesicht – es knackte erneut irgendwo und die grauenhaften Schmerzen in seinem Gesicht ließen auch den hässlichen Mann aus Holia das Bewusstsein verlieren.
 

Simu stieß Loron angewidert zu Boden, ehe er sich der armen Eneela widmete. Er ignorierte gekonnt, dass sie nackt war, als er sie mit der Professionalität eines seriösen Chirurgen wieder anzog; ihre Kleider hatte Loron grob zerrissen, aber sie würden ihren Dienst noch eine Weile erfüllen, so hoffte der Blonde, während er innerlich vor Zorn kochte und sich zwang, nicht an das zu denken, was er da gerade mitbekommen müssen. Dieser Mistkerl... wie hatte er es wagen können? Und er konnte froh sein, addierte Simu in Gedanken pragmatisch, dass es nur Eneela gewesen war und nicht seine Schwester... nicht, dass das hier nicht schlimm genug gewesen wäre. Keine Frau verdiente es, so behandelt zu werden... Loron gehörte lebendig begraben und von Würmer zerfressen, fand der junge Mann zornig. Töten war nicht sein Stil... ein Mann, der im Jähzorn tötete, war nicht wirklich besser als einer, der Frauen schändete. Lorons Tod würde schon früh genug kommen, und nicht durch seine Hände.

Er hob die bewusstlose, wieder angezogene Eneela auf seine Arme und seufzte tief. Und was jetzt? Mit ihr als Gepäck wurde es schwer, nach den anderen zu suchen... was hatte Loron gesagt? Zoras hatte Neisa? Das gefiel ihm auch ganz und gar nicht. Die Frage war, wo war er dann mit seiner Schwester hin?

Simu schloss bebend die Augen und keuchte, Eneelas geringes Gewicht auf seinen Armen verlagernd. Zum zweiten Mal an diesem Tag wünschte er sich, er wäre auch fähig, mit den Geistern zu sprechen... er hätte zu gerne gewusst, was er jetzt machen sollte.

Helft mir, Himmelsgeister... ich weiß, ich als Nichtmagier habe kein Recht, zu euch zu sprechen und Antworten zu verlangen... aber ich flehe euch an... helft mir!

Er erhielt keine Antwort... eigentlich hatte er auch nichts anderes erwartet. Gerade, als er ein paar Schritte nach Osten getan hatte, resigniert die arme Eneela festhaltend, überraschten ihn die Himmelsgeister, weil sie plötzlich doch noch antworteten. Oder es war sein Instinkt, der ihn plötzlich nach Norden trieb – in die Richtung, in der auch Yiara lag. Wenn Zoras mit Neisa nach Norden gegangen war, konnte er sie vielleicht noch einholen, wenn er sich beeilte. Simu warf unschlüssig einen Blick nach Osten zu den Rauchschwaden, die noch immer die Luft verpesteten. Und Karana? Er hatte nirgends eine Spur von ihm gefunden... wenn er noch lebte, war er weg aus Lorana. Vielleicht war er alleine auf dem Weg nach Norden. Simu kehrte dem Dorf den Rücken und wandte sich abermals nach Norden.

„Karana, vergib mir.“, sagte er zu seinem Bruder, „Du bist ein Mann und kannst dich wehren... Neisa braucht meine Hilfe vermutlich dringender als du. Ich hoffe, es geht dir gut... ich rette Neisa, das verspreche ich dir.“ So sprach er, seufzte noch einmal und kehrte seiner verbrannten Heimat dann für immer den Rücken.
 

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Hahaha. xD Kurzes Gammelkapi. Es dauert jetzt etwas bis zum nächsten, weil ich umziehe und deshalb ewig kein Netz habe .___.

Die Schatten des Ostens

Als Karana die Augen öffnete, wusste er nicht, wo er war. Stöhnend drehte er den Kopf zur Seite und versuchte, sich zu erinnern, was passiert war – es war helllichter Tag und die Sonne schien zu scheinen. Er lag im Schatten von irgendetwas, vielleicht einem Baum, dessen Geäst das Licht etwas von seinem Gesicht abschirmten. Sein Kopf schmerzte, sobald er versuchte, sich aufzurichten, so ließ er es gleich bleiben und blieb keuchend am Boden liegen. Unter ihm war saftiges Gras – als er hinauf sah, merkte er, dass er unter irgendeinem Gestrüpp lag, und er fragte sich empört, warum er hier in der Pampa lag... was war eigentlich passiert?

Beim zweiten Versuch gelang es ihm, sich aufzusetzen, und er stöhnte erneut und rieb sich die Schläfen. Wenn er es genau nahm, schmerzte nicht nur sein Kopf, sondern sämtliche Glieder, als wäre ein beladener Wagen über ihn gerollt. Seine Kleider waren dreckig und seine Hände schwarz von Ruß.

Moment, Ruß?

„D-das Feuer in Lorana...“, stöhnte er, „Es... das war kein Traum, es hat wirklich gebrannt... und Zoras war da, und... um Himmels Willen! Wo sind denn die anderen?!“ Er wollte die Geister nach dem Verbleib seiner Mutter und Geschwister fragen, aber die Antwort, die er erhielt, war zu real, um von Geistern zu stammen.

„Redest du immer mit dir selbst oder hat dich was am Kopf getroffen?“

Karana fuhr japsend vor Schreck herum und traute seinen Augen nicht, denn hinter ihm kroch niemand anderes als die schwarzhaarige Frau in das Gebüsch, die er vor dem Lianerdorf getroffen hatte – die, die wie Saidah aussah. Ihr folgte verblüffender Weise sein Hund, Aar. Doch das Tier war erst mal nebensächlich.

„Moment, du?! W-wie... wie kommst du denn hierher? Und, ähm... was zum Geier ist hier eigentlich los?“ Die Frau brummte, während sie sich neben ihn auf den Boden setzte. Ihr Gesicht glänzte und ihre Haare waren feucht. Vielleicht hatte sie gebadet, nach Schweiß roch sie jedenfalls nicht.

„Ja... ich.“, sagte die Schwarzhaarige dumpf und versuchte, mit den Fingern ihre langen Haare zu entknoten. „Du bist also endlich mal aufgewacht, Glück für dich. Du hast seit gestern Abend flach gelegen und ich habe schon gedacht, du wärst verreckt.“ Karana schnaubte.

„Hey, ich lebe noch! Aber, aber... w-wie kommst du her?! Und warum liege ich hier in einem... Busch?“

„Ich hätte dich auch am Wegrand liegen lassen können, dann hätte dich was überfahren und ich bräuchte mir dein Gequatsche nicht anzuhören.“, murmelte sie und Karana starrte sie an – dann grinste er amüsiert, seine Schmerzen ignorierend.

„Du hast mich gerettet?“

„Eigentlich nicht, nein. Ich habe dich in ein Gestrüpp geworfen und gewartet, ob du verreckst.“

„Du hast mich gerettet! Du musst nicht schüchtern sein...“ Sie strafte ihn mit einem kalten Blick aus den blauen Augen.

„Ich bin nicht schüchtern.“

„Wieso hast du mich dann nicht am Wegrand verrecken lassen?“

„Aus deiner Haut könnte ich schicke Schuhe machen und vielleicht kann man dich essen, wenn du nicht zu sehr nach geraspeltem Süßholz schmeckst.“ Damit erhob sie sich, soweit es im Gebüsch ging, und machte sich daran, wieder zu gehen.

„Warte!“, rief er ihr verblüfft nach, „Lauf doch nicht weg, ich... ich wollte dich ja nicht ärgern. Wir haben uns gar nicht vorgestellt. Ich bin Karana. Wie ist dein Name, Hühnerdiebin?“ Sie brummte.

„Was geht dich das an? Du bist am Leben, meine Arbeit ist getan. Ich verschwinde jetzt. Und halt deinen Köter fest, der ist mir nicht von der Seite gewichen, den kannst du behalten.“ Karana sah jetzt auf Aar, dann wieder auf die Frau – die gerade aus dem Gestrüpp kroch. Er japste und setzte ihr sofort nach, um sie vor dem Gebüsch einzuholen, aufzuspringen und sie am Arm festzuhalten.

„Ich hab mich doch noch gar nicht bei dir bedankt!“, machte er, „Wenn du nicht gewesen wärst, hätte Zoras mich-... Moment...“ Er stutzte, als ihm auffiel, von wo genau sie ihn gerettet haben musste; sie hatte ihn sicher nicht am Wegrand gefunden, denn er war nie an einem Wegrand gewesen. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war Zoras... und seine furchteinflößende, grauenhafte Macht, die er nach ihm geschleudert hatte. Er schwieg einen Moment, bis die Fremde ihn ungläubig ansah und er sich verhalten räusperte. „Du... hast mich in Lorana vor Zoras gerettet, oder nicht? Wie sonst hätte ich diesen Zauber überleben sollen...?“ Er blickte ihr ins Gesicht, das lange reglos blieb, ehe sie genervt brummte.

„Ich konnte nicht zulassen, dass du gegrillt wirst. Oder pulverisiert, oder was auch immer dieser Kerl gemacht hätte.“

Karana hatte die dumme Angewohnheit, erst zu reden und danach zu denken. Er verfluchte sich einmal mehr dafür, als er ohne zu überlegen grinsend den Mund auftat.

„Mann, du stehst wohl auf mich...“ Zur Antwort schnaufte sie erst entrüstet.

„Träum' weiter. Du schuldest mir etwas. Du hast mir ein Messer geklaut, schon vergessen? Deswegen bin ich dir ja gefolgt. Bilde dir ja nichts darauf ein, ich würde jedes einzelne Messer lieber heiraten als dich, du eingebildeter Bonze.“ Er musste lachen.

„Ganz schön freche Klappe für eine dahergelaufene Hühnerdiebin. Ich könnte dich im Handumdrehen zerreißen... oder mir mit Gewalt holen, was Männer so von Frauen wollen, wenn du verstehst...“

„Da ich immer noch lebe, bin ich guter Hoffnung, dass du gleich angeben wirst, dass du aber ein viel netterer Typ bist und sowas nie tun würdest.“, sagte sie ungerührt und er schnaubte – Himmel, dieses Mundwerk war wirklich grauenhaft, was sollte er denn darauf antworten? Der Hund winselte und wuselte um Karana herum, während die beiden Menschen noch immer auf der Wiese standen und schwiegen.

„Wo sind wir hier?“, entschied der Schamane sich dann weise, das Thema zu wechseln, und die Frau seufzte.

„Keine Ahnung, kenne ich mich aus? Nachdem das Lianerdorf abgebrannt ist, hatte ich dort keine Nahrungsquelle mehr und musste sowieso weg. Aber keine Ahnung, wo wir sind. Ich hab dich aus dem anderen Dorf gezerrt und dann sind wir hier gelandet. Gibst du mir jetzt mein Messer? Dann kann ich nämlich gehen.“ Karana kicherte.

„Das wäre für mich ein Grund, es dir nicht zu geben, oder...?“

„Was willst du von mir, Bonze?“

„Na, hör mal, du bist doch mir nachgerannt und hast mich hierher geschleppt... da finde ich, dass ich mehr Recht auf diese Frage habe!“

„Ich will mein Messer.“

„Und ich deinen Namen. Oder soll ich dich weiterhin Hühnerdiebin nennen?“ Sie verdrehte die Augen.

„Iana!“, stellte sie sich knirschend vor, „Mein Name ist Iana. Reicht dir das jetzt?“ Karana betrachtete sie kurz, während sie ihn grimmig fixierte. Sie sah genauso aus wie beim letzten Mal, als er ihr begegnet war... und abgesehen von ihrer ungehobelten Zunge erinnerte jeder Zoll ihres Körpers ihn unweigerlich an Saidah... sie hatte ihre Haare, ihre Augen, ihre Hüften, ihre Brüste, sogar ihre Beine, und je länger er sie betrachtete, desto unangenehmer wurde ihm das Gefühl, sie anzusehen und genau zu wissen, dass sie eben nicht Saidah war. Nein, diese Frau hier würde nicht freiwillig unter ihm liegen und seine Geliebte sein... und sie war auch keine Geisterjägerin. Wobei der junge Mann die Macht, die ihr bloßer, kalter Blick ausstrahlte, betörend genug fand.

„Danke, dass du mich gerettet hast.“, sagte er jetzt ruhiger und neigte wohlerzogen den Kopf vor ihr. „Du hast was gut bei mir, Iana.“

„Ja, mein Messer zum Beispiel.“ Er seufzte... der Gedanke, sie gleich los zu sein, gefiel ihm nicht wirklich.

„Wohin willst du denn gehen, wenn ich fragen darf?“, begann er dann behutsam und sie zischte.

„Du darfst nicht fragen, nein. Gib mir einfach mein Messer zurück und verschwinde dahin, wo du hingehörst. Ist mir egal. Und hör auf, mich so anzugucken, das zieht bei mir nicht. Ich werde dir sicher nicht zu Füßen fallen und die Beine spreizen, wie es andere Frauen offenbar gerne für dich tun.“ Karana zog die Schultern hoch und gluckste verstört.

„Ähm, was... wie kommst du denn darauf?!“

„Ich hab dich gesehen mit der blonden Esoterikerin am Zaun. Glaub ja nicht, ich hätte das freiwillig beobachtet.“ Karana hustete. Oh, ja, die Seherin... wo die wohl steckte?

„Dann hättest du dich ja wegdrehen können!“, protestierte er, „Außerdem kann dir doch egal sein, was ich mit welcher Frau treibe.“

„Ist es, glaub mir, aber dann erwarte nicht, dass du bei mir eine Chance hättest. Mein Messer, Schamane.“ Brummend kapitulierte Karana und zog das Knochenmesser aus seinem Gürtel, um es ihr zu geben. Sie nahm es wortlos, steckte es ein und drehte sich ab, um grußlos davon zu gehen. Karana schnaubte, sprang ihr nach und hielt sie abermals fest.

„Warte doch, verdammt! Ich, ähm... weiß nicht wo ich bin und wohin ich soll, wir könnten doch ein Stück zusammen gehen. Keine Angst, Himmel, ich rühre dich ja nicht an und versuche auch nicht, bei dir zu landen...“

„Was hast du dann von meiner Gesellschaft?“, wunderte sie sich, „Und wieso weißt du nicht, wohin du musst?“ Er biss sich murrend auf die Unterlippe.

„Na ja, meine Heimat ist verbrannt worden und ich habe keinen Schimmer, wo meine Familie ist.“ Sie blieb stehen und Aar wuselte jetzt um sie herum, an ihren Beinen schnüffelnd und dann bellend. Schnaubend sah sie über die Schulter zu ihrem Verfolger.

„Was will dein dämlicher Geisterhund von mir?“

„Er mag dich.“, erklärte Karana grinsend, „Er ist schlau, sein Instinkt sagt ihm, dass du keine Gefahr bist, und offenbar machst du ihn neugierig.“ Iana sagte nichts und sah den Hund nur böse an, der um sie herum rannte und mit dem Schwanz wedelte. Karana nutzte den kurzen Moment, sich von der Frau abzulenken und an seine wirklichen Probleme zu denken. Lorana war verbrannt – er wusste weder, wo seine Familie war, noch, wo er war, noch, wohin er sollte. Seufzend schloss er flüchtig die Augen und versuchte zum zweiten Mal, die Geister um Rat zu fragen. Besorgt stellte er fest, dass sie nicht nur nicht antworteten, sondern dass sein Kopf vollkommen leer und still war... nicht einmal das schadenfrohe Kichern war zu hören, da war nichts. Nervös öffnete er die Augen wieder und sah nach links; was war los? Wohin waren die Geister verschwunden?

Antwortet mir!, befahl er empört in Gedanken, Ich bin der Sohn von Puran Lyra, der Sohn des Herrn der Geister und der Erbe des Lyra-Clans! Ihr habt mir zu folgen, Himmelsgeister!

Doch egal, wie energisch er dachte oder wie sehr er sich konzentrierte, er erhielt nicht einmal den leisesten Hauch von Geisterstimmen, was ihn sehr verwirrte.

Sie waren doch immer da... sie konnten nicht einfach verschwinden.

Sein Kopf begann wieder zu schmerzen und zischend fasste er nach seinen pochenden Schläfen, womit er Ianas Aufmerksamkeit zurückgewann.

„Was ist, stirbst du?“, fragte sie unbeeindruckt und er stöhnte.

„Die Geister, sie... sie sind einfach weg... das irritiert mich, wieso sind sie weg? Es... es ist, als... hätte sie jemand aus meinem Geist gefegt... wie kann das sein? Scheiße, mein Kopf fühlt sich an, als wäre er überfahren worden...“ Er sah die junge Frau vor sich die Stirn runzeln und schließlich das Gesicht senken. Lange schwieg sie – er hatte nicht den leisesten Schimmer, was sie dachte, und auch das war ungewöhnlich. Er konnte Leute ansehen und ihre Seele genau erkennen... entweder funktionierte es nur bei ihr nicht, oder es hatte damit zu tun, dass die Geister verschwunden waren...

„Ich werde es bestimmt bereuen...“, murmelte sie dann und zwang sich offenbar, kalt zu wirken, „Gut, verdammt, dann geh mit mir. Ich weiß auch nicht, wohin ich will, ich gehe einfach so lange, bis ich etwas zu essen finde. Hast du eine Ahnung, wohin deine Familie vielleicht geflohen sein könnte?“

„Keine Ahnung... m-mein Vater arbeitet... in Taiduhr, manchmal auch in Vialla beim König... vielleicht kommen wir... ja dahin...“ Sie sah ihn eine Weile an, schließlich trat sie zurück und nickte.

„Einverstanden, dann suchen wir nach deinem Vater. Ich habe keine Ahnung, wo Taiduhr oder Vialla liegen.“

„Ähm... also, da ich nicht weiß, wo genau wir sind...“, stöhnte er und sah sich um, „Vielleicht... gehen wir einfach und in einem Dorf wird man uns schon helfen können. Vialla ist die Reichshauptstadt, die kennt jeder!“
 

Iana fragte sich grummelnd, ob sie nicht einen großen Fehler gemacht hatte. Es war Instinktsache gewesen... wie vor dem brennenden Lianerdorf, als sie entschieden hatte, dem Mann zu folgen, worauf sie in seiner Heimat angekommen waren. Und von dort hatte sie ihn mitgenommen... und jetzt hatte sie ihn am Hals.

Sie versuchte, seine Anwesenheit zu ignorieren, während sie so dahin marschierte und gedankenverloren die alte Klinge ihres Vaters wieder hervor zog, die Schuld daran war, dass sie ihren Instinkten gefolgt war.

„Du siehst ihr ähnlich, der Frau, die mir die Schattenklinge vermacht hat... ihr Mann war Windmagier.“

Brummend linste sie zur Seite auf den seltsamen Mann, mit dem sie jetzt reiste auf der Suche nach irgendwo, wo er seinen Vater finden könnte. Natürlich hatte sie die Namen Taiduhr und Vialla schon gehört... aber dort gewesen war sie nie. Letzten Endes war die Idee, mit ihm zu gehen, äußerst eigennützig gewesen; wenn sein Vater so ein hohes Tier war, dass er beim König des Landes arbeitete, sprang vielleicht etwas für sie dabei heraus, wenn sie den verlorenen Sohn wohlbehalten heim brachte. Davon abgesehen, dass sie absolut keine Ahnung hatte, in welcher Richtung Vialla liegen könnte, sie hatte dem Süßholzraspler das Leben gerettet, als sie ihn aus dem brennenden Dorf geschleppt hatte. Sie fand, sie hatte eine Belohnung verdient – vielleicht konnte sie davon eine Weile leben, ohne Hühner klauen zu müssen.

„Hast du eigentlich keine Heimat?“, fragte Karana sie in dem Moment und sie fuhr zusammen, drehte sich zu ihm und hätte ihn vor Schreck fast mit ihrem Kurzschwert aufgeschlitzt. Er starrte sie dementsprechend entsetzt an. „Alter, kein Grund, mich gleich umbringen zu wollen, war bloß eine Frage...“

„Sieh mich an und streng dein Gehirn an, falls du eins hast.“, sagte sie kalt, „Sehe ich so aus, als hätte ich ein schönes, sauberes Haus und Diener?“

„Du bist so gehässig.“, schnaufte er, „Warum kannst du auf normale Fragen nicht einfach antworten, sondern musst immer gleich zickig werden?“

„Lass mich nachdenken. Dein Aristokratengesicht lädt mich einfach dazu ein.“ Zu ihrer Empörung feixte er.

„Weißt du, die wenigsten Leute, die ich kenne, haben Diener. Also, eigentlich fast keiner. Der König hat welche, ja, aber meine Freunde aus dem Dorf und alle aus der Gegend natürlich nicht... aber eine Heimat haben sie trotzdem. Und wenn es eine Lehmhütte mit Strohdach ist... ein Heim hat doch jeder, oder? Auch eine Hühnerdiebin, meine ich.“ Sie sagte nichts, sah wieder nach vorne auf die Wiese, die sie durchquerten, und spielte dabei wieder am Griff ihres Kurzschwertes herum.

„Nein.“, sagte sie dann dumpf, „Ich habe keine Heimat. Dafür hat man ja netterweise gesorgt.“ Sie sah, wie er sie ungläubig anstarrte, und um ihm zu zeigen, dass sie nicht die geringste Lust hatte, mit ihm über ihre Kindheit zu sprechen, drehte sie sich ab und änderte die Richtung. Zu ihrem Glück protestierte er nicht weiter und verstand ihre Geste offenbar, er folgte ihr nur schweigend mit dem schwarzen Monster von Hund an seiner Seite. Iana hatte in den Wäldern von Aduria schon Wolfshunde getötet, die sie angefallen hatten... es verblüffte sie ziemlich, dass ein so großes und gefährliches Tier einfach so brav an der Seite eines Mannes trottete und offenbar auf seine Befehle gehorchte. Er war nicht nur Windmagier... er musste ein ziemlich mächtiger Magier sein, wenn er es vermochte, ein Tier so unter seine Fuchtel zu zwingen.

Als die Stille zwischen ihnen erdrückend wurde, wagte sie, das Thema zu wechseln.

„Du sagst, du kennst den... König von Kisara persönlich? Ist das dein Ernst oder gibst du nur an?“ Er lachte.

„Das war mein voller Ernst. Wie ich sagte, mein Vater arbeitet für ihn – also, das tun viele, aber mein Vater ist sowas wie ein inoffizieller Vertrauter des Königs. Demzufolge waren wir natürlich schon öfter auf Festen und Banketten...“ Sie schauderte. Auch, wenn die Aussicht auf eine mögliche Belohnung dafür, dass sie diesem Kerl das Leben gerettet hatte, der augenscheinlich noch sehr viel wichtiger und hochrangiger war, als sie zuerst vermutet hatte, war der Gedanke daran, dass es Menschen gab, die über Feste mit dem König persönlich sprachen wie andere über das Wetter, irgendwie beängstigend. Das war nicht ihre Welt... war es nie gewesen. Sie hatte immer in einfachen Umständen gelebt... und dann in schlechten, als ihre Mutter gestorben war und die Lianer sie und ihren Vater aus dem Dorf verjagt hatten. Wer wusste schon, was sich jetzt ändern würde...?

„Was ist das für ein Schwert, das du da hast?“, hörte sie wieder die Stimme des Idioten und drehte den Kopf – er ging plötzlich dicht hinter ihr und lugte ihr dabei neugierig über die Schulter, und fluchend machte sie einen Satz zur Seite.

„Nicht so dicht, du Rüpel!“

„Ich hab doch gesagt, ich rühre dich nicht an.“, sagte er und grinste sie an, „Hast du Angst vor mir, Iana?“

„Dafür, dass du vorhin noch halb tot am Boden gelegen hast, bist du jetzt ganz schön frech.“ Sie steckte das Schattenschwert jetzt zurück in den Gürtel und brummte. „Das Schwert stammt von meinem Vater. Er hat es einst geschenkt bekommen und es mir vermacht, es ist ein gutes Stück, so viel ich weiß. Es... bedeutet mir viel.“ Damit hatte sie schon mehr gesagt, als sie hatte preisgeben wollen, und mit einem genervten Seufzen kehrte sie ihm abermals den Rücken, um den Weg fortzusetzen. „Und jetzt hör auf, zu quatschen, finde lieber heraus, ob wir richtig gehen!“ Er grunzte hinter ihr und beeilte sich, sie einzuholen.

„Das würde ich gerne, leider sind wir mitten in der Pampa und keiner Menschenseele begegnet, die ich hätte fragen können, grimmige Hühnerdiebin.“

„Frag doch die Geister.“, versetzte sie, „Du bist doch Schamane, oder nicht? Und wenn du so toll bist, wie du heraushängen lässt, sollte dir das ja nicht schwer fallen.“ Sie war verblüfft, als er darauf nichts entgegnete. Zuerst dachte sie, er würde sich jetzt tatsächlich auf die Geister konzentrieren und deshalb schweigen, aber als sie einen Blick über die Schulter warf, starrte er verbiestert auf seine Füße und schien über alle Maßen erzürnt zu sein über irgendetwas, das sie nicht begriff. Iana blieb unschlüssig stehen. „Was denn?“, fragte sie kalt, „Habe ich etwas was Falsches gesagt?“

„Nein...“, murmelte er, ging an ihr vorbei und trat dabei grimmig einen Kiesel über die Wiese, „Aber die Geister erzürnen mich... ich werde sie zerquetschen und dann werden sie... verdammt noch mal zu meinen Füßen kriechen und darum betteln, dass ich barmherzig sein solle...“

Seine Worte irritierten sie, als er einfach geradeaus weiter stapfte, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken. Was war denn jetzt mit ihm los? Verwundert erfasste sie sicherheitshalber ob seiner eigenartigen Wut ihre Waffe, ohne sie richtig zu ziehen, und folgte ihm mit gehörigem Abstand.
 

Als es Nacht wurde und sie noch immer fern jeder Straße und jeden Dorfes zu sein schienen, rasteten sie an den Wurzeln eines alten, knorrigen Baumes mitten im Wald. Es war finster und am Himmel brauten sich die Wolken zu bedrohlichen Bergen zusammen, die böse auf sie herab blickten.

„Also, das hier sieht nicht aus, als wäre es in der Nähe einer großen Stadt.“, bemerkte die Hühnerdiebin verblüfft, als sie sich auf dem Boden zusammen kauerte wie ein kleiner Igel, um sich vor der heraufziehenden Kälte zu schützen. Karana stöhnte und rieb sich die Arme. Der Sommer war jetzt wirklich vorbei... und so sollten sie schlafen? Ohne Decke, mitten im Wald? Gut, dass Bruder Hund dabei war, um sie vor Raubtieren zu warnen. Wobei sie eigentlich in Thalurien nichts zu befürchten hatten abgesehen von Aars wilden Artgenossen eventuell. Falls sie überhaupt in Thalurien waren, hieß das. Karana hatte das Gefühl, sie waren hundert Meilen gelatscht und um sie herum war noch immer nichts als Pampa. Warum hatte diese dumme Nuss, mit der er unterwegs war, sich nicht die Himmelsrichtung gemerkt, in die sie ihn von Lorana aus geschleppt hatte? Er hoffte, sie waren auf dem richtigen Weg...

Murrend dachte er wieder an seine nicht funktionierenden Instinkte. Was war nur los? Seit er aufgewacht war, hatten die Geister unentwegt geschwiegen, sie taten es auch jetzt; und nicht nur das. Sein Orientierungssinn war wie weggeblasen, sein Instinkt für drohende Gefahren ebenfalls, was natürlich daran liegen konnte, dass im Moment keine Gefahr drohte... aber der Hund schien nervös zu sein, das war es, was ihn wirklich besorgte. Er linste unauffällig auf die Hühnerdiebin, die ihre langen Haare auseinander band und sich kurz schüttelte, um sich selbst flüchtig mit den Fingern zu kämmen. Es war faszinierend... wie konnte jemand, der so vollkommen anders aufgewachsen war als seine geliebte Saidah, ihr so ähnlich sehen? Dass sie tatsächlich eine Verwandte von Saidah war, war ausgeschlossen, sowohl seine Meisterin als auch ihre Eltern waren Einzelkinder gewesen, und dass sie ausgerechnet hier Verwandte hätten, wäre sehr erstaunlich. Eigentlich stammte der Clan der Chimalis aus dem Norden, aus Dokahsan, genau wie die Lyras, und auf eine seltsame Laune der Geister hin waren die Schicksale beider Clans schon seit Ewigkeiten immer und immer wieder vernetzt gewesen. Vielleicht war das auch der Grund, warum er sich so mit Saidah verbunden fühlte... sie war nicht einfach nur eine schöne Frau, die er begehrt hatte... die er immer noch begehrte, kam ihm, je länger er diese Fremde ansah, die ihr so ähnlich sah. Unruhig krallte er sich mit den Fingern in seine Arme, die er noch immer festhielt, als er es wagte, sie etwas intensiver anzusehen, und in sich dieselbe Flamme spürte, die schon vor dem Lianerdorf da gewesen war, die seine Lenden erhitzte. Er dachte nicht an Niarih oder an all die anderen Frauen, mit denen er sich jemals vereint hatte, in diesem Moment saß sie vor ihm, diese kaltherzige Person, die dieselbe Anmut und dieselbe, betörende Macht ausstrahlte wie seine Lehrmeisterin, von der er immer noch träumte, obwohl er genau wusste, dass er einen steinigen Weg vor sich hatte, wenn er sie jemals wiedersehen wollte. Und ihre Anwesenheit machte ihn nervös, sie verhinderte, dass er seiner irrsinnigen Gefühle länger Herr war, sie unterwarf ihn, indem sie einfach nur da war – der Gedanke erzürnte ihn gleichzeitig wie er ihn auch mehr erregte als alles, was er innerhalb des vergangenen Jahres so erlebt hatte...

„Willst du mich auffressen, oder wieso glotzt du mich so an?!“, riss ihre Stimme ihn zurück in die Gegenwart und Karana keuchte, ehe er zurückfuhr und merkte, dass sie ihn ansah. Sich räuspernd zog er die Beine an, in der Hoffnung, dass sie dank der Dunkelheit vielleicht nicht mitbekommen hatte, dass er bereits hart war vor Nervosität.

„Äh... nein...“, stöhnte er so nur und zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden, wofür er sich innerlich ohrfeigte. Ein Teil von ihm hätte sie jetzt gerne gepackt, ihr die Kleider vom Leib gerissen und sie genommen, aber so richtig... der andere Teil in ihm, der das wohlerzogen verhinderte, war ihm neu. Es verwirrte ihn... wieso versuchte er nicht mal, sie zu umgarnen, damit sie schwach wurde, wie es bei allen anderen Frauen zumindest funktionierte?

Weil es bei Saidah auch nicht klappen würde... und sie ist... ihr Spiegelbild.

Iana räusperte sich, als er mit flammendem Gesicht auf die Erde starrte und versuchte, die Erregung zu verdrängen.

„Ich hatte dich was gefragt.“

„Was?“, murrte er, und sie zischte – sein Ton gefiel ihr vermutlich nicht, im Moment war es ihm egal – verdammt, sie war Schuld daran, dass er sich jetzt so um Beherrschung bemühen musste...

„Du bist doch Schamane. Kannst du nicht Feuer machen, damit es nicht so verflucht kalt ist?“ Jetzt sah er sie verblüfft an. Ja – daran hatte er gar nicht gedacht.

„Ja, klar-... also, na ja, wir brauchen Holz, aber dafür... gibt es ja Sura.“ Das Thema lenkte ihn ab – zaubern lenkte immer ab. Sie zog eine Braue hoch, was er im Dunkeln nur erahnen konnte, und er fixierte einen tief hängenden, dünnen Ast an dem jungen Baum gegenüber, ehe er die Hand danach ausstreckte, um ihn mit dem Schneidezauber zu Boden zu befördern... und die Welt in sich zusammenfallen zu sehen, als nichts geschah. „Moment.“, machte er, sah seine Hand an und dann den Baum, und er streckte sie erneut aus und rief: „Sura!“ Eigentlich waren die Namen der Zauber überflüssig – einst waren sie die Bezeichnung dessen gewesen, was sie bewirkten, in einer längst vergessenen Sprache des Altertums. Man konnte sie auch ohne Worte benutzen... aber meistens verstärkte es die Konzentration des Geistes auf eben den Zauber, den man anwenden wollte, wenn man seinen Namen benutzte. Auch mit dem Namen geschah nichts – nicht mal ein winziger Schnitt entstand, es passierte gar nichts.

„Was ist denn los?“, wollte seine Begleiterin wissen, „Hast du etwa das Zaubern verlernt, du Held? Na, das ist ja großartig. Jetzt renne ich mit einem Süßholz raspelnden Magier durch die Wälder, der nicht zaubern kann.“

„Ich kann zaubern!“, fluchte Karana, „Ich bin verdammt noch mal der Sohn des Herrn der Geister, ich kann sehr gut zaubern!“

„Ich würde dir kein Wort glauben, wenn ich nicht beobachtet hätte, wie du gestern Abend noch versucht hast, diesen kleinen Kerl mit den schwarzen Haaren zu grillen...“ Karana sprang auf.

„Zoras!“, schrie er und sie brummte verwundert, „D-der ist Schuld, Himmel! Was auch immer er da für Mächte entfesselt hat, sie... sie sind Schuld! Das kann doch nicht wahr sein, dieser... dieser Penner! Deswegen schweigen die Geister mich den ganzen Tag an, deswegen kann ich nicht zaubern, er... er muss irgendwas mit mir gemacht haben, das meine Verbindung zu den Geistern zerstört hat... Himmel, wenn ich den erwische, ich werde ihn sowas von zerfetzen, das... das... ich bringe ihn um!“ Er fing an, wie ein Irrer zu schreien und zu fluchen, selbst die Frau wagte nicht, sich einzumischen, sie beobachtete ihn bloß, während er im Kreis herum stampfte, schrie und schimpfte und Himmel und Erde verfluchte. Als er keine Stimme mehr zum Schreien hatte, fiel er auf die Knie, bohrte die Finger bebend vor Zorn in die Erde und schnappte wutentbrannt nach Luft.

Das ließ sich wieder richten. Seine Mutter war Heilerin, sie konnte das richten. Sie musste es richten können, oder er würde ihr bei lebendigem Leib alle Glieder ausreißen, wenn sie unfähig war, ihm seine Macht zurückzugeben... seine Macht, sein Erbe, alles, worauf er stolz war, wie sollte er denn Erbe des Lyra-Clans sein, wenn er nicht mehr zaubern konnte? Wie sollte er Geisterjäger werden und seine geliebte, einzige Saidah wieder sehen können, die er plötzlich mehr vermisste als jemals zuvor... die er mehr begehrte als jemals zuvor. Sie war sein, genau wie die Macht, und Zoras würde nicht wagen, ihm beides wegzunehmen... nicht Zoras Derran. Oh, er würde ihm dafür die Haut in Fetzen abreißen und sie an seinen Hund verfüttern, er würde seinen Gegner dabei zusehen lassen und sich daran ergötzen, wie er vor Qualen schrie und ihn anflehte, ihn endlich zu töten...

„Ich bringe dich um, Derran... ich bringe dich... verdammt noch mal um...!“
 

Die Nacht wurde rastlos. Iana wagte nicht, einzuschlafen, sie hatte Todesangst, dass dieser Verrückte sie in seinem Wahnsinn erdrosseln könnte, während sie schlief. Was immer in ihm vorgehen mochte, dass er aus irgendeinem Grund nicht zaubern oder mit den Geistern sprechen konnte, machte ihn verrückt. Es machte ihn wirklich verrückt, nicht einfach nur wütend... das sah sie ihm an, während sie am nächsten Morgen ihren Weg fortsetzten. Sie sagte nichts und er fluchte höchstens mal zu sich selbst oder beschimpfte die ganze Umgebung für sein eigenes Unglück. Sogar der Hund schien sein zorniges Herrchen zu meiden, er hielt sich dicht an der Frau und wich nicht mehr von ihrer Seite.

Warum war sie noch mal mit ihm unterwegs...? Ach ja, sie erhoffte sich eine gute Belohnung, wenn sie ihn heil irgendwo ablieferte. Langsam fragte sie sich, ob es das wert war, wenn sie fortan nicht schlafen könnte, aus Angst, er würde sie aus Wut umbringen. Dabei galt sein Zorn ja nicht ihr... aber wenn er schon Pflanzen zerfetzte,wollte sie sich nicht in Sicherheit wägen.

Die Geister mussten sie beide verflucht haben, dass sie kein Dorf und nicht mal eine Straße fanden, egal, wohin sie gingen. Es war bewölkt, daher wusste Iana nicht im Ansatz, wohin sie überhaupt liefen; aber Vialla schien nicht näher zu kommen. Sie wechselten immer mal die Richtung, in der Hoffnung, irgendwo ein verdammtes Dorf zu entdecken, aber nichts dergleichen geschah. Irgendwann tauchten zu ihrer Linken Berge auf, und Karana war felsenfest davon überzeugt, dass sie völlig falsch sein mussten – weder Vialla noch Taiduhr lag in den Bergen, behauptete er. Iana kannte beide Städte nicht und wusste es daher nicht besser, sie hoffte nur, dass sein Erinnerungsvermögen in diesem Punkt nicht so geschädigt war wie seine magischen Kräfte.
 

Nach vier Tagen der Reise nach irgendwo verwandelte sich Karanas Zorn in Frust. Er sagte jetzt gar nichts mehr, Iana sah es ihm nach und war heimlich beruhigt, dass er nicht mehr plötzlich mit Tobsuchtsanfällen aufwartete und sie anschrie, wenn sie es wagte, ihn anzusprechen. Als er zum ersten Mal wieder wirklich ein Wort mit ihr wechselte, rasteten sie in der Mittagszeit am Ufer eines kleinen Sees. Die Berge links waren verschwunden, dafür erhoben sich jetzt neue vor ihnen.

„Das kann doch nicht sein!“, nölte er, während er am Wasser hockte und sich brummend die Hände im eiskalten Wasser wusch, „Berge! Überall, wir müssen nach Kadoh gekommen sein... wir sollten südwärts gehen, weg von Kadoh, in Kadoh sind wir falsch.“ Iana kannte die Bergprovinz Kisaras vom Namen; ihr Vater war in Kadoh geboren und aufgewachsen. Der Gedanke daran, der Heimat ihres Vaters nahe zu kommen, erfüllte sie mit Wehmut... sie vermisste ihn sehr. Als ihre Mutter gestorben war, war sie noch klein gewesen und hatte es nicht richtig verstanden... aber der Tod ihres Vaters hatte sie verletzt. Er hatte sie alleine gelassen... auch, wenn sie wusste, dass er es niemals absichtlich getan hätte. Nein, Schuld waren die Lianer im Dorf, die ihr keine Medizin hatten geben wollen. Sie verfluchte die rassistischen Bleichgesichter grimmig bei dem Gedanken daran... es war recht so, dass ihr Dorf platt gemacht worden war.

„Bist du sicher?“, murmelte die Schwarzhaarige dumpf, während sie den großen Hund ansah, der neben ihr in der Sonne lag und faulenzte. Sie war erschöpft... das viele Gehen machte ihre Füße wund, sie hatte schon Blasen. Zu ihrem Ärgernis schien Karana trotz seines Zorns nicht so ausgelaugt zu sein wie sie; dabei war er doch der reiche Schnösel, der ansonsten vermutlich nur in goldenen Kutschen herum fuhr und Laufen nicht gewohnt war. Aber was wusste sie schon über ihn? Das Dorf, in dem er gewohnt hatte, hatte keinen besonders pompösen Eindruck gemacht... es war keine Heimat für Aristokraten, sondern ein simples, einfaches Dorf gewesen. Vielleicht war er nicht so ein Bonze, wie sie zuerst vermutet hatte, vielleicht ging er viel zu Fuß. Eigentlich wusste sie gar nichts über ihn, stellte sie beklommen fest, während sie ihre Stiefel auszog und ihre wunden Füße betastete. Sie kannte seinen Namen... und nicht mehr.

Als sie wieder zu ihm sah, hustete sie verblüfft, weil er plötzlich sein Hemd auszog.

„Was machst du da bitte?“, fragte sie ihn entsetzt, und er drehte sich dumm zu ihr um.

„Alter, ich will endlich ein verdammtes Dorf, ich hab mich seit Tagen nicht richtig gewaschen, ich stinke! Deswegen wasche ich mein Hemd, solange die Sonne noch scheint, kann es hier trocknen... vielleicht solltest du das auch mal probieren, waschen, Hühnerdiebin.“

„Soll das heißen, ich stinke?!“, fauchte sie und war empört über sich selbst, weil sie den Blick nicht von seinem so makellosen, nackten Oberkörper wenden konnte. Es war nicht so, dass sie niemals einen nackten Mann gesehen hätte... aber normalerweise fürchtete sie sich vor zu viel Nacktheit und wandte dann den Blick ab. Jetzt tat sie es nicht... und sie hasste sich dafür, ihn so unverfroren anzustarren. Sie war so beschäftigt damit, ihn zu betrachten, als er sich erhob und sich bewegte, dass sie nicht registrierte, dass er zu ihr herüber kam – sie merkte es erst, als er plötzlich viel zu dicht vor ihr hockte und das Gesicht nach vorne zu ihrem Hals beugte, dabei amüsiert grinsend. „W-was machst du da, geh mir vom Leib!“, keuchte sie nicht richtig überzeugend und schauderte heftig, als sie spürte, wie seine zerzausten Haare ihren Hals und ihre Wange kitzelten. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihre Waffe zu greifen, als er so nahe war – sie fühlte sich in die Enge getrieben, als er mit einer Hand ihr Kinn packte und es zu sich herum zog, den Kopf wieder hebend – und sie war unfähig, sich zu rühren, als er gluckste:

„Na ja, so richtig stinken tust du nicht, aber vielleicht merke ich es nur nicht, weil ich selber stinke. Aber deine Haut fühlt sich schön weich an... Iana.“ Sie stieß ihn zurück und sprang japsend auf die Beine, während ihr eine verräterische Röte ins Gesicht stieg.

„Geh mir vom Leib, sagte ich!“, empörte sie sich und versuchte, kalt zu bleiben, ehe sie sich um wandte und erzitterte bei der Erinnerung seines Gesichtes so unmittelbar vor ihrem eigenen. Er lachte hinter ihr und rappelte sich auch auf, um zurück zum See zu gehen und sein Hemd zu waschen.

„Haha, du hast Angst vor mir...? Komm, ich kann dir gar nicht gefährlich werden. Ich bin unbewaffnet und kann nicht mal zaubern. Schreckhaft wie ein Reh, dabei habe ich dich am Anfang für ganz schön skrupellos gehalten.“ Sie fuhr zu ihm herum und brummte.

„Verkneif dir das, Karana! Ich habe keine Angst vor dir!“ Und ehe sie wusste, was sie sagte, addierte sie kalt: „Du würdest nicht wagen, mich zu töten.“

Sie hatte keine Ahnung, warum sie es sagte, aber sein Kopf schnellte augenblicklich wieder zu ihr herum und er sah sie verblüfft an, ohne ein Wort zu sagen. Eine Weile verharrten ihre Blicke aufeinander, dann war er es, der sich keuchend wieder abwandte und ohne ihre Worte zu kommentieren weiter sein Hemd wusch und anschließend auch seinen nackten Oberkörper mit Wasser bespritzte. Sie drehte sich zur Seite und versuchte, ihn zu ignorieren. Sie hatte kein Problem damit, dass er halb nackt war... nur er war es, der ein Problem war.

„Du siehst ihr ähnlich, Akada... ihr Mann war Windmagier. Es war sicher ein Zeichen der Geister, dass du aussiehst wie sie... ein Zeichen, auf das hin du die Schattenklinge tragen sollst, meine Tochter. Deswegen haben wir dich Akada genannt... 'Himmelskind'.“

Sie zischte, als ihre Finger flüchtig über den Griff ihres kostbaren Erbstücks glitten, ehe sie den Kopf senkte. Sie zog an dem Oberteil ihrer simplen Kleidung und roch daran; der Kerl hatte recht, sie sollte sich auch dringend waschen.
 

„Verdammt, ist das kalt...“, fluchte Karana und schauderte bei dem eisigen Wasser auf seiner Haut, ehe er das nasse Hemd aus dem See fischte, es auswrang und schließlich auf einen Stein am Ufer zum Trocknen warf. Der Herbst kam; die Sonne schien noch ziemlich stark, aber wohl nicht mehr stark genug, um Wasser in Seen zu erwärmen. Bei Lorana war auch ein See gewesen, in dem hatte er mit seinen Geschwistern als Kind oft gebadet. Und als er älter gewesen war, hatte er da manchmal in Sommernächten mit den jungen Frauen geschlafen, die er in der kleinen Kneipe von Thuran aufgesammelt hatte... er vermisste die unbeschwerten Zeiten. Nicht nur den unbekümmerten Sex mit irgendwelchen Mädchen, deren Namen er am nächsten Tag wieder vergessen hatte, weil er zu betrunken gewesen war, als sie ihn ihm gesagt hatten, er sorgte sich auch um Neisa und Simu... selbst um Tayson. Wo die wohl alle waren? Hoffentlich ging es allen gut... der Gedanke, dass seiner süßen, kleinen Schwester etwas passiert sein könnte, war furchtbar. Karana seufzte und drehte sich zur Seite, um nach dem Hund und Iana zu sehen – und was er dann sah, ließ ihn seine Familie sofort vergessen, denn es war vermutlich das Letzte, was er jetzt gerade zu sehen erwartet hatte.

Der Hund pennte – aber die junge Frau, die hübsche Hühnerdiebin, die wie Saidah aussah, hockte jetzt am Ufer des Sees und wusch sich auch. Sie hatte ihr Oberteil ausgezogen und band das Tuch von ihrem Oberkörper, das ihre Brüste abband, damit sie sie nicht in ihren Bewegungen einschränkten. Er starrte sie an und fragte sich kurz, ob sie es gewohnt war, dass andere dabei waren, wenn sie sich halbwegs auszog, oder ob es ihr allen Ernstes nichts ausmachte, vor ihm ihre Brüste zu entblößen... und das tat sie, als sie das Tuch aufgebunden hatte und zum Oberteil ins Wasser des Sees fallen ließ, um es zu waschen.

Karana zitterte – aber jetzt tat er es nicht mehr wegen des kalten Wassers. Sie war wirklich wie Saidah – ihr ganzer Körper erinnerte ihn an seine Geliebte, allein ihre Brüste, von denen er den Blick jetzt nicht mehr wenden konnte, sie mussten in etwa dieselbe Größe und Form haben... sie war wunderschön... er stand erst wie angewurzelt, dass er anfing, sich zu bewegen, merkte er erst, als er fast neben ihr war, ohne dass sie jemals von ihrer Wäsche im See aufgeblickt hätte. Er starrte sie nur an und wusste nicht, was er machen sollte – sie war nicht Saidah. Und irgendwie war sie es doch... er verfluchte die Geister innerlich, dass sie ihm nicht antworteten und ihm einen Hinweis gaben, warum er sich zu dieser Frau so hingezogen fühlte, warum sie verdammt noch mal genauso aussehen musste wie Saidah... genauso sein musste. Es war nicht nur ihr Aussehen... obwohl sie keine Magierin war, soweit er wusste, hatte sie dieselbe Aura, eine vertraute, so weit entfernte Macht, die er so lange vermisst hatte... eine Macht, die ihn mit einem Blick aus ihren Augen in die Knie zwingen würde, das wusste er. Und er würde alles für sie tun in diesem Moment, jeden noch so kleinen Wunsch würde er ihr willig erfüllen, wenn er sie nur ein einziges Mal besitzen könnte... seine stolze, mächtige Schattenkönigin.
 

Sie erschrak sich nicht wirklich, als er sich mit einem Mal packte und sie umwarf auf den sandigen Boden des Ufers, wobei sie ihre nasse Wäsche aus dem See zerrte und fallen ließ. Es verblüffte sie, dass sie sich nicht erschrak... es war, als hätte sie im Inneren geahnt, er würde kommen... und dennoch hatte sie es nicht für ihn getan, ganz sicher nicht. Es war eine Laune der Geister...

Iana schnappte verwirrt über ihre eigenen Gefühle nach Luft, als er sich mit einem heftigen Keuchen über sie rollte, ihr Kinn ergriff wie zuvor, ehe er sich herab beugte und sie heftig küsste. Sie war noch nie von einem Mann geküsst worden... es war seltsam, aber sie wollte sich nicht wehren, obwohl ein Teil ihres Geistes danach schrie, die Waffe zu packen und ihm den Kopf abzuschlagen... bevor er sie brach mit seiner verdammten Anwesenheit... und der Hitze, die sie durchfuhr wie ein Blitzschlag, als sie seine Hände spürte, die ihre Brüste streichelten und vorsichtig drückten, während er mit der Zunge über ihre bebenden Lippen glitt und den Kuss intensivierte, als sie den Mund öffnete, ohne wirklich darüber nachzudenken, was sie tat.

Sie hatte Angst – sie verabscheute ihn und sich selbst für das, was er tat und dafür, dass sie es zuließ, aber gleichzeitig war es auf eine so verbotene, grauenhafte Weise angenehm, dass sie das Gefühl hatte, sie müsste brechen. Hustend drehte sie den Kopf zur Seite und errötete, sich aus dem Kuss lösend, und sie keuchte gleich noch mal, als sie ihn über sich heftig atmen hörte und dann spürte, wie er ihren Hals zu küssen begann, während er sich unruhig zwischen ihre Beine drängelte und sich gegen ihren Unterleib presste. Zitternd riss sie die Hände empor und drückte sie gegen seine Brust, nicht wissend, ob sie ihn damit weg stoßen wollte oder nur das Bedürfnis hatte, ihn zu berühren... seine Haut fühlte sich angenehm an, genau wie das Knistern unter ihren Fingern, das ihr so vertraut und doch so fremd vorkam... wie konnte es vertraut sein? Sie hatte noch nie mit einem Mann verkehrt... und sie kannte diesen Typen erst wenige Tage. Und trotzdem fühlte es sich plötzlich an, als sie unter ihm lag und er sie verlangend küsste, als würde sie ihn schon Jahre kennen... als hätte sie auf diesen einen Moment gewartet, ihn auf diese Weise berühren zu können. Er zitterte über ihr, als sie mit den Händen unschlüssig über seine Brust und hinab wanderte, dann wieder hinauf, zu seinen Schultern und seinem Gesicht, bis sie ihre Finger bebend in seinen braunen Haaren vergrub in dem Moment, in dem er sich über ihren Busen beugte und ihre nackten Brüste mit der Zunge berührte. Keuchend lehnte sie den Kopf zurück und wollte schreien darüber, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte – sie wollte ihn umbringen dafür, dass er sie so beschämte, sie wollte ihn zerreißen dafür, dass er sie so unwürdig da liegen ließ, und sie wollte ihm die verdammte Hose vom Leib reißen und ihm ins Gesicht schreien, er sollte sie nehmen, wie er es begehrte... ein ungehaltenes Fluchen entrann ihrer Kehle, als sie sich unter ihm wand und versuchte, ihren Geist aus dem betörenden Gefühl zu befreien, das er in ihr auslöste, bis sie keuchend seinen Namen in den Himmel schrie – in dem Moment hörte er auf und setzte sich augenblicklich aufrecht hin.

Die Frau schnappte nach Luft und errötete, als sie in sein ebenfalls erhitztes Gesicht blickte und in seinen Augen das Begehren sah, nach dem sie sich gerade noch gesehnt hatte – jetzt fürchtete sie sich plötzlich davor und keuchte heftig, ehe sie sich unter ihm wand und ihn mit einem heftigen Schlag gegen die Brust von sich herunter warf. Karana hustete und sie sprang auf die Beine, mit den Armen ihre baren Brüste verdeckend.

„Bleib mir vom Leib...“, war alles, was sie zwischen den bebenden Lippen hervor brachte, und ihre blauen Augen fixierten die seinen mit einer unausgesprochenen, aber eindeutigen Warnung. Er rieb sich die Brust an der Stelle, wo sie ihn geschlagen hatte, und zischte ebenfalls, ehe er sich aufrappelte. Er hatte seine Fassung schneller wieder als ihr lieb war, und sie keuchte, als er auf sie zu kam, dann aber seelenruhig, als wäre nie etwas geschehen, an ihr vorbei marschierte, zurück zum Hund und dem Stein, auf dem sein noch nasses Hemd lag.

„Du wolltest es...“, raunte er, als er direkt neben ihr war, in seiner Stimme ein Hauch des Triumphs, gemischt mit dem Zorn darüber, dass sie ihn weggestoßen hatte; dabei war er es gewesen, der zuerst aufgehört hatte. „Und wenn es nur für einen Moment war, du wolltest es... sonst hättest du nicht zugelassen, dass ich dich so ansehe...“ Er grinste amüsiert, als sie ihm vor die Füße spuckte.

„Du hast noch nicht gewonnen, Karana Lyra. Ich werde dich zerreißen, wenn du es wagen solltest.“ Damit zog sie sich wieder an, obwohl ihre Kleider noch nass waren, und kehrte ihm den Rücken. „Wir haben keine Zeit, länger zu rasten. Ich will dich so schnell wie möglich loswerden, also beeile dich.“

„Es ist mir doch ein Vergnügen, Euren Wünschen nachzukommen, gnädige Königin.“, feixte er mit einer übertrieben spöttischen Verneigung, und sie fauchte ihn an wie eine wütende Raubkatze. Sie konnte ihn nicht einschüchtern... das behagte ihr nicht. Sie zischte wütend, als sie beobachtete, wie er sich auch wieder anzog und dabei mit seinem Hund redete, der nicht wirklich Lust zu haben schien, sich zu regen. Plötzlich hasste sie sich... sie fühlte sich dreckig, als sie daran dachte, dass sie gerade noch unter ihm gelegen und genossen hatte, was er getan hatte. Warum eigentlich? Nur, weil er ein hübscher Mann war? Sie schauderte in den nassen Kleidern, während sie die Geister verfluchte über das grauenhaft vertraute Gefühl in ihrem Inneren... wie konnte es sich vertraut anfühlen? Etwas in ihr wollte es wieder erleben... etwas in ihr wollte ihn festhalten und dafür sorgen, dass er niemals wieder von ihrer Seite wich. Der Rest von ihr wollte ihn am liebsten eine Klippe hinunter stoßen dafür, dass er es wagte, sie so um den Finger wickeln zu wollen...
 

Als sie endlich zum ersten Mal ein Dorf erreichten, war seit dem Zwischenfall am See bereits wieder ein Tag vergangen. Karana dankte den Geistern von Himmel und Erde trotz ihrer Dreistigkeit, ihn immer noch anzuschweigen und ihm selbst die Grundzauber zu verwehren; ein Dorf würde sie retten, sie bekämen vielleicht Nahrung, Wasservorräte – die er normalerweise nicht brauchte, solange er zaubern konnte, da das aber flach fiel... - und vor allem eine Auskunft, wo sie eigentlich waren, so hoffte er... und er sollte sich irren.

„Was ist das für ein Monster, das ihr da mitbringt?!“, empörte der Wächter vor dem Eingang des Dorfes sich und Karana verdrehte die Augen, während Aar beleidigt winselte und den Schwanz einzog. Verdammt, wieso stellten sich alle so an wegen des Hundes?

„Er gehört zu mir und ich schwöre, dass er niemandem ein Haar krümmen wird.“, sagte der Schamane so also etwas genervt, „Er hört auf meinen Befehl. Wir waren viel unterwegs, könnten wir bitte ins Dorf und uns ausruhen...?“

„Könnt ihr denn bezahlen?!“, empörte der Wächter sich weiter, „Umsonst gibt es nur den Tod, Junge!“

Junge!“, zischte Karana, „Ich bin ein Mann, und wenn du weiter in diesem Ton mit mir redest, zeige ich dir, wie umsonst du hier deine Worte verschwendest! Mein Vater ist Senator in Thalurien, der wird euch entschädigen, sobald er mich wieder hat, das schwöre ich auch.“ Er sah die Hühnerdiebin neben sich skeptisch dreinschauen, ignorierte sie aber. Der Wächter lachte.

„Ach ja, genau. Und ein Sohn eines Senators rennt natürlich vor Dreck strotzend durch die Wildnis... mit einer Bestie an seiner Seite. Ich glaube dir kein Wort.“

„Irgendwie verschwören sich in letzter zeit alle Wachmänner gegen mich.“, empörte sich der Jüngere grantig, und Iana neben ihm seufzte.

„Vergebt ihm seine Grobheit.“, sagte sie erstaunlich höflich und Karana starrte sie fassungslos an, als sie sich vor dem Wächter kurz verneigte. „Dann gehen wir eben wieder. Vielleicht könnt Ihr uns aber sagen, wie wir nach Vialla kommen...“ Zu Karanas Entsetzen lachte der Mann.

„Was, Vialla? Das ist sicher meilenweit weg, ich war nie dort! Folgt einfach der Straße.“, sagte er und zeigte auf den Weg, der vom Dorf weg führte, „Alle Straßen führen nach Vialla, habe ich gelernt. Vielleicht rennen in der Reichshauptstadt ja mehr Penner mit Wölfen herum, die behaupten, ihr Vater sei Senator... ja, klar, mein Vater ist der König von Intario.“ Karana zischte und fletschte wütend seine spitzen Eckzähne, worauf der Mann zurückfuhr, ehe Iana ihren Begleiter am Arm packte.

„Reiß dich zusammen. Gehen wir, oder willst du hier länger deine Zeit verschwenden?“ Karana fluchte ungehalten in Richtung des Wächters, dann ließ er sich gehorsam von der hübschen Frau mit ziehen, den Weg hinab, bis sie außer Sichtweite des Dorfes waren.

„Wenn ich jetzt zaubern könnte, würde ich ihn mit einer Katura zerfetzen!“, wütete Karana und riss sich aus Ianas Griff los, als sie stehen blieb und wieder hinauf zum Dorf spähte.

„Sei ruhig, du Idiot! Ich habe jahrelang meine Nahrung ohne Erlaubnis aus einem Dorf geholt, das wird hier genauso funktionieren wie im Lianerdorf. Beim nächsten Dorf binden wir deinen Köter irgendwo fest und sind freundlich, vielleicht wird das dann was.“

„Schreibe mir nichts vor, Hühnerdiebin!“, grunzte er verärgert, „Ich bin der Sohn des Herrn der Geister, es ist eine Schande, wie dieser Armleuchter mit mir geredet hat!“

„Kannst du irgendwie beweisen, dass du das bist?“, fragte sie genervt, „Das kann ja jeder erzählen, du Trottel. Und du siehst wirklich nicht so aus, als wärst du besonders wohlhabend.“ Er brummte und sah an sich herunter – dummerweise hatte sie recht. Von der langen Reise waren seine Kleider trotz des Waschens im See noch immer abgenutzt und wirkten nicht sehr vornehm; sein Ärmel war an einer Stelle zerrissen und seine Hose hatte am unteren Saum auch einen Riss. Karana zwang sich grimmig, Ruhe zu bewahren, obwohl er innerlich vor Zorn kochte und am liebsten die ganzen Maden in diesem dämlichen Dorf zerfleischt hätte, dass sie es gewagt hatten, ihn dermaßen zu demütigen. Dafür war jetzt keine Zeit und die Macht hatte er jetzt nicht.

„Dann geh!“, brummte er in Ianas Richtung, während er sich in dem Gestrüpp am Wegrand, in dem sie angehalten hatten, auf den Boden fallen ließ und begann, verdrossen seinen Hund am Nacken zu kraulen. „Besorge was zu essen und komm dann wieder. Ich bin dazu ja offenbar unfähig.“

„Beleidigte Leberwurst.“, war ihr Kommentar, und mit einem letzten Blick auf ihn und den Hund verschwand sie in die heraufziehende Dunkelheit.

Der Hund beobachtete seinen Herrn mit wachsamen, blauen Augen. Karana wusste nicht, was Aar ihm damit sagen wollte. Normalerweise konnte er die Gedanken des Tieres erkennen und es wohl auch seine, so kommunizierten sie seit einigen Jahren. Aber seit er aus Lorana fort war, konnte er weder seinen Hund verstehen noch zaubern noch hatte er die leiseste Ahnung, wo sie waren.

Alle Straßen führten nach Vialla.

Das war einfach gesagt, wenn man aber die falsche Richtung einschlug, führten alle Straßen von Vialla weg...

Karana spürte seinen Kopf brennend zu schmerzen anfangen, als er versuchte, sich auf die Geister zu konzentrieren. Es war schlimmer geworden... nicht nur, dass sie schwiegen, jetzt schienen sie sich auch noch dagegen zu wehren, dass er versuchte, sie zu erreichen.

„Verdammt, dass ihr es wagt...“, stöhnte er und keuchte, als der Schmerz heftiger wurde und er hustend gänzlich zu Boden sank, wo er liegen blieb und das Winseln des besorgten Hundes ignorierte. „Dass ihr... es wagt, mich so... in die Knie zu zwingen... i-ihr gehorcht meinem Vater doch auch! Warum verwehrt ihr mir plötzlich... eure Stimmen, Geister...?! Es macht mich wahnsinnig... d-diese verdammte Ohnmacht macht... mich wahnsinnig!“ In dem Moment war es, dass er tatsächlich ein weit entferntes, dumpfes Zischen zur Antwort bekam. Er verstand die Worte nicht, sie waren zu weit weg, er hörte sie nur durch eine dicke Wand aus Schatten hindurch, die sich um seinen Geist geschlossen zu haben schien.

„Sprecht mit mir...!“, jammerte Karana und war entsetzt über sich selbst, weil er plötzlich das Bedürfnis hatte, zu heulen wie ein kleines Kind. Der Schmerz in seinem Kopf wurde so heftig, dass er ihn blendete, und die Augen zusammen kneifend stöhnte er auf und griff sich heftig keuchend an die Schläfen. Aar jaulte. „T-tut... doch was, Geister... sagt mir, was ich tun soll... damit ihr zurückkehrt! Sprecht mit mir... und ich werde... euch demütig zu Füßen liegen und um Verzeihung bitten... wenn ihr es... so wünscht! Ihr, die Schöpfer von Tharr, die Schöpfer... des ganzen Dreiweltenbündnisses Khad-Arza... Vater Himmel und Mutter Erde! Sprecht... mit mir...“ Die Finsternis fiel vor seine Augen, obwohl er sie wieder öffnete, und Karana keuchte, als er vor sich Zoras Derrans Gesicht erkannte – als er plötzlich zurückversetzt war an jene Nacht, in der Lorana gebrannt hatte, ihm gegenüber dieser Mann, mit einer so gespenstischen, grauenhaften Macht des Todes, die er beschworen hatte... mit der er Karanas Geist verwirrt hatte und die Geister aus ihm vertrieben hatte.

„Knie, Karana... so, wie du es sonst immer verlangst! Demut sollen sie dich lehren, die fürchterlichen Krähen, die nur den Großkönigen gehorchen... fürchtest du dich?“

So hatten die Schattenvögel gesprochen... Karana keuchte, als sich in ihm alles schmerzhaft zusammenzog bei dem Gedanken... oder der Erkenntnis, die ihn heftiger traf als der Schattenzauber damals.

Schattenvögel. Die Geister der Todesvögel... ich kenne ihre Macht von jemandem anderes... wie ein Schatten über... meiner Seele schweben sie, immerzu, und sie werden niemals fortgehen.

Als die Finsternis verblasste und der Schmerz in seinem Kopf ihm einen grauenhaften Stich versetzte, der ihn aufschreien ließ, sah er Ianas Gesicht vor sich – ihr hübsches, bleiches Gesicht, ihre so kaltherzigen, blauen Augen, die er so sehr begehrt hatte... die er in diesem Moment wieder begehrte. Und er wollte aufspringen, er wollte sich auf sie stürzen und sie nehmen, ihr die Kleider vom Leib reißen und sie berühren, wie ein Mann seine Frau berühren sollte. Sie war sein, dafür würde er sorgen, denn die Geister hatten sie aneinander gebunden, sodass sie nicht fortlaufen könnte. Er sah, wie sie den Mund bewegte, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle, in seinem Kopf schwirrte nur das schmerzhafte Pochen umher, das er nicht einordnen konnte.

„Saidah!“, japste er und spürte, wie das Feuer des Schmerzes sich in Feuer der Erregung verwandelte, je länger er sie anstarrte, je länger er zurückdachte an die Zeit, in der sie willig unter ihm gelegen hatte und sein gewesen war... sie würde es wieder sein, dafür würde er sorgen, und wenn er sie töten musste, sie würde sein sein! Er erhob sich, oder zumindest dachte er, dass er es täte, um sie zu packen und sie zu Boden zu reißen, um sich mit ihr zu vereinen und sie zu seiner Frau zu machen – dann kamen die Geisterstimmen zurück durch die dicke Schattenwand, und sie lachten ihn aus.

„Demut, Karana.... werden sie dich lehren, und dann wird das Himmelskind dir folgen.“

Er konnte die Worte nicht verstehen – im nächsten Moment spürte er einen Schlag ins Gesicht und wie ihn jemand packte, zu Boden stieß und sich dann ein Gewicht auf ihm ablegte, das ihn gemeinsam mit dem Schmerz zurück in die Realität katapultierte.
 

Es tat weh; er wusste nicht genau, ob es sein Kopf oder irgendetwas anderes war, das schmerzte, und es war ihm auch egal, als er die Augen öffnete und sah, dass die Frau rittlings auf seinem Unterleib saß und ihn empört anschnaubte.

„Bist du noch am Leben?!“, murrte sie, als sich sein Blick klärte, und Karana hustete leise, sah an ihr herunter und zwang sich, die vorangegangene Erregung zu vergessen. Es war nicht leicht, als er ihr wieder ins Gesicht sah und keuchend die Luft einzog. Sie war hübsch... sie war wie seine geliebte Saidah, genauso vollkommen, in ihrem Gesicht dieselbe Anmut, dieselbe Mischung aus kalter Distanz und Begehren...

Dieselbe Macht, die Saidah ausgestrahlt hatte, als sie ihn gelehrt hatte.

Er schauderte, als Iana sich über ihn beugte und mit den Fingern sein Kinn hochzog, dabei etwas Gewalt anwendend – er spürte die Schmerzen kaum, er konnte ihr nur fassungslos über die unmögliche Ähnlichkeit ins Gesicht sehen... fassungslos darüber, dass sie die gleiche Anziehungskraft auf ihn hatte wie Saidah, die er ursprünglich für die einzige Frau auf der Welt gehalten hatte, die das vermochte. Niemals hatte er geglaubt, er würde einmal noch eine treffen, die ihn genauso zu Boden zwingen könnte.

Nur war es in diesem Fall etwas Gutes, am Boden zu sein. Es lohnte sich.

„Sieh mich an.“, verlangte die Frau über ihm grimmig, „Du scheinst ja lebendig zu sein. Ich dachte, du krepierst.“ Karana keuchte; allmählich löste er sich aus seiner Starre und hüstelte dann. Langsam linste er an ihr herunter – während sie sich so über ihn beugte, hatte er den perfekten Blick in ihr Dekolletee, was ihm ziemlich gut gefiel... sie vereitelte seinen Versuch, mehr zu sehen, indem sie sich plötzlich erhob und ihn anstieß.

„Steh auf, oder willst du hier schlafen? Ich habe uns etwas zu essen besorgen können. Sind nur ein paar Nüsse und eingelegtes Obst, aber besser als nichts.“ Karana japste und fasste nach seinem Kopf, ehe er sich vorsichtig aufrappelte. Es schmerzte immer noch...

„Wie lange warst du weg?“, murmelte er, „Wie... wie lange habe ich denn hier herum gelegen?“

„Keine Ahnung, als ich kam, lagst du da und zucktest vor dich hin. Haben die Geister etwa wieder gesprochen?“ Karana antwortete nicht. Ja, sozusagen... aber wirklich weitergeholfen hatten sie ihm auch nicht.

Demut... sollte er demütig am Boden kriechen, damit die Geister zu ihm zurückkehrten?

Vergesst es.

Für diese Gedanken wurde er mit einem stechenden Schmerz im Kopf gestraft. Zischend rappelte er sich auf die Beine und fuhr zu seiner Begleiterin herum, die ihm den Rücken kehrte und offenbar die Vorräte untersuchte, die sie gestohlen hatte.

„Wir sollten jedenfalls weg von hier, bevor die was merken und uns jagen. Wo du ja nicht zaubern kannst...“ Im selben Moment packte er sie unsanft am Oberarm, sodass sie den Sack mit den Nüssen fallen ließ, und als sie das Gesicht zu ihm drehte, stierte er sie giftig an und fletschte drohend die Zähne.

„Sprich nicht so mit mir... hüte dich, Frau.“ Dann ließ er sie unsanft wieder los und machte sich auf den Weg nach irgendwo, da ja alle Straßen nach Vialla führten. Iana zischte ebenfalls, ehe sie ihm nachsetzte und ihn am Ärmel zurück riss.

„Hör dich mal reden, du Affe!“, fuhr sie ihn an, „Gut, dass du mich daran erinnerst, dich nächstes Mal liegen zu lassen, wenn du verreckst!“ Karana sah sie groß an – und plötzlich war der Zorn aus seinem Gesicht verschwunden, als hätte man einen Hebel betätigt. Iana ließ ihn unschlüssig los, während er sich räusperte und sich nervös durch die Haare fuhr.

„Entschuldige...“
 

Iana wunderte sich über den Kerl. In einem Moment war er so ein Dreckskerl und wollte, dass die ganze Welt ihm zu Füßen lag, und dann, manchmal, war er plötzlich überhaupt nicht mehr so. Fest stand, man konnte normal mit ihm reden – sofern er nicht gerade wieder seine Ich-bin-der-Herr-der-Welt-Phase hatte. Je länger sie mit ihm unterwegs war, desto seltsamer war es... manchmal hatte sie das Gefühl, wenn sie ihn ansah, ihn ewig zu kennen. Dabei war das nicht möglich... und dennoch fühlte sie sich, solange sie mit ihm zusammen war, als wäre sie am richtigen Platz... als hätten die Geister des Schicksals nur darauf gewartet, sie an seine Seite zu führen.

Sie hasste sich für diese Instinkte und versuchte, sie zu verdrängen. Sie hasste es, sich aus einem Grund, den sie nicht kannte, zu ihm hingezogen zu fühlen, weil es nichts an ihm gab, das sie gereizt hätte... und doch schien es ja irgendetwas zu geben, das in ihr das heimliche Verlangen schürte, wie am See neulich unter ihm zu liegen und seine Frau zu sein. Sie klammerte sich nachts an ihre Schattenklinge, als wüsste das Schwert, das ihr Vater ihr vermacht hatte, irgendeine Antwort auf ihre unausgesprochenen Fragen, auf die Verwirrung, die in ihr hauste, seit sie diesem komischen Mann begegnet war, der doch ein so großer und mächtiger Magier zu sein schien und trotzdem nicht zaubern konnte, diesem Mann, der zwei Gesichter hatte, von denen sie eines abstieß und das andere sie anzog. Zu ihrem Glück war er öfter ein Arschloch als nett... so gab er ihr keine Gelegenheit, ihrer Versuchung nachzugeben.

Sie beobachtete Karana manchmal, während er schlief; sein Gesicht war unnatürlich hübsch, aber sein Körper war, soweit sie das erkennen konnte, trotz makelloser Haut noch eher von der Statur eines heranwachsenden Jungen als von der eines muskulösen Mannes. Er war dünn, obwohl er zweifelsohne genügend zu essen bekommen musste, wenn sein Vater tatsächlich Senator war. Sie hätte spätestens jetzt geglaubt, er hätte sie damit angelogen, wenn sein Verhalten nicht so typisch für einen verwöhnten Jungen aus viel zu reichem Hause war. Er war gewohnt, zu bekommen, was er wollte, und wenn er es nicht bekam, wurde er zornig. Er bildete sich ein, besser zu sein als andere, und war verwundert darüber, wenn man ihm das nach tagelanger Reise und in dreckigen Kleidern nicht mehr abkaufte. Alles an ihm war so aristokratisch, er war zweifelsohne ein verzogener, verwöhnter Prinz. Iana fragte sich, wie wohl Karanas Eltern waren; ob die noch schlimmer waren als er? Wieso war er so dürr, wenn er doch genug zu essen bekam? Verhältnismäßig hatte ja selbst sie beinahe mehr Fleisch auf den Rippen als er, dabei war sie obdachlos und musste sich ihr spärliches Essen stehlen, um leben zu können... Sie ließ ihren Blick einmal über seinen Körper schweifen, während er neben ihr an einen Baum gelehnt hockte und vermutlich schlief. Iana wusste nicht, wie lange sie schon liefen... wie lange es her war, dass sie dieses Dorf passiert hatten. Es war ungewöhnlich warm geworden, während sie nach Süden marschiert waren; zuerst waren sie der Straße gefolgt, dann hatte diese Straße sich aufgelöst und schließlich war nichts mehr davon übrig gewesen als ein Trampelpfad, der sich dann im feuchten Wald verlaufen hatte. Jetzt saßen sie hier in diesem seltsam feuchten und warmen Wald und er schlief, während sie gemeinsam mit dem schwarzen Hund wach lag und ihn beobachtete. Nein, es war nicht wirklich sein Körper, der sie anzog, stellte sie grübelnd fest, und sie runzelte die Stirn, nicht wissend, was das alles zu bedeuten hatte. Es war eine Instinktsache... ihr Geist zog sie einfach zu ihm, ohne dass sie verstand, wieso überhaupt.

Sie erschrak beinahe zu Tode, als er mit einem Mal sprach.

„Was ist mit deiner Familie passiert, Iana?“

Die Frau fuhr auf und starrte ihn an. Er hatte die Augen geöffnet, ansonsten aber nichts gerührt, jetzt sah er gen Himmel; oder mehr zu den Wipfeln der Bäumen. Die junge Frau seufzte leise, als sie ihn musterte und der Schrecken von ihr ab perlte wie Wasser an mit Fett eingeriebener Kleidung. Er sah sie nicht an... aber sie spürte, dass es tatsächlich seine höfliche Seite war, die mit ihr sprach. Die Seite, mit der zu reden sich lohnte.

„Sie sind gestorben.“ Karana rührte sich nicht, erst nach einer Weile drehte er müde den Kopf.

„Das tut mir leid... ich habe so etwas aber irgendwie geahnt.“

„Was meinst du damit?“

„Du bist so verbittert, so sind doch diese Leute, die keine schöne Kindheit hatten.“ Sie brummte.

„Na, wenn du das sagst, du kennst dich sicher prima aus. Weil du so viel Erfahrung hast, da deine Eltern ja noch leben.“

„Ich frage mich immer, was Kurzhöschen passiert sein mag, seine Eltern leben nämlich noch, und er ist trotzdem so unglaublich verbiestert.“

„Du kannst auch sehr verbiestert sein, Karana.“

„Ich?“ Er sah sie an und grinste blöd, „Nein, ich bin nicht dauerhaft schlecht gelaunt.“

„Wer ist Kurzhöschen?“, fragte sie dann und er lachte.

„Der Idiot, vor dem du mich retten musstest... echt peinlich, normalerweise stehe ich über ihm.“

„Natürlich. Hätte mich auch gewundert.“, sagte sie sarkastisch, aber er schien es zu ignorieren.

„Früher habe ich geglaubt, er ist nur neidisch auf mich, weil ich besser war als er... weil meine Familie anerkannt ist und seine in der Drecksprovinz Kamien vor sich hin vegetiert. Aber ich glaube, ihm muss was Schlimmeres passiert sein, kein Mensch wird bloß durch Neid so abgrundtief hasserfüllt wie der, das glaube ich nicht. Angeblich ist sein Vater ein ziemlicher Idiot, vielleicht verprügelt er sein Kind zu Hause ja oder so.“ Iana musste spöttisch lachen.

„Also, ich habe ihn jetzt nicht genauer angesehen, aber wie ein verprügeltes Opfer wirkte er irgendwie nicht. Eigentlich ist mir aber auch ziemlich egal, was mit dem ist.“

„Mir auch... aber ich würde gerne wissen, was mit... mir ist.“ Das machte sie stutzig und sie runzelte die Stirn, als er sich plötzlich erhob, sich die Hose abklopfte und seufzte. „Manchmal... habe ich so einen unerklärlichen Zorn in mir. Ich kann nicht kontrollieren, wann diese Momente kommen, sie sind wie Anfälle, ab und zu sind sie da. Mein Vater ist immer ziemlich ausgerastet, wenn ich so einen... Anfall hatte. Ich meine, er ist richtig, richtig ausgerastet. Und das Schlimme ist, ich weiß im ersten Moment nach diesen Augenblicken nie, was eigentlich los war... was genau ich getan habe, das ihn so wütend gemacht hat. Einmal hat er mir ins Gesicht geschlagen für Worte, die gesagt zu haben ich mich nicht mehr erinnert habe. Es macht mir Angst, nicht zu wissen, was ich gegen diese... diesen Teil meines Geistes tun kann, der so ist! Wie soll ich denn Herr der Geister werden, wenn ich nicht mal meinen eigenen Geist kontrollieren kann?“

„Kann man das nicht üben?“, fragte die Frau verwirrt und staunte darüber, dass er so ehrlich zu ihr sprach. Er fasste nach seinen Schläfen und zischte; offenbar hatte er Schmerzen.

„K-keine Ahnung! Ich... ich frage Saidah, genau. Sie wird es sicher wissen... Saidah ist klug.“ Iana stutzte. Saidah... so hatte er sie bereits zweimal genannt. Sie fragte sich, wer das war, diese Saidah. Jetzt danach zu fragen erschien ihr unpassend.

„Und wenn nicht, dann wirst du eben etwas anderes. Ist doch egal.“, meinte sie, und er drehte sich langsam zu ihr um, sie fassungslos anstarrend – sein verklärter Blick aus den grünen Augen jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

„Egal? Ich bin der Erbe meines Clans... ich bin der einzige männliche Nachkomme. Es ist meine Verantwortung... den Clan eines Tages zu übernehmen an meines Vaters Stelle. Und ich würde Schande über meine Familie bringen, wenn ich... nicht auch in diesem Punkt in Vatis Fußstapfen treten könnte.“

„Wer sagt, dass das Schande wäre?“

„Die Geister...“, wisperte er und klang plötzlich wie ein verunsichertes Kind, als er den Kopf zu Boden senkte und sich dabei die wirr abstehenden Haare aus dem Gesicht strich. „Ich... bewundere keinen Mann auf der Welt mehr als meinen Vater, weißt du?“, fuhr er dann dumpf fort und sie hielt inne, als er wieder zur Seite blickte. „Und es... macht mich wahnsinnig... dass ich irgendetwas tue, ohne es zu wollen, das ihn wütend macht... du bist eine Frau, bei dir ist es sicher anders. Aber jeder Sohn... wünscht sich doch, von seinem Vater einmal zu hören... dass er stolz auf ihn ist. Und diesen Wunsch nicht erfüllt zu bekommen ist... irgendwie schmerzhaft.“ Iana sprach nicht. Erst, als er sich wieder neben sie gesetzt und ihr den Rücken gekehrt hatte, antwortete sie dumpf mit einem wehmütigen Lächeln.

„Nein... du irrst dich, Karana. Ich mag eine Frau sein, aber... auch ich habe mir immer gewünscht, dass mein Vater stolz auf mich ist. Mein Vater war es... ich bin sicher, deiner ist es auch, auch wenn er wütend ist. Immerhin bist du sein einziger Sohn... du bist ein Teil von ihm. Ich denke, alle Eltern sind irgendwo stolz auf ihre Kinder... vielleicht solltest du deinen Vater fragen, wenn du ihm begegnest.“
 

Manchmal kehrten die Geisterstimmen in seinen Kopf zurück. Karana verstand nicht, woran es lag, dass sie mitunter da waren und dann wieder nicht, und sein Kopf schmerzte jedes Mal heftiger, wenn er versuchte, sich auf die Kommunikation mit den Himmelsgeistern zu konzentrieren. Wenn sie sprachen, sprachen sie in Rätseln... wenn sie ihm Bilder zeigten, Bruchstücke davon, beunruhigten und verwirrten sie ihn, genau wie die Frau, die bei ihm war, die wie Saidah aussah und dennoch nicht Saidah war.

Sie war Iana. Und genauso wie es ihm immer schwerer fiel, sich auf die nicht sprechen wollenden Geister zu konzentrieren, wurde es immer anstrengender, sich in ihrer Gegenwart zu beherrschen, nicht einfach über sie herzufallen und sie zu nehmen, wie er es gerne getan hätte, wenn er sie mitunter beobachtete. Er wusste nicht, was es war, das ihn überhaupt so zurück hielt... er war zwar nie Loron gewesen, der sich Frauen mit Gewalt nahm, aber er hatte zumindest nie etwas unversucht gelassen, ein Mädchen von sich zu überzeugen, wenn ihm eines gefallen hatte. Es musste der gleiche Teil seines Geistes sein, der auch immer wieder versuchte, ihm seine Rechte auszureden... der versuchte, ihn Demut zu lehren, die er nicht kennen wollte.

Er war Karana Lyra, er war der Sohn des Herrn der Geister, der Erbe eines der mächtigsten Schamanenclans auf Tharr. Vor wem sollte er demütig am Boden liegen?

„Karana – Karana, sieh!“, schrie Iana mit einem Mal, und als Aar an seiner Seite bellte, fuhr er aus seinen Gedanken hoch und schnaubte.

„Was ist?!“ Dann folgte er ihrem Blick nach vorne und hustete vor Verblüffung.

„Da vorne ist eine Stadt, allen Ernstes!“, rief seine Begleiterin, und er erkannte genauso wie sie die Ansammlung von Häusern am Horizont, „Dann sind wir also endlich in Vialla?!“ Karana keuchte, ehe er verunsichert einen Schritt rückwärts machte; was ihn viel mehr besorgte als der Anblick einer Stadt, nach Tagen des Wanderns durch herrenlose Wildnis, war das, was er hinter der Stadt in weiter Entfernung ausmachen konnte.

„Nein... das ist nicht Vialla, Iana. Das... ist das Meer da hinten! Vialla liegt nicht am Meer.“
 

Das Meer. Karana fragte sich, wie das sein konnte – wobei sich alles logisch zusammen fügte, als die beiden gemeinsam mit dem Hund hinunter zu der entdeckten Stadt gingen, um sie tatsächlich betreten zu können. Niemand hielt sie auf oder war skeptisch wegen des Hundes; eigentlich beachtete sie keiner, denn die ganze Stadt war wegen irgendetwas Furchtbarem in heller Aufregung. An ihnen rannten Frauen mit Kindern vorbei, uniformierte Soldaten strömten in Richtung Meer, das im Süden lag. Im Süden... sie waren viel nach Süden gewandert, weil Karana geglaubt hatte, sie wären in Kadoh gelandet. Es war ungewöhnlich warm geworden, je weiter sie gegangen waren, das konnte nur heißen, dass sie weit südlicher als Thalurien waren.

„Scheiße, das ist doch ein Witz jetzt!“, stöhnte er, als die Erkenntnis ihn nicht wirklich begeisterte, „Zu großer Wahrscheinlichkeit sind wir in Dobanjan, verflucht!“

Iana schien es nicht zu interessieren, dass sie am südlichsten Zipfel des Landes Kisara gelandet zu sein schienen, in der Steppenprovinz Dobanjan; sie sah sich nur alarmiert um und griff plötzlich hektisch nach ihrem Kurzschwert.

„Merkst du das auch? Was ist hier los, die Leute drehen ja völlig am Rad! Hier stimmt doch irgendetwas nicht!“ Karana starrte sie noch an – in dem Moment, in dem ihn von der Seite schon panisch rufende, fliehende Menschen anrempelten, sprachen die Geister, was ihm einen fürchterlichen Kopfschmerz verschaffte.

„Da kommen sie, die Schatten aus dem Osten... und wenn das Reich fällt, kommt das Ende der Welt.“ Er keuchte und griff taumelnd nach seinem pochenden Schädel. Iana rief seinen Namen, aber er hörte ihn nicht wirklich – vor seinem inneren Auge tauchten seit langem wieder vollständige Bilder auf. Bilder vom Meer... von den Massen an Schiffen, mit denen die Armada über die südlichen Küsten herfallen würde. Auf ihren Segeln prangte das Emblem des Ostreiches Ela-Ri... das Zeichen des Dämonenlandes, des Schattenreiches. Es war in diesem Augenblick, in dem der Schmerz stärker wurde in seinem Kopf und er spürte, wie die drohende Finsternis sich vor ihm aufbaute wie eine Tod bringende Bestie, dass die Geister endgültig zu ihm zurückkehrten. Karana hustete, als er den Sinn für Gleichgewicht verlor und strauchelnd zu Boden stürzte. Iana schrie, während er heftig hustete und unter der Macht der Bedrohung erzitterte.

„Karana!“, schrie sie und riss an seinem Arm, „Steh auf, du Vollidiot, wir müssen hier weg! D-die Leute werden dich niedertrampeln!“ Er hörte ihr nicht zu... in dem Moment war zum ersten Mal egal, dass sie wie Saidah war.

„E-Ela-Ri!“, röchelte er stimmlos und hörte durch das Geschrei in der chaotischen Stadt, wie Iana ihm zurief, er sollte endlich aufstehen. Nein, er konnte jetzt nicht stehen... er kauerte auf allen Vieren hustend am Boden, erstaunt darüber, dass die gewaltige, unheilschwangere Macht, die da aus dem Südosten heran nahte, ihn nicht gänzlich zu Boden quetschte. „D-das Ostreich kommt... es sind... die Truppen aus Ela-Ri, die die Stadt angreifen! Die Schatten... d-die das Ende der Welt bringen!“

„Woher weißt du das?“, japste die Frau neben ihm, die ihn zur Seite stieß und ihn so vor weiteren Fliehenden rettete. Aar bellte irgendwo. „Was ist mit dir, verdammt?! - Eh...“ Er sah sie zurückfahren, als er den Kopf herum in ihre Richtung riss und sie plötzlich anzischte, mit aller Kraft versuchend, dem Unheil standzuhalten und nicht ganz zu Boden zu stürzen. Er spürte die Geister... sie waren wieder da, was immer Zoras mit ihm gemacht hatte, es war in diesem Moment gebrochen und seine eigene Macht kehrte zurück... seine eigene Macht, die verhinderte, dass der Schatten ihn erdrosselte, der über das Zentralreich fiel.

„Die Geister... sprechen jetzt wieder. Mit Feuer und Schatten... werden sie kommen. Und sie bringen das Ende der Welt... das haben die Geister gesagt.“
 


 

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öhm ja. gammel XD

Finsternis

Als Neisa ihr Bewusstsein richtig zurück erlangte, lag sie im Gras. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierher gekommen war... ihr Kopf schmerzte, als sie ihn zur Seite drehte. Der Morgen graute. Was war geschehen? Wo war sie überhaupt und vor allem, warum?

Keuchend versuchte sie, sich aufzusetzen, und als sie hinter sich eine bekannte Stimme wahrnahm, fuhr sie vor Schreck erbleichend zusammen; sie hatte manche Stimmen erwartet, aber nicht diese.

„Na endlich wachst du mal auf. Ich dachte schon, wir müssten hier bis Neujahr sitzen...“ Langsam ob des pochenden Schmerzes drehte das Mädchen den Kopf und keuchte unwillkürlich erneut, als sie bestätigt bekam, dass sie sich nicht verhört hatte... es war wirklich seine Stimme gewesen.

Zoras?!“

„Du kennst meinen Namen noch.“, sagte er dunkel, „Soll ich mir darauf etwas einbilden?“

„W-wie bitte? Moment, was hast du hier verloren, und wo zum Geier bin ich?“ Sie krabbelte auf die Knie und hielt sich stöhnend den Schädel. „Was ist passiert...?“ Er seufzte und sie starrte ihn an – er war wirklich da, sie hatte ihn sich nicht eingebildet. Er saß in aller Seelenruhe auf der aus dem Boden ragenden Wurzel eines alten Baumes und pulte etwas griesgrämig an seinem Hemd herum; wenn man es noch so nennen konnte, stellte Neisa nach genauerem Hinsehen fest, eigentlich wäre der Begriff Fetzen passender gewesen.

Natürlich kannte sie seinen Namen; Karana erwähnte ihn oft, wenn er sich aufregte. Ihr Bruder und Zoras Derran hatten sich schon als Kinder immer gehasst... wie sollte sie da seinen Namen vergessen? Obwohl sie ihn wirklich lange nicht gesehen hatte... das letzte Mal musste vor mehr als einem Jahr gewesen sein. Gewachsen war er nicht – er war trotzdem noch immer größer als sie selbst, was sie insgeheim irgendwie frustrierte – aber trotzdem hatte sie ihn anders in Erinnerung gehabt. Er sah erschossen aus... so wirklich ordentlich hatte er nie ausgesehen, das war bei den Lebensbedingungen in Kamien gar nicht denkbar, aber selbst dafür sah er irgendwie malträtierter aus als nötig.

Neisa sah sich suchend nach irgendeinem Hinweis um, der ihr verriet, wo sie waren; um sie herum war nur Natur, kein Mensch, kein Weg, gar nichts. Warum wachte sie auf und war plötzlich mit Zoras Derran alleine in der Wildnis? Mit einem Japsen fasste sie nach ihrem Kopf und sprang auf die Füße, als ihr einfiel, was passiert war. Lorana hatte gebrannt... und da war Loron gewesen. Sie erinnerte sich an Lorons Finger, die versucht hatten, ihre Kleider zu zerreißen, und an den Gestank von verbranntem Fleisch, der in der Luft gelegen hatte.

„Oh nein! - Himmel, d-das Dorf! Das Dorf, ist es verbrannt?! Rede, Zoras, wo sind wir?! W-wo... w-was hast du mit mir vor?!“

„Lorana dürfte Geschichte sein, ja.“, sagte er düster, „Guck mich nicht an, das war nicht meine Entscheidung. Es... tut mir leid, was mit deiner Heimat geschehen ist.“ Er hörte auf, an seinem Fetzen von Hemd zu pulen und erhob sich langsam, wobei er sich brummend an die Brust fasste und gedämpft vor sich hin fluchte.

„Aber... d-die anderen, wo ist meine Familie?! Wo sind wir hier?“ Zum ersten Mal traf sie wirklich sein Blick; es war paradox, dass sie sich beruhigt fühlte, wenn er sie ansah. Seine Augen waren wie die eines Raubtieres, schmal und von einem unnatürlich hellen Grün, was sie einzigartig machten. Normalerweise fürchteten die Menschen, die Neisa kannte, Zoras Derran oder seine Augen... in Thalurien wie auch in Kamien galt der Mann als Schreckgespenst, und das nicht nur wegen seines finsteren Aussehens. Neisa hatte ihn nie als Schreckgespenst betrachtet... sie hatte nie Angst vor ihm gehabt. Sie hatte vor manchen Angst, sogar vor Karana, wenn er zornig wurde, aber Zoras hatte sie verblüffender Weise nie gefürchtet. Gerade ihn, den alle anderen fürchteten... irgendwie hatte sie einen Hang dazu, diejenigen zu wenig zu fürchten, die es am meisten verdienten. Aber sie sah in seine seltsamen Augen und erkannte darin seinen Geist... eine Seele von größerer Macht, als sie mit ihren Augen erfassen könnte, und sie sah darin nicht die Bosheit, die der Mann im ersten Augenblick ausstrahlen mochte.

Zoras gehörte nach Kamien, wie Loron und die anderen Mistkerle. Aber sie wusste instinktiv, wenn sie ihn ansah, dass er nicht vorhatte, ihr wehzutun. Das könnte er nicht... so weit kannte sie ihn.

„Deine Familie geht nach Yiara.“, erklärte er ihr, und sie schüttelte den Kopf und sah ihn verblüfft an. Moment – ja, das wusste sie noch. Das hatte ihre Mutter angeordnet... nach Yiara zu Tante Alona.

„Woher weißt du das?“, wunderte sie sich dann weiter und er seufzte.

„Weil du es mir gestern Nacht gesagt hast.“

„Gestern Nacht? Seit wann... bin ich denn bei dir, Himmel?“, fragte sie verwirrt, und sie fing sich einen konfusen Blick.

„Ich habe Loron eine verpasst und dich mitgenommen, um dich zu deinen Leuten zu bringen. Du warst etwas dusselig, Loron muss dir Beerensaft gegeben haben oder so... jedenfalls hast du mir erzählt, sie gingen nach Yiara. Wenn wir uns beeilen, holen wir sie vielleicht bald ein, deswegen bin ich froh, dass du auf bist. Ich kann dich nicht weiter tragen, du bist zu schwer.“ Sie schnappte nach Luft und errötete gegen ihren Willen.

„Wie, tragen? Du hast mich hierher getragen?“

„Nein, ich habe mit dem Finger geschnipst und schon warst du hier.“ Das blonde Mädchen fuhr sich nervös durch die Haare und sah sich erneut um.

„Der Beerensaft erklärt die Kopfschmerzen...“, murmelte sie, „Und wo sind wir jetzt?“

„Vor uns liegt die Nilfa. Wenn wir sie und den großen Strom überqueren, sind wir sehr viel schneller in Richtung Hochland als auf der Straße. Deswegen hoffe ich ja, dass wir deine Familie einholen können.“ Sie senkte den Kopf, als er ihr den Rücken kehrte und sich schon daran machte, zu gehen.

„Warum machst du das für mich, Zoras?“

„Wer sagt dir, dass ich es für dich mache?“

„Was sollte denn für dich dabei herausspringen?“

„Hätte ich dich bei Loron liegen lassen sollen, damit als nächster Arlon kommt und dich nagelt? Aber das heißt nicht, dass ich jetzt den Rest des Jahres mit dir in der Pampa herum latschen will, also beeile dich etwas. Bist du in Ordnung oder hast du dich beim Brand verletzt?“

„Nein...“, sagte sie dumpf, „Mir geht es gut.“ Mehr sprach sie nicht, stattdessen folgte sie seiner Anweisung, ging schweigend an ihm vorbei in Richtung Nordosten, um den Weg fortzusetzen.
 

Zoras verübelte Karanas Schwester nicht, dass sie wenig sprach; sie war sicher verwirrt. Ihr Heimatdorf war verbrannt... es musste schwer sein, ein Dorf zu verlassen, in dem man geboren worden war und all die Jahre gelebt hatte. Er konnte sich da nicht hinein versetzen... er hatte noch nie eine richtige Heimat gehabt, die er geschätzt hatte. Der einzige Ort, an dem er je gelebt hatte, zu dem er eine tiefe Verbundenheit empfunden hatte, war ein Berg irgendwo in Senjo, auf dem er als kleiner Junge mit seinen Eltern gelebt hatte. Sie hatten in einer Höhle gewohnt, es war so simpel gewesen und doch schön... sie waren bei den Geistern der Erde gewesen, als kleines Kind hatte Zoras sie überall gespürt. Wenn er seine Hände auf den Stein gelegt hatte, wenn er an den Felswänden gelauscht hatte, wenn er im Herbst mit seiner Mutter die reifen, roten Beeren geerntet hatte, überall waren die Geister gewesen. Sie waren friedlich gewesen... bis sie eines Tages beschlossen hatten, dass die Menschen ihre heiligen Orte genug besucht hatten. Sie hatten Zoras in der Nacht gewarnt, dass er den Berg verlassen sollte... und als sie es getan hatten, war die Höhle just hinter ihnen zusammengefallen. Die Geister waren nicht zornig geworden... sie hatten nur beschlossen, dass es Zeit für eine Veränderung war. Und es waren schlechte Veränderungen gewesen. Nach drei Jahren des Vegetierens in düsteren Wäldern waren die Räuber gekommen.

Die Räuber, die sein Leben für immer verändert hatten.

Er wollte nicht an sie denken, während sie erst den kleineren Strom Nilfa und dann den großen Yarmol überquerten, um dann weiter in Richtung Nordosten zu marschieren. Während sie gingen, beobachtete er seine Begleiterin verstohlen von hinten. Sie war hübsch geworden, die kleine, störrische Neisa. Es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis sie endgültig zur Frau heran reifte und heiraten würde. Eigentlich konnte ihm egal sein, wen sie heiratete... solange es jemand war, der besser war als Loron. Das war nicht sehr schwer... jeder Arsch war besser als Loron. Neisa war ein tapferer, guter Mensch, hatte er als Kind einmal gelernt; sie verdiente jemanden, der das sah. Aber ihr Vater war kein Dummkopf, er würde sie schon niemandem Unwürdiges geben. Ihr Vater war der Führer des Rates der Geisterjäger. Jemand wie Puran Lyra sah so etwas... wenn selbst er, Zoras, es sah, und er war weder Geisterjäger noch von edler Abstammung.

Er fragte sich nebenbei, wie es Pakuna gehen mochte... hoffentlich taten Arlon und Loron ihr nichts Schlimmeres an als sie es ohnehin taten. Vielleicht waren sie schon wieder in Holia...? Da sein Vater ja keinen Finger krümmen würde, um Pakuna zu retten – das hatte er nie getan – konnte er auch schlecht auf die Hilfe dieses Idioten zählen. Er bat die Geister, seine Mutter noch etwas aushalten zu lassen... wenn er zurückkehrte, würde er sie mitnehmen. Und wer es wagen sollte, sich ihm in den Weg zu stellen, würde sterben, das schwor er sich verbittert und konnte ein ärgerliches Zischen nicht unterdrücken, während er die Fäuste ballte. Neisa blieb stehen und drehte sich zu ihm um.

„Was ist?“, fragte sie, „Bist du in Ordnung?“

„Geh!“, fuhr er sie ungewollt heftig an und schob sie voran, „Ich habe nicht ewig Zeit.“ Sie verengte ihre verschiedenen Augen zu schmalen Schlitzen.

„Ich habe dich auch nicht darum gebeten, mit mir zu gehen, oder?“, erinnerte sie ihn kalt, „Sprich, wenn du ein Problem hast, oder halt die Klappe, wenn du keins hast.“ Er starrte sie an für den Ton, in dem sie mit ihm sprach – mitunter merkte man doch sehr deutlich, dass sie Karanas Schwester war. Dass sie einer Familie mächtiger Schamanen und Herrscher der Geisterwinde entstammte... während ihn dieses Gehabe bei Karana immer ärgerte, faszinierte es ihn bei ihr ziemlich. Für eine Frau war es ungewöhnlich. In Kamien jedenfalls würde jede Frau dafür getötet, so zu sprechen...

Er sah die Kälte aus ihrem Blick weichen und wunderte sich zunächst, warum, dann keuchte sie besorgt und trat auf ihn zu.

„Was hast du eigentlich mit deiner Brust angestellt?! Du bist ja verletzt...“ Er sah an sich herunter und hüstelte. Die Wunde, die er ihrem Bruder zu verdanken hatte, war bei der Überquerung des Flusses wieder aufgerissen und jetzt sah sein zerstörtes Hemd noch fürchterlicher aus... er bemerkte den Schmerz schon kaum noch, aber dass es Neisa auffiel, wunderte ihn kaum; sie als Heilerin musste einen Blick für Wunden haben.

„Ist halb so wild, sieht nur schlimm aus.“, erklärte er mit einem Achselzucken, „Da war eben ziemliches Chaos in Lorana.“ Er schauderte, als er daran dachte, dass er selbst mit Schuld daran war... er war es gewesen, der das Feuer gelegt hatte. Er war Schuld daran, dass so viele Menschen jetzt keine Heimat mehr hatten... in vielen Dörfern, nicht nur in Lorana.

Ist es nicht das, was du immer wolltest?“, alberten die Geister in seinem Kopf herum, und er zischte, während er Neisa vor sich ignorierte und gen Westen starrte, in die Richtung, in der die Sonne wie ein Feuerball unterzugehen begann. „Das Ungeziefer vernichten? Warst du es nicht, Zoras, der gesagt hat, die Menschen verdienen das Leben nicht?“

Doch, antwortete er in Gedanken, Es gibt genug Menschen, die das Leben nicht verdienen. Und ihre Zeit... wird noch kommen.

Er wollte an Neisa vorbei gehen.

„Geh jetzt zu, Mädchen, sonst holen wir deine Familie niemals ein...“ Weiter kam er nicht, denn sie hielt ihn am Arm fest.

„Keinen Schritt weiter. Erst versorge ich deine Wunde, sonst bin ich es nachher, die dich zurück schleppen muss, weil du wegen Blutverlust umfällst... Idiot.“ Er hielt gehorsam an und ließ zu, dass sie wieder um ihn herum kam und einen resignierten Blick auf sein zerfetztes Hemd warf. Ohne Scheu hob sie ihre zierlichen Hände, um zu versuchen, es ihm irgendwie vom Leib zu entfernen, und Zoras fuhr bei der prompten Berührung zurück und schob sie weg, als ihm gewahr wurde, was sie vorhatte.

„Nicht... das ist wirklich nicht schlimm.“

„Es ist bestimmt infiziert, weil Dreck rein gekommen ist!“, sagte sie, „Was hast du, bist du aus dem Alter, dich nackt vor Mädchen zu schämen, nicht raus? Es ist doch nur das Oberteil...“ Er zischte, als sie die Hände abermals nach ihm ausstreckte.

„Lass das, Neisa. Wir haben keine Zeit dafür, wir müssen weiter. Die Sonne geht bald unter, solange es noch hell ist, sollten wir vorwärts gehen.“

„Ich wäre längst fertig, wenn du dich nicht wie ein Mädchen anstellen würdest.“

„Ich – wie bitte?! Wie ein Mädchen?!“

„Ja, in der Tat. Also sei nicht so albern und zieh endlich dieses zerlumpte Ding aus!“

„Ich – warte, Himmel! Neisa, nicht, d-das-...!“ Er war zu perplex, um sich wirklich zu wehren, als sie ihn energisch rückwärts zu Boden schubste und auf eigene Faust anfing, ihm die Reste seines Hemdes vom Oberkörper zu kratzen. Es schmerzte, als sie einen offenbar durch das getrocknete Blut festgeklebten Teil von seiner Haut zerrte, und er zischte und versuchte instinktiv, rückwärts krabbelnd auszuweichen, bis Neisa ihn empört mit einer Hand am Handgelenk packte und mit der anderen endlich die letzten Reste der Kleidung entfernte, um die Wunde auf seiner Brust zu entblößen.

„War das jetzt so schlimm?“, seufzte sie, „Lass mal sehen... was hast du angestellt?“ Er errötete gegen seinen Willen, als er spürte, wie ihre Hände vorsichtig den Schnitt betasteten, den Karana ihm zugefügt hatte. Er würde sich hüten, ihr das zu sagen... wie peinlich war es überhaupt, dass er von diesem arroganten Mistsack so etwas hatte einstecken müssen?

Ihre Hände waren kalt... oder war es der Schmerz, den er verspürte, der sich so anfühlte? Er war sich nicht sicher und drehte den Kopf zur Seite, als sie auf den Knien dichter an ihn heran rutschte und ihre Hände auf seine malträtierte Brust legte.

„Siehst du, hättest du mir das früher gesagt, wärst du ohne Narbe davon gekommen... jetzt wird es wohl eine geben. Entspann dich, desinfizieren ist immer etwas unangenehm.“

„Da habe ich ja allen Grund zur Entspannung – Aua!“

„Halt still!“, empörte sie sich und er schnaubte, als ihn ein eisiges Gefühl durchfuhr, das den Schmerz in seinem Körper so weit steigerte, dass er glaubte, er würde platzen, weil alles in ihm gefror und sich ausdehnte... doch ehe er zum Schreien gekommen wäre, war es vorbei, und keuchend sah er wieder auf Neisa, die mit Hilfe des einfachen Wasserzaubers Alara dabei war, das Blut von seiner Brust zu waschen. Auf ihrer Handfläche bildete sich dabei ein dünner Film Wasser, mit dessen Hilfe sie über seine Brust streichen und die Spuren wegwischen konnte. Der Schmerz war weg, als er auf ihre blassen Hände herunter sah, die ihn berührten. Es kribbelte, wenn ihre Fingerspitzen seine Haut ertasteten, und unwillkürlich schauderte er kurz, worauf sie ihn verschmitzt angrinste.

„Wer wird denn gleich nervös werden? Man könnte meinen, dich hat noch nie eine Frau angefasst... ich meine, du musst doch schon dein Blutritual durchgestanden haben. Nicht mal Simu stellt sich so an, und den fasst echt keine Frau an.“

„Das geht dich nichts an.“, sagte er kalt und sie grinste jetzt mehr diabolisch.

„Andererseits könnte man dich auch für eine geschändete Jungfrau halten – wobei du dabei natürlich keine richtige Jungfrau mehr wärst...“

Zoras riss sich augenblicklich von ihren Händen los und sprang auf die Füße.

„Rede nicht so einen Unsinn!“, brüllte er lauter als geplant und sah, wie das Grinsen aus ihrem Gesicht wich. Schnaubend kehrte er ihr den Rücken und zwang sich, seinen Zorn zu zügeln... er war nicht auf sie zornig. Er wurde es nur automatisch, wenn er an sein Blutritual zurückdachte... und an andere Dinge, die er sonst in seinem Inneren verschlossen hielt und nicht wagte, sie jemals wieder hervor zu kramen...

Nicht diese Sachen. Die Schmerzen und die Demut, die sie mit sich brachten... es gab genug Menschen, die das Leben nicht verdient hatten.

Er wurde erst wieder auf Neisa aufmerksam, als er sie hinter sich plötzlich vor Entsetzen keuchen hörte, dann hörte er, wie sie auf die Füße sprang – im ersten Moment fragte er sich, was sie hatte, bis ihm auffiel, dass er ihr den Rücken kehrte... und er trug sein Hemd nicht.

„Himmel – Zoras!“, keuchte sie, „Was... was hast du mit deinem Rücken angestellt?!“ Der junge Mann verfluchte seine Gedankenlosigkeit... genau deswegen hatte er sich nicht ausziehen wollen.
 

Neisa wusste nicht, ob sie vor Angst schreien oder vor Faszination strahlen sollte... ersteres war sicher angebrachter, stellte sie fest, als sie fassungslos auf seinen nackten Rücken starrte; und auf das furchteinflößende, pechschwarze Muster aus Schnitten in allen Formen auf seiner Haut, das seinen gesamten Rücken bedeckte. Sie hatte nie einen Menschen gesehen, der dermaßen gezeichnet war – war das etwa Wille der Geister gewesen?

„Glaub ja nicht, dass ich das freiwillig habe.“, war seine Antwort, und sie merkte am Klang seiner Stimme, dass er nur ungern darüber sprach. Schaudernd starrte sie weiterhin auf seinen malträtierten Rücken, gleichzeitig angeekelt von der Widerwärtigkeit dieses scheußlichen, grausamen Musters aus Schlitzen in seiner Haut und auch angetan von seiner Bedrohlichkeit... es war auf abstruse, perverse Art schön, stellte sie erschrocken fest und schalt sich im nächsten Moment für ihre schmutzigen Gedanken.

„Was... was ist das, Zoras?“, brachte sie über ihre bebenden Lippen und er brummte, ehe er sich bückte und die Fetzen seines Hemdes aufsammelte.

„Das ist eine Tätowierung, dummes Mädchen. Wie gesagt, ich habe mir das nicht ausgesucht. Mich wundert, dass du das nicht wusstest... als Loron das zum ersten Mal gesehen hat, hat er mich schallend ausgelacht, mich eine hässliche Missgeburt genannt und es überall verbreitet... offenbar nicht bis nach Lorana.“ Neisa fuhr zurück.

„M-Missgeburt?! Aber mit sowas wurdest du doch nicht geboren!“

„Denkst du, das kratzt Loron? Der kann nicht mal rechnen.“ Das war wahr, aber wirklich zufrieden war die Heilerin nicht.

„A-aber wer hat dir das angetan? Das... das ist faszinierend...“ Faszinierend? Verdammt, sie hatte furchtbar sagen wollen – etwa mit demselben Entsetzen starrte er sie auch jetzt an, ihr wieder die Vorderseite zuwendend.

Faszinierend?!“, schnappte er, „Das ist eine Schande, ein Zeugnis der abartigsten, grauenhaftesten Demut, die ich jemals in meinem Leben ertragen musste, ein Zeugnis aus einer Zeit, die ich am liebsten aus meinem Leben streichen würde! Ich würde mich lieber von meinem bescheuerten Vater tot schlagen lassen als das noch mal erleben zu müssen! Und du nennst es faszinierend!“

„Ich meine... wie... wie ist denn das gemacht...? Das muss doch grauenhaft wehgetan haben...“ Sie kam wieder näher und versuchte, um ihn herum zu gehen, um das seltsame, fragwürdige Kunstwerk aus der Nähe zu betrachten, doch er drehte sich mit ihr und ließ sie nicht. Grimmig packte er ihre Handgelenke, dabei noch immer seine Stofffetzen haltend.

„In der Tat! Wenn du es genau wissen willst, hat man mich Tagelang, Wochenlang immer wieder und wieder mit Messern aufgeschlitzt, Farbe in die Wunden geschmiert und immer wieder und wieder aufgeschlitzt, so lange, bis es so aussah und auch sicher nie verheilen würde. Reicht dir das oder willst du noch mehr... faszinierendes hören?“

„Wer war das?“, fragte sie unverblümt und er zischte, sah sie einen Moment an und ließ sie dann los, um ihr den Rücken zu kehren. Mürrisch warf er die Reste seines Hemdes wieder zu Boden.

„Eine Bande von perversen Räubern. So, da du ja erfolgreich meine Kleider zerstört hast... können wir jetzt weitergehen?“ Neisa drehte den Kopf zur Seite, als er sich schon daran machte, zu gehen. Dann betrachtete sie ihn erneut von hinten, während er ging, und schauderte erneut unwillkürlich bei dem Anblick des bizarren Musters. In der Mitte seine Rückens war ein runder, schwarzer Kreis, von dem unzählige Schnörkel und Schlitze in alle Richtungen weg führten. Mit etwas Fantasie hatte es etwas von einer schwarzen Sonne mit Strahlen aus Schmerz und Boshaftigkeit.

Wieso fürchtete sie sich immer noch nicht? Neisa versuchte, es herauszufinden, als sie ihm gehorsam folgte und die untergehende Sonne hinter ihnen lange Schatten auf die Erde warf... sie fand keine Antwort. In ihrem Inneren wusste sie einfach, ohne es erklären zu können, dass sie ihn nicht fürchten musste... aber die Welt stand ohnehin Kopf. Ihre Heimat war verbrannt – ihre Familie war hoffentlich unversehrt auf dem Weg nach Yiara... ihr Vater war vermutlich in Taiduhr im Senat, während die Rüpel aus Kamien über die Provinz herfielen. Sie schauderte bei den Gedanken und spürte, wie ein ungewohnter Groll in ihr aufkeimte, als sie an das Dorf dachte, in dem sie so lange gewohnt hatte, und daran, dass sie es niemals wieder bewohnen würde. Als sie schließlich stehen blieb, am ganzen Leibe zitternd, war die Sonne beinahe untergegangen und tauchte den sonst grünen Himmel in ein bizarres Licht, das mehr Finsternis war.

„Ich bring sie... alle um, wenn ich... jemals wieder nach Thalurien komme...“, keuchte sie, und sie sah aus dem Augenwinkel, wie Zoras vor ihr anhielt und sie anstarrte. Als sie ihm ins Gesicht sah, hatte es dank der bizarren Beleuchtung eine furchteinflößende, ehrerbietige Wirkung, anders als sie es kannte. „Wenn ich nach Thalurien komme... will ich, dass diese Bastarde zerfetzt werden... die meine Heimat zerstört haben! Und wenn es soweit ist, werde ich zusehen und lachen!“
 

Zoras war sich nicht sicher, ob er von Neisas sadistischer Ader fasziniert oder darüber besorgt sein sollte; er beschloss weise, die Reise für den Tag zu beenden, und ließ sich mit einem Seufzen da, wo er stand, einfach ins Gras fallen. Das Mädchen ließ sich entkräftet neben ihn fallen, fasste stöhnend nach seinem Kopf und jammerte über Kopfschmerzen.

„Ich... will diese Bastarde umbringen, diese Hurensöhne, die so viel Tod und Schatten gebracht haben! Erst die Lianer, dann vermutlich noch ein Dutzend anderer Dörfer! Sie hatten kein Recht dazu! Wir haben euch in Kamien nie etwas angetan!“

„Es war nicht meine Entscheidung.“, brummte er nur und sah, wie sie neben ihm zitterte, ehe sie herum fuhr und ihn anschrie mit einem Enthusiasmus, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte.

„Aber du warst bei ihnen, verflucht! Du hast es zugelassen, Zoras! Du hättest sie grillen können mit einer einzigen Handbewegung, du bist ein Kind der Himmelsgeister! Du bist ein Schamane... und die Geister würden dir zu Füßen liegen! Also warum?! Rede mit mir...“

„Weil sie meiner Mutter die Kehle aufschneiden, wenn ich das tun würde, verdammt noch mal!“, brüllte er sie unverhofft an und sah dann, wie sie verstummte. Einen Moment war es ganz still; es war dunkel geworden und er merkte jetzt so ohne sein Hemd, dass es in der Nacht doch schon sehr kühl wurde. Schaudernd rieb er sich die Arme.

„Sie... schneiden deiner Mutter die Kehle auf?“, wisperte die Blonde neben ihm dann tonlos, und er seufzte, sich weiter die Arme reibend.

„Arlon und Loron, du kennst sie ja. Sie haben meine Mutter als Geisel genommen, weil diese Schweine genau wissen, dass ich keine Wahl habe, als ihnen aus der Hand zu fressen, solange sie meine Mutter haben. Wenn ich zurückkehre, werde ich sie töten... ich werde schon eine Gelegenheit finden, und wenn ich sie im Schlaf erdrosseln muss.“ Neisa schauderte neben ihm.

„A-aber – haben sie deine Mutter jetzt immer noch? Wieso bist du dann fort und hast sie bei ihnen gelassen? Du hättest mich niemals retten dürfen-...“ Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er ihre Hand an seinem Arm spürte. Sie war eiskalt...

„Ich habe es aber getan, Neisa. Ändern kann ich das jetzt nicht.“ Sie senkte den Kopf und er zwang sich genervt, sie nicht weiter anzusehen, während ihre kalte Hand sich an seinen linken Oberarm klammerte. Es fühlte sich ungewohnt an, so angefasst zu werden... eigentlich hasste er es, angefasst zu werden. Er war verblüfft darüber, dass er es bei ihr nicht hasste...

Sie war Neisa. Bei ihr war alles anders.

„Wieso?“, flüsterte sie leise, ehe sie die Hand wieder sinken ließ. Zoras raufte sich nervös die schwarzen Haare und schluckte die Antwort herunter, die ihm gerade auf die Zunge geschlichen war – sie hätte weder ihr noch ihm selbst gefallen, so entschied er sich für eine andere.

„Mein Geist hat mich zu dir geführt und dann wusste ich, dass es meine Pflicht wäre. Die habe ich erst erfüllt, wenn du in Sicherheit bist.“

Das Mädchen sah ihm eine Weile schweigend ins Gesicht, dann nickte es und schien seine Antwort zu akzeptieren; die nebenbei nicht mal gelogen war. Er hustete, als sie plötzlich dichter an ihn heran rückte und er mit einem Mal wieder ihre Hände auf seiner nackten Brust hatte.

„Was machst du da?!“

„Ich versorge deine Wunde.“, erklärte sie, „Es sieht besser aus nach dem, was ich vorhin gemacht habe, ich versuche es jetzt mit Lira.“ Zoras schauderte. Ja, er kannte den Heilzauber, den theoretisch jeder Idiot anwenden konnte, selbst, wenn man kein Heiler war. Er selbst war nur unheimlich untalentiert darin... seufzend ließ er sie gewähren, als sie beide Hände auf seine Brust legte und er fühlen konnte, wie sich jetzt die angenehme Wärme des Heilzaubers auf seine Haut und dann sein Fleisch übertrug. Ihre Hände waren noch immer kalt, aber die Magie war warm, die ihn durchströmte, und sie vermischte sich mit seinem Blut, vereinte sich mit seinem Körper und regenerierte die Zellen, die Karanas Hieb zerstört hatte. Es war ein gutes Gefühl... es gab ihm Leben, eine Sache, die er selten zu spüren bekam, wenn er in Kamien war. In Kamien gab es nur Tod und Verderben.

„Tut mir leid...“, sagte Neisa, als sie von ihm abließ, und er öffnete die Augen, räusperte sich verlegen und linste sie an.

„Was?“

„Dass ich dich angeschrien habe. Ich weiß, du bist... nicht wie die aus Kamien. Du bist nicht von da... du bist ein guter Mensch. Und... ich habe mich gar nicht bei dir bedankt, dass du mich vor Loron gerettet hast.“ Zoras seufzte.

„Wir sind quitt. Du hast mich geheilt... das nehme ich als Danke, Neisa.“ Auch, wenn er es nicht sah, spürte er sie neben sich lächeln. Er kannte ihr Lächeln... ihr lächelndes Gesicht war ein Anblick, der sich fest in seinen Geist gebrannt hatte, ein Moment, den er niemals vergessen würde; der Tag, an dem er zum ersten Mal mit ihr gesprochen hatte, als sie noch Kinder gewesen waren. Sie war zu ihm gekommen... das war vielleicht das, was es so verblüffend machte. Sie hatte gewusst, dass er Karanas größter Feind war, dennoch war sie gekommen, nicht, um ihn zu ärgern, sondern nur, um ihm eine einfache, so naive Frage zu stellen... eine Frage, die ihn auch jetzt noch berührte, wofür er sich heimlich ziemlich dumm vorkam.

„Kannst du lächeln?“

Er hob erschrocken den Kopf, als er sie tatsächlich dieselbe Frage stellen hörte, und als er in ihre Richtung sah, erkannte er im Dunkeln nur noch ihre Silhouette.

„Du erinnerst dich doch noch daran?“, lachte sie leise, „Ich habe... es jedenfalls nicht vergessen. Du hast gelächelt... damals. Deshalb weiß ich... dass du kein böser Mensch sein kannst. Nicht in deinem Herzen. Ein böser Mensch kann nicht so lächeln, Zoras... das ist der Grund, warum ich keine Angst vor dir habe.“ Er japste vor Schreck, als sie sich plötzlich gegen ihn lehnte und dabei dichter rutschte.

„Ähm – Neisa?“, wagte er zu sprechen, und sie ergriff mit ihrer noch immer so kalten Hand seine.

„Ich bin müde... darf ich mich bei dir anlehnen heute Nacht? Dann ist... es nicht so kalt.“ Er spürte, dass er errötete, und wagte nicht, etwas zu sagen, aus Angst, seine Stimme würde ihm nicht gehorchen. Schließlich brummte er nur, was ihr wohl als Zusage reichte, denn sie blieb, wo sie war, und sagte nichts weiter. Er war verblüfft, als er plötzlich spürte, wie sie neben ihm erzitterte; einen Moment später hörte er, dass sie weinte. Er drehte sich zu ihr um und seufzte ratlos.

„Neisa... was ist?“

„Ich... hasse Feuer!“, heulte sie und er schauderte, als sie in sich zusammensank und hemmungslos zu weinen begann. Er vermutete, dass sie um ihre Heimat weinte... jetzt fiel der Schrecken von ihr ab und löste die Trauer, die sich in ihr angesammelt hatte. Es war gut so... morgen würde es ihr besser gehen, wenn sie sich ausgeweint hatte. „Ich habe... Angst vor Feuer... es ist so seltsam, vor zwei Tagen... war noch alles in Ordnung... und plötzlich ist die g-ganze Welt... die ich kannte, zusammengefallen wie... e-ein Kartenhaus! Ich weiß nicht, wo meine Familie ist, und ob ich sie je wiedersehe, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll... u-unser Dorf ist zerstört! Ich... fühle mich plötzlich so haltlos, als stünde ich mit heftigem Rückenwind genau vor einer tiefen Schlucht... einen Schritt... und ich falle und weiß nicht, wo ich landen werde...“ Er sah auf sie herab, wie sie sich zusammenkauerte und vor Schluchzern erbebte. Schließlich seufzte er leise und zog sie an sich heran, um die Arme um ihren zierlichen Körper zu legen. Sie fuhr zusammen, grub dann aber ohne zu zögern das Gesicht in seine Brust. „Ich will aufwachen... u-und alles soll gut sein!“, wisperte sie kraftlos, während sie ihre Hände hob und sich an ihn klammerte mit der Heftigkeit einer Ertrinkenden, die Halt am letzten Ast vor dem reißenden Wasserfall suchte. Er ließ sie gewähren und hielt sie schweigend fest, damit sie nicht weiter zusammenbrach. Er hatte nichts zu sagen... nichts, das ihr helfen könnte. Plötzlich kehrten die Gewissensbisse zurück und er zischte ungehalten, Neisa dabei unwillkürlich fester n sich drückend, während er versuchte, die höhnischen Geister aus seinem Kopf zu verjagen.

Das Ungeziefer muss vernichtet werden. Die wenigsten Menschen verdienen das Leben... es war euer Wille, Geister.

„Nein... es war dein Wille, den du uns aufgezwungen hast... ist es nicht das, wonach ihr Schamanen strebt? Uns zu beherrschen...?“ Er schauderte nur, während er spürte, wie Neisa den Kopf hob, um ihn verwirrt anzusehen.

„Du zitterst...“, murmelte sie, und er senkte das Gesicht wieder zu ihr, um ihr einen kalten Blick zu schenken, den er nicht im Entferntesten so herzlos meinte wie er zu wirken schien.

„Du wirst nicht aufwachen, Neisa. Die Welt... ist in den Schatten gefallen.“
 

In dieser Nacht fand Zoras nur wenig Schlaf. Und es lag nicht an Neisa, die in seinen Armen lag und irgendwann von ihrer Müdigkeit übermannt an seiner Brust schlief. Es war gut, wenn sie schlief... er war wenig Schlaf mehr gewohnt als sie, vermutete er. In Holia hatte man nie Ruhe. In dieser Nacht waren es zur Abwechslung mal keine Männer aus Holia, die herum krakelten oder irgendwelche Frauen schändeten, die ihn wach hielten, sondern die Geister, die bedrohliche Dinge vom Unheil flüsterten und ihn nervös machten.

Das Zeitalter war quasi vorbei. Er spürte es mit jeder Faser seines Körpers... das Ende der Welt kam und würde sich mit Schatten über die Welt ergießen, bis nichts mehr übrig war als Schwärze. Er schauderte bei dem Gedanken. Wenn die Welt wirklich unterging, was würde aus ihnen werden? Würden sie nicht alle sterben...? Oder gab es eine Möglichkeit, das Ende der Welt irgendwie zu verhindern?

Nein.

Zoras seufzte, als er den Kopf mürrisch nach Osten wandte. Er träumte davon, seit er denken konnte. Er sah das Land brennen und wie die Monde ihn mit einem gleißenden, tödlichen Licht blendeten, ehe die Finsternis das Licht verschluckte und mit einem donnernden Krachen Himmel und Erde zerbarsten.

„Mit Feuer und Schatten... wird das Bündnis der Drei Welten zerbrechen... und dann kommt das Ende der Welt.“

Er keuchte, während er Neisa unruhig festhielt, um zu verhindern, dass sie zu Boden rutschte. Im Osten grollte der Himmel und er erkannte weit in der Ferne das Zucken eines Blitzes aus den pechschwarzen Wolken. Die Kälte der Nacht kam nicht daher, dass er kein Hemd mehr trug, stellte er fest, indem er Neisa vorsichtig etwas fester an sich drückte, sich schwörend, sie zu beschützen vor dem Schatten, der ihnen drohte. Es war kalt, weil das Unheil kam... die Geister waren unruhig, genau wie er.

Plötzlich musste der junge Mann an Sagals Worte denken. An die merkwürdigen Sachen, die er ihm erzählt hatte über eine Waffe und eine Sie, die kommen würde... über Schicksal.

„Die Macht der Kondorgeister... die Macht der Aasgeier liegt dir im Blut, deshalb ist es deine Bestimmung.“

Zoras brummte, den Kopf wieder nach Westen drehend, dabei unwillkürlich den Himmel nach den schwarzen Vögeln absuchend, die ihm ihre treuen Dienste geschworen hatten im Austausch für seinen Geist. Aber er konnte nichts sehen außer der Finsternis, die über ihnen hing und die Welt erkalten ließ.

„Ich sah dich als Herr über den Schatten, vor dem wir sonst weglaufen, in deiner Hand der Speer der Macht... der dein Schicksal mit dir tragen wird.“, hatte Sagal gesagt, und der Schwarzhaarige pustete sich unwirsch eine Strähne aus dem Gesicht und murrte. Der Speer der Macht... was damit wohl gemeint war? Der Herr über den Schatten... vielleicht waren damit die Vögel gemeint. Es klang nach etwas Großem... es klang wie Worte, die für jemanden anderes bestimmt waren. Für die großen Geisterjäger, die mächtigsten der Schwarzmagier, aber nicht für einen Strolch wie ihn...

„Der letzte Erbe, heißt es, soll sie tragen... die Hellebarde von Yamir, die in den Schatten fiel und verschwand...“ Zoras senkte dabei den Kopf und runzelte angestrengt die Stirn.

Die Hellebarde von Yamir? Ist das das, was er mit Speer der Macht meinte? Und warum bin ich es, der sie trägt...?

Der letzte Erbe, hieß es, und abermals runzelte er die Stirn. Erbe wovon? Er erbte nichts... sein Vater war ein Verlierer und sein Name, Derran, war der Name einer unbedeutenden, schwachen Schamanenfamilie, die weder Macht noch Ansehen hatte. Sein Vater hätte gewusst, wenn es so eine Waffe in seiner Familie gegeben hätte... das Ganze verwirrte ihn und er wäre gerne zurück gerannt, um den alten Sagal zu fragen, was er damit gemeint hatte. Aber ein Zurück gab es wohl nicht mehr... nicht jetzt.

„Sprecht mit mir, Himmelsgeister... was ist dieser Speer der Macht, der mein Schicksal... mit mir teilen wird?“ Er schloss die Augen, um die Dunkelheit auszublenden und den Geistern zu lauschen, aber sie waren jetzt verstummt.
 

Der kommende Morgen war eisig. Der Herbst war gekommen... und je nördlicher sie kamen, desto kühler wurde es ohnehin. Zoras fragte sich, warum er nicht längst erfroren war so ohne Hemd; vermutlich war er es aus dem schlecht gebauten Dorf Holia und den Wintern dort gewohnt, zu frieren. Und die Gedanken an das, was ihn verwirrte, lenkten ihn von der eigentlichen Kälte ab... und Neisa trug gut dazu bei, indem sie mehr verwirrende Dinge sagte.

Ein Grollen aus dem Himmel ließ das blonde Mädchen zusammenfahren und sich hastig nach Osten umdrehen; weil sie stehen blieb, tat Zoras es ihr gleich und sah gen Himmel. Es wurde düster...

„Glaubst du, es stimmt, was die Geister sagen, Zoras?“, murmelte sie, „Denkst du... Tharr wird untergehen, wenn der Schatten kommt?“

Er war ein Stück hinter ihr gegangen und holte sie jetzt ein, mit ihr nach Osten sehend.

„Was hätten die Geister davon, zu lügen?“

„Karana und mein Vater sprechen auch oft davon... denkst du, es kommen wirklich Monster aus Ela-Ri?“ Er seufzte leise.

„Keine Ahnung. Aber ich habe ein ungutes Gefühl. Und es sieht nach Gewitter aus, vielleicht sollten wir irgendwo Schutz suchen.“ Ohne ihren Kommentar abzuwarten ging er vorwärts; sie waren ein gutes Stück nordwärts gekommen, die Berge waren in der Nähe. Berge waren gut... die meisten fürchteten sich vor ihnen, weil sie groß und bedrohlich waren, er selbst war auf einem halbwegs aufgewachsen und fühlte sich auf jedem noch so furchteinflößenden Berg wohler als in Holia. Berge waren die Türme, die zum Himmel führten... das machte sie zu ehrerbietenden Dingen, die man statt sie zu fürchten eher respektieren sollte.

Neisa lief ihm keuchend nach, als er auf die Felsen zusteuerte, zu denen sie gelangt waren, und just in dem Moment, in dem es zu regnen begann und ein grollendes, langes Donnern von oben ertönte, erreichten sie eine kleine Nische in den Felsen, die von einer Steinplatte überdeckt wurde und somit geschützt vor dem Regen war, in die sie sich zwängten. Neisa fasste nach ihren Schläfen und klagte über Kopfschmerzen.

„Hast du das schon immer gehabt?“, brummte er, während er hinaus spähte – jetzt goss es richtig. „Na toll, bei dem Wetter können wir gleich hier bleiben... wie sollen wir so deine Familie einholen? Hoffentlich verkriechen die sich auch.“ Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und begann gelangweilt, ihn an seiner Hose zu polieren.

„Was soll ich immer gehabt haben?“, fragte das Mädchen neben ihm, und er musterte sie flüchtig. Sie sah mitgenommen aus... so eine lange Reise war nichts für ihre verwöhnten Füßchen.

„Diese dauernden Kopfschmerzen.“

„Ich habe sie vor allem, wenn es gewittert!“, jammerte sie und rieb sich den Kopf, „Ich weiß auch nicht, woher sie kommen, sie sind manchmal einfach da.“ Es donnerte über ihnen und er sah sie zusammenfahren und sich tiefer in die Felsspalte kauern. „Ich fürchte mich vor dem Gewitter... aber auf eine... seltsame Weise liebe ich es trotzdem.“

„Das nennt man masochistisch, habe ich gehört.“

„Wie bitte?!“

„Na ja, du bekommst Kopfschmerzen, magst es aber trotzdem.“ Sie musste grinsen.

„Vielleicht hast du recht. Wenn ich so darüber nachdenke...“ Er hüstelte und wollte lieber nicht weiter darauf eingehen; das war ihm dann doch egal. Als sie wieder sprach, wechselte sie auch das Thema.

„Ich frage mich, was aus der Seherin geworden ist! Sie hat gesagt, wir seien auserwählt, um die Welt zu retten! Irre, oder?“

„Wir?“

„Ja, wir alle, nur Tayson nicht. Aber meine Brüder und ich und das Lianermädchen. Angeblich gibt es Sieben, die von den Geistern erwählt wurden. Und wir werden Khad-Arza retten – wenn die Schatten kommen.“ Zoras sah sie an und räusperte sich, ehe er sie von oben bis unten musterte.

„Hast du was geraucht?!“

„Was, nein! Das hat doch die Seherin gesagt! Jetzt fällt mir das erst wieder ein, sie hat von Schicksal gesprochen. Vielleicht hatte sie was geraucht, sie verliert auch andauernd ihr Gedächtnis. Sie behauptet, sie käme aus Fann, aber sie ist blond und sieht überhaupt nicht aus wie eine Südländerin!“ Er zuckte unmerklich, während sie weiter redete und er sie ignorierte. Schicksal... davon hatte er auch einiges gehört. Allerdings nicht von einer blonden Fannerin. Er wusste nicht, wieso ihm ein Schauer über den Rücken lief, als er an das Land Fann dachte, das im Südosten des Zentralreiches lag, viel zu dicht an Ela-Ri. Fann war ein Land der Mysterien und der Bosheit, ein Land, das fast nur aus Wüste bestand und in das niemand freiwillig reisen würde. Eine Kette von hohen, spitzen Bergen teilte das Land in der Mitte in Ost- und Westfann. Westfann war ein Teil des Zentrums und an sich schon gruselig genug... in das Land hinter dem Sul-Mirr-Gebirge ging niemals ein Mensch, der auch zurückkehrte. Ostfann war schon seit Ewigkeiten ein gefährliches Bindeglied zwischen dem Ostreich und dem Zentrum... ein Ort, den man zum Sterben aufsuchte, wenn es sein musste. Die Geister kicherten in seinem Kopf, als er das junge Mädchen abermals anstarrte, das noch immer redete, obwohl er ihre Stimme nicht mehr hören konnte.

„Fürchtest du dich vor den Schatten aus dem Osten, Zoras...? Die Schatten hinter dem Sand, die dein Schicksal besiegeln werden... Seelenfänger.“ Er zischte und schüttelte den Kopf, um die nervenden Stimmen zu verjagen – damit riss er Neisas Aufmerksamkeit wieder auf sich und sie unterbrach ihren Redeschwall.

„Was ist?“

„Die Geister sagen Dinge... die ich nicht verstehen kann. Das ist alles, aber es nervt tierisch.“

„Denkst du, es ist wahr, was die Seherin aus Fann gesagt hat?“

„Klar. Dich und deine Brüder zur Rettung der Welt auszuwählen wäre auch meine erste Idee gewesen. Vor allem Karana.“

„Karana hat ein gutes Herz... irgendwo.“

„Tief vergraben vielleicht, der würde die Welt eher unterwerfen als retten.“

„Du würdest sie eher vernichten, bist du da besser?“

„Das habe ich ja auch nie behauptet.“ Er linste sie an. „Hast du nicht neulich noch behauptet, ich hätte ein gutes Herz?“ Sie schwieg eine Weile – als sie das Gesicht wieder zu ihm wandte, grollte der Himmel. In ihren verschiedenfarbigen Augen lag eine für ihr zartes Alter unnatürliche Weitsicht, als sie eine Hand hob und damit seine schwarzen Haare aus seinem Gesicht zu streichen versuchte. Von ihrem Blick irritiert vergaß er, ihre Hand wegzuschlagen, und ließ sie gewähren, als sie näher rückte und ihr Gesicht plötzlich so dicht an seinem war, dass er ihren warmen Atem auf seinen Lippen spüren konnte. Unwillkürlich schauderte ob eines eigenartig erhitzten Gefühls, als er sie fassungslos über diese Offensive und die Eindeutigkeit ihrer Gestik anstarrte. Verdammt, so schaute doch keine schüchterne Jungfrau... er war von den Worten, die sie dann sprach, noch verblüffter.

„Du hast deinen Weg doch bereits gewählt... Zoras.“, wisperte sie kaum hörbar und zitterte, während ihre Iriden unruhig in ihren Augen hin und her glitten, als wüsste sie nicht, wohin sie sehen sollte. „Ich sehe... dich... und die Schatten, in die du fällst...“

„Was redest du da...?“, murmelte er benommen von ihrem Anblick und von der unerwarteten Nähe, ehe er schauderte und sah, wie sie distanziert lächelte.

„Ich sehe... Schicksal in deinen Augen, Zoras... und die Furcht davor, es anzunehmen...“

„Ich habe keine Furcht, Neisa!“, empörte er sich und kämpfte gegen den in seinen Augen doch eher unnatürlichen Trieb in seinem Inneren, sie einfach zu packen, gegen die Felswand zu rammen und sie zu küssen... wenn sie noch einen Zoll näher kam, würde er es tun. Zischend versuchte er, rückwärts zu kriechen, aber hinter ihm war bereits die Wand, so warnte er sie nur im Inneren, jetzt ja ihre Grenze zu finden. Sie war noch ein Mädchen... sie hatte noch nicht das Blutritual durchlebt, das sie zur erwachsenen Frau machen würde. Er hatte keinerlei Recht, sie anzurühren, ganz davon abgesehen, dass er normalerweise kein Bedürfnis hatte, etwas derartiges zu tun – solange ihn nicht jemand auf eine so dermaßen betörende Weise anstarrte, dass er beinahe gestöhnt hätte. Er konnte sich beherrschen... das hier war Neisa. Er begehrte sie nicht, in keinster Weise, er ehrte sie nur.

Er ehrte sie, weil er sich an sie gebunden fühlte, wenn er sie traf... weil sie die einzige war, die das schwarze Loch in seiner Seele zu schrumpfen wusste.

Sie war eine geschickte Heilerin...

Er schauderte, als sie ihren Blick wieder auf sein Gesicht richtete und dann unruhig die Augen weitete. Ihr Blick machte ihn nervös und er zog zischend die Luft ein, als sie sprach und er ihren warmen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.

„Mit Feuer und Schatten... wird das Bündnis der Drei Welten zerbrechen, hat die Seherin gesagt... und Tharr wird in die Dunkelheit fallen. Ich... fürchte mich davor, Zoras...“

Er schloss die Augen, um sich von ihrem Anblick loszureißen, ehe er leise seufzte und seine Hand hob.

„Ich kann... im Dunkeln hervorragend sehen, Neisa. Hab... keine Angst.“ Dann hob er seine Hand noch ein Stück und berührte ganz sachte ihre weiche, kühle Wange.

In dem Moment, in dem er sie berührte, kamen die Bilder der Himmelsgeister. Er hatte erwartet, dass es sich komisch anfühlen würde... er hatte eine Flut an Emotionen erwartet, weil sie ihn so betörend angestarrt hatte und auf so eine verbotene Weise viel zu dicht vor ihm hockte – aber nicht, dass die Geister ihn plötzlich bei der so flüchtigen Berührung mit Visionen überhäufen würden. Er sah den Schatten, der aus dem Osten kam, und die Geister zischten in seinem Kopf auf einer bedrohlichen, fremdartigen Sprache, die er nicht verstand. Aus dem schwarzen Himmel krachte ein gewaltiger Blitz in die Haut der Mutter Erde und setzte sie in Flammen. Und er stand mitten im Kreis der tanzenden, dämonischen Flammen und spürte das schmerzhafte Brennen seiner Haut, als wäre es nicht nur eine Vision; die Geister lachten höhnisch.

„Dein Schicksal, Zoras... geht in den Schatten. Und im Zeichen des Sandes wirst du sein, zu was du geboren wurdest.“

Und was soll das sein?, fragte er die Geister innerlich, während sie kicherten und die Flammen vom Schatten verschluckt wurden, der sich mit den Schwingen des schwarzen Todesvogels über ihn legte. Er hörte die so vertraute, gruselige und doch angenehme Stimme des Vogelgeistes, der ihm seine Dienste angeboten hatte in Kamien.

„Deine Seele wird unser sein... so ist der Pakt, Seelenfänger. Und aus dem Schatten werden die Windgeister... dir Yamirs Hellebarde bringen.“

Das hatte er schon mal gehört. Das hatte Sagal gesagt...

Was ist das für ein Ding, von dem ihr sprecht, Geister? Antwortet!

„Die Antworten kommen dann, wenn du aufhörst, sie zu suchen...“, kicherte der Vogelgeist in seinem Kopf und Zoras zischte verärgert. Er rief nach dem Vogel, der antwortete ihm aber nicht mehr.

„Zum Himmelsdonner mit den launischen Biestern, die nur dann sprechen, wenn sie wollen!“, fluchte Zoras ungehalten und stieß mit Gewalt die Flammen von sich weg, die nach ihm angelten, und in dem Moment, in dem er vor sich das erschrockene Japsen einer jungen Frau hörte, sah er vor sich im Schatten für den Bruchteil eines Moments das bleiche Gesicht einer Frau, die ihn anstarrte und ihre blauen Augen direkt in seine heftete; die Geister wisperten wieder in seinem Kopf, als das Bild längst verschwunden war.

„Sieh mich an... Liebster.“
 

Er schnappte panisch nach Luft, im nächsten Moment fing er sich plötzlich eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Als er wieder klar denken konnte und sowohl die Flammen als auch die Geister verschwunden waren, war er wieder in der kleinen Felsnische irgendwo im Hochland – bei ihm saß Neisa, die eine kleine Platzwunde an der Seite ihres Kopfes hatte und ihn empört anstarrte.

„Bist du noch bei Sinnen, mich gegen die Felswand zu stoßen, als wäre ich ein Tier, das du erlegen willst?!“, keifte sie schon und er starrte sie noch verblüfft an, nicht begreifend, was eigentlich los war. Moment, Liebster? Das hatte aber nicht sie gesagt... verwirrt rieb er sich die Wange und verengte dann die dämonischen Augen zu schmalen Schlitzen.

„Bist du noch bei Sinnen?“, blaffte er sie ratlos an und sie zischte. Verblüffender Weise war ihre Stimme nicht mehr zornig, sondern ernst, als sie wieder sprach – der eigenartig betörende Blick war aus ihrem Gesicht verschwunden.

„Die Geister haben mit dir gesprochen... oder? Du hast angefangen, zu reden, ich wusste nicht, worum es ging... dann hast du mich zurück gestoßen und ich dachte, ich reiße dich aus dem Strudel, bevor sie dich verschlucken... die Geister.“ Er sah sie nur dumm an. Er hatte was?

„Ähm.“, war alles, was ihm dazu einfiel, und sie strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht und fuhr sich mit der Hand über die kleine Platzwunde, um sie zu heilen. Nicht mehr als eine Handbewegung kostete es sie, und weg war die Wunde, als wäre da nie eine gewesen.

„Ja, von besonders großer Intelligenz zeugt das jetzt aber nicht. Karana und du, ihr habt euch wohl in all den Jahren nach und nach gegenseitig das Gehirn heraus geprügelt. Das ist jämmerlich. Sei besser froh, dass ich dir vergebe und meinem Vater nicht berichten werde, dass du mich verletzt hast.“ Sie zeigte nur ganz kurz ein dämonisches Grinsen, das ihm nicht entging, während sie sich mühsam in der engen Spalte erhob und über ihn hinweg hinaus kletterte, „Er würde sonst noch etwas Falsches denken. Steh auf! Der Regen hat aufgehört.“ Er zwang sich, sie nicht genauer anzusehen, während sie so über ihn kletterte und sich dabei neben ihm am Felsen abstützte, und als sie draußen war, schnappte er nach Luft und war noch zu benommen von der Vision und der vorangegangenen, eigenartigen Situation mit einer Neisa, die er nicht gekannt hatte bisher, dass er etwas brauchte, ehe er auch aufstand und die Felsspalte verließ.

Eigentlich hatte er statt neuer Antworten nur neue Rätsel bekommen.
 


 

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Ähm, blubb xD Zoras und Neisa... herzen xD früh, ja, aber es ist ja nicht so einfach wie es aussieht XD

Flucht

Das Dorf war verlassen. Es war eigentlich kein Wunder, im frühesten Morgengrauen war selten viel Betrieb in Holia. Die grauen Schleier von herbstlichem Nebel legten sich über das geschundene Land, über die karge Wüste, als die man diesen Ort bestenfalls noch bezeichnen konnte. Asta Zinca trauerte nicht um das Dorf, in dem sie geboren war und sechzehn Sommer lang gelebt hatte. Es war keine Heimat gewesen, sondern ein Gefängnis, dessen Wasser und Brot aus den Schlägen und Misshandlungen ihres gestörten Vaters und genauso geisteskranken Bruders bestanden hatten. Das alles war jetzt vorbei... sie würde von hier verschwinden und niemals zurückkehren. Wenn Arlon und Loron geglaubt hatten, sie würde brav das Haus hüten, während sie in ihren hirnverbrannten Krieg zogen, der nicht mehr als ein alberner Aufstand war und ohnehin nichts bringen würde, hatten sie sich geschnitten. Es gab nur ein einziges Problem:

Wo sollte sie hin?

Sie hatte weder Verwandte – abgesehen von den beiden Gestörten, bei denen sie gezwungenermaßen lebte – noch Freunde. Es gab niemanden auf der Welt, der sich darum scherte, was aus dem jungen Mädchen wurde. Fest stand nur, dass sie schnell weg musste – bevor die Barbaren zurückkehrten. Solange das Dorf halb leer war und nur von Frauen, Kindern, Greisen und sehr wenigen Männern zum Schutz bewohnt war, hatte sie eine Chance; es war vielleicht die einzige, die sie jemals bekommen würde. Egal, wo sie landen würde, alles war besser als Holia. Alles, selbst die Arbeit einer noch so niederen Dienerin war besser als Tag für Tag von denselben Händen derselben lüsternen Böcke befummelt zu werden, verletzt zu werden, ausgenutzt zu werden. Alles war besser als mit Arlon und Loron zusammen zu wohnen.

Ihre Mutter war gestorben, als sie ihr das Leben geschenkt hatte. Asta wünschte seit sie denken konnte jeden Tag einmal, sie hätte damals dasselbe Schicksal ereilt und sie wäre als Säugling mit der Mutter gestorben... es wäre würdiger gewesen.

Würde... etwas, was man in Holia fast nirgendwo kannte. Und es war auch besser so, denn als Frau hatte man keine Würde zu haben, sondern nur ein schönes, enges Loch zwischen den Beinen, in das jeder noch so abartige Schwanz passte. Das Mädchen schüttelte sich vor Gram bei dem Gedanken, während es hastig in der schäbigen Hütte den gammligen Proviant zusammen suchte, den sie finden konnte. Sie musste weg... es gab zwei Möglichkeiten. Entweder sie fand etwas, wo sie bleiben und würdevoller leben konnte, oder sie starb auf dem Weg. Falls etwas anderes einträfe, würde sie sich mutig selbst erdolchen, beschloss sie tapfer und dabei fiel ihr ein, dass sie keinen Dolch besaß. Nicht mal ein Knochenmesser... sie besaß gar nichts.

Zitternd kam sie auf die Beine und lugte aus der Tür in das verlassene, graue Dorf. Sie musste sich beeilen. Ein Messer brauchte sie in der Tat... sie würde sich nach einem scharfkantigen Stein umsehen müssen. Das einzige, was diese Gegend zu bieten hatte, waren scharfkantige Steine. Asta schnappte den Sack mit dem Proviant, der kaum etwas wog, und verließ das Haus. Sie hatte sich einen verschimmelten Mantel übergeworfen, um nicht von weitem schon an ihren langen, blonden Haaren zu erkennen zu sein; woher der kam, wusste sie gar nicht. Sie wusste manches nicht... zum Beispiel, wie ihr dämlicher Vater, der mit seinem Penis zu denken schien, es geschafft hatte, zwei Kinder großzuziehen. Es war ihr ein Rätsel, warum sie sprechen und gehen konnte, denn Arlon hatte es einen Dreck interessiert, was mit ihr gewesen war. Er hatte es ihr gewiss nicht beigebracht. Sie musste demzufolge eigentlich unsagbar klug sein, weil sie es trotzdem konnte, dachte sie... aber irgendwie hatten die sechs Jahr ein der Schule von Mitonha sie nicht sonderlich klug aussehen lassen.

Als Kind hatte sie naiv geglaubt, eines Tages würde schon ein schöner Mann kommen und sie heiraten wollen, sie wegholen von ihrem barbarischen Vater und ihrem Bruder. Eines Tages wäre es soweit, sie hatte jeden Morgen nach dem Aufstehen daran geglaubt und so gehofft... und nie war jemand gekommen. Wenn Männer gekommen waren, sobald sie älter geworden war, dann nicht, um sie liebevoll zu heiraten. Sie war keine begehrenswerte, schöne Frau, sie reichte eben nur für die Bedürfnisse von Barbaren. Sie war dürr, hässlich, hatte keinen schönen Busen und erst recht keinen schönen, runden Po. Sie war eine Bohne; vermutlich auch eher eine verkümmerte Missgeburtenbohne. Ihre Hände waren schwielig vom Arbeiten und ihr Rücken war krumm, ihre Beine verbeult vom Knien auf trockener Erde bei dem sinnlosen Versuch, Gemüse anzupflanzen. Was an ihr wäre in irgendeiner Weise begehrenswert gewesen?

Asta verdrängte die deprimierenden Gedanken – dass sie hässlich war, war jetzt egal. Sie musste hier raus. Hastig eilte sie an den Hütten vorbei, darauf bedacht, keinen Laut zu machen, während sie barfuß durch das Dorf tapste. Ihre Füße waren etwas kalt... so etwas wie Schuhe konnte sie sich nicht leisten. Welche selbst zu nähen hatte sie versucht, sie waren immer schnell kaputt gegangen, da hatte sie es aufgegeben und inzwischen waren ihre Füße abgehärtet.

Bitte, Geister der Mutter Erde... ihr spürt die Füße dieser Frau. Bitte helft mir, hier weg zu kommen, ich werde euch mein Leben lang danken.

Die Geister schienen sie nicht verstanden zu haben. Als sie das Dorf gerade verlassen hatte und einfach blind quer feldein durch die Wiesen rannte, kam ihr ein Mann entgegen. Es war zu spät, um sich zu verstecken, er hatte sie bereits gesehen, ehe sie es richtig registriert hatte, und panisch taumelte die junge Frau zur Seite und krallte sich dabei an ihren Beutel.

„Mutter Erde... du hast mir nicht zugehört!“, jammerte sie und wollte vor Verzweiflung schreien, als der Mann aus dem nebligen Schatten vor ihr auftauchte und sie ihn plötzlich erkannte.

„Mutter Erde ist nervös. Sie hat ihre Ohren gerade wo anders und nicht bei einem mittellosen Bauernmädchen aus Holia. Es geschehen schlimmere Dinge.“ So sprach Ram Derran, der Jäger, während er sie verblüfft musterte und offenbar nicht vorhatte, sie aufzuhalten. Asta entspannte sich ein wenig; er war vermutlich der einzige Mann, der nicht darauf aus war, sie zu vergewaltigen. Abgesehen von seinem Sohn Zoras, musste sie addieren, der schien da erfreulicherweise nach seinem Vater zu schlagen. Der schwarzhaarige Zauberer musterte sie noch immer und seine grünen Schlitzaugen, die so fremdländisch wirkten, ruhten auf ihrem Proviantbeutel. „Nanu? Wohin des Weges um diese Tageszeit, Asta?“ Sie keuchte und trat von einem Fuß auf den anderen, seinem bohrenden Blick ausweichend. Es hieß, Ram Derran wäre ein grottenschlechter Magier; sie hatte nicht zu befürchten, dass er sie plötzlich grillen oder ersäufen könnte mit nur einer Handbewegung. Dennoch hatte sie das Gefühl, seine Augen würden ihr die Seele aussaugen, wenn sie ihn zu lange anstarrte. Eine fürchterliche Eigenart, die auch nur Schamanen beherrschten. Alle Magier, die sie je gekannt hatte, und das waren nicht viele, konnten so schauen. Nur war die Wirkung bei den einen mehr furchteinflößend und bei anderen mehr betörend... und es gab fast nichts auf der Welt, das Asta Zinca betörend fand bei dem, was sie erlebt hatte.

Zoras' Vater gehörte da mehr zu der furchteinflößenden Sorte. Sie warf einen Blick auf seinen sorgfältig gefertigten Jagdspeer, den er trug, und seine Kleider, die so viel schöner und sauberer waren als ihre; seine Frau konnte wahnsinnig geschickt nähen. Asta hatte Pakuna immer darum beneidet... wenn die schöne Frau des Jägers bei Zincas im Haus gewesen war – was oft vorgekommen war – hatte sie mitunter zusammen mit Arlons Tochter genäht und versucht, ihr etwas beizubringen. Alles sagten, die einzigen Schamanen in Holia wären gruselig und gefährlich... für Asta waren Derrans die einzigen Menschen in ganz Kamien, mit denen sie sprechen konnte. Sie musste nicht lügen... der Jäger würde sie nicht zurück ins Dorf bringen.

„Ich fliehe aus Kamien.“

Ram Derran schenkte ihr einen kurzen Blick.

„Tust du das?“, brummte er, „Dann will ich dich nicht aufhalten. Ich werde niemandem sagen, dass ich dich getroffen habe... die wenigsten würde es interessieren.“ Asta wollte schon Worte des Dankes erwidern, da richtete er plötzlich seinen Speer auf ihre Kehle und sah sie finster an. „Andererseits haben Arlon und Loron dann keinen Grund mehr, nicht meine Frau zu nehmen, wenn sie gerade Lust darauf haben, jemanden zu vögeln... für mich wäre es unvorteilhaft, dich gehen zu lassen.“

„Meinst du das ernst?“, keuchte sie und erbleichte, „Ich... habe dir nie etwas getan!“

„Nein, aber Pakuna deinem Vater auch nicht, oder?“

„Warum fliehst du nicht auch?“

„Soll ich wegrennen, während meine Frau in den Fängen deines bescheuerten Vaters ist?“ Asta zitterte, den Blick gesenkt.

„Ich meine... ihr wohnt seit acht Sommern hier. Wieso... seid ihr überhaupt noch in Holia?“ Sie merkte, dass er kurz zuckte, wagte aber nicht, ihn anzusehen. Nach einer Weile sprach er und zischte dabei.

„Sag mir, wohin sollen wir in dieser Scheißprovinz? Ich glaube nicht, dass wir hier raus kämen, ohne uns mit irgendwelchen Horden anlegen zu müssen. Und ich bin kein Kämpfer. Ich bin Jäger, aber wenn ich einmal gejagt werde, bin ich geliefert.“

„Und Zoras?“, wagte sie zu widersprechen, „Zoras ruft die Geisterwinde... ich habe es gesehen. Er kann sie beherrschen und den Mächten der Schöpfung befehlen, ihm zu gehorchen...“ Sie hatte erwartet, dass darauf eine unschöne Reaktion käme, so war sie wenig überrascht, als er mit dem Speer nach ihr schlug und abermals zischte.

Zoras!“, spie er ihr den Namen seines einzigen Kindes vor die Füße, „Zoras ist verblendet! Er hat keine Ahnung von dem, was er tut, er tut es einfach so. Der kann mir nicht helfen.“ Asta sagte nichts und war dennoch erleichtert, als der Mann seinen Speer senkte und sie schauderte. „Jetzt lauf endlich.“, knurrte er, „Bevor ich es mir doch anders überlege. Aber erwarte nicht, dass du weit kommst... dieses Land ist der Tod, Asta.“ Er ging an ihr vorbei in Richtung Dorf, und die junge Frau fuhr herum und rief ihm nach:

„Warte bitte! - Kann... ich mir kurz deinen Speer leihen?“ Sie erntete einen ungläubigen Blick.

„Was willst du mit einem Speer?“, fragte er, gab ihn ihr aber ohne weiteren Widerstand, als sie zu ihm zurück kehrte und die Waffe mit fester Hand ergriff. Ohne ihm zu Antworten hob sie sie hinter ihren Nacken und ergriff mit der freien Hand ihre langen Haare, um sie festzuhalten. Ein kurzes Ratschen und schon hatte die scharfe Klinge der Speerspitze ihre Haare abgetrennt. Ram Derran sah sie noch immer verblüfft an, als sie die Haare aus ihrer Hand fallen ließ und ihm seinen Speer zurückgab.

„Ich danke dir.“, wisperte sie damit und verneigte sich vornehm, „Jetzt... mit anderer Frisur ist es leichter, unterzutauchen. Lebe wohl... ich wünsche dir und deiner Familie alles Gute. Ich bete, dass die Geister gnädig sind...“ Als sie sich abwandte, hörte sie ihn ihr nach brummen:

Ich bete, dass sie deinen Vater endlich mal erschlagen.“
 

Asta kam nicht oft aus dem Dorf; eigentlich so gut wie nie, meistens musste sie für ihren Vater und ihren Bruder die Hausarbeit erledigen; oder sich auf sonst eine unwürdige Weise zur Verfügung stellen, wenn es gerade nichts zu arbeiten gab. Die junge Frau schauderte ergrimmt bei den Gedanken – das war jetzt vorbei! Sie würde Arlon und Loron und alle anderen, perversen Spinner nie wieder sehen! Sie würde ein für eine Frau würdiges Leben führen, irgendwo weit weg von ihrem Geburtsort, der nur Schande und schlechte Erinnerungen in ihr zurückgelassen hatte. Sie würde sich irgendwo Arbeit suchen und vielleicht würde eines Tages ein Mann kommen, der sie zur Frau nehmen wollte. Eines Tages... das war vermutlich noch fern. Wenn es diesen Tag überhaupt geben würde.

Die junge Frau strich sich bekümmert durch die jetzt kurzen, blonden Haare. Sie redete sich immer ein, den Wunsch aufgegeben zu haben, wie jedes normale junge Mädchen einmal einen guten Mann heiraten zu können... sie redete sich immer ein, sie würde ohnehin keinen abkriegen, weil sie hässlich und dumm war. Weil die Männer in Holia ihr beigebracht hatten, sie wäre nichts wert... und ihr einziger Lebenszweck wäre es, die Frauenarbeit zu verrichten und die Beine breit zu machen, wenn es von ihr verlangt wurde. Sie fragte sich, ob es irgendwo einen Mann gab, der anders dachte.

In der Schulzeit in Mitonha war sie nicht sonderlich beliebt gewesen; dafür hatte ihr herrischer Bruder gesorgt. Sie hatte auch nie Möglichkeiten gehabt, sich wie die anderen Mädchen hübsch zu machen, ihre Haare schön zu flechten oder zu schmücken oder sich gar zu schminken; all das gab es doch in Holia gar nicht. Oder in irgendeinem anderen Ort in Kamien... in Kamien gab es nur Staub, unfruchtbare Erde und perverse Männer.

Sie sollte nach Kisara gehen... das Nachbarland war dicht und dort sollte es besser sein. Das war der Grund, weshalb die Männer hinaus gezogen waren... wenn Asta sich klug anstellte, lief sie ihnen jetzt nicht in die Arme, sondern schaffte es, sie hinterrücks zu umgehen und sich an ihnen vorbei nach Thalurien zu schleichen. Das wäre eine gute Sache. Sie musste ja nicht so dicht an der Grenze bleiben, dass sie Gefahr lief, doch von den Männern entdeckt zu werden... außerdem hatte sie dafür gesorgt, dass man sie nicht aus der Ferne erkennen würde. Die junge Frau ließ ihre Hand in den Lederbeutel gleiten, den sie mit sich trug, und förderte das kleine Fläschchen zu Tage, das sie aus dem Dorf Tumhin hatte; mit der Tinktur, die es enthielt, sollte sie angeblich ihre Haare färben können, so hatte man ihr gesagt. Niemand wusste, wie lange das tatsächlich hielt oder ob der Regen es hinaus waschen würde, aber es war einen Versuch wert. Blonde Haare waren nicht so häufig in Kamien... es wäre sinnvoll, wenn ihre Haare eine andere Farbe bekämen. Mit einem resignierten Seufzen öffnete sie die kleine Flasche und kippte sich die Tinktur über den Kopf, ohne noch einmal nachzudenken.

Eines Tages würde die Welt schön sein und sie anlächeln... eines Tages würde sie einen liebevollen Ehemann und niedliche Kinder haben, und das weit, weit weg von Holia und ihrem scheußlichen Vater, dem sie die Pest an den Hals wünschte, ebenso wie ihrem erbärmlichen Bruder Loron.
 

Ihre Haare waren rosa. Asta wusste nicht recht, ob sie darüber lachen oder weinen sollte, als sie einen halben Tag später einen kleinen Bach erreichte, in dem sie ihr Gesicht wusch und Wasser trank, in dessen Oberfläche sie sich spiegelte und ihre neue Frisur zum ersten Mal betrachtete. Jedenfalls war sie nicht mehr blond... aber wurde auf rosa Haare nicht noch eher jemand aufmerksam? Rosa! Sie sah aus wie eine Zuyyanerin... es hieß, die Bewohner der Zuyya hätten allesamt eigenartige, unnatürliche Haar- und Augenfarben. Asta fürchtete sich vor den Zuyyanern... es hieß, sie wären fürchterliche, gnadenlose Schlächter, die kein Herz hatten. Einst hatte Krieg geherrscht zwischen Tharr und dem blauen Mond Zuyya... zum Glück hatte Asta als Kind die letzten Jahre des Krieges so gut wie verpasst und jetzt war er seit sechs Sommern vorüber. Aber nach dem, was sie erzählt bekommen hatte, musste es furchtbar gewesen sein in den Jahren vor ihrer Geburt... und Karanas Vater war es gewesen, der den alten Kaiser des zuyyanischen Imperiums erschlagen hatte.

Sie hatte den Mann nie persönlich getroffen, aber was er getan hatte war definitiv ein Teil der modernen Geschichte geworden; in der Schule hatte sie es schon gelehrt bekommen, und sie war fasziniert von Karana gewesen, dem Sohn eines Mannes, der in die Geschichte eingegangen war... sie dachte jetzt mit einem leisen Seufzen an den jungen Mann, den sie schon ziemlich lange nicht mehr gesehen hatte und der mit ihrem Bruder in eine Schulklasse gegangen war. Karana war immer schon bildhübsch gewesen, er war klug und talentiert, er hatte ein Händchen für die Mädchen gehabt, die schon früh begonnen hatten, ihm verträumt nachzusehen... die junge Frau aus Holia errötete bei dem Gedanken, dass sie ihm auch immer gern nachgesehen hatte. Auch, wenn Karana Lyra sie niemals eines Blickes gewürdigt und Loron und selbst Zoras ihr wieder und wieder eingeredet hatten, was für ein Dämon Karana doch wäre, sie hatte ihn immer still für sich bewundert und toll gefunden. Vermutlich war sie die letzte Frau, die er jemals ansehen würde... es hieß ja, er sah eine große Menge an Frauen an, dauernd, sei es in der Kneipe von Thuran, wo er arbeitete, oder in einem der anderen Dörfer. Viele davon waren Mädchen, die ihm schon in der Schule kichernd nachgesehen hatten; Asta hatte er noch nie eines Blickes gewürdigt.

Sie klatschte sich empört gegen die erröteten Wangen.

„Ah, hör mit dem Unsinn auf!“, schalt sie sich, „Das bringt dich nicht voran, Asta! Los, lauf, hinaus aus diesem Scheißland!“
 

Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie eigentlich lief. Sie lief durch Wald und Flur, schreckhaft wie ein Reh, weil sie mit jedem Knacken im Gestrüpp etwas Fürchterliches erwartete, das sie aufschlitzen könnte... eine Raubkatze oder das seltsame Heer aus Kamien, das sie wieder einfing und zurück an den Ort des Grauens schleppte. Die Nächte schlief sie kaum aus Furcht, im Schlaf gefressen werden zu können... bald waren ihre Vorräte alle und sie musste nach Wurzeln graben und Beeren von Büschen sammeln wie ein Wildschwein. Asta kannte sich mit Beeren nicht richtig aus... sie musste gerade gesegnet sein von den Geistern, dass sie bisher nie giftige erwischt hatte. Sie musste die Grenze nach Kisara längst überschritten haben, denn hier gab es immerhin Beeren und Wurzeln. In Kamien gab es nur Staub...

Sie war schon einige Tage unterwegs, als sie das nächste Mal ein Dorf erreichte... oder das, was davon übrig war, und mit Entsetzen bemerkte sie, dass sie genau in die Richtung gelaufen sein musste, in die auch die Armee verschwunden war. Das hier war Thalurien... und irgendein Dorf qualmte vor ihren Augen vor sich hin, niedergebrannt von den Männern, die Asta so sehr verabscheute. Sie schauderte, das Szenario von weitem betrachtend, und Panik ergriff sie. War ihr Vater irgendwo? Oder Loron? Sie musste schleunigst weg von hier... zu sehen war keiner der Männer. Das hatte aber nichts zu heißen, vielleicht lauerten sie im Gestrüpp... Asta keuchte bestürzt und ergriff blind die Flucht. Irgendwo hin, weg von diesem Ort des Todes. Sie würde niemandem helfen können, selbst, wenn noch jemand lebte. Sie konnte nicht heilen und auch nicht verarzten, sie war nur eine Frau... eine gedemütigte, panische Frau, die um jeden Preis ein besseres Leben führen wollte als bisher, und das ließ sich schlecht machen, wenn sie wieder auf Arlon und die anderen stieß...

Der Morgen graute. Sie war früh aufgestanden und hatte ihren Weg fortgesetzt, jetzt, da sie so wild kopflos nach irgendwo flüchtete, spürte sie plötzlich mit allen Gliedern die Müdigkeit der vergangenen Tage. Wie viel hatte sie geschlafen? Zu wenig... und zu wenig gegessen hatte sie auch, stellte sie fest, als sich ihr Magen protestierend zusammenzog, während sie heftig atmend rannte. Den Hügel hinunter, ins nächste Gestrüpp, wobei sie ein paar Kaninchen aufscheuchte, die genauso panisch flohen wie sie. Wie lange sie gerannt war, wusste sie nicht mehr, als sie über eine Erhebung im Boden stolperte und schreiend zu Boden stürzte. Japsend kam sie auf die Knie und sah sich hektisch um – oh nein, hatte sie jetzt jemand gehört? Sie vernahm Schritte... irgendwo ging jemand. Rasch. Irgendwo plätscherte ein kleiner Bach... erst als sie ihre Hände hob und aufstand, bemerkte sie, dass ihre Finger und Knie nass waren vom feuchten Boden.

„Hallo?“, hörte sie aus der Ferne, „Ist jemand hier?“ Asta keuchte und ließ sich ins Gras fallen, um sich auf der Stelle tot zu stellen. Oh nein... jemand hatte sie bemerkt. Es war ein Mann, der Stimme nach zu urteilen, und ihr wurde kalt, als sie daran dachte, dass die Männer aus Kamien sie jetzt finden würden.

Ihre Flucht war kurz gewesen... die Gedanken an die Ausweglosigkeit, in der sie steckte, ließen sie beinahe weinen.

Als sie die Stimme, die zuvor gerufen hatte, plötzlich unmittelbar hinter sich vernahm, wäre sie vor Schreck beinahe gestorben.

„Lieber Himmel, bist du verletzt, Frau? Hast du gerade geschrien?“ Asta fuhr keuchend herum, alle Hoffnung auf Überleben aufgebend, bis sie das Gesicht ihres Gegenübers plötzlich erkannte; ein Gesicht, mit dem sie hier und jetzt garantiert nicht gerechnet hatte.

„Moment... Simu?!“
 

Simu musterte die Frau mit den merkwürdigen Haaren perplex und war erstaunt darüber, dass sie seinen Namen kannte. Sie rappelte sich plötzlich auf und schien vor Erleichterung über seinen Anblick weinen zu wollen, dann raufte sie sich die Haare und begann ohne Punkt und Komma zu reden.

„Ach, du lieber Himmel, du bist das! Das... das hätte ich nie gedacht! Ich habe geglaubt, die Männer aus Kamien kämen und würden mich zurück schleifen... ich habe dich ja ewig nicht gesehen, du hast dich gar nicht verändert... b-bin ich froh, ich werde leben!“ Simu runzelte konfus über den Redeschwall die Stirn.

„Ähm... kennen wir uns?“

Die Frau japste.

„A-Asta! Asta Zinca, wir waren auf derselben Schule... ich... bin die kleine Schwester von Loron...“ Ah – er erinnerte sich, da war ja mal jemand gewesen. Asta... er hatte sie ganz anders in Erinnerung. Jedenfalls nicht mit rosa Haaren... die Schwester von Loron. Simu brummte, als sie den Namen des Scheusals erwähnte. Dieser Bastard... er würde ihm die Haut abziehen für das, was er Eneela angetan hatte. Apropos... er sollte zurück zu der Lianerin, ehe sie aufwachte.

„Ach so... ich erinnere mich. Was... hast du hier zu suchen?“, fragte er so nur und sie putzte sich das Gras von ihren lumpigen Kleidern.

„Ich laufe weg!“, jammerte sie, „Weg aus Holia... da ist das Leben nicht schön für eine Frau.“ Das konnte er sich vorstellen... er seufzte leise.

„Das kann ich verstehen. Vergib mir, wenn ich dich erschreckt habe. Ich hörte jemanden schreien. Bist du verwundet?“

„Was? N-nein... ich bin nur gestolpert, halb so wild. Wieso... rennst du denn hier in der Pampa umher?“

„Ich bin auf dem Weg nach Yiara zu meiner Tante... oder so. Eigentlich suche ich meine Schwester... und versuche dabei eine Bekannte wieder zum Leben zu erwecken, die seit gestern Nacht ohnmächtig herum liegt... woran übrigens dein Bruder Schuld ist. Ich fürchte, ich muss deshalb jetzt auch wieder gehen... wenn du unverletzt bist, verschwinde rasch. Die Horde ist nach Nordwesten gezogen, vielleicht wollen sie nach Taiduhr. Ich hoffe ja, dass mein Vater ihnen da die Eingeweide herausreißen wird und dem ein Ende bereitet, der ist garantiert fuchsteufelswild.“ Es war in der Tat unwahrscheinlich, dass Puran so etwas täte... Puran tötete keinen Menschen. Aber vielleicht würde Sagal es tun, der war doch garantiert noch am Leben... wenn in Lorana je ein Überlebenskünstler gewohnt hatte, dann war es der alte Krüppel mit dem Stock. Simus Arbeitgeber gewissermaßen... er empfand tiefen Respekt vor diesem Mann, der trotz seines lahmen Beins so viel Macht inne hatte. Er hoffte sehr, dass er noch lebte.

„W-was?“, stammelte die Frau mit den kurzen Haaren neben ihm und sah ihn aufgelöst an, „W-was... was ist denn geschehen? Wieso suchst du denn Neisa?“

„Nun... gestern Nacht hat Lorana gebrannt.“ Er zeigte nach Südwesten. „Vielleicht hast du die Rauchschwaden gesehen... mein Heimatdorf ist kaputt, meine Schwester habe ich im Inferno verloren... aus irgendeinem Grund hat Zoras sie angeblich verschleppt. Deswegen suche ich sie... bei dem weiß man nie. Du solltest ihn ja besser kennen... den besten Freund deines Bruders.“ Er kehrte der Frau mit einem höflichen Kopfnicken den Rücken und hustete, als sie ihn aufhielt und seinen Arme ergriff.

„S-Simu, warte! Wie, Zoras?! Wieso ist Zoras nicht bei der Horde?“

„Woher soll ich das wissen? Loron hat mir erzählt, Zoras hätte Neisa mitgenommen. Und das besorgt mich etwas...“ Er musterte ihre erbärmliche Erscheinung, wie sie ihn anstarrte wie ein Häufchen Elend, offenbar auch nicht wissend, ob sie Angst haben sollte oder nicht. Sie ließ ihn los und Asta senkte zitternd den Kopf.

„Du gehst weg von hier...?“, wisperte sie, „Weg aus Thalurien?“

„Ja. Nach Yiara, wie gesagt. Sehr große Hafenstadt auf der Halbinsel im Norden.“

„Und deine Familie? Also, der Rest davon?“

„Meine Mutter ist unterwegs dorthin. Mein Vater ist in Taiduhr und wo Karana ist, weiß ich leider nicht.“ Sie druckste etwas herum und trat von einem nackten Fuß auf den anderen, ehe sie es wagte, ihm ins Gesicht zu sehen; sein Instinkt verriet ihm schon bevor sie fragte, was jetzt wohl käme.

„Darf... hättest du... was dagegen, wenn ich dich begleite? Ich... würde gerne hier weg, so weit wie möglich... in der großen Stadt finde ich sicher Arbeit und eine Bleibe, hoffe ich... ich werde dich ganz sicher nicht belasten! Ich bin schon seit Tagen allein unterwegs, ich kann alleine überleben. Aber ich... fürchte mich so...“ Der Blonde fasste sich kurz an die Stirn. Warum war eigentlich immer er der Idiot, der die hilflosen Frauen einsammelte? Erst Eneela, jetzt die... dann noch Lorons Schwester. Auch, wenn sie ihm nie etwas getan hatte und ihren Bruder vermutlich mehr hasste als er selbst... was sollte er mit ihr? Simu war ein barmherziger Mann... er konnte sie ja nicht einfach stehen lassen.

„Von mir aus, wenn es dich beruhigt. Ich muss jetzt erst nach Eneela sehen... vielleicht wacht sie ja langsam auf. Es wäre besser, wenn sie alleine laufen könnte... auf die Dauer kann ich selbst ihr geringes Gewicht nicht tragen.“
 

Eneela zitterte. Sie brauchte eine Weile, um richtig zu sich zu kommen, als sich die schützende Finsternis in ihrem Geist auflöste, die sie eingehüllt und davor bewahrt hatte, die Schmerzen der Wirklichkeit wieder spüren zu müssen. Jetzt war sie wach und aller Schmerz, alle Grausamkeit war wieder da, und mit einem Keuchen registrierte sie den Kloß in ihrem Hals, als sie Wasser trank, das Simu ihr gebracht hatte. Als sie aufgewacht war, hatte sie im Gras gelegen und Simu und eine fremde Frau waren bei ihr gewesen. Eneela musterte die Fremde verstört, als sie das Wasser ausgetrunken hatte und sich zitternd aufsetzte, irgendwie versuchend, wach zu werden und dennoch alles zu verdrängen, das ihr mit einem Mal schmerzhaft in den Kopf schoss.

Ihr waren Dinge geschehen. Schreckliche Dinge... sie erinnerte sich an die Schatten, an das Feuer im Dorf und an den widerlichen Kerl... der sie...

Nein! Denk nicht daran... schiebe die Dinge zurück in den Schatten, in den sie gehören...

Sie fuhr zusammen, als Simu sie plötzlich ansprach; er sprach behutsam, ganz leise, als hätte er geahnt, dass sie sich erschrecken würde, und dennoch zitterte sie heftiger beim Klang seiner Stimme. Beim Klang irgendeiner Stimme... egal, wem sie gehörte.

„N-nein!“, japste sie, ohne gehört zu haben, was er gesagt hatte, „B-bitte lasst mich! Wo... wo sind wir...? Wer ist die Frau?“ Sie sah in Simus Gesicht eine bestürzte Sorge und senkte bebend das Gesicht... was war sie für eine scheußliche Person? Dieser Mann hatte viel für sie getan... sie sollte dankbarer sein. Das Leben auf Ghia hatte sie Demut gelehrt... Demut vor allen, die höheren Ranges waren als sie selbst.

Und alle waren ranghöher als eine Lianerin wie sie... sie war eine Sklavin. Wie hatte sie es wagen können, so zu sprechen?

„V-vergebt mir, Herr...“, stammelte sie und fing ohne den konkreten Grund zu verstehen zu weinen an, „Vergebt mir, ich... ich war unachtsam...“

„Jetzt hör doch mal damit auf.“, seufzte der Blonde vor ihr, „Hör auf, mich Herr zu nennen, ich bin nicht dein Herr. Und du schuldest mir gar nichts. - Diese Frau ist Asta, sie ist, ähm, eine Art flüchtige Bekannte von mir. Sie wird uns begleiten nach Yiara.“ Eneela schenkte der Frau mit den eigenartigen Haaren einen verwirrten Blick. War sie etwa Zuyyanerin, mit dieser Haarfarbe? Eneela hatte nicht viele Zuyyaner getroffen... aber es hieß, sie wären fürchterliche Bestien, die zwar wie Menschen aussahen, aber anders als diese kein Herz und keine Seele besaßen. Eneela ängstigte der Gedanke an Menschen ohne Seele... diese Frau hier schien aber eine zu haben. Seelenlose Monster schauten garantiert nicht entsetzt oder panisch.

Panisch?

„Du hast gar nicht erwähnt, d-dass deine Freundin ein... ein Gespenstermädchen ist!“, jammerte die Rosahaarige gerade und Eneela starrte sie ungläubig an, während Simu sich an den Kopf griff.

„Lianer sind keine Gespenster, Asta. Sie wird dir sicherlich nichts tun, sofern du ihr nichts tust.“

„A-aber... ich fürchte mich, in Kamien hieß es, dass Gespensterleute bösartig seien...“ Eneela schauderte, als sie die Worte hörte, und von plötzlicher Hysterie ergriffen sprang sie auf die Beine – sie verlor sofort das Gleichgewicht und strauchelte, ehe sie wieder zu Boden sackte und wimmerte. Kamien?! Diese Frau stammte aus dem Gebiet, aus dem die Männer gekommen waren, die den Schatten und das Feuer gebracht hatten...? Die grauenhaften Erinnerungen an die vergangene Nacht durchfuhren die Lianerin und sie kauerte sich wimmernd zusammen, als sie den Schmerz in ihrem Inneren noch immer spüren konnte. Sie fühlte sich schmutzig... die Hände des Rüpels schienen noch immer ihren Körper zu schänden, ihre Kleider zu zerreißen und ihre Seele zu zerstören... noch immer hörte sie seine dunkle Stimme und schrie vor Angst, als sie den Schatten wieder über sich fallen spürte.

„Tanz!“, zischte der Schatten, „Wenn du dich brav fügst, ist es schneller vorbei... schrei ruhig. Niemand wird dich hören... niemand wird kommen und dich retten.“

„Nein, lasst mich in Frieden!“, schrie das junge Mädchen und richtete sich taumelnd wieder auf – sie spürte, dass Simu sie vorsichtig am Arm zu fassen versuchte, und keuchend fuhr sie herum und versuchte hysterisch, sich loszureißen.

„Eneela – beruhige dich...“, rief Simu hinter ihr energisch, „Ganz ruhig, niemand wird dir wehtun! Das verspreche ich dir, dafür sorge ich. Wir werden zusammen nach Yiara zu meiner Tante gehen... die Rüpel aus Kamien werden uns nicht folgen.“

„Fass mich nicht an!“, keuchte sie panisch und er tat, wie ihm geheißen, worauf sie japsend wieder zu Boden stürzte. Sie weinte... sie wollte nur noch hier liegen und weinen. Sie wollte nicht mehr aufstehen und diese Schmerzen erleiden müssen, diesen Wahnsinn – warum geschah so etwas immer nur ihr? Warum verfolgte sie das Pech, wohin sie auch ging? Sie hatte Ghia verlassen, weil sie geglaubt hatte, auf Tharr wäre es besser...

Sie wollte sterben. Sie wünschte, sie wäre in den Flammen des Dorfes umgekommen... dabei verabscheute sie Feuer so dermaßen. Sie hasste es... sie fürchtete das Feuer so sehr.

„Und ich... habe geglaubt, etwas Grauenhafteres... als dieser Käfig, der jahrelang meine Heimat war... und dieser Dämon, dem ich so sehr den Tod wünsche... könnte mir nicht widerfahren...“
 

Simu war frustriert. Was sollte er jetzt machen mit zwei Frauen, die sich voreinander und vor dem Rest der Welt fürchteten? Als Eneela wieder am Boden kauerte und nicht wagte, wieder aufzusehen, und Asta nur konfus etwas abseits stand und zu ihnen herüber starrte, fragte er sich wirklich einen Moment, ob er nicht Eneelas Herr-Masche ausnutzen und ihr befehlen sollte, ihren verdammten Hintern zu bewegen, damit sie voran kamen... wie sollte er so Neisa finden? Wer wusste, was Zoras mit ihr vorhatte...?

Eneela hatte es wirklich schwer... was Loron ihr angetan hatte war unverzeihlich, dieser Bastard verdiente auf alle Fälle einen qualvollen Tod, beschloss der Blonde finster, während er der Schwester des verhassten Mistkerls einen Blick schenkte.

„Bleib, wo du bist.“, sagte er nur, ehe er sich vorsichtig zu der Lianerin hockte, ohne sie anzurühren. Er verstand, dass sie jetzt Berührungsängste hatte... er war zwar nicht Loron und hatte ihr nichts getan, aber er war ein Mann... sie würde vermutlich für den Rest ihres Lebens alle Männer fürchten. Was sie da sprach zeugte auch nicht gerade von Gutherzigkeit, die sie auf Ghia erfahren hatte...

Dieser Käfig, der jahrelang meine Heimat war...

Er fragte sich konfus, was ihr auf Ghia widerfahren sein mochte. Erst jetzt fiel ihm zum ersten Mal wirklich auf, dass er keine Ahnung hatte, wer sie eigentlich war. Er wusste nichts über sie, nichts über die Gegend, aus der sie stammte, über ihre Familie...

Etwa so viel, wie er auch über seine eigene Herkunft wusste.

Und sie war eine der Sieben... das hatte diese Ryanne gesagt, die aus Fann gekommen war. Simu spürte es instinktiv, ohne wirklich zu wissen, warum eigentlich... Eneela war wichtig. Und es war Wille der Geister gewesen, dass er sie gefunden hatte. Sein Blick fuhr wieder zu Asta, während er weiterhin neben der Lianerin am Boden hockte, die zitterte und apathisch vor sich hin murmelte. Was, wenn Asta auch...? Vielleicht war es auch Schicksal gewesen, das ihn zu ihr geführt hatte? Selbst, wenn sie Lorons Schwester war... Asta war kein böser Mensch. Vielleicht war es gut, wenn er sie mit nach Yiara nahm... wenn er dort die Seherin wiedertraf, konnte sie sagen, ob Asta vielleicht auch zu diesen sieben Auserwählten gehörte. Wenn sie nicht gerade wieder das Gedächtnis verloren hatte, hieß das.

„Eneela...“, sagte er dumpf zu der Lianerin neben sich, die beim Klang seiner Stimme merklich zusammenfuhr. „Eneela, beruhige dich. Ich werde dir nichts tun, niemals. Du bist in Sicherheit. Das verspreche ich dir.“

„Sicherheit...?“, wisperte sie monoton und als sie versuchte, sich hysterisch aufzurappeln, stolperte sie über ihre eigenen Füße und stürzte wieder zu Boden, sich stöhnend den verletzten Kopf haltend. „Wie kannst du von Sicherheit sprechen in dieser Welt voller Schatten und Feuer...? Ich hasse Feuer so sehr...“

„Hier ist kein Feuer mehr.“, sagte Simu geduldig, „Es ist weit fort. Es kommt nicht her.“

„Doch, das wird es...“, keuchte sie, „Es kommt immer zu mir. Immer und nur zu mir... Ghia hat gebrannt, weißt du...? Die Flammen kommen immer zu mir... nachts träume ich von der Welt, die brennt, von den Toten, die schreien... das Feuer... k-kommt... immer zu mir...“ So stammelte sie vor sich hin und er fragte sich bestürzt, ob sie fantasierte. Sie war am Hinterkopf verletzt worden; entweder im Inferno oder von Loron, das wusste er nicht, jedenfalls klebte getrocknetes Blut in ihren weißen Haaren. Vielleicht hatte der Schlag auf ihren Kopf ihren Geist so schwer erschüttert... vielleicht war es aber auch nur der Schock als Reaktion auf das, was Loron ihr angetan hatte... sie versuchte vermutlich, es zu verdrängen und redete deswegen so wirr.

„Kannst du aufstehen, Eneela?“, fragte er sie behutsam und bot ihr vorsichtig seine Hand an, „Ich helfe dir, halt dich an mir fest. Wir müssen weiter... weg von den Schatten, ich bringe dich in Sicherheit. Das Feuer wird nicht kommen. Dafür... dafür sorge ich, das verspreche ich dir.“ Das war viel gesagt... aber was sollte er tun, um sie hier weg zu bekommen? In der Tat waren sie noch nicht weit von Lorana entfernt... er hoffte wirklich, dass er Zoras noch einholen könnte. Oh, und er würde ihm die Augen ausstechen, wenn er es gewagt haben sollte, seine Schwester unsittlich anzufassen oder ihr auf sonst eine Art wehzutun...

Vielleicht konnte Asta ihm ja einen Tipp geben.

„Asta!“, rief er sie beim Namen, „Warst du bei den Männern aus Kamien? Hast du eine Ahnung, warum Zoras mit meiner Schwester nach Norden gegangen ist?“ Zu seiner Enttäuschung schenkte das rosahaarige Mädchen ihm nur einen blöden Blick.

„Zoras?!“, rief sie lauter als nötig und Eneela erschrak sich und fuhr zusammen, während sie gerade zitternd versuchte, sich an Simus Arm hinauf zu ziehen. „W-wieso Zoras, was hat der denn hier verloren?! Oh nein, ich will nicht zurück nach Kamien! Ich werde einen großen Bogen um Zoras machen!“ Simu verdrehte innerlich die Augen – was war denn das jetzt, das hatte er doch schon erzählt? Hatte sie nicht zugehört oder litten neuerdings alle Frauen, die er kannte, an Psychosen und akutem Gedächtnisschwund?

„Aber dann musst du uns verlassen, denn ich meinerseits werde versuchen, ihn zu finden... wie ich doch schon einmal sagte... er hat meine Schwester aus einem Grund, den ich nicht kenne... vermutlich will ich ihn auch nicht kennen.“ Lorons Schwester bewies tatsächlich so etwas wie die Fähigkeit des Kombinierens.

„Ich würde mich mehr sorgen, wenn mein Bruder sie hätte, Zoras ist vermutlich der einzige Mann in ganz Holia, der keine Frau schänden würde...“ Der Blonde runzelte unsicher die Stirn bei den Worten. Da war vielleicht etwas dran... er kam für gewöhnlich viel herum und bekam viel mit auf seinen Reisen, die mitunter auch in den Westen geführt hatten. Und in Kamien war Zoras' Name groß und mächtig. Er war wie ein Ungeheuer, von dem man im Flüsterton sprach aus Angst, es könnte einen fressen, wenn man zu laut wurde. Zoras Derran war eine Schreckensgestalt, aber das bezog sich, so weit Simu es wusste, mehr auf die Magie... der Kerl war seit jeher Karanas einziger ernst zu nehmender Rivale gewesen in diesem Punkt. Der einzige, der gleichauf war mit dem arroganten, selbstgefälligen Sohn des Herrn der Geister... Simu fragte sich bitter, wo sein Bruder jetzt war. Hoffentlich war er wohlauf...

„Dann musst du dich vor ihm ja auch nicht fürchten, Asta.“, sagte der Blonde so nur. Eneela hatte sich mühsam aufgerappelt und er hielt sie energisch fest, damit sie nicht wieder umfiel. „Wir werden jetzt versuchen, nach Norden zu gehen, beeilen wir uns besser. Vielleicht finde ich meine Schwester... das wäre hilfreich.“ Asta schnappte nach Luft, als er sich mit der Lianerin im Schlepptau langsam in Bewegung setzte.

„Woher weißt du denn den Weg?“, stammelte die Frau aus Holia, „Ich meine... weißt du, wie wir nach Yiara kommen?“

„Mein Instinkt zeigt mir die Richtung. Mein Instinkt sagt mir auch, wohin ich gehen muss, um Neisa zu finden... vertrau mir.“ Die Rosahaarige sah ihn eher ungläubig an, als er über die Schulter zu der armseligen Kreatur zurück blickte.

„Instinkte? Ich dachte, du seist ein Nichtmagier und nur der Adoptivsohn des Herrn der Geister... im Gegensatz zu Karana bist du... doch gar kein Schamane...?“ Simu sagte darauf nichts und sein Blick ging ins Leere. Ja... das wusste er. Und er wunderte sich selbst auch darüber, warum seine Instinkte fast genauso ausgeprägt waren wie die seiner magischen Geschwister...

Er wusste ja nicht, was er war. Wer er war... und warum er zu den Lyras gekommen war. Es musste dafür einen triftigen Grund geben, den er nicht kannte... und es musste etwas sein, das jenseits des Netzwerkes der Sagals lag. Er hatte eine Weile für Dasan Sagal gearbeitet und der hatte genau wie Simus Eltern jahrelang nach dem Grund gesucht, der den kleinen Jungen damals in das Dorf Lorana gebracht haben mochte. Was immer es war, Simu war gleichzeitig sein Leben lang schon begierig darauf, es zu erfahren, und fürchtete sich andererseits vor der Wahrheit, die ihm vielleicht nicht gefallen würde.

Vielleicht würde er klüger werden, wenn der Schatten gefallen war, der jetzt heraufzog, um sie alle zu vernichten.
 


 

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Pinky! XD Und Psycho!Eneela und Simu, der Retter der verlorenen Schäfchen!

Der Wille der Geister

Über dem Hochland von Kisara grollte der Himmel leise vor sich hin. Neisa fuhr zusammen, schien sich aber nicht anmerken lassen zu wollen, dass das Grollen sie verunsicherte. Zoras schenkte seiner Begleiterin wenig Beachtung, während er hinter sich spähte. Seit sie die Felsnische wieder verlassen hatten, fühlte er sich verfolgt und wusste nicht genau, wieso. Vielleicht waren es die launischen Geister, die ihm einen Streich spielten. Zuzutrauen wäre es ihnen, stellte er verbittert fest, als er sich wieder nach vorn wandte und Neisa einholte, die voraus ging. In der letzten Zeit waren die Geister mürrisch und nicht wirklich eine Hilfe. Instinktiv suchte er den Himmel nach Krähen ab; nach den eigenartigen Vogelgeistern, die mit ihm sprechen konnten, die ihm die Macht gegeben hatten, halb Thalurien zu vernichten und Karana zu schlagen.

Karana. Ob der wohl noch lebte? Nicht, dass es ihn geschert hätte, aber Neisa würde sicher fuchsteufelswild, wenn sie erfuhr, was er mit ihrem Bruder angestellt hatte. An sich konnte ihm aber egal sein, was Neisa machte... er hoffte, bald ihre Familie einzuholen und sie loszuwerden. Ihre Gegenwart war unbehaglich... abermals konnte der junge Mann nicht genau sagen, weshalb.

Er beobachtete das Mädchen vor sich eine Weile im Gehen, ohne ein Wort zu sagen. Schaudern erinnerte er sich an ihr merkwürdiges Verhalten in der Felsnische und verdrängte die Gedanken an diesen flüchtigen Moment sofort wieder. Karanas Schwester war ein einziges Rätsel. Und das war sie immer gewesen...

„Kannst du nicht lächeln? Du schaust immer so grimmig...“

Er zischte ungewollt heftig bei der Erinnerung an die ersten Worte, die sie als kleines Mädchen je zu ihm gesagt hatte. Nein... zum Lächeln hatte er keinen Grund. Er schwor sich aber verbiestert, dass er es tun würde, wenn das Ungeziefer beseitigt war. Und er würde für sie lächeln... für das Mädchen, das keine Angst vor den Schatten hatte, die er in sich trug.

„Können wir für heute Nacht hier rasten?“, fragte das furchtlose Heilermädchen da gerade und er merkte erst jetzt, dass sie stehen geblieben war. Brummend sah er sich um, während über ihnen der Himmel grollte. Die Geister waren nervös... und er war es auch. Etwas Schlimmes kam auf sie zu. Und es war etwas, das seine Macht bei weitem überstieg.

„Fürchte dich... vor der Finsternis, die aus dem Osten kommt...“, wisperten die Geister und er schauderte.

Aus dem Osten... also doch Ela-Ri, wie die Gerüchte besagen. Das wird ja ein glorreiches Ende für dieses Zeitalter...

Neisa hockte sich auf eine heraus ragende Wurzel eines Baumes und sah sich skeptisch im Zwielicht um. Die Sonne war so gut wie untergegangen; die Frische der Nacht zog jetzt herauf und Zoras verfluchte Karana, weil der Schuld daran war, dass sein Hemd kaputt gegangen war und er jetzt halb nackt durch die herbstliche Pampa rennen musste. Es würde sicherlich keine gemütliche Nacht.

Mit einem Seufzen setzte er sich neben Neisa auf die starre Wurzel und fuhr sich stöhnend durch die Haare.

„Gut... rasten wir hier. Bist du sehr müde?“

„Nein, aber hungrig.“, jammerte sie, „Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen habe... macht dir das gar nichts aus?“

„In Holia gibt es selten viel zu essen, mein Körper ist vermutlich mehr gewohnt, zu wenig zu bekommen, als deiner, wenn ich dich so ansehe.“ Das war schlecht ausgedrückt, merkte er, als sie ihn schnaubend trat.

„Willst du sagen, ich sei fett?!“ Warum machten eigentlich nur Frauen so ein Theater um ihr Gewicht?

„Also zumindest hast du mehr auf den Rippen als ich, verhältnismäßig.“

„Das sind meine Brüste und kein Fett, du Vollidiot!“, keifte sie und er hüstelte, ehe er gegen seinen Willen errötete und sich zischend von ihr weg drehte.

„Ich meinte nicht wortwörtlich auf den Rippen...“

„Also findest du, ich sei fett!“, entrüstete sie sich, „Na, besten Dank. Kein Wunder, dass du kein Mädchen abbekommst, wenn du so uncharmant bist!“ Er lachte hohl.

„Wer sagt dir denn, dass ich kein Mädchen abbekäme...?“

„Karana sagt, in Thuran erzählen sie sich, du seist schwul. Oder hättest was mit deiner eigenen Mutter.“ Er errötete heftiger. Was zum Geier, diese Gerüchte waren doch zum Kotzen.

„Ich bin nicht schwul und habe nichts mit meiner Mutter!“, blaffte er sie an, „Wie kannst du es wagen, sowas zu glauben?! Du... du kennst mich doch! Hast du wirklich gedacht, ich...?! D-das wäre das letzte, was ich jemals, jemals in meinem verdammten, beschissenen Leben tun würde! Ich hasse Männer, ich verabscheue Männer, ich würde lieber freiwillig für immer Lorons Schlägerjunge sein als jemals in meinem verfluchten Leben mit einem Kerl...!“ Er merkte, dass er eine ganze Menge sprach, weil Neisa ihn blöd anstarrte, als er das Gesicht flammend wieder zu ihr drehte. Sie räusperte sich, als er verstummte, und errötend blickte er wieder weg und ohrfeigte sich innerlich. Was redete er da? Das ging sie überhaupt nichts an...

Er wollte nicht daran denken. Er spürte jetzt schon beim bloßen Gedanken an diese widerwärtigen Kerle den üblichen Brechreiz, der ihn beinahe hätte würgen lassen...

In die Finsternis mit ihnen! Tod und Verderben über sie, soll Vater Himmels Zorn sie zerschmettern mit aller Macht, die er aufbringen kann zur Strafe... für diese Schande!

„Entschuldige...“, sagte Neisa hinter ihm, „Ich wusste nicht, dass dich... das so extrem aufregt. Ich meine... natürlich habe ich es nicht geglaubt, aber das erzählen die Leute nun mal.“

„Schon gut.“, knurrte er erbost, „Sprich bitte einfach nie wieder darüber. Niemals wieder, verstanden? Der bloße Gedanke daran lässt mich kotzen.“

„Kein Kerl hört gerne, dass er für schwul gehalten wird, aber du reagierst da wirklich heftig...“

„Ich sagte, sprich nie wieder darüber. Hast du Bohnen in den Ohren, Neisa?“

„Wie kommt es, dass du da so empfindlich bist?“, fragte sie naiv und er zischte.

„Halt die Klappe! Das geht dich verdammt noch mal einen Dreck an!“ Jetzt schwieg sie und er war ihr dankbar. Er wollte sich nicht die ganze Nacht mit diesen quälenden Gedanken herumschlagen. Er hatte besseres zu tun.

„Und dann sagst du, ich kenne dich.“, hörte er sie sagen und er linste über die Schulter, um zu sehen, dass sie apathisch nach Süden lächelte, ihn nicht ansehend. „Ich habe doch... in Wahrheit keine Ahnung, wer du bist.“

„Du hast gesagt, ich sei ein guter Mensch. Du hast keine Angst vor mir. Du bist... zu mir gekommen, als wir klein waren. Reicht das nicht?“ Sie schauderte.

„Ich weiß... aber das ist... verblasst und lange her. Seit wir... hier zusammen reisen, habe ich mit jedem Schritt, den ich tue, mehr die Erkenntnis erlangt, dass ich... keinen Schimmer von dir habe.“ Er fuhr zusammen, als er plötzlich spürte, wie sie die Hand auf seinen Rücken legte. Ihre Finger fuhren die Linien der fürchterlichen, hässlichen Tätowierung nach, die er genauso verabscheute wie Männer... ein furchtbarer Schauer jagte ihm durch den ganzen Körper, als er die so sanfte und unschuldige Berührung über sich ergehen ließ... es schmerzte, aber nicht auf der Haut, sondern irgendwo in seinem Geist, irgendwo an einer vergrabenen Stelle, an der das schwarze Loch in seiner Seele pochte und sich von dem Gram ernährte, den er verspürte.

„Ich weiß... nicht, wie es hierzu gekommen ist...“, wisperte sie tonlos und er schauderte erneut, als sie die zweite Hand hinzu nahm und seine nackte Haut berührte, als wäre es vollkommen selbstverständlich, dass sie das tat. „Und ich... weiß nicht... wieso du es so... abgrundtief verabscheust...“, wisperte sie weiter und er schloss keuchend die Augen, als die Bewegungen ihrer Hände seine Haut elektrisierten, als würde sie von ihren Fingern mit Blitzen aufgeladen. Sie war so sanft... sie war es auf eine furchtbare Weise, die irgendwie schmerzhaft war, und er verabscheute sie dafür, dass sie ihn anfasste, und spürte plötzlich gleichzeitig das Verlangen danach, dass sie weiter machte... er wollte mehr, er wollte die Frau, mit jeder verdammten Berührung ihrer kleinen, kalten Finger erregte sie ihn und es widerte ihn an.

Hör auf, Neisa... ich warne dich., sprach er im Geiste zu ihr, Wenn du so weiter machst, drehe ich mich zu dir um und mache dich hier und jetzt zur Frau, ist mir egal, ob du deine verdammte Blutung noch nicht hattest, du... verdammte Hure!

Er erschrak über seine eigenen Gedanken, ehe er errötete und sich hastig aus ihrem Griff wand, etwas von ihr weg rückend und ihr damit deutlich signalisierend, dass sie aufhören sollte. Verdammt, was dachte er da? Jetzt wurde er schon zu einem Mistkerl wie es die aus Holia waren... färbte letztendlich doch die Umgebung seiner Kindheit auf ihn ab?

Grummelnd erhob er sich und ging ein paar Schritte von Neisa und dem Baum weg.

„Es gibt nichts über mich zu wissen, Neisa. Glaub mir... für dich ist es besser, wenn du nichts davon weißt. Macht dein behinderter Bruder dich nicht schon kaputt genug mit seinem Wahnsinn?“

Er hatte gröber gesprochen als beabsichtigt, fiel ihm auf, als er merkte, wie die Heilerin sich hinter ihm erhob und nach Luft schnappte.

„Kaputt?“, zischte sie grantig, „Behandle mich nicht wie ein kleines Mädchen, das du versuchst zu beschützen, Zoras. Ich habe gesagt, ich fürchte mich nicht vor der Finsternis.“

„Aber ich tue das!“, empörte er sich erbost, „Ich verabscheue sie und ich dachte mir, ich verschone dich damit. Hatte ja keine Ahnung, was du für eine perverse Märtyrerin bist...“ Sie fauchte und er fuhr zusammen, als sie ebenfalls grimmig herum wirbelte.

„Hältst du mich für so unfähig, dass ich der Grausamkeit deiner Worte nicht standhalten kann?“ knurrte sie, „Du... kennst mich genauso schlecht wie ich dich.“

Er sparte sich einen Kommentar auf ihre schnippischen Worte und beobachtete, wie sie davon stampfte, um in irgendeinem Gestrüpp zu verschwinden. Einen Moment fragte er sich, ob er ihr folgen sollte, aber sie blaffte ihn aus dem raschelnden Busch zickig an:

„Untersteh' dich, Zoras Derran, ich weiß genau, was du denkst! Ich will nur pinkeln, lass mich in Frieden!“ Er hüstelte. Gut, es war besser, ihr nicht zu folgen in diesem Fall. Murrend setzte er sich wieder auf die Wurzel von zuvor und rieb sich die kalten Oberarme. Der Winter würde bald kommen... hoffentlich war er Neisa bis dahin los, er musste schließlich noch bevor der Winter da war seine Mutter aus Holia retten... irgendwie. Er hoffte so sehr, dass es ihr gut ging...

Als Neisa zu ihm zurückkehrte, sprach sie wieder kein Wort. Sie war schnell beleidigt, hatte er gelernt, seit er sie mitgenommen hatte... es war eine reichlich dumme Idee gewesen. Sein Instinkt war wohl mit ihm durchgegangen... oder eher irgendwelche Dämonen, die von ihm Besitz ergriffen hatten.

„Ja, und die Dämonen heißen männliche Triebe.“

Zoras drehte den Kopf, als er auf einem tieferen Ast des Baumes, an dem sie rasteten, die Krähe sitzen sah, die er schon beinahe vermisst hatte. Er erinnerte sich rechtzeitig daran, dass Neisa neben ihm saß, deswegen sprach er nur im Geiste mit dem Vogel.

Willst du mich verarschen? Da stehe ich drüber.

„Da würdest du gerne drüber stehen, aber dieser Impuls ist älter als du, Zoras. Denkst du nicht... dass es Schicksal war, dass gerade dieses Mädchen keine Furcht vor dir hat? Denkst du nicht, dass die Geister dafür gesorgt haben, dass sie es ist, die auf dich so anziehend wirkt?“, kicherte der Vogelgeist und Zoras verzog keine Miene. Kurz sah er auf Neisa, die ihm jetzt den Rücken kehrte, mit den Fingern ihre blonden Haare zu kämmen versuchte und nicht so aussah, als hätte sie vor, ihn jemals wieder anzusprechen. Anziehend... verdammt, sie war nicht anziehend, Frauen waren ihm egal. Und dennoch... was war es dann vorhin gewesen, das in ihn gefahren war, als sie ihn berührt hatte?

„Was du begehrst an ihr ist etwas, das viel... tiefer und weiter zurück reicht.“, klärte ihn der Vogel amüsiert auf, „Es ist der eine, bestimmte Teile deiner Seele, der den einen, bestimmten Teil ihrer Seele begehrt... weil die Geister es so gewollt haben.“ Zoras runzelte bei diesen Worten die Stirn.

Ein... Teil meines Geistes?

„Du hast einen Namen.“, sagte der Vogel und schlug flatternd mit den Flügeln, blieb dabei aber auf dem Ast sitzen. „Einen Lebensgeist, den deine Mutter dir bei deiner Geburt verschafft hat. Du hast einen starken Namen... einen mächtigen Geist, deswegen bist du ja fähig, uns zu beherrschen... Zoras.“ Der junge Mann brummte kaum hörbar, um Neisa nicht auf sich aufmerksam zu machen, ehe er den Blick von der Krähe abwandte. Sein Lebensgeist... vielleicht war das der Schlüssel zu all den Rätseln, die er noch im Kopf hatte. Sein Blick glitt wieder zu Neisa. Oder vielleicht war sie es auch... das war der Moment, in dem er sich wünschte, dass sie bald zu schmollen aufhörte und wieder mit ihm sprach. Er fragte sich, was für einen Teil ihres Geistes er angeblich begehren sollte... und was bedeutete das, dass es ein Instinkt war, der weiter zurück lag? Er hasste diese Rätsel...

Seufzend wandte er den Blick nach Süden, Neisa ignorierend. Über ihnen grollte der Himmel noch immer... der Schatten kam. Und er kam rasch. Sie mussten sich beeilen...
 

Neisa war Heilerin; ihre Aufgabe war das Heilen, sie konnte nicht im selben Ausmaß die Geisterstimmen hören wie Zoras als Schwarzmagier... aber sie spürte die Schatten genau wie er, als sie die nächste Nacht unter freiem Himmel zwischen den Wurzeln des Baumes verbrachten. Und es raubte ihr wie auch ihrem Weggefährten den Schlaf, und am nächsten Morgen hatte sie Kopfschmerzen.

Der Himmel war zugezogen und grollte über ihnen, als sie ohne weitere Worte zu verlieren den Baum verließen, der ihnen in der Nacht etwas Schutz geboten hatte, um weiter nach Norden zu ziehen.

„Wo genau sind wir eigentlich, weißt du das?“ war das erste, was die Blonde Zoras wieder fragte, nachdem sie schon eine ganze Weile unterwegs waren. Er sah sie verblüfft an, neben ihr her gehend, und sie seufzte und sah sich um. „Ich meine, hier sind überall Büsche und Geröll! Und weiter? Bist du sicher, dass das die richtige Richtung ist?“

„Mein Instinkt sagt mir das zumindest und der hat mich bisher noch nie getäuscht. Vertrau mir.“ Ohne noch weiteres zu sagen ging er starr voraus und ließ sie etwas hinter sich zurückfallen. Neisa seufzte skeptisch; sie vertraute ihm, aber sie fragte sich, ob sie es zurecht tat. Sie hatte es ihr Leben lang grundlos getan, fiel ihr jetzt auf, noch nie hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, warum sie im Gegensatz zu allen anderen, die sie so kannte, weder Furcht noch Abscheu verspürte, wenn sie auf ihn traf. Er war etwas verbiestert, ja, aber er war kein von Grund auf schlechter Mensch. Auch, wenn Karana immer etwas anderes behauptete... Karana konnte da nicht objektiv sein.

„Ich will, dass du dich von Zoras Derran fernhältst, Neisa. Weißt du, was in seinem Kopf vorgeht? Nein. Weißt du, ob er dich im nächsten Moment aufspießen wird? Nein. Ich glaube, Zoras ist als Kind in den Schatten gestürzt... auch, wenn du sagst, dass er zu dir immer höflich war, er ist und bleibt eine Bestie und ist gefährlich. Merke dir das... ich bin nicht immer da, um dich zu beschützen, törichte Gans.“

Sie ballte unmerklich eine Faust, als sie an die Worte ihres Bruders dachte... gefährlich? Sie fürchtete sich nicht... das hatte sie nie. Stirnrunzelnd beobachtete sie Zoras wieder von hinten und betrachtete das bizarre Muster auf seinem nackten Rücken, wie sich die Linien leicht verzerrten, während er sich bewegte. Es war unheimlich, aber es war es auf eine faszinierende Weise. Es war wie beim Gewitter... auf der einen Seite wusste sie instinktiv genau, welche Gefahr von ihm ausging, auf der anderen Seite zog es sie unterbewusst in seinen Bann, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Das junge Mädchen schauderte kurz und wandte den Blick von ihm ab, den er nicht bemerkt zu haben schien, während sich auf ihre Wangen eine ungesunde Röte schlich. Sie hasste es... warum musste sie immer so verräterisch rot werden, wenn sie es wagte, an unanständige Dinge zu denken?

Unanständige Dinge... hüte dich, Neisa. Du bist noch keine richtige Frau... es ist für dich verboten bis du deine erste Blutung erlebt und das Ritual durchgestanden hast.

Sie fragte sich nebenbei, wer wohl für sie der erste Mann sein würde. Es war die Aufgabe ihres Vaters, einen geeigneten dafür auszuwählen... da es in Neisas Bekanntenkreis keine Männer gab, die nicht ihre Brüder oder Tayson waren (und der kam ja mal gar nicht in Frage, erstens war er dämlich und zweitens kein Schamane...), würde das sicher schwer werden. Sie schauderte abermals bei dem Gedanken, letzten Endes mit irgendeinem hässlichen Penner im Bett landen zu müssen – ihr Vater sollte sich ja Mühe geben, Himmel!

„Oh nein, ich werde ganz sicher nicht mit irgendeinem widerlichen, alten Knacker mein Ritual machen!“ empörte sie sich und merkte erst, dass sie laut gesprochen hatte, als Zoras ruckartig stehenblieb und sie fassungslos anstarrte.

„Moment mal!“ keuchte er, als sie ihn ansah, „W-was hast du denn für Gedankensprünge, eben waren wir noch bei der Umgebung!“

„Aber ich bin noch ein Mädchen.“, jammerte die Blonde, „Und wenn es soweit ist, soll es einer machen, der hübsch ist!“ Zoras stöhnte.

„Ist das nicht nebensächlich, so lange er dir nicht zu sehr wehtut? Ich habe dich für weniger oberflächlich gehalten.“

„Na, hör mal, würdest du gerne mit einer alten, faltigen, fetten Frau schlafen?“ Er seufzte.

„Um ehrlich zu sein hätte ich so eine derjenigen vorgezogen, die es wirklich gemacht hat.“ Sie blinzelte. Moment, was redete er da? Hatte ihn ein Ungeheuer zum Mann gemacht, dass er so frustriert darüber sprach? Karana war so angetan gewesen, als er aus Janami zurückgekehrt war... Neisa hatte geglaubt, allen Männern gefiele dieses traditionelle Ritual, immerhin war es für sie nicht schmerzhaft...

„Wirklich?“ stammelte sie so nur perplex über seine Antwort, „Das... das ist ja fürchterlich. Ich will keinen alten, faltigen, fetten Mann, der mich zur Frau macht!“

„Solange dein Vater fleißig genug ist, dir einen zu suchen und es nicht selber macht, sei froh...“ stöhnte er, und sie errötete und schnappte nach Luft.

„Wie bitte?! Mein Vater würde doch nicht mit mir schlafen!“

„Es gibt Männer, die tun sowas.“ Sie hüstelte. Ja, stimmte, da war ja Dasan Sagal. Zum ersten Mal fiel Neisa auf, dass es wirklich ekelhaft war, unter welchen Umständen ihre Freundin Niarih gezeugt worden war... Neisa verzog das Gesicht und schauderte wieder.

„In meiner Familie ist das verboten. Karana und Vati dürfen das nicht. Simu ist ja nicht mit mir blutsverwandt, aber... aber den will ich auch nicht, er ist riesig!“ Jetzt errötete ihr Begleiter und räusperte sich.

„Das... wollte ich jetzt nicht wissen.“

„Ja, wirklich, das ist beängstigend.“

Warum reden wir jetzt über Simus Penis? Warum reden wir überhaupt immer über Sex?!“ regte Zoras sich auf, „Wir sollten endlich weitergehen, d-das macht mich ganz verrückt!“ Das Mädchen zeigte ein dämonisches Lächeln, das sie gar nicht geplant hatte.

„Du hast recht, wie obszön. Vielleicht sollten wir uns gegenseitig inbrünstig die Kleider vom Leib reißen und uns aufeinander stürzen wie die Tiere, dann hört es sicher auf.“

Moment, was sagte sie da eigentlich? Das hatte sie nicht sagen wollen! Sie spürte einen stechenden Kopfschmerz und fasste stöhnend nach ihrer Schläfe, als Zoras sie schon mit offenem Mund anstarrte und kein Wort heraus brachte.

„Das... das... hast du nicht ernsthaft gesagt.“

„Ähm... nein.“

„Gut... ich... ich dachte schon, ich sehe Dämonen...“ Ein lautes Donnern aus dem Himmel ließ sie beide empor sehen und Neisa keuchte, als es schon wieder zu regnen begann. Das Wetter steigerte ihre Kopfschmerzen nur und zischend wandte sie sich ab, um Zoras verlegen den Rücken zu kehren. Was machte sie eigentlich? Wieso sagte sie Dinge, die sie nicht mal gedacht haben wollte? Irgendein tief in ihrem Inneren vergrabener Instinkt musste es gewesen sein... ein Instinkt, der sich so verboten vertraut anfühlte... und der sie irgendwie erregte, als sie länger daran dachte. Japsend schüttelte sie den Kopf, eilte dann an Zoras vorbei und weiter nach Norden – sie musste wirklich damit aufhören, das gehörte sich nicht für eine vornehme Dame... schon gar nicht für ein Mädchen wie sie.

Aus der Ferne ertönte ein weiteres Grollen und noch etwas anderes vernahmen die beiden jetzt aus südlicher Richtung; irgendwo in der Ferne raschelte das Gestrüpp auf unnatürliche Weise. Das Knacken von Zweigen am Boden war zu hören, auf die jemand oder etwas trat, und Zoras griff nach Neisas Arm, um sie etwas weiter nach Norden zu ziehen.

„Was ist das?“ keuchte das Mädchen perplex und der Schwarzhaarige zischte leise, ehe er seine Dolche aus seinem Gürtel zog.

„Keine Ahnung, aber wenn es jemand wagt, uns anzugreifen, kann der was erleben.“

„Tut deine Verletzung schon nicht mehr weh, die ich halbwegs geheilt habe?“

„Ich habe schon Schlimmeres erlebt, Neisa. Halt die Klappe, jemand kommt auf uns zu... und ich bin mir recht sicher, dass es ein Mensch ist.“ Neisa schauderte und trat hinter ihn; sie hatte keine Angst, sie war nicht alleine. Wenn es jetzt Loron war? Nein – es war sicher jemand anderes, jemand, der wie sie nach Norden wollte... vielleicht jemand aus ihrer Familie.

„Karana?!“ japste sie schon in der freudigen Erwartung, ihren Bruder bald zu sehen, als die Schritte eilig auf sie zu gehastet kamen und das Gestrüpp, durch das sie sich auch schon gekämpft hatten, bedrohlich zu rascheln und zu wackeln begann.

Alles würde gut sein! Wenn sie wieder bei ihrer Familie war, würde alles gut sein, diese bizarren Gedankensprünge und diese frevelhafte Erregung in ihr würden aufhören... oh ja, sie hoffte wirklich, dass es Karana wäre...
 

Zoras war nicht erpicht darauf, Karana schon wieder an der Backe zu haben. Erst recht nicht, wo er mit seiner Schwester hier war. Karana reagierte unnatürlich empfindlich darauf, wenn irgendjemand Neisa zu nahe kam... das galt insbesondere für ihn und Loron. Zoras konnte es ihm nicht verübeln... hätte er eine Schwester, würde er sie auch beschützen wollen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Karana so schnell wieder auf den Beinen sein und ihre Spur aufgelesen haben könnte... er war vollkommen außer Gefecht gewesen, als Zoras ihn in Lorana zum letzten Mal gesehen hatte. Wobei, vielleicht war diese schwarze Wildkatze, die ihn mitgeschleift hatte, ja Telepathin...? Er umklammerte nervös seine Waffen und stierte erbost nach Süden bis zu dem Moment, in dem sich das Gestrüpp vor ihnen wirklich teilte – heraus kam nicht Karana, dafür eine ganze Gruppe anderer Spinner.

„Moment... Simu?!“ platzte es schon aus Neisa heraus, und Zoras wusste nicht recht, ob er vielleicht vor Erleichterung stöhnen sollte, weil es nicht Karana war... Simu war friedfertig. Neisas blonder Bruder hatte nie jemandem ein Leid getan, soweit Zoras ihn kannte... vor dem hatte er wirklich nichts zu befürchten.

Ehe er weiter denken konnte, stürzte das Heilermädchen an ihm vorbei und hing im nächsten Moment an Simus Hals. Der blonde Mann umarmte sie mit derselben Erleichterung, sicher war er froh, sie lebend zu finden. Bei ihm erkannte Zoras eine junge Lianerin und erstaunlicher Weise Asta Zinca... was hatte die denn hier verloren?

„Zoras!“ schnappte sie da auch schon, und er hustete und zeigte auf die junge Frau.

„Was hast du mit deinen Haaren angestellt, du siehst ja zum Schießen aus!“

„I-ich bin weggelaufen!“ jammerte Asta, „Bitte bring mich nicht wieder nach Holia... ich hatte seit Tagen schon diese Angst, wenn wir dich endlich einholen... bitte lass mich fort gehen!“

„Jetzt mal langsam.“, stöhnte der Schamane und sah das apathische Lianermädchen blöd an, das aussah, als wäre es bekifft, betrunken oder hypnotisiert, und sich nicht vom Fleck rührte. „Wer ist denn das?“

„Ich habe keine Ahnung, sie heißt Eneela, sie ist wohl eine Freundin von Simu... ich habe die beiden getroffen, als ich aus Holia weggelaufen bin, und netterweise wollen sie mich nach Yiara mitnehmen... weiter weg kann ich ja wohl momentan schlecht von Kamien!“ Zoras musterte Lorons Schwester zweifelnd.

„Du bist ja barfuß, frierst du nicht an den Füßen?“ murmelte er beunruhigt und sie schüttelte heftig den Kopf.

„M-mir geht es... gut... ich wusste nicht, dass du dich um mein Wohl sorgst...“ Er seufzte.

„Tue ich auch nicht wirklich...“ Er wurde von Simu und Neisa unterbrochen, die ihre Begrüßung wohl beendet hatten und sich jetzt zu ihm drehten. Ehe Neisa etwas sagen konnte, sprach ihr Bruder ein wenig verstimmt.

„Sprich, Zoras. Was sollte das hier werden, wenn es fertig ist?“

„Ich wollte deine Schwester ihrer Familie nach bringen in Richtung Yiara, das ist alles. Aber da du jetzt schon hier bist, darfst du gerne den Rest übernehmen, dann kann ich nämlich zurück.“ Der Blonde schwieg eine Weile und wirkte nur mäßig überzeugt.

„Erst fackelst du unser Dorf ab – und ein Dutzend andere davor – und dann willst du plötzlich heldenhaft meine Schwester retten? Hat dir jemand ins Gehirn gehustet oder woher der Sinneswandel?“

„Du hast Lorana angezündet?!“ schrie Neisa schon schrill, sodass Asta und die Lianerin zusammenfuhren, und Zoras zischte.

„Ich hatte keine Wahl, Neisa, ich wollte nicht, dass Arlon meiner Mutter die Kehle aufschneidet, verdammt! Das haben wir doch schon geklärt!“

„Nicht, dass du das Feuer gelegt hast!“ keuchte sie und Simu brummte sie an.

„Wer soll das denn sonst gemacht haben, denkst du, Arlon macht einen Regentanz und beschwört zufällig einen Blitz?“ Sie schnappte erbleichend nach Luft und der Schwarzhaarige schenkte ihrem Bruder einen bohrenden Blick.

„Was immer ihr denkt. Ich habe Neisa nichts angetan und hatte es auch nicht vor. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich werde nach Kamien gehen und meine Mutter holen. Gehabt euch wohl.“

„Warte!“ rief Simu, als der Schamane seine Dolche einsteckte und sich von ihm abwandte, „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Woher der Sinneswandel?“

„Loron wollte sie ficken, da dachte ich, das verdient sie nicht, und habe sie mitgenommen.“, seufzte er, „Reicht das?“

„Ist das wahr, Neisa?“ hörte er Simu fragen und das Mädchen antwortete irgendetwas, was Zoras murrend ignorierte.

„Ist das Kreuzverhör jetzt beendet?!“ zischte er, „Kann ich jetzt gehen?“

„Hast du zufällig Karana gesehen, als du in Lorana warst?“ fragte Simu ungeniert weiter, „Er ist nämlich verschollen...“

„Keine Ahnung, wo er ist. Glaub mir, das ist das Letzte, was mich interessiert.“ Zoras wandte sich noch einmal um und sah Neisa an, vor der er den Kopf neigte. „Lebe wohl, Neisa. Und pass in Zukunft etwas auf deine Zunge auf, du redest viel Unsinn, wenn der Tag lang ist.“ Sie zischte nur, offenbar noch immer erbost über das Feuer, aber er drehte sich schon ab und nickte Asta zu. „Dich werde ich wohl nicht wiedersehen. Leb du auch wohl... ich wünsche dir ein besseres Leben. Das hast du verdient, Asta.“ Er tätschelte ihr den Kopf und die Frau errötete heftig, ehe sie den Kopf neigte.

„Du wirst mich nicht verpetzen bei meinem Vater?“

„Davon hätte ich nichts, sei also unbesorgt. Ich habe dich... nirgends gesehen.“ Er wandte sich auch von ihr ab, seufzte noch einmal und machte sich dann an den langen, beschwerlichen Rückweg. Es war ein komisches Gefühl, so plötzlich die Richtung zu wechseln... eben war er noch mit Neisa nach Norden gegangen. Er hoffte, dass Pakuna wohlauf war...

„Zoras!“ rief Simu ihn noch einmal, als er schon zehn Schritte getan hatte, und der Magier drehte abermals sein Gesicht herum, um Neisas Bruder anzusehen. Der Blonde verneigte sich knapp. „Ich danke dir, dass du... meiner Schwester geholfen hast. Ich spreche auch im Namen meiner Eltern, du hast was gut bei uns.“

„Nein, wir sind quitt!“ sagte Neisa barsch und Zoras schauderte, als ihn der Blick aus ihren tödlichen, verbiesterten Augen traf. Sie war wirklich sauer... „Er hat unser Dorf zerstört, erinnerst du dich? Das hast du... vielleicht wett gemacht. Jetzt sieh zu, dass du verschwindest.“ Der Schwarzmagier musste kurz grinsen. Ja... das wollte er ja schon die ganze Zeit.

„Mit Vergnügen tue ich das, Prinzessin Neisa.“, waren seine kaltherzigen, letzten Worte an sie, ehe er ihr seinen verunstalteten Rücken kehrte und sie, Simu, Asta und die schweigende Lianerin hinter sich zurück ließ.

Auf in den Schatten des Südens zurück... ins Land des Verderbens, das er so hasste.
 


 


 

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Simu hat den Penis of doom! xD

Pflichten

Puran Lyra war eigentlich ein imposant wirkender Mann, er hatte viel Macht und Ansehen im Lande Kisara; er war kein Tyrann und es niemals gewesen, aber man konnte ihm seine Autorität normalerweise aus dem Gesicht lesen und erkennen, dass er eine Person von hohem Rang und mit großem Einfluss war. Im Moment hatte er nichts mehr übrig von seinem Stolz und seiner Autorität und glich mehr einem eingefallenen Greis, plötzlich scheinbar um Jahrzehnte gealtert und mit einem Bein im Grabe. Eigentlich waren seine Beine auf der Erde, während er auf einem Schemel hockte, der im Foyer des Senatsgebäudes von Taiduhr stand... es fühlte sich eher an, als stünde er samt dem Schemel irgendwo im Abgrund einer bodenlosen Finsternis, die jetzt über ihn hereinbrach und nicht zulassen wollte, dass er jemals wieder Fuß fasste in der Welt der Lebenden. Vor seinen Füßen stand Dasan Sagal auf seinen edel verzierten Gehstock gestürzt, an seiner Seite seine Tochter Chitra, die im Übrigen nicht besser aussah als ihr Vater oder der Senator im Moment.

„Lorana ist an die Horde gefallen.“

Der Satz war so simpel gewesen, den Sagal gesagt hatte, als er das Senatsgebäude betreten hatte; und er war nicht überraschend gewesen. Puran hatte das Schicksal seines Heimatdorfes bereits von den Geisterstimmen erfahren gehabt, während er noch mit den anderen Senatoren debattiert hatte, was sie am besten tun sollten, um die Halunken aus Kamien aufzuhalten ganz zu schweigen von der nahenden Bedrohung durch Ela-Ri. Und dennoch hatte es ihm so einen Schlag versetzt, die Worte noch einmal aus dem Mund eines Sterblichen zu vernehmen... seit Jahren, seit Karanas Geburt hatte er diesen Ort seine Heimat genannt, und er hatte es immer gern getan... jetzt daran zu denken, nie wieder in Lorana zu wohnen, schmerzte irgendwie. Dabei hatte er gar keine Zeit, zu trauern...

„Die Verluste sind erstaunlich gering.“, versetzte Dasan Sagal vor ihm und klopfte gedankenverloren mit seinem Gehstock auf den Boden, „Aber es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden. Habt Ihr mit dem Senat gesprochen?“

„Die übrigen Männer kümmern sich um die Provinz. Meine Aufgabe ist es wie immer, nach Vialla zum König zu fahren, und das so schnell wie möglich...“, murmelte der Senator ermüdet, „Ich kann nur... nicht aufstehen... es ist, als würde mich Loranas Verlust auf den Boden drücken wollen... ich hätte da sein sollen. Ich hätte... meine Familie und meine Heimat beschützen sollen.“

„Ihr habt getan, was Eure Pflicht ist, Herr.“, sagte der alte Telepath dumpf, „Ich habe meine Späher ausgeschickt, die erledigen dann den Rest – also, die, die noch übrig sind nach den Angriffen der schwarzen Vögel, heißt das.“ Puran stöhnte.

„Schwarze Vögel...?“

„Die Bestien, die meine Grenzposten nieder gerissen haben. Darauf hätte ich gefasst sein sollen... Ihr seid nicht der Einzige, den die Geister an der Nase herumführen wollen, Herr. - Steht auf, rasch. Chitra und ich begleiten Euch zum Palast in Vialla, wenn es recht ist, per Teleport geht es auch schneller als per Kutsche. Ich fürchte, der Radau in Thalurien wegen der Männer aus Kamien ist ein kleiner Staubwirbel verglichen mit dem Wirbelsturm, der uns... aus dem Osten droht.“

Der Herr der Geister hob das Gesicht wieder und schenkte erst dem inoffiziellen Herrscher der Provinz und dann seiner Tochter einen Blick. Chitra sah verstört aus...

„Habt Ihr was gehört von Ela-Ri?“

„Ich habe ein schlechtes Gefühl. Und ein Gefühl, dass wir jetzt in Vialla am besten aufgehoben sind. Hier gibt es nichts, was Ihr tun könnt, und wenn wir nicht wollen, dass es bald die Streitmacht von Ela-Ri ist, die die Barbaren aus Kamien von hier verjagt, sollten wir uns beeilen.“ Der Telepath sah jetzt zu seiner jüngsten Tochter, die zusammenfuhr und das Gesicht keuchend wegdrehte. „Sieh mich an, Tochter. Jetzt.“

„Meine Niarih... ist verschwunden...“, stammelte die Heilerin und Puran fuhr von seinem Schemel hoch, um sie erschrocken anzustarren, und ihr Vater gab ein herzloses Zischen von sich.

„Wir finden das Mädchen. Das habe ich dir versprochen. Die Geister würden mich nicht derart betrügen mir zu verschweigen, wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Ich bin sicher, sie ist wohlauf... wir können sie jetzt nicht suchen, Chitra.“

„Dann verurteilst du meine Tochter zum Tode...“, keuchte die Heilerin zitternd, „Wo immer sie ist, sie ist sicher allein oder in der Gefangenschaft dieser Bastarde...“

„Niarih ist Telepathin und sie ist nicht dumm.“, erklärte der Vater in aller Ruhe und Puran sagte sich, es wäre besser, zu schweigen und sich da nicht einzumischen. Ja, sie war Telepathin... und sie war begabt, wie ihr Vater es war, der niemals öffentlich zugeben dürfte, dass er ihr Vater war. „Sie ist am Leben und sie wird wohlauf sein, Chitra. Nimm meine Hand... je schneller wir nach Vialla kommen, desto besser.“ Chitra zitterte, als sie tat, wie ihr geheißen, und der Herr der Geister schenkte ihr einen dumpfen Blick und seine Anerkennung für ihre Tapferkeit. Sie wich seinem Blick schweigend aus und senkte das Gesicht wieder, während sie unruhig nach Luft schnappte.

„Was ist mit Eurer Familie, Senator...?“, wisperte sie dann, „Sind Eure Frau und Eure Kinder in Sicherheit...?“

„Das hoffe ich stark... ich habe sie nach Yiara zu meiner Cousine geschickt, ehe ich ging. Ich hoffe, sie sind rechtzeitig weggekommen... ich werde... die Geister wohl um Gnade bitten müssen, wenn ich nachher mit ihnen spreche.“

„Tut mir einen Gefallen.“, sagte Sagal zu ihm, als Chitra schwieg, und der Senator blickte den Älteren schweigend an, als dieser unschlüssig den Blick senkte, dann wieder aufsah und leise seufzte. „Bittet für meine... Enkelin mit, wenn Ihr schon dabei seid.“
 

Vialla war die Hauptstadt des Zentralreiches, nicht nur des Landes Kisara. Dementsprechend pompös und mächtig waren die Mauern, die Straßen, der Palast des Königs und selbst die Tore. Puran war oft in Vialla als Vertreter aller möglichen Räte im Senat des Königs, und dennoch vermittelte der Anblick der Stadt noch immer eine faszinierende, schützende Macht... im Krieg gegen Zuyya hatte Vialla alle Angriffe überstanden und war eine uneinnehmbare Festung gewesen. Er konnte nur beten, dass die Brandung aus dem Osten nicht die vom letzten Krieg noch etwas bröckeligen Mauern niederreißen würde...

Der König von Kisara war untröstlich über die Lage in seiner westlichen Provinz Thalurien. Er hatte keine Probleme damit, mitten in der Nacht durch den überraschenden Besuch seines Vertreters aus jener Provinz und des alten Sagal aus dem Bett gescheucht worden zu sein. Das war das Praktische daran, dass der kleine Monarch so begeistert von Magiern war; er war garantiert nie böse, solange Puran es war, der ihm die schlechten Nachrichten brachte.

„Fürchterlich!“, kommentierte er das gerade, während er in seiner Schlafkleidung durch seinen Thronsaal tigerte, sich die ergrauten Haare raufte und dann irgendetwas Unverständliches vor sich hin murmelte, während Senator Lyra nebst Sagal und dessen Tochter mitten im Raum herum stand und nicht wagte, sich viel zu bewegen. „Meine Herren, ich weiß nicht, wohin ich mich hier wenden soll!“, meckerte der König, „Da kommen die einen Säbel rasselnd aus dem Osten, dann kommen die nächsten aus dem Westen und schwingen ihre Knochenkeulen, sagt einmal, Senator Lyra, haben sich denn alle guten Geister gegen uns verschworen?!“

„Ich muss zu meiner Schande gestehen, mein König, dass ich in den letzten Tagen etwas erfolglos war mit den Gesprächen... ich habe versucht, die Himmelsgeister zu besänftigen, aber alles, was ich zu hören bekomme, ist das Ende der Welt.“ Er murmelte kleinlaut vor sich hin, während der Monarch weiter vor ihm hin und her eilte: „Ganz zu schweigen von der lüsternen Seherin aus Fann, die mir mit ihren elenden Blicken die Hosen vom Leib reißen will...“

„Was?“, machte der König, da plötzlich hellhörig, und Puran errötete perplex, als der kleinere Mann sich zu den dreien aus Thalurien umdrehte, „Ihr habt die Seherin gefunden? Ich habe sie suchen lassen am Nachmittag...“

Sie hat mich gefunden, Majestät. Eigentlich bin ich aber nicht schlauer als vorher geworden.“

„Und wo habt Ihr sie jetzt gelassen? Oh nein, sie ist doch nicht in Lorana verbrannt? Das wäre ja ein Jammer, ich habe gehofft, von ihr vielleicht noch genauere Details über unsere Zukunft erfahren zu können – meine Herren, wir stecken bald im nächsten Krieg, und ich bin mir nicht sicher, ob dieser nicht fürchterlicher wird als der gegen das zuyyanische Imperium... normalerweise fürchte ich die Zuyyaner ja mehr als die Ostländer... jetzt bin ich mir aber nicht mehr so sicher. Ich habe wahrlich grausliche Geschichten gehört über die Herrscher des Ostreiches und über die monströse Streitmacht, die Dhimorien zerschlagen hat...“ Puran Lyra seufzte.

„Ich weiß leider nichts über den Verbleib der Seherin, aber... bei allem gebührenden Respekt, mein König, ich weiß auch nicht, ob ihre Worte uns... wirklich helfen könnten jetzt.“ Dieser esoterische Kram mit dem Wahrsagen hatte ihn noch nie wirklich fasziniert – die Tatsache, dass Ryanne der Yalla nicht nur eine dämliche, kostümierte Hochstaplerin war, sondern eine wahrhaftige Seherin mit einer mächtigen Gabe, tat hier wenig zur Sache... sie verlor ja ohnehin immer dann, wenn es spannend wurde, ihr Gedächtnis. Er wusste immer noch nicht wirklich etwas über die Sieben, von denen sie gesprochen hatte...

„Was machen wir jetzt, Majestät?“, hörte er dann Sagal neben sich fragen und schrak aus seinen Gedanken, als der Monarch vor ihnen zum Stehen kam, sich abermals die Haare raufte und dann seufzte.

„Wenn ich das wüsste, Herr...“

„Wenn ich mir erlauben darf, das einzuwerfen, so fürchte ich, mein König, dass die Bedrohung aus dem Osten die weitaus größere sein wird. Schatten bringen... die Geister in meinen Träumen, wenn sie vom Ende der Welt sprechen. Sagal hat zu mir gesagt, er würde den Politikern in Thalurien unter die Arme greifen und die Meute aus Kamien verjagen. Worum Ihr Euch kümmern solltet, Majestät, ist, die Grenzen zu sichern. Überdies wäre ein Kurzschluss mit unseren Verbündeten im Reich gut, für den Fall, dass Ela-Ri tatsächlich angreift, wäre es von Vorteil, wenn wir uns zusammentun.“

„Um Himmels Willen, Senator Lyra!“, jammerte der König entsetzt, „Sie haben Dhimorien plattgewalzt, ehe jemand eine Chance hatte, sich zu wehren!“

„Dhimorien ist auch etwas mittelloser als wir es sind.“, behauptete Puran scharf, „Ich bedaure Dhimoriens Fall, aber ich fürchte, die Zeit, den Kopf in den Sand zu stecken, haben wir jetzt nicht, mein König. Wenn wir uns rasch genug wappnen, haben wir vielleicht eine Chance.“ Er warf einen Blick auf Sagal, der ihn offenbar in Gedanken unterstützte, als er den Blick flüchtig erwiderte.

„Wenn ich mich einmischen darf, Majestät.“, sprach der Telepath darauf ernst, „Ihr wisst um meine Kontakte, sie sind eben überall und für solche Zeiten ist das schließlich gut. Lasst mich Botschaften senden nach Janami, nach Senjo und nach Intario; wenn die vier großen Länder des Reiches sich zusammentun, können wir dem Schattenreich vielleicht die Stirn bieten, Majestät.“ Der König musterte ihn und nickte dann.

„Das klingt mir einleuchtend. Was wird aus den kleineren Reichen wie Kuyala und Westfann?“

„Sie sollten auf jeden Fall in Kenntnis gesetzt werden von dem Unheil, das droht.“, murmelte Puran Lyra dumpf, „Sie sind am dichtesten am Ostreich dran... ganz zu schweigen von Ostfann, das direkt an Westfann grenzt. Die Grenze von Sul-Mirr sollte besonders scharf bewacht werden.“

„In der Tat.“ Mit diesen Worten schritt der Herrscher erhobenen Hauptes an den Besuchern vorbei zur Tür und öffnete sie rasch. „Wachen!“, rief er laut, „Rasch! Schickt nach dem Heerführer, er soll noch vor Sonnenaufgang Befehle in die provinzialen Hauptstädte schicken, wir müssen unsere Streitmacht zusammentrommeln! In Dobanjan und Noheema sollen sie besonders die Grenzen bewachen. - Sagal, am besten brecht Ihr umgehend auf und sendet Eure Botschaften in unsere Nachbarländer. Und Ihr, Senator Lyra, solltet Euch mit Euren Kollegen, den Geisterjägern, zusammensetzen; ich denke, ich werde Euren versammelten Rat hier bitter nötig haben in diesen schwarzen Stunden.“ Der Senator verneigte sich ehrfürchtig, als der Monarch aus dem Saal schneite und draußen nach seinen Ministern rief.

Ja, dass der Rat einberufen werden musste, war unvermeidbar. Puran seufzte resigniert und raufte sich ermüdet die braunen Haare, ehe er sich an Sagal wendete, der noch zur Tür starrte, aus der der König gerade verschwunden war. An ihm klammerte noch immer die bebende, blasse Chitra. Sie sah furchtbar aus...

„Wollt Ihr aufbrechen, Herr? Ich bin sicher, dass für die Sicherheit Eurer Tochter hier im Palast gesorgt wird. Kann ich von Euch einen Gefallen erbitten, wenn Ihr Botschaften nach Janami schickt...?“ Der Telepath räusperte sich kurz und wand sich dann aus dem Griff seiner jüngsten Tochter, die den Blick zu Boden senkte und erzitterte.

„Sprecht nur.“

„Bringt mir Saidah. Und richtet ihr am besten sofort aus, dass sie die anderen benachrichtigen soll... sie ist hier die Botschafterin.“ Dasan Sagal verneigte sich ehrfürchtig und hinkte dann mit seinem Gehstock ebenfalls zur Tür.

„Dann werde ich tun, wie Ihr verlangt. Ich habe sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen... die Erbin der Chimalis und Herrin... der Schattenvögel.“
 

Der Herr der Geister hatte die schöne Tochter seines verstorbenen besten Freundes auch eine Weile nicht mehr gesehen. Da sie aber Mitglied im Rat der Geisterjäger war und der Rat sich viermal im Jahr traf, sah er sie vermutlich öfter als Sagal es tat. Und obwohl Puran Saidah seit dem Tag ihrer Geburt kannte, konnte sie ihn immer noch zu Tode erschrecken, wenn sie plötzlich aus dem Nichts bei ihm auftauchte, wie sie es am folgenden Morgen unverhofft tat. Da der König so gejammert hatte und nicht hatte zulassen wollen, dass der Senator großartig von seiner Seite wich, hatte er ihm prompt Gemächer im Palast herrichten lassen, ebenso im Übrigen der armen Chitra; der Mann war kaum halb angezogen, als die Tür des Schlafzimmers plötzlich ohne Vorwarnung aufsprang und seine Kollegin schon im Türrahmen stand.

„Du bist noch im Bett?“, fragte sie wenig beeindruckt, während er hüstelte, „Na, dann aber rasch, du bist ja genauso ein fauler Langschläfer wie dein vermaledeiter Sohn, den ich unterrichtet habe. Und da beeile ich mich extra. Aber einen schönen guten Morgen, Puran.“ Der Senator schnaufte, während er seine Hose zuknöpfte und nach seinem Hemd angelte, während er es bereute, keine Wechselkleider von daheim mitgenommen zu haben.

„Wie kommst du bitte hierher, Saidah?!“

„Du hast vergessen, die Tür abzuschließen. Naiv von dir, ich hätte jetzt auch ein Attentäter sein können. Dir trachten sicher viele Männer nach dem Leben, weil du der allerliebste Liebling des Königs bist...“ Puran errötete genervt.

„Attentäter? Na, wenn mein Mörder so aussieht, lohnt es sich ja beinahe schon.“ Er knöpfte sich das Hemd zu und eilte an ihr vorbei ins Badezimmer, das an das Schlafgemach angrenzte. „Vergib mir, dass ich noch nicht so früh auf den Beinen war wie du offenbar, ich habe gestern mein Heimatdorf verloren und meine Familie irrt durch die Pampa auf dem Weg zu meiner Cousine. Ich sehe absolut scheiße aus und meine Haare sind eine Katastrophe, also halt einmal die Luft an, junge Dame, bevor du anfängst, mich zu tadeln.“ Er sah aus den Augenwinkeln, dass sie gluckste, während er im Bad begann, seine Haare zu richten, oder es zu versuchen.

„Ich habe Sagals Anweisung befolgt und bin so schnell wie möglich gekommen.“, versetzte sie, „Und so dankst du mir das nun? - Soll ich einen Jungen nach Haarwachs schicken lassen?“

„Nein... obwohl... ach, nein, Himmel. - Sagal, ah, ja, dann hat er dich erreicht. Hast du den anderen Botschaften geschickt?“

„Natürlich.“, sagte die Frau und er sah sie flüchtig an, während sie sich auf den Bettrand fallen ließ und neben sich etwas sehr langes, schmales, das in ein Stofftuch eingewickelt war, auf den Boden legte. „Ich denke, heute Mittag müssten alle hier eintreffen, ich habe gesagt, sie sollen sich teleportieren lassen, wir haben in der Tat wenig Zeit.“

„Sehr schön, ich danke dir, meine Liebe. Dann hast du dich auch teleportieren lassen von Minh-În aus? Es ist unmöglich, so schnell von da nach hier zu kommen... man fährt mehrere Tage, Himmel!“ Er gab es fürs Erste auf, seine Haare bändigen zu wollen, und kehrte zu ihr zurück ins Zimmer, um sie kurz zu mustern. Sie trug ihre langen, schwarzen Haare zu einem komplizierten Zopf geflochten, er hatte noch nie so richtig verstanden, wie Frauen das mit ihren Haaren machten... Er hatte wenig Zeit, sie genauer zu betrachten, obwohl er es an sich immer gerne tat, wenn er sie sah. Saidah war von dem niedlichen, zierlichen Mädchen, das sie einmal gewesen war, zu einer bildschönen, jungen Frau herangewachsen. Mit ihren knapp über zwanzig Sommern war sie die Jüngste im Rat, aber sie war definitiv begabt. Ihre Familie war ein Clan seit jeher angesehener und gefürchteter Schamanen, deren Furchtsamkeit und Macht sie im Blut hatte; und sie war die letzte Tochter des Chimalis-Clans... die letzte Person auf Tharr, die die Macht über die Geister der Aasgeier besaß.

„Du bist hübsch geworden.“, sagte er dumpf, während er sie betrachtete, und sie musste leise kichern.

„Du tust, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Schleimer.“

„Aber es ist doch schon fast ein Begrüßungsritual, dass ich das sage und im Anschluss wie jedes Mal anmerke, dass du deiner hübschen Mutter ähnelst.“

„Soll ich mich gleich ausziehen und die Beine breit machen oder wollen wir erst mal Kaffee trinken?“ Er hustete empört.

„Saidah! Hüte deine Zunge, ich bin dein Vorgesetzter und außerdem älter als du, rede keinen Blödsinn!“ Sie gluckste offenbar amüsiert über seine Aufregung und schenkte ihm ein familiäres Lächeln.

„Ist doch schon gut, Vatilein. War doch nur Spaß. Du bist ja nicht Karana.“ Er seufzte und senkte den Blick, als sie ihn Vater nannte. Das tat sie mitunter, wenn sie alleine waren... es ehrte ihn, wenn sie so sprach. Dabei war ihr wirklicher Vater ein sehr viel weiserer, wundervollerer und besserer Mann gewesen als er selbst es war... Puran vermisste ihn schrecklich, wenn er jetzt daran dachte.

Sein Blick fiel auf das komische, lange Ding zu Saidahs Füßen am Boden.

„Was ist das eigentlich?“, wollte er wissen, „Ein Besenstiel?“

„Du wirst im Staub kriechen vor Demut, wenn du es siehst.“, sagte sie prompt, „Besenstiel! Das, mein lieber Puran, ist mein Familienerbstück. Ich habe die letzten drei Jahre damit verbracht, danach zu suchen, tatsächlich gefunden habe ich sie in einem Kuhkaff im Osten von Janami. Du weißt, das Studium der Geschichte meiner Ahnen beschäftigt mich ziemlich... das hier ist tatsächlich ein Durchbruch. So in der Art...“ Während sie sprach und er sie nur nichts verstehend anstarrte, hob sie das Objekt vom Boden auf und wickelte den Stoff ab, um eine Waffe zu Tage zu fördern; eine lange, messerscharfe und blitzblank polierte Klinge, die an einem in der Tat monströs langen Stab befestigt war. Der Mann zog die Brauen hoch bei diesem Anblick.

„Du lieber Himmel!“, rief er aus, „Das – das ist ja riesenhaft, welchen Bären willst du denn damit erstechen?! Ich habe noch nie einen solchen Speer gesehen – irgendwie ist es mehr schon ein Schwert... am Stiel...“ Sie schnaufte.

Hellebarde, wenn ich bitten darf. Das ist eine Hellebarde, Puran. Kein Speer.“

„Vergib mir, ich kenne mich mit Waffen nicht so aus, ich beherrsche bloß Schwerter.“

„Sagal war weniger überrascht als du.“, räumte sie mit einem kurzen Blick auf die Waffe ein, „Nun, du wirst dich in der Geschichte meines Clans wohl auch wenig auskennen. Das ist nicht irgendeine Hellebarde. Es ist die legendäre Hellebarde von Yamir, die einer meiner Vorfahren vor über dreihundert Jahren erschaffen hat. Sie war lange im Schatten verschollen... und jetzt habe ich sie von dort wieder zurück ans Tageslicht gefördert.“ Sie senkte den Kopf und murmelte dumpf: „Das hat mich... etwas Arbeit gekostet.“ Puran blinzelte und sah abwechselnd die Frau und das Ding in ihren Händen an.

„Hellebarde? Das ist ja fürchterlich – Familienerbstück also? Meoran hat nie davon gesprochen... woher weißt du denn dann davon?“

„Mein Vater mag sie nie erwähnt haben, aber gekannt hat er sie auch. Glaube mir, jede Generation meiner Vorfahren nach besagtem Yamir hat nach diesem Ding gesucht. Sie ist mächtig... es ist ein Magiemedium, das bedeutet, ein Magier kann seine Magie auf sie übertragen und mit ihr die Macht seiner Zauber enorm verstärken. Das gilt nicht nur für die physischen Zerstörer, Puran... dieses Medium hat Einfluss auf die Geister von Himmel und Erde.“ Er räusperte sich bestürzt.

„Willst du mir meinen Posten als Ratsführer streitig machen oder warum strebst du... auf einmal nach so viel Macht?“

„Eigentlich hatte ich vor, Karana damit zu verprügeln, wenn ich ihn das nächste Mal sehen sollte.“ Er hustete.

W-wie bitte?! Ich dachte, ihr beide wärt ein Herz und eine Seele gewesen, als er bei dir war... wenn du verstehst, was ich meine...“

„Oh, ja. Und das ist ja das Problem. Du weißt genau, warum er und ich niemals ein Liebespaar sein dürfen. Dummerweise hast du wohl vergessen, das deinem halbwüchsigen Sohnemann zu erzählen, und für den Fall, dass er mich nicht versteht, kann ich ihm jetzt eins über die Rübe hauen.“ Der Senator seufzte theatralisch.

„Jetzt führst du dich auf wie eine übers Ohr gehauene Ehefrau, die bemerkt hat, dass ihr Mann fremdgeht. Wer sagt, dass du ihm demnächst begegnen solltest?“ Ihr Blick wurde jetzt erstaunlich ernst; aber was ihn mehr beunruhigte als das war, dass auch ihre Stimme denselben Argwohn mit sich führte... einen Argwohn, den er selten an ihr erlebte.

„Die Geister sagen das. Und ich fürchte mich vor der Begegnung... weil Karana denken wird, es wäre gut, wenn wir uns sehen. Und das... ist es definitiv nicht.“
 

Die Geister von Himmel und Erde waren launisch. Puran war an ihre Launen gewöhnt... selbst er als Herr der Geister brauchte ein gewisses Maß an Überzeugungskraft, um sie zum sprechen zu bringen... aber im Moment war es mehr der Schatten, der aus dem Südosten herauf zog, der sie alle beunruhigte. Der Himmel war verhangen im Süden... es war nichts Gutes, was auf sie zukam. Plötzlich wünschte der Senator sich die komische Seherin aus Fann zurück – solange sie ihr Gedächtnis nicht verlor, konnte sie vielleicht nützliche Dinge erzählen, die sie alle tangierte. Und sie wusste eine Menge... das spürte er instinktiv. Sie wusste um den Schatten... und sie wusste, was dem Zentralreich bevorstand.

„Der König von Ela-Ri ist Schamane wie Ihr und ich. Und er ist ein furchtbarer Schamane, er kann die Geister von Himmel und Erde zu seinen Knien zwingen, wenn ihm danach ist... das flüstern die Himmelsgeister in meinen Träumen. Ich habe ihn gesehen. Er ist groß und furchtbar. Er wird kommen und Euer... Schicksal wird er besiegeln... Puran Lyra, Erbe des Ruferclans.“
 

Und er wird kommen und mein... Schicksal besiegeln. Und dann kommt... das Ende der Welt.
 

Puran Lyra fasste stöhnend nach seinem Kopf, während er die Ellenbogen auf dem hölzernen, edlen Tisch vor sich abstützte. Das Ende der Welt... davon träumte er schon so lange. Immer wieder, sprachen die Geister davon... er fragte sich, ob Ela-Ri das Ende der Welt bringen würde...

„Schläfst du ein? Wir können den Rat auch morgen halten, wenn es dir lieber ist!“

Er fuhr aus seinen Gedanken hoch und warf einen mürrischen Blick in die Runde seiner Kollegen, die vor ihm am Tisch saßen. Der Mann, der gesprochen hatte, schenkte gerade allen gut gelaunt Wein in Gläser ein.

„Was...? Nein, schon in Ordnung, Neron. Vergib mir, mir geht das nur alles etwas zu rasch gerade.“

„Trink ein Weinchen mit uns, das muntert auf. Der ist gut, der kommt aus Janami!“, erwiderte sein schwarzhaariger Kollege grinsend und schob ihm ein Glas über den Tisch, „Wenn wir ja sowieso alle draufgehen, können wir ja vorher noch die guten Seiten des Lebens auskosten, oder nicht?“

„Idiot.“, schimpfte die blonde Frau neben ihm und linste ihn an, „Und wer versorgt dann unsere Kinder, wenn du sturzbetrunken auf der Straße einschläfst? Ich hoffe, hier im Palast sind sie erst mal gut aufgehoben.“ Puran schenkte ihr einen blöden Blick.

„Ihr habt eure Kinder mitgebracht?“

„Nun, die Zeichen stehen schlecht.“, erwiderte der Mann namens Neron und nippte zufrieden an seinem Glas, „Wir werden... vermutlich nie wieder nach Skelrod zurückkehren, denke ich. Wenn der König uns schon jetzt alle zusammentrommelt, bevor es richtig losgeht... der schiebt sicher Panik, oder, Puran?“

„Natürlich tut er das, ich tue das auch, mein Heimatdorf ist in Schutt und Asche gelegt, meine Familie rennt durch das ganze Land nach Yiara, aus dem Westen kommen die Hurensöhne aus Kamien und aus dem Osten kommt der Schatten von Ela-Ri. Nenne mir einen Grund, jetzt keine Panik zu schieben, Neron.“

„Na ja, hier in Vialla sind wir ja relativ sicher. Nicht mal die Zuyyaner haben die Mauern einnehmen können.“

„Und warum war das so?“, mischte sich der nächste Kollege am hinteren Ende des Tisches ein, den darauf alle ansahen, „Weil wir, die Geisterjäger, fröhlich in erster Reihe gestanden und alle Zuyyaner erschlagen haben. - Sind wir jetzt etwa aus einem anderen Grund hier, oder was? Kannst du deinem Lieblingskönig nicht mal erklären, dass wir nicht seine Sterbestatisten sein wollen, Puran?“ Der Herr der Geister zischte kurz.

„Und wenn es so wäre. Dann ist es unsere Pflicht, das hier ist unser Heimatland. Willst du das bestreiten, Emo?“

„Keinesfalls, großer Häuptling...“, feixte der Angesprochene und gluckste amüsiert über die Aufregung; und Puran spürte wie jedes Mal, wenn er diesen Hanswurst sehen musste, das Verlangen, ihm einfach mal alle Zähne auszuschlagen, damit ihm sein dämliches Grinsen verging. Er verabscheute den Kerl einfach... er sparte sich jetzt einen Blick in Saidahs Richtung, weil er genau wusste, dass sie in diesem Punkt seiner Meinung war. Aber Henac Emo war Mitglied des Rates... vor den Augen der Himmelsgeister hatte er erfolgreich die Prüfung bestanden, die ihn dazu gemacht hatte, schon bevor Puran zum Rat gestoßen war. Sie konnten ihn nicht einfach raus werfen, nur, weil ihn keiner leiden konnte. Er war eine arrogante Nervensäge... Puran versuchte manchmal, sich damit das Gewissen rein zu reden, dass die Geister ihn nicht zu dem gemacht hätten, was er war, wenn er absolut unnütz und abgrundtief schlecht wäre. „Aber vom Ende der Welt träumen wir... alle, oder? Das hat selbst mein Großvater schon getan. Jetzt wird es Zeit... und ich empfinde es als reine Zeitverschwendung, ein Reich zu retten, das auch so untergehen wird.“

„Wenn man es so betrachtet, ist es auch völlig sinnlos, Kinder zu bekommen, sie sterben ja auch eines Tages.“, schnarrte Saidah in die Richtung des älteren Mannes und der grinste gehässig.

„Ah, schön, dass du so denkst, da du ja sowieso nie welche bekommen wirst. Praktisch, Prinzessin.“

„Nenne mich nicht so und hüte besser deine Zunge, Meuchler.“ Puran stöhnte und rieb sich mit den Händen über das Gesicht; deshalb hasste er die Zusammenkünfte seines Rates von Mal zu Mal mehr. Er kam mit seinen Kollegen – abgesehen von Emo – gut aus, aber alle zusammen waren sie eine Katastrophe. Neron, der immer nur von Wein faselte, dann seine Frau, Saja, die dann mit ihm schimpfte, der Zyniker Henac Emo war der Schlimmste von allen; dann waren da noch seine quasi Schutzbefohlene Saidah, die eigentlich von niemandem Schutz nötig hatte, und Tare Kohdar. Puran verehrte Tare Kohdar, den ältesten der sechs amtierenden Geisterjäger, denn er war die Ruhe selbst, er war erfahren und weise, auf ihn war Verlass. Tare Kohdar war schon über fünfzig, hatte weder Frau noch Kinder, aber er war ein begnadeter Feuermagier, wie es in seinem Clan seit jeher Tradition war.

„Wir wissen nicht, ob es Ela-Ri ist, das uns das... sogenannte Ende der Welt bringt.“, warf eben jener Ratsälteste jetzt ein und Puran sah ihn kurz dankbar für die Unterbrechung von Emos süffisantem Geschwafel an. „Vielleicht kommt nach Ela-Ri noch etwas Fürchterlicheres, das wir erdulden müssen.“

„Wenn wir noch leben, nachdem der König von Ela-Ri uns plattgewalzt hat, versteht sich.“, gackerte Emo, und Neron warf ihm jetzt brummend den Korken der Weinflasche an den Kopf.

„Was soll an dem eigentlich so fürchterlich sein? Emo labert Scheiße, Puran, ich habe es immer gesagt.“

„Das ist keine Neuigkeit.“, sagte Saidah dumpf und linste den schwarzhaarigen Emo an, der ihr ein lauerndes Grinsen von solcher Abscheulichkeit schenkte, dass der Herr der Geister kurz davor war, ihm mit bloßen Händen den Kopf abzuschlagen. Er zwang sich, jetzt einen kühlen Kopf zu bewahren; es gab jetzt wichtigeres. Er versuchte krampfhaft, sich an die ominösen Worte der Seherin zu erinnern, ehe er sich räusperte und die Aufmerksamkeit wieder auf sich zog.

„Zumindest ist er Magier und, das habe ich gehört, eine ziemliche Schreckensgestalt. Keiner von uns wird ihm je begegnet sein... und wir alle kennen die Schauermärchen über das Ostreich, das Reich der Blutsonne und der Schatten. Sie werden nicht von ungefähr sein und ich würde... die Gerüchte über den fürchterlichen König lieber zu ernst nehmen als ihn zu unterschätzen. Ich fürchte, wenn es wirklich hart auf hart kommt, haben wir... düstere Zeiten vor uns. Die Zeichen... stehen schlecht, wie Neron schon sagte.“

Darauf hatte niemand mehr etwas zu sagen.
 

Der Himmel grollte über der Reichshauptstadt, als die Dunkelheit am Abend heraufzog. Puran Lyra warf einen besorgten Blick aus dem Fenster und zu den großen, schattigen Wolkenbergen, die sich am Himmel auftürmten. Die Schatten kamen... die Gedanken an das, was ihnen bevorstand, waren ernüchternd. Er vermisste seine Frau... hoffentlich ging es Leyya und den Kindern soweit gut. Die ganze Hektik hatte dafür gesorgt, dass der Mann den Tag über seine privaten Sorgen hatte verdrängen können; die Gedanken an das Dorf Lorana, das jetzt zerstört war, kamen erst jetzt mit dem Einbruch der Dunkelheit zurück, als er nichts anderes mehr tun konnte, als in den ihm zur Verfügung gestellten Gemächern auf und ab zu gehen und darauf zu warten, dass es Neues gab. Das alles war so niederschmetternd... er hatte in dem Moment, in dem er so am Fenster stand und hinaus starrte, das Bedürfnis, sich einfach rückwärts fallen zu lassen und nicht mehr aufzustehen. Er seufzte tief und stützte sich ermüdet an der schmalen, edel verzierten Fensterbank vor sich ab, während er resigniert den Kopf senkte.

„Es tut mir leid... um Lorana, Puran.“

Er drehte den Kopf in Saidahs Richtung und betrachtete die junge Frau, die in der Stube auf dem Kanapee saß und offenbar konzentriert die seltsame Waffe zu studieren schien, die sie mitgebracht hatte. Mit einem weiteren Seufzen löste Puran sich vom Fenster und begann, in der Wohnstube auf und ab zu gehen.

„Ich danke dir. Irgendwie ist es immer noch nicht richtig angekommen... in meinem Geist. Vorgestern Abend bin ich noch nach Hause gekommen und alles war gut. Ich... ich habe einfach geglaubt, im Leben oft genug meine Heimat verloren zu haben.“

„Wie pathetisch.“, sagte Saidah dazu und er blieb hinter dem Kanapee stehen, um ihr einen sanften Klaps auf den Kopf zu verpassen.

„Veräppelst du mich, meine Liebe?! Du lebst ja noch in dem Haus, in dem du größten Teils aufgewachsen bist!“ Er sah, dass sie den Kopf drehte und ihn anlächelte.

„Vergib mir, Puranchen. Ich wollte dich nicht ärgern... wir... haben aber doch schon genug Ärger vor uns. Denkst du, Sagal kriegt seine Leute irgendwie dazu, deinen Barbaren in Thalurien mal die Meinung zu geigen?“

„Sagal ist ein guter Kerl. Ich würde dem mein Leben anvertrauen, wenn es sein müsste. Mach dir da keine Sorgen... ich hoffe nur, dass meine Familie heil nach Yiara kommt. Bei meiner Cousine sind sie erst mal gut aufgehoben.“ Saidah nickte neben ihm, während sie noch immer apathisch die Hellebarde in ihren Händen ansah. Der Herr der Geister brummte. „Was ist mit dem Ding? Warum starrst du es eigentlich den ganzen Abend so an?“

„Es war Wille der Geister, dass ich sie finde... denke ich. Oder... das dachte ich bis vor kurzem, jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, was die Zeichen bedeuten sollen.“

„Was für Zeichen?“

„Dieses Familienerbstück wurde vor mehreren Jahrhunderten geschaffen. Als sein Schöpfer starb, verschwand es nach kurzer Zeit aus einem einfachen Grund; niemand, abgesehen von Yamir selbst, dem Schöpfer der Hellebarde, konnte sie benutzen. Klar, du kannst damit Holz hacken, aber zaubern... konnte niemand damit. Es gab, so habe ich in überlieferten Schriften gelesen, eine Prophezeiung damals, in der hieß es... Der letzte Erbe des Chimalis-Clans wird einst wieder fähig sein, sie zu tragen. Das war der Grund, Puran, aus dem ich sie eigentlich zu suchen begonnen habe. Du weißt... wer ich bin.“ Er sah sie eine Weile schweigend an.

„Du hast keine Geschwister, dein Vater hatte auch keine und du wirst niemals Nachkommen haben... das heißt, du bist... der letzte Erbe deiner Familie.“

„Das dachte ich.“, sagte sie, legte jetzt die Waffe zur Seite und fuhr sich nachdenklich durch die Haare.

„Wie... wie, dachtest du?“

„Ich kann sie nicht benutzen.“

Puran schenkte seiner jungen Kollegin einen langen, blöden Blick.

„Du hast dir die Mühe gemacht, das Ding zu finden, und dann geht es nicht? Vielleicht ist es eine Fälschung?“

„Ausgeschlossen. Die Geister haben es mir bereits bestätigt... es ist tatsächlich das Erbstück des Yamir. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten, das ist es, was mich nachdenklich stimmt. Entweder hat diese Prophezeiung gelogen oder ich bin nicht die letzte Erbin.“ Jetzt räusperte sich der Mann und schnaubte.

„Wen soll es denn da geben außer dir? Wobei euer Clan natürlich mehrere Zweige hatte, gerade in Janami drüben.“

„Nein, von denen kann es niemand sein. Es muss ein Nachfahre des Yamir sein, und der lebte bereits wieder in Dokahsan, ebenso alle seine Nachkommen. Ich habe gesucht... ich habe überall gesucht nach irgendeinem Hinweis auf entferntere Verwandtschaft. Mein Vater hatte eine Cousine. Natürlich hat sie geheiratet und hieß dann nicht mehr Chimalis, aber sie ist vom selben Blut wie ich. Leider verliert sich ihre Spur im Norden... soweit ich gehört habe, ist sie schon ewig tot, und ich habe weder den Nachnamen ihres Mannes noch irgendetwas über mögliche Kinder herausfinden können... aber das ist der einzige Zweig, der es sein kann... wenn ich nur diesen verfluchten Namen herausbekäme, diesen albernen Namen ihres Mannes... das würde mir wirklich helfen.“ Puran runzelte angestrengt die Stirn und sah auf die monströse Waffe. Er versuchte, sich an die Cousine seines Lehrmeisters und Freundes Meoran zu erinnern, aber so sehr er sich auch bemühte, nichts kam. Er hatte die Frau mit großer Sicherheit nie gekannt, und erst recht nicht ihren Ehemann oder ihre Kinder... Meoran hatte sie niemals erwähnt.

„Warte einen Moment, Saidah.“, sagte er scharf, als sie sich seufzend erhob und ihre Waffe schnappte, „Wenn es außer dir noch Nachfahren des Clans gibt, gibt es auch keinen letzten Erben und demzufolge niemanden, der dieses Ding benutzen wird, oder liege ich falsch? Denn der letzte Erbe beinhaltet für mich, dass es keine anderen neben ihm gibt... irgendwie ergibt das keinen Sinn so.“

„Aber die Geister haben mich zu ihr geführt.“, entgegnete sie, „Sie wollten, dass ich sie finde. Es ist nicht nur irgendein Familienerbstück, es ist eine legendäre Waffe. Irgendeine Bedeutung wird es haben, dass ich sie habe. Und mein Instinkt sagt mir, die Zeit... der Prophezeiung ist jetzt gekommen.“ Sie machte eine Pause, in der sie zur Tür ging und er sich auch erhob. „Soweit ich gelesen habe, hat die Hellebarde von Yamir quasi einen Bruder. Es gibt eine zweite legendäre Waffe aus derselben Zeit, die genauso verschollen ist und für die dieselbe Legende gilt. Hast du schon einmal vom Schwert von Mihn gehört, Puran?“ Er zog die Schultern hoch.

„Höre ich zum ersten Mal.“

„Das ist erstaunlich... dieser Mihn, der das Schwert damals geschaffen hat, war offenbar ein Freund meines Vorfahren Yamir. Und er war ein Mann aus deinem Clan, Puran.“ Er konnte sie nur anstarren, als sie ihm ein Lächeln und einen gemurmelten Abschiedsgruß schenkte, ehe sie das Gemach verließ, vermutlich, um selbst ins Bett zu gehen.
 

Saidah Chimalis war keine Närrin. Als letzte Erbin ihrer altehrwürdigen, machtvollen Familie hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, dann wenigstens einen würdevollen Untergang für ihren Clan zu bestimmen. Mit ihrem Vater war der letzte männliche Nachkomme der Chimalis verstorben... so hatte sie zumindest geglaubt. Sie hatte geglaubt, sie wäre die letzte ihres Zweiges – und als letzte direkte Nachfahrin des großen Magiers Yamir somit die legendäre Person, die diese todbringende Waffe tragen könnte. Die junge Frau betrachtete das Stück erneut von oben bis unten, als sie über den nur schwach erleuchteten Korridor in Richtung des Zimmers ging, das der König ihr für den Aufenthalt im Reichskapital zur Verfügung gestellt hatte. Es bestand kein Zweifel daran, dass es die echte war... es musste an ihr liegen.

Wenn es tatsächlich noch jemanden außer ihr gab, der ein Nachfahre des Yamir war, änderte das ihre Situation grundlegend – nicht nur ihre. Sie war mit dem Wissen aufgewachsen, einmal die letzte Erbin des Clans zu sein; als ihre Mutter gestorben war, war sie noch klein gewesen. Und ihr Vater war eine treue Seele gewesen, eine neue Frau und damit mehr Kinder wären niemals in Frage gekommen. Aber wer war dann außer ihr noch da, rannte irgendwo auf Tharr herum – möglicherweise nicht mal auf Tharr, immerhin gab es auch vereinzelte Auswanderer – und hatte vielleicht nicht mal eine Ahnung von seinem – oder ihrem – Schicksal?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder diese Person weiß wirklich von nichts, sonst hätte sie mich ja längst kontaktiert... das hätte ich zumindest sofort getan, hätte ich von einem Verwandten erfahren... oder aber sie weiß es sehr wohl und will gar keinen Kontakt.

So etwas gab es auch... allerdings unter den Schamanen eher selten, denn soweit die Schwarzhaarige es wusste, war bei ihrem Volk der Zusammenhalt der Clans, insbesondere bei den so alten und mächtigen wie ihrer einer war, recht groß. Ausnahmen bestätigten natürlich die Regel...

„Ach.“, brummte sie und stampfte verbiestert den Rest des Wegen zu ihrem Zimmer, dabei die Hellebarde umklammernd, „Darüber zu grübeln bringt mir jetzt gar nichts. Das wird wohl warten müssen, bis der Krieg gegen das Ostreich vorbei ist. Sofern wir den überleben.“

„Oder, bis das Ende der Welt eintritt... nicht wahr?“, neckten sie die Geister und sie fuhr keuchend vor der Zimmertür zusammen, als sie plötzlich einen schmerzhaften Stich in ihrem Kopf spüren konnte. Das Kichern der gehässigen Geister verstummte langsam in ihrem Kopf und aus einem Grund, den sie nicht benennen konnte, musste sie plötzlich an Purans Sohn denken, den sie vor über einem Jahr noch unterrichtet hatte.

Karana, den sie nicht wiedersehen durfte, wenn sie sich nicht in Schande stürzen wollte. Es tat ihr leid darum... er war ein mächtiger Schamane, genau wie sein Vater. Aber wo sein Vater ein wundervoller, aufopfernder Mensch war, den sie wie einen zweiten Vater zu lieben gelernt hatte, war Karana ein Ungeheuer. Ein Ungeheuer, das auf eine bestialische, verbotene Weise mit ihrer Seele vereint war, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Sie zitterte, riss sich von den Gedanken los und öffnete ruckartig die Tür – und schrie vor Schreck auf, als sie sich plötzlich einer wildfremden Frau gegenüber sah, die mit überschlagenen Beinen auf dem Stubentisch saß und in dem Moment, in dem die Magierin herein kam, ein blitzendes Licht in ihrer Handfläche verschwinden ließ.

„Was in Himmels Namen?!“, fuhr Saidah schon auf, da hob die Fremde das Gesicht und schenkte ihr ein ganz offensichtlich antrainiertes Lächeln, das nie im Leben echt sein konnte. Und Saidah erkannte sie auf den zweiten Blick sofort an den seltsam gelben Augen. Sie hatte die Frau schon mehrmals getroffen, allerdings war das letzte Mal sicher einige Jahre her – damals hatte sogar ihr Vater noch gelebt. Sie entspannte sich und schloss die Tür hinter sich, ehe sie kurz seufzte. „Ich erinnere mich an Euch... könnt Ihr mir verraten, was Ihr um diese Tageszeit in diesem Zimmer verloren habt... wo Ihr doch die oberste Beraterin und rechte Hand des zuyyanischen Kaisers seid, Herrin?“
 

Zuyyaner waren eigenartig, hatte Saidah gelernt. Als Kind hatte sie sie nur als Feinde gekannt, weil Krieg geherrscht hatte zwischen Tharr und dem Imperium des blauen Mondes Zuyya. Die meisten Zuyyaner waren äußerlich sofort erkennbar an den für Tharraner unnatürlichen Haar- und Augenfarben... und die Beraterin des Kaisers persönlich war mit ihren gelben Augen und den eisblauen Haaren ein sehr gutes Beispiel dafür. Jetzt schlug sie sich gerade die schwarze Kapuze vom Kopf und entblößte jene sehr langen, aber sauber gepflegten Haare. Der Umhang, zu dem die Kapuze gehörte, verdeckte des Großteil ihres Körpers, abgesehen von ihren Unterschenkeln und ihren Armen, die sie jetzt aus den Stoff schälte.

„Vergib mir, Tochter von Meoran. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich fürchte, der König hätte mich ungern oder gar nicht zu dir gelassen.“

„Dann habt Ihr Euch hier herein geschlichen? Wie unzivilisiert für eine Dame des zuyyanischen Hochadels.“

„Keine Sorge, ich habe keine bösen Absichten. Ich verstehe das Misstrauen, schließlich sind wir Zuyyaner grundsätzlich die Buhmänner. Was ich euch definitiv nicht verübeln kann.“ Saidah schauderte. Die Stimme der Beraterin war fürchterlich monoton, sie sprach zwar höflich, aber ohne jede Gefühlsregung. Zuyyaner waren nicht nur äußerlich seltsam... sie waren seelenlos, sagte man, zumindest wirkten sie, als wären sie Maschinen... Maschinen, deren Herren sie auch waren. Alles, was es auf Tharr an Technik gab, kam von Zuyya, wie Saidah wusste – so auch die Raumfähren. Die Zuyyaner waren ein hochintelligentes, gerissenes Volk, aber sie waren auch bekannt dafür, gnadenlos und brutal zu sein. Und sie waren hochnäsig – der Kaiser kam grundsätzlich nie selbst zu wichtigen Treffen der obersten Herrscher des Dreiweltenbündnisses Khad-Arza, er schickte stattdessen immer Vertreter; meistens seine oberste Beraterin. Sie sprach zwar monoton, war aber eigentlich eine ziemlich geübte Diplomatin... und diese Frau hatte etwas, das die Zuyyaner selten hatten. Eine andere Meinung als die des Kaisers, die sie – zweifelsohne ohne den Willen ihres Gebieters – auch ohne Umschweife kund tat.

„Wie seid Ihr herein gekommen?“, fragte Saidah langsam und betrachtete die Frau, die jetzt scheinbar interessiert die Hellebarde musterte.

„Ich bin geflogen. Eure Wachen auf der Mauer sind unaufmerksam, vielleicht solltet ihr sie mal härter ran nehmen, jetzt, wo etwas Schlimmeres auf euch zukommen wird als eine einzelne Frau, die sich offenbar problemlos ins Schloss schleichen kann.“

„Das ist nicht meine Aufgabe, sagt das dem König. Ich bin – wie Ihr als Weise Frau und Seherin der Zuyya ja wohl wisst – bloß eine Gesandte in Janami.“

„Du musst mich nicht im Plural ansprechen.“, erwiderte die Zuyyanerin monoton und Saidah schürzte grimmig die Lippen – sie hatte kein Problem mit der Tante, aber diese Monotonie fing an, ihr auf die Nerven zu gehen. Da konnte sie sich ja gleich mit einem Garderobenständer unterhalten.

„Warum seid... bist du gekommen? Extra den Weg von Zuyya hierher...? Hat dein Kaiser etwa etwas zu sagen?“

„Er ist nicht mein Kaiser.“ Oh, da war tatsächlich so etwas wie ein Hauch einer Emotion gewesen in ihrer Stimme... und es war definitiv keine Freude. Das Gesicht der Beraterin verzog sich für den Bruchteil eines Momentes und Saidah überlegte sich, das besser nicht jetzt anzusprechen. „Nein, der alte Hornochse weiß nicht, dass ich hier bin. Das ist auch besser so. Ich bin hier, um dich zu treffen, Saidah Chimalis. Und zwar genau wegen... dieses Objektes.“ Sie zeigte auf die Hellebarde und Saidah lachte hohl.

„Ah, tatsächlich? Wie kommst du darauf, dass ich sie habe?“ Die Zuyyanerin hob wortlos ihre Hand und ließ darin eine leuchtende Kugel erscheinen, und die Schwarzhaarige senkte den Blick. Die Seelenkugel... das für aktive Magier der Zuyya wichtigste und für alle anderen tödlichste Werkzeug, das dieses Volk überhaupt besaß. Mit der Seelenkugel konnten sie quasi alles machen. Andere hypnotisieren, sogar Erinnerungen ändern, Kraftfelder erzeugen und die Vergangenheit und Zukunft sehen. Und die Beraterin des Kaisers trug nicht umsonst den Beinamen Weise Frau – selbst Saidah als Nichtzuyyanerin wusste, dass ihr Gegenüber vermutlich die begabteste und mächtigste Seherin und Magierin des ganzen Imperiums war. „Was ist mit der Hellebarde?“, fragte sie jetzt ernst und die Blauhaarige schenkte ihr einen flüchtigen Blick.

„Du kannst sie nicht benutzen.“

„Das ist richtig, bist du gekommen, um mich mit Tatsachen zu nerven, die ich schon weiß?“

„Ungeduldig bist du. Dein Vater als Militärhauptmann hat wohl zu viel im zackigen Ton mit dir geredet. Ich weiß, wer sie benutzen kann.“

Das war schon interessanter. Saidah blinzelte einmal und überlegte sich gut, wie sie jetzt weiter fragte – Zuyyaner waren furchtbare Gegner im Diskutieren.

„Ich nehme an, das hast du in deiner Kugel gesehen. Ist es für dich in irgendeiner Art von Belang, das zu wissen? Ich meine, könnte es dir nicht egal sein?“

„Ich bin ihm schon begegnet vor mehreren Jahren. Damals war er noch ein kleiner Junge, aber jetzt ist er ein Mann und es wird Zeit, dass er sie bekommt... die Waffe, die ihm zusteht.“ Saidah räusperte sich.

„Bevor du mich missverstehst – ich bin gewillt, das Erbstück demjenigen anzuvertrauen, dem es zusteht. Mich verwirrt nur, warum du dich da jetzt einmischst.“

„Weil es meine Aufgabe ist, weil der Junge mich kennt und mir mehr glauben wird als dir, die er noch niemals im Leben gesehen hat.“

„Das heißt, er hat keine Ahnung?“

„Keinen Schimmer. Ich wusste es auch nicht von Anfang an. Ich habe ihm damals einen kleinen Schubs zur Tür hinaus gegeben, damit er das wird, was er heute ist... und es ist wichtig, dass er das ist. Es ist wichtig... dass er das Erbe bald antritt. Das Erbe, das die Schicksalsgeister... ihm vorherbestimmt haben, schon lange, bevor er geboren wurde... schon lange, bevor seine Mutter ihm seinen verhängnisvollen Namen und damit seinen Lebensgeist geschenkt hat.“ Die Magierin hob die Brauen, als sie die Geister wieder kichern hörte, und sie schnappte flüchtig nach Luft, bevor sie zur Frage ansetzte.

„Dann sag mir... wie ist sein Name?“ Die Beraterin lächelte kurz – als sie antwortete, weitete Saidah die Augen und wusste im selben Moment, dass die Zuyyanerin sie nicht anlügen konnte... sie kannte seinen Namen. Sie fragte sich, wie lange es her sein mochte, dass sie seinen Namen gehört hatte...
 

Im Osten grollte der Himmel tagelang ohne Unterbrechung. Senator Lyra war beunruhigt über die Dinge, die unweigerlich kommen würden; Dinge, die Kisara oder vielleicht das ganze Zentrum verändern würden.

„Nein, es ist... das Ende der Welt. Hast du das vergessen?“ Die Geister kicherten und Puran verfluchte sie innerlich über ihre Schadenfreude. Wie lange sprachen sie nun schon davon? Er träumte schon seit ewigen Jahren, so kam es ihm vor, denselben Traum... wieder und wieder. Den Traum vom Ende der Welt...

„Diese dämliche Seherin ist nie dann da, wenn ich mir gerade denke, ich könnte sie gebrauchen!“, meckerte der Mann mürrisch und erntete einen verblüfften Blick seines Kollegen Kohdar, mit dem er auf einer Terrasse des Palastes stand und rauchte.

„Die Seherin?“, fragte Tare Kohdar ihn verdutzt, „Die, die fast nackt vor dem Senat getanzt hat, wie du erzählt hast?“

„Ja, genau die! So eine Hure, aber jetzt könnte ich sie wirklich dringend gebrauchen!“ Der ältere Geisterjäger hüstelte.

„Na, wenn ich das deiner Frau erzähle...“ Puran trat ihm auf den Fuß und zog nervös an seiner Kippe.

„Doch nicht so ein Brauchen, du Trottel. Sie weiß Dinge, wenn sie nicht gerade ihr Gedächtnis verliert. Sie mag aussehen wie eine billige Amateurin, aber ich weiß genau, dass sie wirklich eine Seherin ist. Sagal hat gesagt, sie ist um Ecken mit dem Clan der Ekala verwandt, aus dem meine Großmutter stammte.“ Das schien seinen Kollegen mehr zu beeindrucken.

„Ich glaube, irgendwelche Krankheiten im Gehirn sind eine Sache der mächtigsten Seher, oder? Deine Großmutter mit ihrem Laudanum und diese hier mit ihrem Gedächtnis, aber irgendwie scheinen die, die etwas plemplem sind, ja die Mächtigsten zu sein.“ Puran schnaufte.

„Ich bin Vorstand des Rates und habe euch alle im Kampf fertig gemacht, willst du also gerade sagen, ich sei... plemplem?!

„Ich sagte, das ist eine Sache der Seher, bist du etwa einer?“, feixte der Ältere und musste leise lachen, als der Senator nur grantig das Gesicht verzog. Dann seufzte er und fuhr sich durch die wirren Haare.

„Vergib mir, Tare, ich bin einfach im Moment nicht sehr humorvoll... die Dinge sehen schlecht aus. Seit Lorana geplättet wurde, sind viele Tage vergangen, ich habe weder eine Botschaft von meiner Familie bekommen noch sagen die Geister mir irgendetwas, das mir helfen könnte bezüglich des Ostreiches. Es ist unruhig im Osten... die Geister sind nervös und das überträgt sich immer so fürchterlich auf mich.“

„Ich verstehe das gut, ich sorge mich auch. Wir hocken seit Tagen hier auf heißen Kohlen und nichts geschieht – hat Sagal denn wenigstens die Idioten aus Kamien aus Thalurien verjagt?“

„Ich vermute es, er hat dazu nichts weiter gesagt – seit er zurück aus Janami ist, versucht er meistens, seine arme Tochter zu beruhigen... er ist tapfer, ich bewundere diesen Kerl für seine Standhaftigkeit, immerhin ist es ja auch seine T-... Enkelin, die spurlos verschwunden ist.“ Er hustete entsetzt darüber, dass er sich jetzt beinahe verplappert und seinem Kollegen das wohl gehütete Geheimnis von Dasan Sagals Blutschande anvertraut hätte. Eigentlich sollte nicht einmal er es wissen... seine Frau hatte es von Chitra selbst erfahren und er hatte sie so lange genervt, bis sie ihm erzählt hatte, wer wirklich Niarihs Vater war... es war eine Sache, die niemals ausgesprochen wurde. Sie würde den gesamten Clan der Sagals zu Grunde richten... da hatte der Alte ganz schöne Scheiße gebaut. Puran verstand auch immer noch nicht so wirklich, wie man mit seiner eigenen Tochter ein Kind zeugen konnte, aber das ging ihn nichts an und er würde es vermutlich auch dann nicht verstehen, wenn Sagal es ihm selbst erklärte. Er hoffte, die arme Niarih war am Leben und kämpfte sich irgendwo tapfer durch die Wildnis, um eines Tages wieder bei ihren Eltern zu sein.

Die beiden Männer wurden in ihrem Gespräch unterbrochen, als hinter ihnen die Terrassentür aufging und ein dritter zu ihnen stieß. Beide drehten sich um und erkannten mit Missfallen ihren Kollegen Henac Emo, den niemand wirklich leiden konnte.

„Ach, hier steckt ihr!“, grinste der Schwarzhaarige da und suchte aus seiner Hosentasche ebenfalls eine Zigarette, „Mir war gerade langweilig und da dachte ich, ich nerve euch mal ein wenig.“

„Werd' erwachsen.“, sagte Tare Kohdar zu ihm, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Puran brummte.

„Ich sehe schon, ihr freut euch riesig, mich zu sehen.“ Emo kicherte, steckte sich die Kippe mit einem Feuerzauber an und sah dann zu Puran. „Was betrübt dich so, Häuptling Zitterhand?“ Den bescheuerten Spitznamen ignorierend brummte der Senator erneut.

„Lass mich mal scharf nachdenken. Es ist sicher wegen meiner Frisur, die sich einfach nicht richten lässt heute. Oder vielleicht auch, weil ich seit ewigen Tagen keinen Sex hatte. - Nein, jetzt fällt es mir wieder ein, vor unserer Tür steht ein verdammter Krieg gegen ein Reich, das wir nicht bezwingen können, sonst noch Fragen, du Lackaffe?!“ Emo brach in schallendes Gelächter aus, was den Herrn der Geister nur noch grimmiger machte. „Schön, dass du dich amüsierst...“

„Und das macht dir Angst?“, grinste der Kollege, „Wir haben die verdammten Zuyyaner geschlachtet. Ich halte das zuyyanische Imperium für weitaus fürchterlicher als diese Barbaren aus dem Schatten. Und der tattrige Kaiser hat vor uns kapituliert, erinnerst du dich?“

„Wir haben die Zuyyaner nicht besiegt, sie haben aufgegeben, weil ihre eigene Welt am Untergehen war.“, erklärte Tare Kohdar, „Hätten die weiter gemacht, wären wir erledigt gewesen, und du weißt das.“

„Aber wir reden ja jetzt gar nicht von den Zuyyanern, sondern von den Gruselgestalten aus dem Osten!“, sagte Henac Emo empört, „Sollen sie doch kommen, wir sind ein großes Bündnis vieler Länder hier im Zentrum.“

„Sie sind viele.“, sagte der Herr der Geister ernst, „Sie sind wahnsinnig viele, und sie sind mächtig. Und was das Wichtigste ist, sie sind aus dem Schattenland. Sie haben keine Skrupel, uns alle zu unterwerfen oder abzuschlachten. Sie haben keine Menschenrechte, sie werden uns mit Haut und Haaren fressen. Der König von Ela-Ri muss ein furchtbarer Magier sein. Die Seherin hat gesagt, er wird mein Schicksal besiegeln. Das mag jetzt egoistisch klingen, aber mir macht das schon etwas Sorge.“ Er hatte nicht erwartet, dass Emo ihn ernst nahm – der nahm nie jemanden ernst. Wie ihn auch niemand ernst nahm, denn Emo war ein geborener Lügner und Betrüger. Das war ja der Grund, warum er ihn so verabscheute... bei diesem Spaltzüngler wusste man nie, auf wessen Seite er wirklich stand. Puran hatte einmal geglaubt, Emo würde sich immer dahin wenden, wo er am meisten Profit für sich gewinnen konnte. Inzwischen war er der Meinung, dass die Gründe, weswegen der Mann nie klar und deutlich einer Partie angehörte, um einiges komplizierter sein mussten.

„Der König macht dir Angst, Häuptling? Na, du hast doch auch den zuyyanischen Kaiser geschlachtet.“

„Das war damals. Ich habe einen Eid geschworen, wie du weißt. Ich kann keinen Menschen töten, Emo.“

„Wozu musst du ihn töten?“, fragte sein Gegenüber verblüffend ernst und ohne das behinderte Grinsen auf seinem Gesicht, „Du musst ihn doch nur einlullen und nach deiner Nase tanzen lassen... wie du es mit unserem eigenen König doch auch tust.“ Puran zischte.

„Der König tut das alles aus freien Stücken, ich bringe ihn zu gar nichts. Ich kann nichts dafür, dass er wohl einen Narren an mir gefressen hat!“

„Du untertreibst etwas, oder? Einen Narren gefressen? Dieser Kerl vergöttert dich, ich warte immer noch darauf, dass er dich heiraten will.“

„Sehr witzig, Emo...“ Sie wurden abermals unterbrochen, als die Tür erneut aufflog und dieses Mal ein Diener des Königs zu ihnen kam.

„Senator Lyra!“, keuchte er außer Atem, „Rasch, der König verlangt nach Euch, es ist dringend!“ Henac Emo pfiff durch die Zähne.

„Also wirklich, und das am helllichten Tage, Puran.“ Der Senator brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, da fuhr der Diener schon panisch fort.

„I-Ihr sollt die anderen Geisterjäger mitbringen, er will Euch alle, jetzt sofort.“

„Ich stehe ja nicht so auf Gruppensex.“, behauptete Emo und Tare Kohdar neben ihm hustete. „Und Tare ist mir zu alt!“

„Idiot, folge mir einfach und mach den Mund nicht mehr auf, bis ich es dir erlaube!“, herrschte der Ratsvorsteher ihn wütend an, worauf Emo kicherte und sie dem Laufburschen durch den Palast zum Thronsaal folgten – dort fanden sie schon die übrigen Geisterjäger vor, sowie den König persönlich, ein paar der obersten Senatoren aus Vialla und den Heerführer.

„Majestät!“, rief Puran Lyra von weitem, als er den Haufen da stehen sah, und bestürzt schluckte er weitere Worte herunter, als er das aschfahle Gesicht des Monarchen sah, der den Eindruck machte, als wäre er gerade gestorben.

„Herr, die Zeit ist gekommen.“, japste der kleine König nur bitter, „Es geht los und es ist furchtbar. Sie haben die Küsten von Dobanjan überfallen vor zwei Tagen. Sie kommen mit Schiffen, zu Zigtausenden, es ist eine Armada von unvorstellbarer Gewalt und Größe. Die Späher haben es mit eigenen Augen gesehen... Ela-Ri greift uns wirklich ernsthaft an.“ Diese Botschaft musste man erst mal verdauen und der Senator strauchelte.

„S-sie haben – sie haben Dobanjan im Süden überfallen?!“

„Meine Herren, ich fürchte, wir stecken... wirklich im Krieg. Vialla ist das Herz von Kisara – das Herz des gesamten Zentralreichs. Wir vermuten, sie wollen hierher... und wenn Vialla fällt, sind wir alle verloren.“ Alle sahen einander bestürzt an und Henac Emo räusperte sich – Puran sah ihn nicht an, aber er spürte die wissende Schärfe in den schwarzen Augen des verhassten Kollegen genau, der in seinem Rücken stand. Er wollte nicht wissen, was der jetzt dachte.

„Und, Majestät, was... gedenkt Ihr also zu tun?“, fragte der Schwarzhaarige da und Puran Lyra schloss bebend die Augen, als die Unruhe der Geister in seinem Inneren ihm eine so heftige Übelkeit verschaffte, dass er sich beherrschen musste, um sich nicht zu übergeben.

Er sah es nicht mit den Augen, sondern im Geiste, als der Herrscher des Landes, dem er seit so vielen Jahren treu ergeben diente, vor ihm auf die Knie fiel. Der König warf sich vor ihnen auf den Boden... das hatte er schon einmal getan. Damals, als die Zuyyaner dabei gewesen waren, das Reich zu Fall zu bringen.

„Wir müssen sie aufhalten... koste es, was es wolle. Ich werde mich nicht in meinem Palast verschanzen und zusehen, wie mein Land zerstört wird von diesen Bestien aus dem Land der blutigen Sonne! Ich... weiß, es ist viel verlangt. Aber ohne Euch Magier sind wir verloren... Senator Lyra. Ich bitte Euch als Vorsteher des obersten, mächtigsten Rates der Schamanen um Eure Hilfe... nein, ich flehe Euch an. Ich flehe nicht für mich... das habe ich auch damals nicht getan, denn vor vielen Jahren.... habe ich genau so vor Eurem Vater gekniet, Puran Lyra, vor dem damaligen Herrn der Geister und Ratsführer. Ich bitte Euch nicht, mir zu helfen... sondern dem Reich, das uns allen Heimat und Frieden gibt. Dem Land, das unseren Nachfahren eine Chance gibt, erwachsen zu werden.“

„Sagt der, der weder Frau noch Kinder noch sonstige Verwandte hat.“, brummte Emo irgendwo hinter Puran, aber er ignorierte den Idioten gekonnt, als er die Augen wieder öffnete und zitternd einen Schritt zurück trat beim Anblick des vor ihm auf die Knie gefallenen Herrschers. Er war so winzig... er war im Stehen schon klein. Auf den Knien wirkte er nicht mehr wie ein erhabener König... sondern mehr wie ein verzweifelter, alter Mann. Das war er... er war wirklich alt geworden. Der Senator seufzte und spürte, wie seine Kollegen, die Senatoren und der Heerführer ihn anblickten. Sie alle warteten auf sein Urteil... auf seine Entscheidung, die sie alle zu Leben oder Tod verdammen konnte.

Nein... egal, wie er sich entschied, es gab auf beiden Seiten nur Tod. Und den gab es gewiss...

Er wünschte sich, sein Vater wäre noch am Leben, um ihm die Sache abzunehmen. Er vermisste ihn... Tabari Lyra war ein weiser Mann und ein mächtiger Herr der Geister gewesen. Und er hatte etwas besessen, das Puran leider nicht von ihm geerbt hatte... Optimismus.

„Das wird schon irgendwie, mein Sohn.“

Er schauderte, ehe er den Kopf senkte und nach Luft schnappte. Irgendwie...

Wenn es doch nur so einfach wäre, Vater.

„Ihr habt gehört, was seine Majestät gesagt hat.“, versetzte er dann scharf, „Dieses Land... ist unsere Heimat. Und wir als Schamanen, die wir mit den Geistern von Himmel und Erde kommunizieren können, deren Aufgabe es ist, für Gleichgewicht zu sorgen, sollten... nicht zulassen, dass diese geistlosen Bestien aus dem Schattenland uns das wegnehmen, was uns am teuersten ist! Unsere Freiheit, unsere Rechte, unser Land... unser Leben. Unsere Ahnen kämpften schon für unser Reich... wir sind es ihnen schuldig, es ebenfalls zu tun.“ Darauf erntete er von den meisten Nicken und Zustimmung, und als der König sich wieder erhob, war Puran es, der mit einem Räuspern vor dem Monarchen auf die Knien ging. „Wir werden dem Reich dienen, mein König... es ist unsere Pflicht, das zu tun. Ihr seid der König... der Herrscher des Landes. Verfügt über uns, Herr.“
 


 


 

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langweiliges gammel-kapi. Aber Emo, für seinen Fanclub XD Puran hat übrigens nicht wirklich was mit dem König... auch wenn sein letzter Satz irgendwie alles noch anrüchiger macht XD

Seelenlos

In der Ferne donnerte es. Es war aber kein wirklicher Donner, es waren die Trommeln des Krieges. Die Erde erzitterte unter dem Dröhnen des Lärms, während Iana schon zum dritten Mal eine Siedlung der Menschen in Flammen aufgehen und dann in den Schatten stürzen sah. Erst das Lianerdorf, dann Karanas Heimatdorf, jetzt diese Stadt im Süden an der Küste, deren Namen sie nicht mal erfahren hatten. Die Halblianerin beobachtete aus sicherer Entfernung von einer Anhöhe aus das Desaster, das entstand. Zu ihren Füßen brannte die Stadt, sie hörte die Menschen schreien und sah weit in der Ferne, hinter den Rauchsäulen, das Meer, von dem Karana gesprochen hatte. Sie kamen mit Schiffen... es waren unzählig viele. Iana konnte nicht zählen, aber das musste sie auch nicht können, um zu begreifen, was das war, das auf das Festland kam mit dröhnenden Trommeln.

Es war der Tod des Reiches... so viel war gewiss.

„Das ist wahnsinnig.“, murmelte die Frau dumpf, während sie hinab starrte, „Wenn diese Armada hier landet und sich weiter voran schlägt, werden wir alle in diesem Land sterben. Hast du gesehen, wie viele sie sind, Karana?“ Karana antwortete nicht, als sie sich barsch zu ihm umdrehte, er stöhnte nur und hielt sich den Kopf. „Wenn wir nicht auch gleich gegrillt werden wollen von denen, sollten wir jetzt verschwinden, solange sie noch mit der Stadt da beschäftigt sind. Wenn wir jetzt an der südlichen Küste sind, müssen wir wohl nach Norden, dann kommen wir sicher irgendwann nach Vialla. Oder nicht?!“ Sie fing sich einen verklärten Blick von ihm und zischte. „Was ist jetzt schon wieder mit dir, ich dachte, deine Geister sprechen wieder, also sag gefälligst was.“

„Sollen wir einfach wegrennen und die... alle sterben lassen?“, murmelte er und sie lachte hohl.

„Nun, wenn ich es mir recht überlege, nein, stürze dich auf sie und zerfetze sie, du machst gerade den Eindruck, als wärst du dazu in der Lage, so viele Leute abzumurksen!“ Er schnaubte und raufte sich fluchend die wirren Haare.

„D-das ist nicht witzig, Iana! Normalerweise könnte ich das, ich bin der Sohn des Herrn der Geister, verdammt!“

„Na, und worauf wartet dein großartiger Vater dann?!“, fuhr sie ihn an und zeigte auf das Inferno, „Warum ist er dann nicht hier, wenn er doch so toll ist, und beendet das mit einer Armbewegung?! Und warum sitzen wir hier herum und warten darauf, niedergetrampelt zu werden?! Steh auf, ich verpiss mich hier.“ Sie erntete zustimmendes Bellen von seinem Hund und ging ohne weiter auf Karana zu achten nach Norden. Aar folgte ihr, sie konnte ihm nicht verübeln, sein psychisch verwirrtes Herrchen einfach sitzen zu lassen. Karana war ein Idiot...

Sie spürte, wie er sie am Arm packte. Er drückte mit einer Heftigkeit zu, dass es schmerzte, und keuchend hielt sie inne und drehte hastig den Kopf, um ihn anzustarren. Karana starrte zurück – und in seinen Augen lag die fürchterliche Macht eines Geisterjägers. Er starrte sie einen kurzen Moment an mit einem Blick, der sie beinahe in die Knie gezwungen hätte bei seinem bloßen Anblick, und die Frau strauchelte verwirrt, als er seinen Griff noch fester machte.

„Ich warne dich.“, sagte er mit einer unglaublichen Gelassenheit, dass Iana sich fragte, ob er überhaupt wahrnahm, dass er ihr beinahe den Arm zerquetschte. „Sprich... nicht so von meinem Vater. Würdest du wollen, dass ich deinen als Nichtsnutz bezeichne? Du kennst meinen Vater nicht und du hast kein Recht, so zu sprechen, Weib. Deswegen... warne ich dich nur ein einziges Mal... Iana.“ Sie zitterte, aber nicht vor Angst – ihre Nackenhärchen sträubten sich in dem Moment, in dem sie seinen Blick wieder fing, und mit einem giftigen Knurren wandte sie das Gesicht nach rechts.

„Lass mich los, du tust mir weh, Karana.“ Zu ihrem Entsetzen kicherte er amüsiert – und es war kein freundliches Kichern, wie sie schaudernd feststellte. Der Geruch von verbranntem Holz und Fleisch drang ihr in die Nase und sie schauderte.

„Willst du weglaufen, Wachtel? Du... gehörst jetzt zu mir. Die Geister haben es gesagt, du spürst es auch... nicht wahr?“ Sie fuhr wieder erbleichend zu ihm herum und starrte ihn an – dann, ganz plötzlich, ließ er sie los und trat mit dem wissenden Grinsen auf dem so makellosen, perfekten Gesicht einen Schritt zurück, dabei seine fürchterlichen, dämonischen Eckzähne entblößend. Sie handelte, ehe sie darüber nachdachte, was sie tat, und einen Moment später hatte Karana ihre Schattenklinge an der Halsschlagader.

„Dass ich deinen Vater beleidigt habe tut mir leid. Aber dein bin ich deswegen noch lange nicht, Zauberer. Und wenn du mich noch einmal so angrinst, schneide ich dir deine verdammte Kehle durch. Haben wir uns verstanden, Karana Lyra?“

Die Veränderung in seinem Gesicht war so plötzlich und so verblüffend, dass sie beinahe das Kurzschwert fallen gelassen hätte. Er starrte sie plötzlich entsetzt an und schien ganz genau zu wissen, dass sie nicht scherzte; aller Hochmut, alle Selbstsicherheit von eben waren wie mit einem Wisch aus seinem Gesicht verschwunden.

„Alter – i-ist ja gut, spieß mich nicht gleich auf! Wenn du mich tötest, kriegst du sicher keine Belohnung von irgendwem in Vialla dafür, dass du es so lange mit mir aushältst...“ Sie weitete ungläubig die Augen und wusste nicht, was sie jetzt mehr verwirren sollte – dass er so plötzlich seine Meinung änderte oder dass er sie durchschaut hatte. Woher wusste er das mit der Belohnung jetzt auf einmal?

Als sie das Schwert langsam sinken ließ, ihn immer noch anstarrend, rieb er sich erleichtert den unverletzten Hals und grinste sie gut gelaunt an.

„Ich bin Schamane, dumme Frau. Ich kann dir bis ins Herz blicken, wenn ich will... hast du gedacht, du könntest das vor mir verbergen und so tun, als hättest du was für mich übrig? Entschuldige, aber verarschen lasse ich mich auch nicht.“ Glucksend ging er an ihr vorbei und tätschelte dabei den Hund, ehe er sich aufmachte nach Norden, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Iana starrte ihm fassungslos nach, während sie gedankenverloren ihre Waffe wegsteckte.

Nein, was sie am meisten irritierte, verärgerte und verblüffte, war, dass er mit seinen Worten von zuvor, die sie so verabscheut hatte, nicht unrecht gehabt hatte.

„Du... gehörst jetzt zu mir. Die Geister haben es gesagt, du spürst es auch... nicht wahr?“

Sie fasste sich unschlüssig an die Brust an die Stelle, wo ihr Herz sitzen musste, und ein furchtsamer Schauer durchlief ihren Körper, als sie ihm nachsah, wie er samt Hund voraus ging. Ja... sie spürte es auch, und es machte ihr Angst. Es war nicht einfach nur Anziehung, weil er so unverschämt hübsch war... es war eine krankhafte Mischung aus Erregung und Abscheu, die sie auf irgendeine geistlose Art an diesen Mann zu binden schien...

Sie war ihm nicht wegen des Messers in sein Dorf gefolgt, sondern, weil sie das instinktiv gespürt hatte, seit sie ihn zum ersten mal gesehen hatte. Und sie hasste ihn dafür.
 

Das Wetter war schlecht geworden. Sie hatten dem Inferno an der Küste rasch den Rücken gekehrt und sich nordwärts geschlagen. Meistens sprachen sie nicht miteinander. Iana wich Karanas Blicken aus, wenn er sie kurz betrachtete, und sie schien nicht die Absicht zu haben, noch ein Wort mit ihm zu wechseln, das über das Allernötigste hinausging. Und eigentlich gab es nicht mal etwas Nötiges zu reden, fiel ihm auf – über die Richtung, in die sie gingen, konnten sie sich auch nonverbal einigen, indem sie mit den Armen in die entsprechende Richtung zeigten... Er hasste die ewige Stille, die zwischen ihnen herrschte, seit sie vor einigen Tagen an der Südküste Kisaras gelandet waren. Es war erdrückend – wenn Iana sprach, war sie unfreundlich und abweisend, aber wenn sie nicht sprach, war es eigentlich noch schlimmer, und er überlegte sich manchmal schon, ob er sie beleidigen oder schlagen sollte, damit sie mal den Mund auftat. Aber Frauen zu schlagen gehörte sich nicht... er war ja nicht Loron.

Überdies hatte er eigentlich gar keine Zeit, sich auf die hübsche Frau zu konzentrieren oder sich darum zu kümmern, dass sie mit ihm sprach; sprechen musste er in der Tat mit den Geistern von Himmel und Erde, die offenbar ein wenig ihrer Schweigsamkeit abgelegt hatten. Allerdings auch nicht alles... es war noch immer anders als früher. Er fragte sich, was Zoras gemacht hatte, das die Geister so aus seinem Kopf verjagt hatte... es musste ein mächtiger, fürchterlicher Zauber gewesen sein, und es war definitiv über dem Niveau eines mittellosen Bauernjungen aus Kamien. Aber Zoras war mehr, als er vorgab zu sein – oder als er vielleicht selbst glaubte, zu sein, denn Karana hatte nicht das Gefühl, dass sein ewiger Rivale auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, was er da gemacht hatte. Das war das Problem bei Zoras... seine Eltern hatten weder Geld noch Mittel, um ihm eine offizielle Lehre der Schwarzmagie zu ermöglichen, wie Karana sie bei Saidah bekommen hatte. Das hieß, dieser Idiot machte einfach, was ihm gerade in den Sinn kam, ohne den Sinn dahinter zu verstehen oder zu begreifen, was genau er tat – wie auch, er hatte die Theorie dazu ja nie gelernt. Karana fand es schon verblüffend genug, was dieser Kampfzwerg sich alles selbst beigebracht zu haben schien... er musste grummelnd einräumen, dass er selbst vermutlich nicht fähig gewesen wäre, ohne Saidahs Hilfe so weit zu kommen, wie er es jetzt war. Er würde eines Tages zum Rat der Geisterjäger gehören... davon träumte er, seit er laufen konnte. Die meisten Söhne wollten einmal werden wie ihre Väter... er selbst wusste, dass er da einen weiten, harten Weg vor sich hatte, denn sein Vater war nicht irgendein Mann, dem er einfach nacheifern konnte. Um so zu werden wie sein Vater, musste er seinen eigenen Geist kontrollieren, die anderen Geister kontrollieren und das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde wahren können... das war keine leichte Aufgabe.

Er seufzte leise, während er mit seinem Bruder Hund neben sich nach Norden wanderte, Iana irgendwo hinter ihnen. Iana... die hübsche Iana, die wie Saidah aussah und doch irgendwie anders war. Sie war Nichtmagierin... und Saidah war Geisterjägerin, natürlich waren sie verschieden. Er wusste nicht, was genau es war, das ihn so an der Hühnerdiebin faszinierte; sie war eine Frau, ja, er mochte Frauen, aber das war es nicht. Das war zu simpel... ganz so oberflächlich war er dann auch wieder nicht. Er begehrte sie... aber nicht, weil sie schön war oder weil sie wie Saidah aussah, es war etwas anderes, das tief in seinem Inneren schrie, wenn er sie ansah, das danach verlangte, sie für immer zu behalten und nie wieder loszulassen. Die Gedanken erregten ihn und verschafften ihm gleichzeitig Kopfschmerzen, sodass er sich keuchend die Haare zu raufen begann und langsamer wurde.

„Können wir... kurz Pause machen?“, murmelte er dumpf, als die Frau neben ihm auftauchte, und sie schnaubte.

„Weichling. Schon müde oder erzählen deine Geister wieder Scheiße?“ Er zischte – eigentlich wollte er irgendetwas Giftiges erwidern, eigentlich wollte er sie zu Boden schlagen, aber er konnte sich nicht rühren, als er ihr einen nichtssagenden Blick schenkte und sie nichts weiter sagte. Der Wunsch in ihm, sie zu erschlagen, verblasste, als sie leise seufzte und den Kopf senkte.

„Gut, rasten wir. Hast du überhaupt eine Ahnung, ob wir richtig sind?“ Ohne eine Antwort zu erwarten ließ sie sich vor ihm ins feuchte Gras fallen und er hockte sich schweigend neben sie, sich murrend die Schläfen reibend.

„Na ja, Norden ist immer gut, weg von Dobanjan. Ich denke, alle Straßen führen nach Vialla... wir werden schon ankommen.“ Er hörte die Geister in seinem Kopf flüstern und zischte, als er einen schmerzhaften Stich verspürte.

Demut, Karana... solltest du zeigen, wenn du ein Herrscher der höchsten Geister sein willst.“, sagten sie und er japste, sich die Schläfen reibend. Die Geisterstimmen waren so vertraut, er hörte sie, seit er klein gewesen war... und dennoch jagten sie ihm noch immer einen Schauer aus Furcht und Argwohn über den Rücken, wenn er sie hörte.

Die Geister, die wir beherrschen, sie sind es, die in Wahrheit uns alle beherrschen, Karana.“, hatte Saidah ihn einst gelehrt, als er bei ihr in Minh-În gewesen war. Er erinnerte sich an die Zeit, als wäre sie nicht schon mehr als ein Jahr her, sondern erst wenige Tage. „Sie leihen uns ihre Macht, sie kooperieren zeitweise mit uns, aber das ist alles nur relativ und wir zahlen mit Demut, damit sie uns gehorchen. Die wahre Macht eines Herrn der Geister ist nicht die Schlagkraft seiner zerstörerischen Zauber... sondern seine Fähigkeit, mit den Geistern zu kommunizieren und letztendlich zu kooperieren. Du musst nicht lernen, wie du die Geister am besten unterwirfst, sondern wie du mit ihnen eine perfekte Einheit bilden kannst, Karana. Das ist... sehr viel schwerer als einfache Unterwerfung, weißt du? Und deshalb ist es so viel mächtiger...“

Er drehte den Kopf in Ianas Richtung, während er an Saidah dachte, seine Mentorin, seine Flamme – seine Seele, wenn er so wollte, denn sie hatte seinen Geist nie losgelassen seit der Zeit, in der er bei ihr gewesen war.

„Demut... hm...?“, stöhnte er und fixierte apathisch Iana, die die blauen Augen weitete. „Findest du, ich bin nicht demütig genug, Iana?“

„Soll das ein Witz sein?“, machte sie vor ihm, „Du bist ein Tyrann, das ist das Gegenteil von demütig, falls es dich interessiert.“ Er erzitterte und senkte hastig atmend den Kopf, den Blick von ihr abwendend, während er dumpf die Geister in seinem Kopf kichern hörte. Es klang, als läge noch immer ein dicker, schattiger Schleier über seinem Geist, der ihre Stimmen so stark dämpfte, dass er kaum etwas verstehen konnte... der Schleier, den die Schattenvögel über ihn gelegt hatten, die Zoras gerufen hatte.

Schattenvögel... knirschte er in Gedanken und ballte unmerklich die Fäuste so fest, dass die Knöchel hervortraten, Wieso ruft Zoras... die Vogelgeister und hetzt sie mir auf die Seele, um sie zu fressen? Wieso... kann er das? Die Macht über die Todesvögel ist ein Familienerbe... das er nicht haben kann!

Als er das Gesicht wieder hob und zu seiner Wegbegleiterin blickte, in dieses Gesicht, das dem von Saidah so ähnelte, verspürte er plötzlich eine ungeahnt heftige Lust, sie zu erschlagen, ihr die Kehle zuzudrücken oder sie auf irgendeine andere Art zu zerreißen.

„Du... Saidah!“, zischte er, „Du hast sie ihm gegeben, oder nicht?! Diese verdammte... diese Macht, mit der Zoras mich fast umgebracht hätte, du hast sie ihm gegeben, du Heuchlerin, du Verräterin! Die Schattenvögel... die Kondorgeister, die deinem Willen folgen! Ich... bringe dich verdammt noch mal um... wie du mich umbringst, seit ich dich nicht mehr sehen kann!“ Ehe die Frau vor ihm eine Chance bekam, wegzulaufen, stürzte er sich auf sie und riss sie gewaltsam zu Boden.
 

Iana fragte sich, was geschah. Mit einem kräftigen Schubs seinerseits lag sie plötzlich auf dem Rücken am Waldboden. Schmerzhaft schlug ihr Kopf auf der Erde auf und sie schrie, als er ihre Handgelenke packte und sie nieder drückte, sich wie ein geiferndes Raubtier über sie beugend. In seinen grünen Augen stand der pure Wahnsinn und sie schrie erneut, lauter, als sie mit einem Mal die Panik ergriff, er könnte sie tatsächlich umbringen. Sie wand sich mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, versuchte, ihn von sich zu treten oder ihre Hände zu befreien, während er sie anschrie und plötzlich vollkommen außer sich zu sein schien. Was zum Geier war denn jetzt wieder mit diesem Spinner passiert? Irgendein Dämon beherrschte seine Seele, da war sie sicher – das war nicht normal.

„Karana!“, schrie sie ihn an, „Karana, lass mich sofort los! Du tust mir verdammt noch mal weh, du Hurensohn! Lass mich los!“ Er fauchte sie an wie eine wilde Bestie und Iana schrie ihm ins Gesicht, so laut sie konnte: „Du elender Teufel, verschwinde!“ Die Lautstärke ihres Schreis scheuchte sogar die Tiere im Wald auf und für einen winzigen Moment stutzte der Mann über ihr – den Moment nutzte sie, um ihre Hand mit aller Kraft aus seinem Griff zu reißen und ihm mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen. Der Hund bellte. Karanas Kopf flog zur Seite und er schnappte keuchend nach Luft, während Iana ihre Hand hinab schnellen ließ und in Windeseile ihr Kurzschwert aus ihrem Gürtel zog. In dem Augenblick hatte sie damit gerechnet, dass er noch etwas länger verblüfft wäre, umso entsetzter war sie, als Karana plötzlich wieder zu ihr herum fuhr, die jetzt freie Hand empor hob und ihr etwa mit derselben Kraft, mit der sie sich befreit hatte, die Waffe aus der Hand riss. Und in dem Augenblick, in dem er plötzlich ihre heiligste, wichtigste Waffe in der Hand hielt, veränderte sich sein Blick so schlagartig, wie er sie gerade überfallen hatte.
 

Er hielt augenblicklich inne, sobald er das Kurzschwert in der Hand hielt, empor gerissen und bereit, der Frau unter sich, auf der er rittlings saß, die Kehle aufzuschneiden. Doch er rührte sich nicht... in dem Moment, in dem er da saß und in ihr vor Schreck erbleichtes Gesicht starrte, schoss der Schmerz zurück in seinen Kopf, als hätte ihm plötzlich jemand eine Flasche über die Rübe gezogen und als würden sich deren Scherben jetzt ungehemmt in seine Kopfhaut bohren. Der junge Mann schnappte nach Luft und starrte fassungslos auf das Schwert, das er in der Hand hielt – die Schattenklinge, eine todbringende Waffe, die weit gefährlicher war, als sie aussah.

Ich habe sie von meinem Vater bekommen. Sie ist mir sehr wichtig.

Er stöhnte, als der Schmerz heftiger wurde und er spürte, wie das Schwert in seiner Hand drohte, ihn zu verbrennen, ihn zu Asche zerfallen zu lassen, ohne dass er äußerlich eine Veränderung bemerkt hätte. Mit einem Schlag war seine Mordlust verschwunden, mit einem Schlag waren Zoras, Saidah und die Todesvögel vollkommen egal – er hielt die todbringende Waffe der Hühnerdiebin und sie lag unter ihm, sie starrte ihn fassungslos an und er schnappte hysterisch nach Luft, als mit einem Mal die Geister und die Bilder zu ihm zurückkehrten. Und sie sprachen alle auf einmal, so viele Stimmen, wie er noch nie zugleich vernommen hatte. Vor seinen Augen war so viel Dunkelheit... und der blutige Himmel, der ihn zu ertränken drohte.

„Du würdest nicht wagen, mich zu töten...“

„Schatten wird kommen, Karana... und wenn das Reich fällt, werden sie kriechen.“

„Warum hast du deine Waffe weggegeben? Ist das dein Ernst, Königin?“

„Am Ende... wird diese Tat etwas entscheiden.“

„An welchem Ende?“

„Vermutlich... am Ende der Welt.“

„Ihr werdet nach Yiara zu meiner Cousine gehen, Leyya. Noch heute... im Norden seid ihr sicher. Fort von Kamien... fort von den Schattengeistern aus dem Ostreich.“

„Demut sollen sie dich lehren, Karana... die Schattengeister, vor denen du dich fürchten solltest. Und am Ende werden die Schatten fallen, wenn du demütig bist.“ Karana schauderte und erzitterte so heftig, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte, noch immer die Augen fassungslos auf das Schwert und die Frau gerichtet. In dem Moment, in dem ihm Ianas Waffe aus den Fingern zu gleiten begann, weil er so zitterte, sprach er mit bebenden Lippen zu den Geistern, die in seinem Kopf zischten und verschwommene Bilder zeigten, die er nicht verstand.

„An welchem... Ende...?“ Er sah, wie Iana die Augen weitete, obwohl er sie nicht wirklich ansah; das Schwert fiel ihm aus der Hand und mit einem dumpfen Klang auf die Erde, während er bebend auf der Frau sitzen blieb und wie erstarrt in ihr Gesicht blickte, das zum ersten Mal so gar nicht nach Saidah aussah... sie sah nach Iana aus. Und er begehrte sie mehr, als er sie jemals zuvor begehrt hatte, wenn er sie mit Saidah verglichen hatte.

Die Geister sprachen, während er vorne über kippte und spürte, wie die Macht aus seinem Geist wich, zusammen mit allem Zorn, der eben noch da gewesen war.

Vermutlich... am Ende der Welt, Karana.
 

Er küsste sie; Iana verstand weniger als jemals zuvor, was mit diesem Kerl kaputt war, dass er sie erst umbringen wollte und dann plötzlich küsste, aber sie wehrte sich nicht, als er plötzlich seine Lippen gegen ihre presste und ihre Hände los ließ, um stattdessen durch ihre schwarzen Haare zu streichen. Von einem Moment zum anderen war die Spannung einfach verschwunden, plötzlich war der Wahnsinn in seinem Gesicht weg, als sie zitternd den Mund öffnete, um seiner Zunge den Einlass zu gewähren und er den Kuss intensivierte. Sie wusste nicht, ob sie sich fürchten sollte oder nicht... da reiste sie so lange schon mit diesem Spinner durch das halbe Land und dennoch war ihr sein Verhalten noch immer unbegreiflich... oder ihr eigenes, kam ihr, als er kurz von ihr abließ, um sie dann sofort erneut zu küssen, fordernder, heftiger als zuvor. Und sie wollte nicht, dass er aufhörte... sie hatte plötzlich das verwirrende Verlangen, zuzulassen, dass er tat, was er augenscheinlich im Sinn hatte, als seine Finger ihre Haare verließen und an ihrem schlichten Hemd zu nesteln begannen, dabei mit ungeahnt sanfter Intensität ihre Brüste drückend... sie hatte noch nie dieses seltsame Gefühl in sich gespürt, das sie jetzt überkam, ein fremdartiger und gleichzeitig vertrauter Schauer, der ihren Körper ungewollt in Flammen setzte. Keuchend riss sie sich aus dem Kuss los und schnappte nervös nach Luft, als sie sein Gewicht über sich spürte, wie er sich auf sie legte und wie seine Finger unter ihr Hemd wanderten und ihre nackte Haut darunter berührten. Es fühlte sich an, als wären sie glühende Stangen, die ihre Haut zu Brennen brachten, sobald sie sie berührten, und sie lehnte japsend den Kopf in den Nacken, ihm ihre blanke Kehle hin streckend, während er über ihr vor Erregung stöhnte und mit den Lippen zu ihrem Schlüsselbein wanderte. Zitternd spürte die Frau, wie eine seiner Hände sich ihren Weg hinab zwischen ihre Beine zu suchen begann, und in dem Moment war es, in dem sie dem Feuer in ihrem Leib verbot, sich weiter auszubreiten und sie in die Knie zu zwingen. Mit einem Keuchen stieß sie ihn von sich herunter und schlug ihm ins Gesicht, sodass er zu Boden stürzte, während sie sich heftig atmend aufsetzte und ihre Kleidung zurecht rückte.

„H-hast du mich nicht verstanden, Karana?!“, bellte sie ihn an und versuchte, die Verwirrung über ihre eigenen Gefühle mit Schreien zu überspielen, indem sie ihn beobachtete und er sich japsend ebenfalls aufsetzte und sich die feuerrote Wange rieb. „Ich sagte, lass mich los! Schwein!“

Sie kam sich ungerecht vor, ihn zu beschimpfen... auch wenn er es verdiente, er hatte sie töten wollen... aber was er danach getan hatte, war nicht wirklich gegen ihren Willen geschehen. Sie schauderte bei dem Gedanken und errötete heftig, den Kopf weg drehend, um ihm ja nicht ihre Verlegenheit zu zeigen.

Zu ihrer Verblüffung schien er nicht einmal wütend zu sein darüber, dass sie es beendet hatte.

„Yiara...“, keuchte er atemlos, „Wir... ich muss nach Yiara, meine Familie ist dort. Die Geister... sie haben gesprochen, mein Vater hat zu meiner Mutter gesagt, wir sollten nach Yiara.“ Verblüfft starrte Iana ihn an.

„Was? Wie jetzt, ich dachte, nach Vialla oder Taiduhr!“

„Nein... da ist mein Vater, aber der Rest meiner Familie ist in Yiara. Meine Tante lebt dort, es ist eine Stadt weit oben im Norden Kisaras.“ Blinzelnd sah sie zu, wie er sich erhob und seinen nervös winselnden Hund beruhigte, indem er ihn streichelte und ihm gut zu redete.

„A-aber... wie, auf einmal? Das verstehe mal einer.“

„Die Himmelsgeister sprechen wieder.“, erklärte er gut gelaunt, „Ich glaube, was immer Zoras angerichtet hat, jetzt ist... es weg.“ Er sah stirnrunzelnd auf Ianas Schwert, das noch immer am Boden lag, und schwieg kurz, ehe er murmelnd fortfuhr: „Der Schatten über meinem Geist... ist verschwunden.“

„Wie kannst du sicher sein?“, fragte sie irritiert, und er ließ seinen Hund los und räusperte sich, ehe er die Hand nach rechts streckte und mit einem kurzen Zischen eine kleine, harmlose Flamme in seinen Fingern entstehen ließ. Ungläubig starrte sie ihn an.

„Siehst du? Zaubern kann ich auch wieder. Dein Schwert ist einmalig, es hat mir das Leben gerettet.“

„Das... halte ich für übertrieben!“

„Aber als ich deine Waffe berührt habe, verschwand der Schatten. Schattenklinge... hm? Das ist sein Name... habe ich recht?“ Die Schwarzhaarige blicke konfus auf ihre Waffe und dann wieder zu dem jungen Magier, ehe sie die Schultern zusammenzog.

„Ja... das hat mir mein Vater... auch gesagt.“

„Ich wage nicht, es noch mal anzufassen...“, murmelte Karana und zog die Stirn in Falten, das Erbstück musternd, „Aber es ist... ganz sicher kein einfaches Schwert. Wieso trägst du als Nichtmagierin ein Schwert, das ganz offensichtlich eine Waffe der Schamanen sein muss...?“ Sie sah auf die Waffe und schwieg lange – als sie sich endlich aufrappelte und ihr Kurzschwert wieder aufhob, blickte sie ihren Begleiter kurz nichtssagend an.

„Ich bin keine Nichtmagierin, du Penner.“, erklärte sie, „Ich bin immerhin Halblianerin.“ Sie erntete einen verdutzten Blick von ihm, ließ ihn aber keine weiteren Fragen stellen. „Wenn es dir wieder gut geht, können wir ja weiter. Ich werde dich nach Yiara begleiten und dann kann deine Tante oder wer auch immer mich dafür entlohnen, dass ich dir dreimal das Leben gerettet habe, wenn nicht viermal. Nein, fünfmal mit dem von eben.“ Ohne ihm einen Blick zu schenken schritt sie davon, sich darauf verlassend, dass er ihr folgen würde. Als sie hörte, dass er es tat, senkte sie grimmig den Kopf und schielte ihr Kurzschwert erneut an, das jetzt an ihrem Gürtel hing.

Halblianerin war sie... dass das mit dem Schwert nichts zu tun hatte, verschwieg sie dem Spinner lieber. Ebenso, dass ihr Vater, von dem sie es bekommen hatte, kein Magier gewesen war, soweit sie wusste... das war nur die Frau gewesen, von der er die Schattenklinge einst bekommen hatte.

„Du siehst ihr so ähnlich... Akada... deswegen nennen wir dich ja Himmelskind.“
 

Der Weg nach Yiara war weit. Jetzt, wo er seine Instinkte zurück hatte, konnte Karana ziemlich schnell in etwa orten, wo sie sein müssten und wie weit es noch war. Sie waren schon ein gutes Stück nach Norden gekommen... sie mussten östlich an Vialla vorbei gegangen sein, stellte er fest, als sich vor ihnen die Berglandschaft des Hochlandes auftat. Am Fuße der zerklüfteten Berge machten sie nach Einbruch der Dunkelheit Rast. Aus spärlichem Reisig, das sie aufgetrieben hatten, konnte Karana mit Hilfe von Vaira ein kleines Lagerfeuer machen, an dem sie sich wärmen konnten. Jetzt, im Herbst, wurden die Nächte zunehmend kälter und ohne Decke oder andere Wärme ließ es sich nur sehr unangenehm draußen schlafen. Als sie schweigend am Feuer saßen, Karana neben seinem Hund, der an den Knochen eines Karnickels kaute, das sie zuvor gejagt und gebraten hatten, nahm der junge Mann sich die Zeit, Iana wieder zu betrachten. Diese Frau... was ritt die Geister, ihn auf so eigenartige Art an sie zu binden? Er war verwirrt... jetzt, wo er seine Macht zurück hatte, war der Zorn in ihm verschwunden. Die Momente, die sein Vater so verabscheute, Momente, in denen Karana die Kontrolle über seine Zunge und seine Hände verlor, waren plötzlich vorbei. Zumindest für den Augenblick... wer wusste schon, was geschah, wenn er das nächste Mal seinen eigenen Geist nicht richtig festhalten konnte? Es verwirrte ihn... und das hatte es immer getan, er hatte immer diese Momente purer Boshaftigkeit gehabt, eine Seite an ihm, die niemand belächelte und niemand gern sah... nur seit er mit der Hühnerdiebin unterwegs war, war es schlimmer geworden... die Verwirrung. Der Wechsel zwischen den bösartigen Momenten und denen, die es nicht waren.

Hühnerdiebin...

„Warum hast du nicht im Lianerdorf gelebt, obwohl du zur Hälfte selbst eine bist?“, fragte er sie prompt, und sie drehte abrupt den Kopf zu ihm; offenbar hatte er sie aus den Gedanken gerissen. Iana zischte. Grimmig wie immer.

„Wie du kluger Weise selbst gesagt hast – zur Hälfte. Das reicht nicht. Im Lianerdorf leben nur richtige Lianer. Halbe dürfen nicht hinein.“

„Ist doch hirnverbrannt.“, behauptete er, „Nichtlianer sehe ich ja ein, aber du bist es doch immerhin halb! Hast du deswegen Hühner geklaut, weil... sie dich nicht hinein gelassen haben?“ Sie seufzte. Nach einer Weile sprach sie.

„Lianer tun immer so, als wären sie die Opfer der Nation, weil sie gejagt und versklavt wurden. Die paar, die hier auf Tharr leben, sind frei und werden wie geschützte Tierarten behandelt. Und damit sind sie etwas Besonderes und bilden sich darauf viel ein. Ich habe in dem Dorf gelebt, bis meine Mutter starb. Aber auch die Zeit dort war nicht schön. Ich war immer anders. Ich habe schwarze Haare und keine weißblonden, meine Haut ist nicht so blass wie die anderer Lianer und meine Augen sind von einem kräftigeren Blau. Ich war anders, anders ist grundsätzlich schlecht bei einem Volk, bei dem alle dieselben äußerlichen Merkmale haben.“ Karana schauderte.

„Das ist Diskriminierung, kann man dagegen nichts tun?“

„Wie denn? Wenn einer der Politiker in Thalurien es wagt, die Lianer zu kritisieren, gilt er doch sofort als Rassist, jeder Idiot würde sich davor hüten, sich da einzumischen, wenn er sein Ansehen behalten will. Wir wurden damals ja geduldet, aber eben nicht akzeptiert.“ Er sah sie schweigend an, während sie ins Feuer starrte und ein verbiestertes Gesicht machte.

„Und als deine Mutter starb... seid ihr von dort weg?“

„Sie war Lianerin – mit ihrem Tod haben wir das Recht verloren, im Dorf zu wohnen. Sie haben uns rausgeschmissen und dann haben wir draußen gelebt. Und es war so viel schöner als in diesem beschissenen Dorf mit diesen behinderten, rassistischen Bleichgesichtern... wir haben uns wohl gefühlt.“ Karana nickte nur stumm und sagte nichts weiter, weil sie den Kopf weg drehte und nicht den Anschein machte, als wäre sie bereit, mehr von sich zu erzählen.

„Das tut mir leid... Iana.“, sagte er schließlich, „Dass dir sowas passiert ist, meine ich. Das verdient kein Mensch.“

„Spare dir dein Gejammer. Das macht es nicht ungeschehen. Aber danke... für deine gespielte Anteilnahme.“ Er brummte.

„Sie war nicht gespielt, grimmige Hühnerdiebin. Hörst du dich eigentlich mal reden? Kennst du eigentlich so etwas wie Vertrauen? Ich meine, du... du hältst mich die ganze Zeit für ein absolutes Arschloch, vielleicht bin ich das manchmal, aber ich bin irgendwo auch ein Mensch.“ Sie lachte hohl.

„Was hat mein Schwert mit dir gemacht, dass du plötzlich wieder so herum schleimst? Vorhin warst du noch der Tyrann, der mich unterwerfen und töten wollte... hast du das vergessen?“ Er starrte sie nur an, während sie ihm ein kaltes, herzloses Lächeln zeigte. „Ich vertraue niemandem, Karana Lyra. Und dir schon gar nicht, du wankelmütiger Rammler. Ich schlafe jetzt... wenn du auf die Idee kommst, mich im Schlaf anzurühren, töte ich dich.“
 

Da nahm er sie lieber beim Wort; obwohl ihn der Gedanke zunehmend reizte, sie anzufassen... wie am Ufer des Sees oder im Wald, nachdem die Schatten verschwunden waren. Karana dachte manchmal schaudernd an die flüchtigen Momente, in denen er sie berührt hatte, und es schürte das Verlangen in ihm, es wieder zu tun. Sie reizte ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit, mehr als alle anderen Tussen aus Thalurien es jemals vermocht hatten, sogar mehr als Niarih... so wie Saidah, seine erste Flamme, der sie so ähnelte.

Karana knurrte innerlich, während er Tage später hinter ihr ging und sie betrachtete, während sie versuchte, Aar loszuwerden, der hartnäckig an ihrer Seite gehen wollte. Der Hund schien auch einen Narren an ihr gefressen zu haben... Karana wusste, dass das gut war, denn Aar mochte nicht jeden grundlos. Er gehorchte ihm zwar und tat niemandem etwas, aber so hartnäckig neben einem Menschen gehen tat der schwarze Wolfshund selten.

Es war kalt geworden. In den Bergen war es kühl und je weiter sie nach Norden kamen, desto kälter und unangenehmer wurden die Nächte. Yiara zu finden war nicht sonderlich schwer... es war die nördlichste Stadt des Landes, wenn man immer weiter nach Norden ging, musste man irgendwann ankommen.

„Musste deine Familie gerade in die am weitesten entfernte Stadt im Land fliehen?!“, fragte Iana ihn irgendwann, als sie das Hochland quasi hinter sich gelassen hatten und sich langsam der kalten, nördlichen Halbinsel Dokahsan näherten, der Provinz, aus der der Lyra-Clan ursprünglich stammte, in der Yiara lag. Karana schnaubte in ihre Richtung und rieb sich die Arme.

„Also rein vom Klima her wäre mir Dobanjan auch lieber gewesen!“, erklärte er, „Diese Kälte ist grauenhaft, im Süden ist es so schön warm. Aber meine Tante lebt nun mal in Yiara, schon ewig!“

„Ich hoffe, du bist dir da sicher, nicht, dass wir wieder umsonst herum gelatscht sind, langsam zahlt sich die Belohnung, die ich für dich bekommen könnte, nämlich nicht mehr aus. Ich latsche seit Wochen mit dir durch die Gegend, wir haben sicher bald den elften Mond!“ Karana hielt an, als Aar, der voraus gerannt war, laut bellend stehen blieb. Neben dem Mann kam auch die Hühnerdiebin zum Stehen und er sah sie schmollend an. Sie trug kaum mehr Kleidung als er, dennoch machte sie nicht den Eindruck, als wäre ihr kalt.

„Ich habe dich nicht gezwungen, mir nachzurennen, Hühnerdiebin. Frierst du nicht?“

„Ich habe jahrelang in einer Erdhöhle gelebt, ich bin Kälte gewohnt. Du etwa?“ Er zischte, ohne wirklich zu antworten. Natürlich war ihm kalt, sein dämliches, dreckiges und zerrissenes Hemd hatte kurze Ärmel und vom Regen der vergangenen Tage waren seine Kleider so feucht, dass sie ohnehin kaum warm hielten. Es wurde dringend Zeit, dass sie ein Dorf fanden...

Bei dem Gedanken fiel ihm sein Hund wieder ein, der vor ihnen auf dem Hügel stand und jetzt aufhörte zu bellen, als Karana zu ihm aufschloss und dem Blick des Tieres folgte. Am Fuß des letzten Ausläufers des Hochlandes lag eine kleine Siedlung mitten in der Einöde. Es musste ein sehr kleines Dorf sein – aber besser als nichts, sie könnten vielleicht für die Nacht eine Unterkunft bekommen und etwas richtiges zu essen...

Iana trat neben ihm, als er samt Aar begeistert herab starrte, und er sah zu ihr, als sie den Kopf in seine Richtung drehte.

„Dieses Mal bleibt dein Köter draußen. Ich lasse mir nicht noch mal von dieser Bestie mein Dach über dem Kopf versauen, Karana.“
 

Iana hatte das Gefühl, dass der verwöhnte Prinz aus Thalurien ihrer Bitte tatsächlich nachgekommen wäre. Das Problem war nur, dass es nirgendwo einen Wald gab, in dem sie den Hund hätten verstecken können... und als sie beim Pförtner ankamen, der das Dorf bewachte, hatte der den Hund längst bemerkt.

„Wilde Tiere haben keinen Zutritt, Fremde. Wer seid ihr und was begehrt ihr zu dieser Tageszeit? Die Nacht kommt bereits, um diese Zeit trifft man hier selten Passanten.“ Iana warf ihrem Begleiter einen grimmigen Blick zu, als er schon ansetzte:

„Der Hund gehorcht meinem Willen, ich schwöre Euch, dass er niemandem ein Haar krümmen wird...“

„Der Köter bleibt draußen.“, fiel die Frau ihm barsch ins Wort und knurrte, als er sie verblüfft anstarrte und Aar mitleiderregend winselte. Der Pförtner runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden Menschen hin und her.

„Ähm...? Also, hinein kommt das Tier nicht. Und eigentlich lasse ich ohnehin ungern Passanten ein um diese Tageszeit. Versucht es morgen wieder.“

„E-es ist doch noch nicht mal dunkel!“, empörte Karana sich, „Kuhkaff hier, wir würden gerne hier übernachten, Herr!“ Iana verdrehte die Augen – er konnte es einfach nicht. Höflich mit Menschen zu reden war offenbar nicht sein Ding... wobei er sich verbessert hatte.

„Wir sind auf der Durchreise nach Yiara.“, erklärte sie dem Wächter ruhig, „Wir sind weit gereist und sind sehr müde... wenn der Hund draußen bleibt und und wir angemessen bezahlen, könnten wir dann vielleicht in Eurem Dorf um Unterkunft bitten für eine Nacht?“

„Bezahlen?“, fragte der Mann und musterte sie von oben bis unten, „Womit wollt ihr bezahlen, Fremde? Ihr seht aus, als kämet ihr geradewegs aus einem Schweinestall! Und so riecht ihr auch.“ Karana brummte.

„Wage es nicht, sie anzustarren, Alter. Iana bezahlt nicht mit ihrem Körper. Mein Vater ist Senator, wenn ich bei meiner Familie angekommen bin, werden wir Euch entsprechend entschädigen, das verspreche ich.“ Iana fuhr verblüfft herum über seine ersten Worte, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen, weil der Pförtner ihr lachend ins Wort fiel.

„Dein Vater ist Senator?! Senator von wo, dem Schweineland? Oder von Dreckshausen? Genau, und morgen seid ihr über alle Berge und wir sehen kein Geld von euch... solche Typen wie dich kenne ich zur Genüge, Bursche. Verschwindet, macht, dass ihr weg kommt!“

„Wagt es nicht, so über meinen Vater zu sprechen!“, zischte Karana und Iana schlug sich gegen die Stirn – jetzt ging das wieder los. „Mein Vater ist Senator in Thalurien und ich verlange, verdammt noch mal, eingelassen zu werden!“

„Thalurien?“, kicherte der Mann, „Und was hat ein... Sohn eines Senators aus Thalurien hier in Dokahsan zu suchen? Nenne deinen Namen, du Knilch, vielleicht hast du Glück und ich kenne dich.“

„Karana Lyra.“, sagte er düster, „Sohn von Puran Lyra, der Name sollte dir etwas sagen, du Knilch.“ Der Wächter machte ein nachdenkliches Gesicht und musterte den erbosten jungen Mann vor sich, der grimmig die spitzen Eckzähne fletschte – dann zog er die Schultern hoch.

„Nö. Hab nie von ihm gehört. Ich kenne keine Leute aus dem Süden, du Idiot. Verschwindet, aber sofort.“ Iana sah die Lage schon eskalieren, als Karana tief Luft holte und wutentbrannt die Arme empor hob – doch in dem Moment, in dem sie panisch fürchtete, er würde den armen Kerl am Tor mit einem Zauber grillen, bekamen die beiden unerwartet Unterstützung.

„Dummkopf, dass du seinen Namen nicht erkennst... gerade hier in Dokahsan. Sie können bei mir übernachten, ich übernehme die Verantwortung für sie und den Wolf.“

„Hund.“, korrigierte Karana perplex und all sein Zorn schien dahin, als er und Iana am Wächter vorbei ins Dorf blickten – dort stand eine alte Frau, die sie ernst musterte. Der Pförtner drehte sich zu der Dorfbewohnerin um und keuchte.

„W-wie bitte?! Ich wusste nicht, dass du Leute aus dem Süden kennst... Wie kannst du sicher sein, dass er nicht lügt, Namah?“ Die alte Frau schnaubte.

„Ich bin Magierin und kann es sehen, Hornochse. Und falls es dir entgangen ist, habe ich viele Jahre im Süden gelebt, ehe ich herkam. Jetzt lass sie schon durch, oder ich ziehe andere Saiten auf.“ Iana runzelte die Stirn bei dem boshaften Ton, den die Alte an den Tag legte, und sie fragte sich, ob sie das Dorfoberhaupt war oder warum sie sich sonst so einen Ton einem Mann gegenüber erlauben durfte. Dort, wo sie herkam, war das absolut unmöglich...

Der Wächter stöhnte, als er wieder zu ihnen sah und dann zur Seite trat.

„Die alte Namah ist so freundlich, euch aufzunehmen!“, knurrte er, „Sogar den Wolf.“

„Hund!“ empörte Karana sich und Aar bellte.

„Seid dankbar, ihr Gesindel... einmal lasse ich es durchgehen.“ Er drehte sich wieder zu der Alten: „Auf deine Verantwortung, du alte Schachtel! Wenn du morgen tot und beraubt am Boden liegst, werden wir dich nicht bestatten!“ Iana sah Karana neben sich erschaudern bei den Worten, die Alte jedoch war ganz gelassen und machte eine schnippische Handbewegung.

„Schnabel halten. - Folgt mir, Fremde... in meiner Hütte könnt ihr nächtigen und bekommt etwas zu essen. Bindet euren Wolf vor der Tür an, da ist ein Pflock.“

„Hund!“, knurrte Karana kleinlaut, Iana war froh, dass er nicht weiter protestierte.
 

Die Hütte der alten Magierin war klein, aber gemütlich, stellte Iana erfreut fest – die Wärme, die sie umgab, als sie eintraten, war wahnsinnig angenehm und der Gedanke, am nächsten Tag wieder hinaus zu müssen, war absolut fürchterlich. Es gab einen Kamin, in dem ein Feuer brannte, über dem in einem Kessel Suppe gekocht wurde. Die alte Frau bot ihnen beiden schweigend Suppe in hölzernen Bechern an, ehe sie zu dritt um dem Fell eines Bären am Boden vor dem Kamin hockten und ihre Brühe tranken. Letztendlich war es Karana, der zuerst sprach.

„Danke für die Unterkunft, gute Frau. Ich dachte schon, wir müssten wieder draußen schlafen... dass diese Pförtner sich immer so anstellen, Himmel.“ Die Alte zeigte ein flüchtiges Lächeln.

„Mein Name ist Namah Manha.“, stellte sie sich vor und Karana zog die Brauen hoch.

„Namah Manha? Das ist aber ein komischer Name.“

„Nun, Manha war der Name meines Ehemannes, als man mir meinen Vornamen gab bei meiner Geburt, konnte man ja nicht ahnen, dass ich einmal im Nachnamen dieselben Buchstaben hätte.“

„Das ist wohl wahr, das kann mir als Mann nicht passieren.“, gluckste Karana und nickte ihr zu, „Ihr habt meinen Namen ja schon gehört, glaube ich, ich bin Karana Lyra.“

„Ich weiß. Aus diesem Grund habe ich euch ja hergebeten. - Wie ist dein Name, Frau?“ Sie wandte sich an Iana, und die Schwarzhaarige trank ihre Suppe aus und räusperte sich.

„Ak-... ich meine, Iana Lynn.“

Ich meine?“, fragte Karana, „Heißt du gar nicht Iana?!“

„Doch, das ist mein richtiger Name.“, sagte sie dumpf, „Ich stelle mich mitunter versehentlich mit dem Spitznamen vor, den mein Vater mir immer gegeben hat, Akada.“

„Davon wusste ich noch gar nichts.“, machte er verdutzt und sie seufzte, ohne weiteres dazu zu sagen. Galant wechselte sie das Thema und richtete sich an die Alte. „Dann kennt Ihr seinen Namen also, obwohl er aus dem Süden stammt?“

„Natürlich kenne ich den Namen Lyra. Und aus dem Süden stammen ist die falsche Bezeichnung, ursprünglich stammen die Lyras schließlich aus Dokahsan. In dieser Provinz zu leben und den Namen nicht zu kennen grenzt ja beinahe an Blasphemie.“ Karana hustete.

„W-wie bitte?! Das – ist aber etwas übertrieben. Ich weiß, dass meine Vorfahren von hier waren, selbst mein Vater ist hier noch aufgewachsen... aber...?“ Iana wusste nicht, worüber sie sich mehr wundern sollte – dass seine Familie hier oben so etwas wie heilig zu sein schien oder dass er plötzlich so unterwürfig war.

„Was genau meint Ihr denn mit Blasphemie?“, wunderte sie sich und die Alte sah sie kurz an.

„Der Clan der Lyra war ein wichtiger Bestandteil dieser Provinz, ehe die Zuyyaner kamen. Sie sind der mächtigste und älteste Clan der Schamanen dieser Gegend, sie sind bekannt als mächtige Rufer und Beschwörer der Himmelsgeister... einstmals gehörte dieser Familie ganz Dokahsan. Das ist nicht so lange her, dass dieser Trottel von Pförtner das einfach übersehen haben kann... es ist knapp über vierunddreißig Jahre her, dass die Provinz noch Lyrien geheißen hat, benannt vom damaligen Herrn der Geister, Kelar Lyra.“

Jetzt stellte Iana ihren Becher lieber weg und starrte abwechselnd die Frau und Karana an – Moment. Sein Vater war Senator in Thalurien und seine anderen Vorfahren hatten... eine ganze Provinz besessen? Wo war sie bitte, war das ein Witz? Sie sah ungläubig auf ihren Begleiter, der die grünen Augen geweitet hatte und schauderte.

„Kelar Lyra?“, japste er, „Das – den Namen habe ich schon mal gehört, er war der Großvater meines Vaters! Aber diese Geschichte habe ich bisher nicht zu hören bekommen... ganz Dokahsan hieß einst Lyrien nach meinen Vorfahren?!“

„Ganz recht.“, kicherte die alte Namah guter Laune, „Es waren keine leichten Zeiten damals, aber meiner Familie ging es zu Kelars Lebzeiten hier sehr gut. Ich bin etwas weiter nördlich von hier geboren und aufgewachsen, ich habe die Blüte von Lyrien miterlebt, als ich jung war. Der König von Lyrien selbst kam mitunter meine Familie besuchen, ich erinnere mich noch genau. Du...“ Sie zeigte dabei verschwörerisch auf Karana, der erstarrte, „Hast ein wenig von seinem Gesicht. Er war ein sehr hübscher Mann... meistens hatte er schlechte Laune, aber er hatte ein bildhübsches Gesicht. Ach, das ist lange her.“ Karana blinzelte konfus und Iana runzelte verhalten die Stirn. Was war das denn, wollte die alte Schachtel jetzt den Rest des Abend von Karanas Urgroßvater schwärmen? Na toll.

„Mein Vater hat mir nie viel von ihm erzählt... eigentlich gar nichts.“, murmelte der Schamane neben ihr und kratzte sich am Kopf, „Ich habe nur seinen Namen mitunter fallen gehört, wenn Vater wütend war und geflucht hat.“ Die Alte kicherte etwas behindert vor sich hin und Iana schauderte – offenbar schien Karanas Vater nicht so angetan zu sein von seinem Großvater wie diese Alte hier... es war aber etwas anderes, das die Schwarzhaarige stutzen ließ, als sie sich das Gesicht der alten Namah genauer ansah – es waren die verdammten Zähne. Sie hatte die gleichen, dämonischen Fangzähne wie Karana sie hatte.

Verblüfft fuhr sie zurück und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Die Frau hatte dasselbe, markante Merkmal wie Karana, war das Zufall? Sie wagte nicht, die beiden darauf anzusprechen, und behielt es sich lieber im Hinterkopf.

„Warum... gibt es Lyrien heute nicht mehr?“, wunderte Karana sich gerade, und die Alte blinzelte.

„Na ja, Kelar starb. Sein Sohn hat das Königreich, das sein Vater geschaffen hatte, wieder aufgelöst, soweit ich weiß, und es wurde wieder zu der Provinz Dokahsan, zu einem unbedeutenden Landstrich in Kisara. Was für ein Tor, dieser Knilch. Und seit die Zuyyaner uns überfallen haben, ist das Schloss der Lyras oben im Norden gefallen und die Familie ist verschwunden. Du bist doch in Thalurien aufgewachsen... oder nicht?“ Er nickte dumpf.

„Ihr sagtet vorhin, Ihr kämet auch aus dem Süden...?“

„Wir haben lange in Kamien gelebt. Die Zuyyaner töteten meine Familie und nahmen mich gefangen... aber ich konnte fliehen und kam hierher zurück, in den Norden, in dem ich geboren wurde. Leider habe... ich in Kamien meinen Mann und meine Kinder verloren im Krieg.“ Sie senkte dabei den Kopf und Iana tat es ihr gleich, als sie sich fest an ihren Becher klammerte und ihr die Erinnerung an ihre Familie wehzutun schien.

„Es... tut mir leid.“, sagte die Halblianerin dumpf, und die alte Frau sah versonnen in ihre Tasse und lächelte ein dämonisches Lächeln, als sie leise fortfuhr.

„Mein Ältester war ein so hübsches, kluges Kind... manchmal... träume ich noch von ihm... weit, weit weg hinter den Schatten des Mondes.“
 

Als die Alte ins Bett ging, das sich in der Schlafkammer neben der Stube befand, überließ sie den beiden Gästen das Wohnzimmer und die Wärme des Kamins. Beide bedankten sich noch einmal für die Freundlichkeit der alten Frau, dann herrschte lange Zeit Stille. Karana sprach erst wieder, als er der Meinung war, die Alte würde inzwischen schlafen oder zumindest so kurz davor sein, dass ein Gespräch in gedämpfter Lautstärke sie nicht weiter stören würde.

„Schon seltsam. Meine Familie hatte hier oben ein richtiges Schloss und mein Urgroßvater war König. Ich meine, das ist wirklich... verblüffend. Und da wachse ich unwissend in einem Kuhkaff in Thalurien auf...“

„Dein Vater hatte sicher Gründe, nicht darüber zu sprechen.“, murmelte Iana dumpf, während er sich gegen die Mauer des Kamins lehnte und gähnte. „Frag ihn einfach, wenn du ihn wieder siehst.“ Ja, das nahm er sich vor – wenn er seinen Vater denn demnächst überhaupt sehen würde, der war schließlich im Süden des Landes geblieben und würde vermutlich dank seiner Stellung auch nicht einfach quer durch das Land zu seiner Familie reisen können. Es geschahen schlimme Dinge... er erinnerte sich flüchtig an das Desaster in Dobanjan an der Küste, das sie mit angesehen hatten. Das Ostreich schien tatsächlich einen Krieg vom Zaun zu brechen... und was war mit den Idioten aus Kamien? Wobei die ihm im Augenblick weniger furchtbar erschienen als die Armada aus Ela-Ri. Es hieß, im Ostreich hausten Bestienzüchter, die Dämonen und Monster zähmten und auf die Menschen hetzen würden, Kannibalen, die sich vom Fleisch ihrer Opfer ernährten und Schlächter, die in falschen Ritualen Menschen zerstückelten, um irgendwelche Götzen zu befriedigen, die sie verehrten... so hieß es zumindest. Karana war nie dort gewesen – kein noch lebender Mensch des Zentralreiches war jemals dort gewesen, es war ein Land des Schreckens und des Todes.

Wenn das Reich fällt, werden sie knien...“, hatten die Geister gesagt, und er runzelte nachdenklich über diese Worte die Stirn. Wer würde fallen? Und wer sollte knien? Er würde sich eher den Kopf abschlagen lassen als vor dem Bestienkönig aus Ela-Ri zu kriechen. Es war nicht zum Kriechen geboren... er war ein Erbe der Lyra.

Unruhig beobachtete er seine Begleiterin, die sich auch gegen den Kamin lehnte und ihren Zopf auflöste, um sich mit den Fingern kurz durch die offenen, schwarzen Haare zu fahren, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er schauderte, als er so neben ihr saß, obwohl es einen beachtlichen Abstand gab... im Schein des langsam verglühenden Feuers leuchtete ihre Erscheinung in bizarren Farben und die Schatten, die sie an die Wand warf, waren skurril und dennoch auf seltsame Weise berauschend. Schatten... die sie zähmte mit dem Schattenschwert an ihrem Gürtel. Er warf einen Blick auf die Waffe.

„Dein Schwert... das ist doch keine Waffe der Lianer. Dein Vater hat es dir vermacht, sagst du, aber deine Mutter war die Lianerin. Wenn dein Vater also ein Nichtmagier war... wie kommt er an dieses Ding, das nicht in die Hände eines Nichtmagiers gehört?“ Sie drehte das Gesicht ungläubig zu ihm, sah kurz auf die Klinge und zischte.

„Was schert es dich? Es gehört mir, meinem Vater ist es geschenkt worden, bevor ich geboren wurde. Du bist wohl besessen von dem Ding.“

„Nein, ich...“ Er stockte kurz, ehe er sich räusperte und fortfuhr: „Ich weiß nicht, irgendwie kommt es mir... so vertraut vor, dein Schwert. So... wie eine weit entfernte Erinnerung, an die ich mich gar nicht erinnern sollte. Aber mir ist, als hätte ich es schon früher gesehen. Vielleicht in einem anderen Leben.“

„Mag sein.“, zuckte die Frau desinteressiert mit den Schultern, „Keine Ahnung.“ Karana brummte.

„Warum bist du bloß immer so abweisend? Ich meine, statt jedes Mal möglichst schnell und teilnahmslos das Gespräch zu beenden, könntest du doch einfach zulassen, dass wir uns besser kennenlernen.“

„Wozu? Wir sind doch bald in Yiara, oder nicht? Da hole ich mir die Belohnung und verschwinde wieder. Danach werde ich dich vergessen, du bist mir egal, Karana. Und jetzt tu bloß nicht wehleidig. Du findest schon eine andere Schlampe, die für dich die Beine breit machen will.“ Er starrte sie fassungslos über ihre kalten Worte an und senkte schließlich grimmig die Brauen.

„Ich sollte dich fesseln und für immer mit mir herum schleifen zur Strafe...“

„Oh, jetzt wird der Herr wieder besitzergreifend. Willst du jetzt wieder, dass ich vor die knie und dir die Füße lecke? Vergiss es, Karana, ich bin nicht deine Sklavin und habe auch nicht die Absicht, etwas ähnliches zu werden.“

„Ich will nicht, dass du meine Sklavin bist!“, empörte er sich entsetzt und sie lachte hohl, bevor er herum fuhr und sie grantig anstierte. Dann wich der grimmige Blick einem dämonischen Grinsen, ehe er sich zu ihr vor beugte und sie finster angrinste. „Nein... eine Sklavin wirst du mehr sein... wenn du mir den Rücken kehrst... Iana. Denn ich werde dich nicht vergessen, grimmige Hühnerdiebin, und ich werde dafür sorgen, dass du... es auch nicht tust.“ Sie schnappte nach Luft und schlug nach ihm, aber er wich ihrer Hand glucksend aus.

„Du bist gestört, Karana. Du würdest nicht wagen... mich zu töten.“ Kaum hatte sie ausgesprochen, packte er sie mit plötzlicher Gewalt an den Oberarmen, rammte sie gegen die Mauer des Kamins und presste sie brutal dagegen, seine Hände bohrten sich in ihre Arme und er brachte sie zum Keuchen. Mit demselben, fatalen Grinsen beugte er sich herab zu ihrem Ohr, während er sich breitbeinig über sie kniete und sich gegen ihren Leib presste. Sie zitterte... er spürte jede Bewegung ihres schönen Körpers so dicht an seinem, und es schürte die grauenhafte Flamme in ihm, die ihn schon seit Nächten um den Schlaf brachte. Wie lange war es her, dass er zum letzten Mal eine Frau gehabt hatte? Viel zu lange... und je länger es dauerte, desto unangenehmer wurde der Druck, der sich in ihm aufbaute.

„Ich... begehre dich...“, raunte er ihr ins Ohr und spürte, wie sie schauderte, was seine Erregung nur steigerte.

„Daraus... hast du kein Hehl gemacht...“, keuchte sie und versuchte vergeblich, ihn wegzustoßen, worauf er sie fester packte. „Ich bin sicher nicht die Einzige.“

„Ich begehre dich mehr als irgendwelche Nutten in den Dörfern. Ich begehre... wie du mich verabscheust, wie du mich so voller Zorn anstarrst, wenn ich... dir zu nahe komme.“

„Ich töte dich, wenn du es wagst!“, japste sie und fuhr zusammen, als er gewaltsam ihre Hände packte, sie mit einer Hand über ihrem Kopf gegen die Steine pinnte und mit der anderen Hand ihr Hemd hinauf zog, bis es ihre mit einem Tuch zusammen gebundenen Brüste frei gab.

„Du kannst mich nicht töten... nicht, weil du körperlich nicht fähig wärst, sondern, weil du... es nicht mehr wollen wirst. Du spürst es... in deinem Inneren, oder, Iana? Ich habe es schon am Seeufer gesagt... du wolltest es. Und du willst... es auch jetzt, in diesem Moment. Du willst, dass ich über dich herfalle und dich berühre... wo dich kein Mann bisher berührt hat.“ Grinsend schob er sein Gesicht wieder vor ihres und sah mit Triumph in den Augen, wie sie erbleichte bei seinen Worten und sich ihre blauen Augen vor Panik weiteten. „Ah... wie ich sehe, habe ich recht... wie immer, hm?“ Er kicherte und beugte sich über sie, um sie verlangend zu küssen. Sie strampelte unter ihm, versuchte, ihm zwischen die Beine zu treten, was er aber vereitelte, indem er selbst das Knie anhob und es mit sanfter Gewalt gegen ihren Schritt drückte. Sie keuchte und versuchte, sich aus dem Kuss zu lösen, doch als es ihr gelang, flammte ihr Gesicht nicht vor Zorn, sondern vor Verlegenheit... und es gefiel ihm, wie sie zerbrach an der Intensität seiner Worte und Bewegungen, obwohl er noch nicht mal richtig angefangen hatte.

„Lass mich los.“, schnarrte sie kalt und bemühte sich scheinbar um Beherrschung, „Sofort, Karana. Ich werde dir... nicht vergeben, wenn du das tust.“

„Ich will dir nicht wehtun.“, amüsierte er sich, „Genau genommen tue ich nur uns beiden den Gefallen.“

„Gefallen?!“, keuchte sie, „Glaube ja nicht, es gefiele mir, wenn du mich benutzt.“

„Wer sagt, dass ich dich nur benutze?“, fragte er und seine Stimme erkaltete in dem Moment, in dem er ihr wieder in das harte Gesicht sah. In ihrem Blick war die Verlegenheit verschwunden.

„Sieh dich doch an. Du brauchst jemanden, an dem du deine Triebe ausleben kannst, weil du schon ewig keine Frau mehr geknallt hast. Armselig, zu denken, ich würde darauf stehen, Karana.“

„Darum geht es nicht.“, knurrte er, errötete jetzt selbst und addierte ehrlich: „Also, jedenfalls nicht in erster Linie! Das wäre bei irgendeiner anderen Schlampe so, du bist anders. Das ist Instinktsache, Iana.“ Sie zischte.

„Das erzählst du vermutlich jeder Nutte, damit sie denkt, sie wäre die Liebe deines Lebens, die du im Übrigen nicht verdienst für deine Arroganz. Du irrst dich, ich wollte es nie und ich will es auch jetzt nicht. Du bist in deinem Inneren so abscheulich wie dein Äußeres schön ist... Prinz Lyra. Fass mich... nicht an!“

Er starrte sie für einen Augenblick an und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Schließlich ließ er sie los, ohne noch etwas zu sagen, und erhob sich, um sich drohend vor ihr aufzubauen und ihr lange schweigend ins Gesicht zu starren. Sie wussten beide, dass sie gelogen hatte. Und es war nicht ihre Ablehnung, die ihn erzürnte, sondern ihre monotone Stimme, ihr ausdrucksloses, kaltes Gesicht und die Gleichgültigkeit darin.

„Lügnerin...“, sagte er dumpf, „Wenn ich dich genauer ansehe, hast du recht. Du widerst mich auch an... du seelenlose Dämonenbraut.“ Er sah, wie sie erstarrte, und jetzt lächelte er böse. „Das kommt daher, dass du zwei verschiedene Namen annimmst, Iana und Akada. Niemand kann zwei Namen haben, der Name ist der Lebensgeist, der Name ist die Seele. Und du... hast keinen Namen, Frau. Du hast keinen Menschen, der dir etwas bedeutet, dir bedeutet nichts irgendetwas, oder nicht? Wie eine... geistlose Hülle, deren Zweck zu leben nicht existiert... ehrlich gesagt bedaure ich dich.“

Er sah ihr zu, wie sie auf die Beine sprang. Sie zitterte am ganzen Leib und sein Grinsen wurde breiter, als sie ihn voller Hass und Panik zugleich anstarrte, ehe sie die Hand hoch riss und ihm eine saftige Ohrfeige verpasste. Ohne weiteres zu sagen kehrte sie ihm den Rücken und rannte aus der Hütte, die Tür so heftig hinter sich zu schlagend, dass die arme alte Frau sicherlich aufgewacht war. Karana scherte sich nicht weiter um sie, setzte sich wieder hin und kicherte, ehe er sich die braunen Haare raufte und sich auf das Bärenfell vor dem erloschenen Feuer legte, um zu schlafen.
 

Die Nacht war eisig. Iana wusste nicht genau, wie sie die wahnsinnige Kälte ohne ein Feuer überlebt hatte, aber am nächsten Morgen war sie noch lebendig, sie spürte den Schmerz der Kälte in allen Gliedern und konnte sich kaum rühren. Sie zitterte am ganzen Leib vor Kälte, als sie es schaffte, sich hinzusetzen, weil sie Schritte hörte, die auf sie zu kamen. Kurze Zeit später kam der schwarze Hund zu ihr gewuselt, begrüßte sie hechelnd und wedelte dabei mit dem Schwanz, bis Iana es schaffte, sich das dämliche Tier vom Hals zu halten.

„Was zum Geier, Köter, lass mich leben...“ Als sie verspannt den Kopf drehte, sah sie auch des Hundes Besitzer aus dem nahen Dorf auf sie zu kommen, und sie schnaubte verbiestert, den Kopf sofort wieder weg drehend. Sie hätte weiter weg laufen sollen... oder nach Süden, irgendwo hin, wohin er ihr nicht folgen würde. Als sie noch darüber nachdachte, wegzurennen, war es schon zu spät und er hatte sie erreicht.

„Du lebst ja noch.“, sagte er grübelnd, „Na ja, ohne Seele friert man ja vielleicht nicht, wer weiß. Guten Morgen aber, Hühnerdiebin. Die Frau aus dem Dorf hat mir Proviant mitgegeben, das dürfte bis Yiara reichen. Warum bist du eigentlich noch da?“

Sie senkte grimmig den Kopf und wünschte sich zum zweiten Mal, sie wäre weggerannt. Aber sie war noch hier... warum war eine berechtigte Frage. Sie wusste es selbst nicht... irgendetwas in ihrem Inneren hatte verhindert, dass sie gänzlich davon lief. Sie wagte es, ihn kurz anzusehen, um festzustellen, dass der Triumph in seinem Gesicht sie anwiderte – was hatte sie anderes erwartet?

Sie fror und rieb sich fröstelnd die nackten Oberarme, während sie Karana wieder den Rücken kehrte.

„Ich will eine Belohnung. Ich renne doch nicht umsonst wochenlang mit dir herum, du Vollidiot.“

„Natürlich.“, versetzte er, „Die Pragmatikerin macht nichts ohne Zweck.“ Er ging an ihr vorbei und tätschelte ihr dabei den Rücken, wofür sie ihn am liebsten erschlagen hätte – sie schnappte nach Luft und zügelte ihren Zorn, als er sich zu ihr umdrehte, jetzt vor ihr, und sie schelmisch angrinste. „Soll ich dir sagen, warum du wirklich geblieben bist?“

„Nein.“, machte sie kalt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen und dann wiederum an ihm vorbei nach Norden zu gehen. Noch einen Spruch, der ihr beteuerte, dass sie nach ihm verlangte und an ihn gebunden war, konnte sie nicht gebrauchen... verblüffender Weise war seine Antwort nicht ganz das, was sie erwartet hatte.

„Ich kann dir... deinen Namen geben, wenn du möchtest... Iana Lynn. Deinen... Lebensgeist, der dich erst zu einem Menschen macht. Du weißt das... nicht wahr?“ Sie hielt inne – und in dem Augenblick, in dem sie es tat, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war.

Sie hätte nicht zögern sollen... ihm nicht schon wieder vor Augen halten sollen, dass er bis in ihr Herz zu sehen vermochte und jedes Mal recht hatte mit den abstrusen, perversen Dingen, die er sprach. Aber sie hatte es wieder getan...

Sie hasste sich dafür.

Verkrampft ballte sie die Hände zu Fäusten, ehe sie wütend zischte und ohne ihn anzusehen weiter geradeaus stampfte.

„Nein, kein Bedarf, Karana. Ich kenne meinen Namen.“

So behauptete sie grantig, während sie weiter ging und versuchte, die Anwesenheit des jungen Mannes hinter ihr zu ignorieren.
 


 

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Ähm. XD Karana ist bescheuert ♥ ich mag ihn XD

Das Erbe

Loron Zinca fluchte ungehalten, als die Frau ihm ins Gesicht spuckte. Dafür fing sie sich eine saftige Ohrfeige vom selbsternannten Prinz von Holia und schnappte nach Luft.

„Wie kannst du es wagen, so respektlos zu sein, du Hure?!“, blaffte der junge Mann sie an und rüttelte sie an den Schultern unsanft vor und zurück, „Deine Schuld ist es, Pakuna! Ich weiß es! Jetzt sieh mir verdammt noch mal ins Gesicht, du falsche Schlange, du Stück Dreck aus dem Norden! Ich lasse mich nicht von einer Frau demütigen, schon gar nicht von einer Magierin, ist das klar? Also wage nicht, mich noch wütender zu machen, du verblödete Kuh!“ Er wütete und schimpfte in einem Fort, er schlug ihr gegen den Kopf und versuchte wutentbrannt, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, wofür sie nach ihm trat und versuchte, ihn von sich weg zu stoßen. Sie verabscheute ihn so... jede Frau in Holia verabscheute ihn. Und seinen Vater... für die Frauen in Holia war das Leben nicht angenehm, solange die beiden Knilche am Leben waren.

Das Dorf in Kamien war ihr niemals eine Heimat gewesen; dennoch war es so vertraut, wieder hier zu sein, im staubigen Dreck auf der Dorfstraße, in der sandigen, krankhaften Luft, in der Einöde von Kamien. Es hatte Tage gedauert, bis sie aus Thalurien zurück gekehrt waren, und die Telepathin war sich nicht sicher, ob sie den Geistern dafür danken sollte, dass die sinnlose Eroberung des Ostens nicht funktioniert hatte, oder ob es eher schlimmer war, jetzt, da sie wieder zurück waren. Die Männer waren schlecht gelaunt, manche verletzt und manche hatte es das Leben gekostet – die Stimmung war erdrückender, als sie es jemals in diesem verfluchten Ort gewesen war.

Pakuna war eine tapfere Frau. Sie würde nicht schreien oder um Gnade flehen, wenn dieser Mistkerl ihre Beine auseinander drückte, wie er es immer tat, um seine widerlichen Triebe an ihr zu befriedigen... sie würde keine Schande über ihre Familie und ihre Vorfahren bringen, indem sie vor diesen Ungeheuern am Boden kroch. Sie härtete ihr Inneres jedes Mal, wenn Loron es tat, wie man einen Speerschaft im Feuer härtete, und verschloss ihren Geist gegen die Widerwärtigkeiten, denen sie so schutzlos ausgesetzt wurde. Sie musste tapfer sein und sehnsüchtig auf den Tag warten, an dem die Geister die Unholde für ihr Verhalten zerfetzen würden.

So war es auch mit den Räubern aus dem Wald geschehen, die sie mondelang geschändet, ihren Gatten geschlagen und ihr kleines Kind malträtiert und verstümmelt hatten.

In Erinnerung an diesen schauderhaften Moment zitterte Pakuna kurz, als Loron ihr Kinn mit Gewalt hoch riss und sie zwang, ihm ins Gesicht zu sehen. Wie sehr wartete sie darauf, dass auch diesen Bastard eines Tages der Blitz erschlug...?

„Wo bist du... nur abgeblieben, Zoras, mein Kleiner?“

Es war ein Fehler gewesen, es hörbar auszusprechen, fiel ihr auf, als ein Schatten von der Seite über sie fiel und sie neben sich Lorons Vater erkannte. Arlon grinste mit in die Hüften gestemmten Händen und grummelte dann:

„Eigentlich hast du unrecht, Loron. Es ist nicht ihre Schuld... dass wir aus Thalurien verjagt worden sind. Genau genommen ist es die Schuld ihres Sohnes... der uns falscher Weise den Rücken gekehrt und sein Wort gebrochen hat. Er hat das Netzwerk der Sagals nicht zerstört... sonst hätten uns diese Bastarde wohl nicht plötzlich aus allen Richtungen erschlagen und zurück nach Westen gejagt. Der Überraschungseffekt war nur von kurzer Dauer, den wir verursacht haben... und seit Zoras verschwunden ist, funktioniert es nicht mehr.“ Pakunas braune Augen weiteten sich in stummem Entsetzen, als Arlon seinen Sohn zurückstieß und sie stattdessen selbst gegen die Lehmwand seines Hauses presste, mit brutaler Gewalt ihre Oberarme zerdrückend. Sie keuchte vor Schmerzen. „Nun, Pech für dich... dein Sohnemann scheint lieber mit Senator Lyras Tochter durchzubrennen als dir zu helfen, wie er es sonst so gerne tut. Ich gab ihm mein Wort, dich frei zu lassen, wenn er Sagal tötet, und da er leider versagt hat... wirst du wohl für immer bei mir bleiben.“

„Das wagst du nicht!“, zischte sie und versuchte, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren, „Zoras wird zurückkommen und dich erschlagen, Arlon.“

„Ach, wirklich? Und wo ist er, bitteschön? Ich sehe ihn nirgends, ich fürchte, du bist ihm... im Moment egal. Vielleicht hat er ja endlich mal bemerkt, dass er auch ein Mann ist, dass er auch einen Penis hat, den er mal benutzen kann, haha...“ Er kicherte amüsiert. „Vielleicht stößt er ihn gerade in diesem Moment in Puran Lyras Tochter und stöhnt ihren Namen, ohne auch nur einen Moment an dich zu denken... du solltest stolz sein. Dein Sohn scheint ja doch nicht schwul zu sein... oder auf seine eigene Mutter zu stehen!“ Pakuna zischte und spuckte ihm vor die Füße.

„Zoras ist nicht so ein Widerling wie du es bist, Arlon. Und wenn es so wäre, wäre es sein Recht, solange er dem Mädchen nicht wehtut! Eines Tages wird er zurückkommen und du wirst dir wünschen, nie geboren zu sein.“ Arlon lachte schallend auf.

„Sicher... und bis dahin, bis dein Sohn zurückkommt und versucht, dich zu retten, bleibst du bei mir und ich werde Tag und Nacht über dich verfügen, so oft ich will... ist das nicht herrlich?“

„Hat Ram da nicht noch ein Wörtchen mitzureden, bevor du ihm seine Frau wegnimmst?“, fragte Pakuna kalt und der Mann knurrte grantig.

„Ram?! Glaubst du ernsthaft, dass es den einen Dreck schert? Hat er... sich denn jemals darum geschert, wo du warst? Was wir mit dir gemacht haben? Ich sagte ihm einst, dass es hier Sitte sei, dass ich als Häuptling des Dorfes jede Frau leihen darf, die ich möchte, wann immer ich will... was ich ihm offenbar... vergessen habe zu erzählen, rein aus Versehen natürlich... ist, dass die anderen Männer des Dorfes wenigstens den nutzlosen Versuch starten, ihre Frauen zu verteidigen... dein Schwachmat von Ehemann ist der einzige Idiot, der nie etwas eingewandt hat... gibt dir das nicht zu denken?“ Sie starrte ihn an und er grinste schäbig.

„Wie konntest du uns so hintergehen?“

„Denkst du, ich mache mir was aus Ehre und Anstand, Pakuna Derran? Ich mache mir mehr... hieraus.“ Mit seinem dreckigen Lachen fasste er ihr ungalant zwischen die Beine und sie keuchte und wand sich entsetzt. Arlon feixte. „Loron! Geh ins Haus und sage Asta, sie solle Essen machen. Sie hat Glück, wir sollten sie im Moment verschonen... wir müssen erst mal Pakuna bestrafen... an Stelle ihres nicht anwesenden Sohnes. Aber da sie ja eine so liebevolle Mutter ist, wird sie gerne seine Strafe auf sich nehmen... habe ich nicht recht... Pakuna?“
 

Thalurien war zu großen Teilen verbrannt, als Zoras in die Provinz zurückkehrte, wo das Desaster begonnen hatte. Er fand keine Spur der Bastarde aus Kamien, abgesehen von der Verwüstung, die sie hinterlassen hatten. Im Schatten eines tatsächlich noch stehenden, aber ausgebrannten Hauses in irgendeinem Dorf hockte er am Erdboden und fasste mit den Fingern in die längst erkaltete Asche. Hier waren sie schon lange fort... er fragte sich, wohin sie gegangen sein mochten. Weiter nach Osten, um noch mehr Leute zu meucheln und Dörfer anzuzünden? Da die Idioten weder ein System in ihren Angriffen noch eine Strategie hatten, war es schwer, sich vorzustellen, wie sie vorgegangen sein mochten... wie sollte er denn so seine Mutter finden?

Das Krächzen einer Krähe auf dem Giebel des verkohlten Hauses, in dessen Schatten er saß, lenkte seine Aufmerksamkeit nach oben. Er erblickte den schwarzen Vogel und brummte.

„Statt mich feixend zu beobachten, Federvieh, sag mir, wohin sie gegangen sind.“ Der Vogel krächzte und als Zoras schon zornig wurde, weil er es wagte, ihm nicht zu antworten, hörte er den Geist des Tieres doch noch sprechen.

Sie sind zurück in Holia.“ Diese Nachricht war in der Tat verblüffend. Der junge Mann erhob sich und rieb sich schnaubend die nackten Arme. Verflucht, er brauchte dringend irgendwoher ein Hemd, er rannte jetzt seit Wochen mit nacktem Oberkörper durch die Wildnis; davon abgesehen, dass es Nachts grauenhaft kalt war, konnte er so halb nackt auch nicht seinen entstellten Rücken verbergen... es kam ihm sehr zu Gute, dass hier kein Mensch mehr am Leben war, der ihn so hätte sehen können.

„Was?“, machte er so nur verblüfft, „Wie, nach Holia? Sie... haben aufgegeben?“

Du hast das Netzwerk nicht zerstört... wundert es dich? Rasch... wenn du deine Mutter lebend sehen willst.“ Zoras erbleichte – ja, Sagal, der war entkommen. Dann hatte er dafür gesorgt, dass sie verschwanden...? Das war gut... aber was war mit Pakuna?

Er fluchte ungehalten und rannte los in Richtung Südwesten, den Vogel ignorierend. Hinter sich hörte er das Krähen und fragte sich kurz, ob das Tier ihm folgte – aber als er einen Blick zurück über die Schulter warf, war der schwarze Aasfresser verschwunden.

Er stolperte ein paar Mal und stürzte zu Boden, weil er sich zu sehr beeilte und zu wenig Kraft dafür hatte; er war seit ewigen Tagen in der Wildnis unterwegs, hatte kaum etwas gegessen und fast keinen Schlaf gefunden dank der irrwitzigen Launen der Geister, die ihn mit Dingen beschäftigten, die er noch immer nicht verstand; jetzt waren ihm alle Geister egal, alles, was in seinem Kopf war, war seine arme Mutter, die schutzlos den Bastarden aus Holia ausgeliefert sein musste... sofern sie noch lebte. Zoras verfluchte seinen behinderten Vater, der es, wie er ihn kannte, sicher wie immer nicht für nötig hielt, seiner Frau zu helfen. Manchmal fragte er sich, warum dieser Idiot eine Frau geheiratet hatte, wenn sie ihm so egal war... seine Mutter beteuerte Tagein, Tagaus, dass Ram sie eigentlich sehr liebte und ein wahnsinnig guter Mensch war... Zoras hatte in seinem Vater noch nie einen guten Menschen erkannt, solange er lebte. Früher war er zornig gewesen... aber je älter Zoras geworden war, desto mehr war Rams Zorn dieser ätzenden Gleichgültigkeit gewichen, die er jetzt an den Tag legte... war ihm eigentlich irgendetwas wichtig, wenn es nicht mal seine Frau war? Sein Sohn war ihm schon immer egal gewesen, das war Zoras gewohnt... aber wie man es fertig brachte, die Frau, die man – angeblich – einst aus Liebe geheiratet hatte, so zu verraten und im Stich zu lassen, wollte einfach nicht in seinen Kopf.

„Verrecken solltest du, du elender Mistkerl!“, empörte der junge Mann sich im Rennen und war sich bewusst, wie schändlich und gefährlich es war, einen Todeswunsch laut auszusprechen... die Geister könnten ihn hören und es wahr werden lassen. Es war ihm recht... in diesem Augenblick war es ihm nur recht. Selbst dann, wenn es sein eigener Vater war; für Zoras war Ram Derran nicht mehr als ein Erzeuger, dem er zu seiner Schande auch noch wenigstens äußerlich ähnelte.

Oh, er würde ihn zerfleischen, wenn er in Holia ankam und Pakuna nicht mehr am Leben war... er würde ihn auf die brutalste Art zerfleischen, die die Geister ihm gewähren würden für die Frechheit, seine eigene Frau von anderen Männern zu Tode foltern gelassen zu haben. Der Zorn auf die bloße Vorstellung, Pakuna könnte bereits tot sein, machte ihn blind. Wüst fluchend beeilte er sich noch mehr, er spürte mit jedem Schritt, den er tat, die Schmerzen der Erschöpfung durch seinen ganzen Körper fließen wie flüssiges Feuer, als ersetzten sie das Blut in seinen Adern. Die Geister zischten in seinem Kopf, in dem er das Feuer seiner eigenen Wut rauschen hörte... sie sprachen von Schicksal. Er wollte sie nicht hören – er wollte sie zerfetzen, er wollte die ganze, verdammte Welt zerfetzen, mit allem, was dazugehörte, so, wie er es sich seit Jahren vorgenommen hatte.

Das Ungeziefer muss sterben! Es verpestet die Welt mit seiner elenden Abscheulichkeit! Ich werde sie zerschmettern mit einer einzigen, verdammten Handbewegung, und wenn die Welt in Scherben liegt, wird niemand mehr meiner Mutter etwas antun!

Er spürte einen grässlichen, stechenden Schmerz in seiner Brust, als er schneller rannte. In seinen Fingern kribbelte der Zorn und die todbringende, gefährliche Macht, die er inne hatte. Er war ein begnadeter Magier... er hatte alle anderen in der Schule geschlagen, der einzige, der ihm jemals wirklich ein Rivale gewesen war, war Karana Lyra... der einzige Sohn des vermutlich mächtigsten Schamanen des ganzen Reiches.

Die Menschen sollten sich vor ihm fürchten... auch Karana würde er zerfetzen mit dieser geballten Wut, die er verspürte, mit diesem Hass, der schon so lange in seinem Inneren schlummerte und der immer weiter wuchs, je älter er wurde.

Der Hass, der einst die verletzte Furcht eines kleinen Kindes vor seinem es halb tot schlagenden Vater gewesen war, der Hass, der sich in dem schwarzen Loch in seinem Geist Tag um Tag mehr und heftiger ansammelte; in dem Loch seiner Seele, das die Räuber gerissen hatten mit ihren perversen Spielchen, als sie ihn geschändet und verstümmelt hatten.

Er würde Holia dem Erdboden gleich machen und sie alle ermorden, und dann würde das schwarze, Hass fressende Loch in seinem Geist befriedigt sein...
 

Pakuna wünschte sich im Stillen den Tod. Entweder ihren eigenen oder den des Mannes, der sie packte und brutal zu Boden stieß, sodass sie im Dreck des Dorfplatzes landete. Vor ihr raunten und lachten die übrigen Dorfmänner und vereinzelte, giftige Frauen johlten.

„Wir sollten sie zerreißen, die Hure!“, schrillte eine von irgendwo, „Die Zauberer bringen nur Unheil über unser Dorf, seit sie hier sind, jawohl!“

„Genau, töte sie, Arlon, wenn du dich schon Häuptling nennst!“

„Ihretwegen hat unsere Invasion nicht funktioniert, sie hat sicher absichtlich die Sagals auf uns gehetzt!“

„Oder der Dämon von ihrem Sohn, pah!“ Pakuna keuchte atemlos, als sie spürte, wie Arlon hinter ihr in die Hocke ging. Als sie sich zu ihm herum drehen wollte, schlug er sie wieder zu Boden und lachte höhnisch. Die Frau japste verzweifelt und der selbsternannte Häuptling des Dorfes trat ihr mit dem Fuß auf den Hintern, um sie an den Boden zu drücken und zu verhindern, dass sie weg krabbelte.

„Hüte dich, Pakuna. Ich habe dir gesagt, dass ich dich bestrafen werde für den Ungehorsam deines Balges... und ich werde es so lange tun, bis du mir blutend zu Füßen liegst und dir wünschst, um Gnade gefleht zu haben, solange es noch angemessen war...“ Er kicherte dreckig und die Telepathin schnappte wütend nach Luft. Vor ihr grölte die versammelte Menge der Dorfbewohner, die Arlon alle zum Dorfplatz getrommelt hatte, um seine Machtdemonstration so öffentlich und fürchterlich wie möglich machen zu können.

„Ich habe keine Angst vor dir...“, wisperte die Frau und schloss bebend die braunen Augen, als ein furchtbarer Schmerz sie durchbohrte in dem Moment, in dem Arlon sie abermals trat, um sie dann an den Haaren zu packen und wieder empor zu zerren. Sie hörte seine kratzige Stimme neben ihrem Ohr und spürte seinen stinkenden Atem.

„Nicht nur, dass ihr Zauberer uns den Angriff vermasselt habt... jetzt ist auch noch meine Tochter verschwunden, wie soll ich das finden, Pakuna?“

„Ich war nicht hier, wie hätte ich sie fort schaffen sollen?“, zischte die Frau und wand sich in seinem schmerzhaften Griff, ehe er eine Hand hob und ihr unsanft an die Brüste fasste. Die Männer vor ihnen lachten laut und die Frau wusste genau, dass ihnen die Schau gefiel... eine öffentliche Schändung war doch Grund genug, um hinzusehen, wenn man ein Mann aus Kamien war.

„Nein, du hast recht, ich glaube auch nicht, dass du es warst. Aber da niemandem jemals etwas an Asta lag, wird sie wohl niemand entführt haben – es sei denn, jemand war so barmherzig, ihr zur Flucht zu verhelfen... und wer ist denn barmherzig genug, so etwas Dummes zu tun?“ Pakuna weitete die Augen wieder und zischte vor Schmerzen, als er mit der anderen Hand ihre zweite Brust ergriff und sie unsanft bearbeitete.

„Mach sie fertig, die Zaubererschlampe!“, johlten die Männer, und Arlon kicherte neben Pakunas Ohr. Als er Luft holte und den Kopf hob, fuhr sie zusammen, ehe sie ihn brüllen hörte:

„Na, was ist los, Ram Derran?! Willst du nicht kommen und zusehen, wie ich deine Frau besudele vor allen anderen, wie sie es verdient hat für euer erbärmliches Leben?! Zeig dich, du elender Feigling, oder bist du nicht Manns genug, um es mit uns aufzunehmen, Zauberer aus dem Westen?!“ Pakuna japste verzweifelt und riss den Kopf hoch, um in die Menge vor sich zu starren – die Männer und Frauen drehten sich murmelnd nach hinten um, um ein Stück zur Seite zu treten und den Blick frei zu geben auf Pakunas Mann, der aus seiner Hütte am Rande des Dorfes kam und jetzt verbittert auf die Versammlung zusteuerte. Die Frau zitterte.

„Ram...“

„Denkst du, er wird dir helfen?“, grinste Arlon neben ihr, „Ich glaube nicht. Auf den Boden, du Hure, wer hat dir erlaubt, den Kopf zu heben?!“ Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, als sie wieder heftig auf die Erde geschlagen wurde, sie hörte die Menge johlen. In allem Grölen war Ram Derrans Stimme nur ein dumpfes, düsteres Murmeln, aber sie vernahm es deutlicher als alles andere, als er offenbar bei den anderen angekommen war und sprach.

„Was hat meine Frau dir getan, dass du es für richtig hältst, sie so zu behandeln?“ Pakuna schluchzte und unterdrückte einen weiteren Schrei, als Arlon sich über sie beugte und sie spürte, wie er seine Hände unter ihren zerrissenen Rock gleiten ließ.

„Wie du vielleicht mitbekommen hast, Zauberer, sind wir wieder da – weil eure Artgenossen unseren Plan vermasselt und dein Nichtsnutz von einem Sohn mir den Rücken gekehrt hat. Da Zoras nicht da ist, muss ich ja jemanden anderes bestrafen. - Hast du Asta verschwinden lassen, während wir fort waren? Und wage es nicht, mich anzulügen.“

„Wieso Asta?“, fragte Ram Derran, „Ich habe sie ewig nicht gesehen und sie geht mir am Arsch vorbei. Lass meine Frau los und ich suche sie für dich.“

„Nein, so einfach geht das nicht. Asta bedeutet mir nichts; sie war nur ein praktisches Hausmädchen und Spielzeug, mehr nicht. Dafür findet sich Ersatz... aber sie ist mein Eigentum und deswegen bin ich nur aus Prinzip wütend über ihr Verschwinden. Nein, deine Frau kannst du damit nicht retten. Im Gegenteil, ich habe euch alle drei ganz schön satt. Seit ihr hier lebt, gab es nur Ärger... du wirst zusehen, wie ich Pakuna vor dem ganzen Dorf nehme, so lange, bis sie blutet und das Bewusstsein verliert... gefällt dir das?“ Pakuna erstarrte, als sie ihren Mann nichts erwidern hörte. Keuchend fiel sie wieder nach vorne in den Dreck und schrie, als Arlon ihre Schenkel packte und ihren Rock hoch riss, um ihre schlichte Unterwäsche zu zerfetzen und ihren Unterleib zu entblößen.

Warum sagst du nichts, Ram?!“, wollte sie schreien und spürte, wie es in ihrem Inneren schmerzte, als sie gegen die Tränen der Panik ankämpfte, „Warum stehst du da und lässt das zu? Habe ich dich so sehr erzürnt, dass du denkst, ich verdiene das?...“ Doch sie hörte ihren Mann nicht – stattdessen grölte die Menge und stampfte mit den Füßen auf die Erde, bis es unter Pakunas Körper vibrierte. Arlon lachte feixend hinter ihr, riss sie wieder empor und verrenkte ihr dabei die Arme, während er seinen eigenen Unterleib gegen ihren presste und sie bereits spürte, dass er hart vor Verlangen nach ihr war – wie immer. Sie wand sich und schrie um Hilfe, sie rief nach ihrem Mann und versuchte panisch, Arlon zu schlagen, aber er packte ihre Hände und schlug sie wieder auf den Erdboden, der vom begeisterten Stampfen der Dorfmänner zitterte und bebte.

„Bring sie um, Arlon, die Hure!“

„Mach sie fertig, keine Gnade!“ Pakuna keuchte hysterisch und erstarrte, als sie Ram irgendwo ihren Namen schreien hörte – er hatte etwas gesagt! Das Zittern der Erde verstärkte sich plötzlich so heftig, als würde eine ganze Büffelherde durch Holia trampeln, und in dem Moment, in dem Arlon kurz davor war, in sie einzudringen und sie brutal zu nehmen, verdunkelte sich mit einem Schlag der Himmel mit einem ohrenbetäubenden Krachen von oben.

Augenblicklich erstarrten sämtliche Menschen des Dorfes und Arlon erhob sich keuchend auf die Beine, dabei die Frau zu Boden fallen lassend. Hustend rappelte Pakuna sich auf die Knie und fuhr herum, als ein zweiter, zorniger Donner aus dem Himmel die Welt zum Zittern brachte.

„W-was... was passiert denn jetzt?!“, rief eine der Frauen, „Gewitter?!“

„Das ist der Zorn des Himmels!“, japste ein anderer Mann und Pakuna erbleichte mit der plötzlichen Euphorie der Erleichterung, als ihr ein irres Strahlen über das geschundene Gesicht huschte.

„Die Geister haben unsere Gebete erhört... ihr werdet verrecken!“, japste sie glückselig und lauschte entzückt dem nächsten, donnernden Krachen, ehe sie den gleißenden Blitz beobachtete, der mitten in die Erde einschlug und das Dorf trotz des dunklen Himmels taghell erleuchtete. Ein Blitz von solcher Bosheit und so mächtigem Zorn, wie die Telepathin ihn erst einmal gesehen hatte... und es erfüllte sie mit Wehmut und dem Stolz einer Mutter, in das gleißende, Tod bringende Licht zu starren, während um sie herum die Panik ausbrach.

„Rennt um euer Leben!“, schrien die Männer und rannten wild durcheinander, die Frauen kreischten und irgendwo plärrte ein Kind. Der Boden bebte unter dem Zorn der Himmelsgeister, allein Pakuna saß noch immer mit ihren zerfetzten Kleidern auf dem Dorfplatz, als die Hütten um sie herum in Flammen der Wut aufgingen und sie irgendwo aus dem Himmel das Krächzen eines Aasgeiers hörte. Menschen rannten panisch gegen sie und traten auf sie, es war ihr egal – das war die Himmelsstrafe, die dieser Ort verdient hatte, auf die sie seit vielen, vielen Jahren wartete!

Jemand packte sie mit sanfter Gewalt an den Armen und zerrten sie auf die Beine.

„Pakuna!“, hörte sie ihren Mann brüllen, durch das Tosen des Donners hörte sie ihn kaum. „Pakuna, wir müssen hier weg! D-das ganze Dorf wird in Fetzen gerissen werden und wir mit ihm, wenn wir nicht sofort verschwinden, hörst du?!“

„Bring sie um!“, keuchte die Frau apathisch und registrierte unterbewusst, wie Ram sie anfuhr und sie schließlich packte und auf seine Arme hob, um mit ihr davon zu rennen. „Bring sie um, wie damals die Räuber im Wald... Zoras, mein Kleiner!“
 

Der Zorn gemischt mit der tödlichen Macht der Geisterwinde fühlte sich an wie ein zugleich schmerzhaftes und dennoch berauschendes, rasendes Kribbeln, das Zoras' ganzen Körper in Brand steckte, so wie sein Blitz es mit dem Dorf tat, vor dem er stand. Auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe von Holia stehend und die Arme in den schwarzen Himmel erhoben beobachtete er das Chaos, das in Holia ausbrach, und er spürte den Zorn und den grauenhaft schmerzenden Hass in sich rapide ansteigen, als er die Menschen unten wild durcheinander rennen sah.

Das Ungeziefer musste sterben... es war recht so! Er würde sie zerreißen und ihre Fetzen in den Wind werfen, und dann wäre alles gut.

Mit einer ausschweifenden Bewegung seiner Arme krachte es erneut aus dem Himmel, als der junge Mann vor Wut zitterte und spürte, wie die Macht in seinem Inneren sich noch immer anstaute und den Druck in ihm fast unerträglich machte. Er sah vor sich das Inferno in Holia, er zündete das Dorf auf dieselbe Weise an, wie er auch die Dörfer in Kisara entzündet hatte, und es fühlte sich gut an, es zu sehen... die Flammen zu betrachten, die aus den Hütten empor schlugen, den Qualm, der in den schwarzen Himmel aufstieg, die Schreie der Bastarde zu hören, die es wagten, seine Mutter auf diese Weise zu demütigen... er würde sie zerfetzen, schwor er sich verbiestert, und er riss die Hände wieder hinauf und fing zwischen seinen Handflächen einen weiteren, gigantischen Blitz, der seinen Körper unter Strom zu setzen schien und die Schmerzen und den Rausch verstärkte.

„Verrecken... sollt ihr!“, zischte er wutentbrannt und richtete seine dämonischen Augen auf das brennende Dorf, während er den todbringenden Zerstörer in seinen Händen hielt, bereit, damit und mit Hilfe seines eigenen Zorns ganz Kamien in die Luft zu jagen. Er spürte den Wind um sich herum so heftig aufbrausen, dass er beinahe umgekippt wäre, er hörte die Geister in seinem Kopf zischen und kichern, während die Macht, die er inne hatte, mit jedem Moment, den er da stand, mit jedem Augenblick, in dem er diesen zerstörerischen Hass empfand auf die gesamte Menschheit, mächtiger und gefährlicher wurde.

Gehorcht mir, Todesvögel!, brüllte er in Gedanken und riss den Kopf empor gen Himmel, Kommt und bringt Schatten... und Verderben, wenn ich es euch befehle... ihr habt mir eure Dienste angeboten! Und ich werde euch dienen, so wie ihr mir gedient habt...

Er hörte das Krachen aus dem Himmel kaum, weil das Tosen, das plötzlich aus der Erde kam, auf der er stand, mächtiger war. Er taumelte, als die Erde zu seinen Füße bebte und der Wind an ihm zerrte, seine Arme um seinen Körper legte und mit dem eisigen Hauch des kommenden Winters zu ihm flüsterte.

„Es ist noch zu früh... du kannst der Macht, die dir vermacht wurde, noch nicht standhalten, wenn du sie jetzt rufst. Komm... schließ die Augen.“ Zoras blinzelte in seiner Trance verwirrt über die plötzlich reale und doch ferne Stimme, während er spürte, wie der Wind ihn mit sanfter Gewalt nach hinten zog, weg von Holia. Der Blitz in seinen Händen erlosch mit einem Knallen und strauchelnd stolperte Zoras rückwärts, dem eisigen Wind des Winters in die Arme. In ihm kribbelte die Macht noch immer, sowie das Verlangen, sie auf einen Schlag hinaus zu schleudern und die Welt zu vernichten...

Das Ungeziefer musste sterben.

Die Magie zehrte ihn aus, spürte er plötzlich, als sich der Schleier des Trancezustandes über seinem Geist löste und er fühlte, wie er rückwärts in den Schatten des Bewusstlosigkeit kippte. Das letzte, woran er dachte, war seine Mutter... er hoffte, sie war wohlauf.
 

Als Zoras erwachte, war es dunkel geworden. Er fragte sich einen Moment, wo er war – unter sich fühlte er trockenes Gras, über sich hörte er das sanfte Rauschen des nächtlichen Windes. Er trug den Geruch von verbranntem Holz mit sich und Zoras hustete, als seine Erinnerung zurückkehrte an das, was vorher gewesen war. Er erinnerte sich plötzlich an den Zauber, an den Hass in sich, den er zu stillen versucht hatte... unruhig fasste er nach seiner nackten Brust und versuchte, festzustellen, ob das schwarze Loch in seinem Geist noch da war. Er spürte einen unschönen Schmerz, der sich durch seinen ganzen Körper zog, sobald er sich bewegte, und ihm entfuhr ein leises Zischen. Als er dann plötzlich neben sich eine Stimme vernahm, erschrak er sich beinahe zu Tode.

„Übertreibe es nicht gleich. Du rufst mächtige Magie und bist noch nicht stark genug, um sie halten zu können, das ist alles... so wenig ich auch von eurer Magie verstehen mag, so viel weiß ich auch noch.“ Der Schwarzhaarige fuhr ungläubig herum, als er die Stimme zu erkennen glaubte – das konnte doch nicht sein!

Doch, es konnte offenbar, stellte er ernüchtert fest, als er sich mühevoll aufsetzte und neben sich an den Stamm des morschen Baumes gelehnt, unter dem er sonst so oft rastete, die Frau erblickte, der er die Stimme bereits instinktiv zugeordnet hatte. Er keuchte bei ihrem Anblick und fragte sich, ob er wirklich wach war oder noch im bizarren Reich der Traumgeister.

„Moment – Chenoa?!“ Die Frau musterte ihn mit der kalten Gelassenheit, die er von ihr kannte, und irgendwie stieß es ihm übel auf, dass sie so verdammt emotionslos da herum saß, während er völlig verblüfft war, die Beraterin des zuyyanischen Kaisers wieder zu sehen...

„Ja, ich. Es ist einige Jahre her, dass ich dich zuletzt besucht habe. Du bist gewachsen.“ Er starrte sie verblüfft an.

„Gewachsen?!“, fluchte er, „Ich bin immer noch viel zu klein, das ist entwürdigend!“ Er sah, wie über das bleiche Gesicht der Frau ein kurzes, amüsiertes Lächeln huschte.

„Einen guten Mann macht nicht seine Größe aus, weißt du? Die meisten Männer, die größer sind als du, sind viel weniger wert.“ Er errötete und schnaufte.

„Weniger wert? Willst du mich an den Zirkus verkaufen als Kuriosität?“ Er betrachtete sie eingehend; ihr aristokratisches Gesicht verlieh ihr noch immer die Macht und zeigte genau, dass sie eine Frau aus den höchsten Rängen der Gesellschaft war... ihre langen, hellblauen Haare mit so typischen, unnatürlichen Farben, wie sie nur Zuyyaner haben konnten, hatte sie sich auf bizarre Weise auf dem Kopf zusammengesteckt, vermutlich vermochte keine Königin Tharrs, sich so die Haare richten zu lassen... Zuyyaner waren immer anders. Die oberste Beraterin des Kaisers war um keinen Tag gealtert... dabei war es sicher drei oder vier Sommer her, dass er sie zuletzt gesehen hatte. Er fragte sich, wie alt sie eigentlich war... wenn sie so ein hohes Amt bekleidete in ihrem Imperium, konnte sie nicht mehr richtig jung sein, aber ansehen tat man ihr das nicht im Entferntesten.

Sie verblüffte ihn wenig damit, dass sie ihm auf die unausgesprochene Frage antwortete – er war gewohnt, dass sie genau wusste, was er dachte. Darin war sie schlimmer als seine Mutter, und die war Telepathin.

„Ich werde im Wintermond dreißig. Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich gekommen bin. Und viel Zeit habe ich auch nicht.“ Er war erstaunt – sie war nicht mal dreißig?! Das war jünger, als er gedacht hatte – und älter, als sie aussah, räumte er ein und schauderte, als sie sich räusperte und im Sitzen die Beine übereinander schlug.

„Warum bist du hier?“, fragte der Schamane so unschlüssig, indem er sie abermals von Kopf bis Fuß betrachtete und mit Widerwillen feststellen musste, dass ihre Erscheinung betörend war. Er hüstelte verlegen und wandte den Blick ab. Was dachte er da?

„Ich komme... wegen deines Erbes, Zoras. Wegen deiner Macht über die Schattenvögel.“ Er zuckte, die anrüchigen Gedanken sofort vergessend. Er wollte sich aufrappeln, stellte aber fest, dass seine Kraft noch nicht genug zurückgekehrt war, um sich weiter zu bewegen. Zischend fasste er nach seinem Kopf, der schmerzhaft zu pochen begonnen hatte.

„W-wie... wieso weißt du davon?!“

„Ich bin Zuyyanerin. Ich habe es in der Reikyu gesehen. Du weißt doch, dass ich damals gekommen bin, um dich zu trainieren, als du noch ein Junge warst. Alles, was du tust, dient diesem einen Zweck... du bist größer und mächtiger, als nach außen hin scheinen mag.“ Er starrte sie an und kämpfte innerlich gegen die Schmerzen, als er ihr zusah, wie sie über ihrer Hand die glimmende Kugel aus Licht erscheinen ließ – die sogenannte Seelenkugel, in der die Zuyyaner alles sehen konnten, sofern sie genug Macht besaßen. Und Chenoa war die mächtigste aller Zuyyanerinnen, hatte er gelernt... sie war gleichzeitig herrlich und doch gefährlich. Zoras schauderte. Sein Blick schweifte nach rechts und suchte instinktiv nach dem Dorf, das er vorhin noch hatte zerstören wollen... war Holia noch da?

„Wieso bin ich hier mitten in der Pampa?“, murmelte er unschlüssig, „Was... ist mit Holia geschehen?“

„Du hättest beinahe das ganze Dorf zerfetzt, ich habe dich davon abgehalten. Lass gut sein, die Mächte der Schöpfung werden das schon selbst erledigen, Zoras. Du bist noch nicht mächtig genug für Magie von diesem Ausmaß... wie ich sagte. Übertreibe es nicht, Junge.“

„Ich bin ein erwachsener Mann und kein Junge.“, knurrte er und sie musterte ihn jetzt ebenfalls kurz, ehe sie wieder diabolisch grinste.

„Du hast recht, das sieht man.“ Er sträubte sich, als er sie so aufgesetzt lächeln sah und beobachtete, wie sie sich am Gras abstützte und sich langsam erhob. Keuchend wollte er sich auch aufrichten, aber da hockte sie sich schon direkt vor ihn und hinderte ihn daran. „Nicht... bleib sitzen, du wirst nur umkippen. Die Magie zehrt dich aus, wenn du sie zu viel einsetzt... oder die Zauber zu hoch für dich sind. Dein Körper und dein Geist sind noch erschöpft von dem Rausch der Trance.“

„M-meine Mutter...“, stammelte er, „I-ist sie am Leben? Wo ist sie?“

„Ja, sie ist wohlauf, keine Angst. Wie gesagt, Holia steht noch, es ist nur zur Hälfte abgebrannt und zerrüttet.“ Er zitterte bei ihren Worten und senkte den Kopf keuchend; es stand noch. Er hatte es so sehr zerstören wollen... wie er damals die Räuber samt ihrer stinkenden Höhle zerstört hatte. Aber es stand noch... zischend fasste er wieder nach seiner Brust, als er in seinem Inneren den Hass wieder pochen spürte – das schwarze Loch war noch da. Ihm schwindelte und er drohte, zu Boden zu sinken, als sich der Zorn in seinem Inneren wieder steigerte und seinen ganzen Körper zum Beben brachte.

„Ich will... dass sie sterben!“, keuchte er apathisch und fühlte, wie Chenoa seine Hand von seiner Brust zog und stattdessen ihre eigene auf seine nackte Haut legte, während sie den Kopf zu seiner Wange hin senkte. Er atmete den angenehmen Duft der eigenartigen Frau ein, die er gleichzeitig fürchtete und dennoch verehrte... sie war zu ihm gekommen, als er klein gewesen war, und sie hatte mit dazu beigetragen, dass er zu dem geworden war, was er jetzt war. „Ich... ich will, dass sie elendig verrecken für alles, was sie meiner Mutter angetan haben... verbluten sollen sie!“ Schaudernd fuhr er zusammen, als er spürte, wie Chenoa neben seinem Ohr leise kicherte. Das bizarre, bösartige Kichern einer Bestie, vermutete er, und es war gleichzeitig furchteinflößend wie auch verblüffend, als er ihre Lippen seine Haut kitzeln spürte.

„Das werden sie schon noch. Entspann dich... ich werde dir deine Sinne zurückgeben.“
 

Sie behielt recht und er spürte seine Instinkte aus dem Nebel der Bewusstlosigkeit zurückkehren, als sie sich über ihn beugte und ihn küsste, wie ihn nie eine Frau geküsst hatte. Zoras war verblüfft darüber, wie sein Körper sich ihren Berührungen so schamlos unterwerfen konnte, und noch mehr darüber, dass er es zum ersten Mal nicht abscheulich fand, auf diese Weise berührt und stimuliert zu werden, wie sie es tat, als sie erst ihre eigenen Kleider und dann seine Hosen entfernte. Ihre Hände waren kühl, aber sie setzten ihn trotzdem in Brand, als sie flüchtig über seine nackte Haut strichen, während ihre Lippen die seinen trafen und er sich berauscht von der Intensität dem Verlangen hingab, das sie in seinen Lenden entzündet hatte.

Er hatte erst ein einziges Mal mit einer Frau geschlafen... und das war sein eigenes Blutritual gewesen, das ihn vom Jungen zum Mann gemacht hatte. Er wollte nie wieder daran denken, denn das Grauen und die Abscheulichkeit seines Rituals waren nicht zu vergleichen mit dem, was Chenoa mit ihm machte, als er unter ihr auf der Wiese lag und sie sich auf eine Weise mit ihm vereinte, die er sich nicht mal in seinen wildesten Träumen ausgemalt hätte; er träumte generell auch selten bis nie von Frauen, musste er gestehen. Sie war eine geschickte Liebhaberin und er war verblüfft darüber, wie sie es schaffte, ihn Gefühle empfinden zu lassen, deren Existenz er bis dahin nicht mal gekannt hatte, als sie über ihm saß und sich bewegte, während ihre Hände über seine zitternde Brust glitten. Sie bog sich zurück und er keuchte beim Anblick der Silhouette ihres nackten, weiblichen Körpers über seinem, ehe er die Hände nach ihr ausstreckte und sie ebenfalls berührte. Es war das erste Mal, dass er die Vereinigung als angenehm empfand... und dementsprechend wenig Zeit brauchte es auch, bis sie nahezu gemeinsam zum Höhepunkt kamen. Benommen sah Zoras zu Chenoa auf, als sie sich diskret von ihm erhob und in aller Ruhe begann, sich anzukleiden. Er räusperte sich und errötete gegen seinen Willen. Die Schmerzen von zuvor waren abgeebbt und er spürte in seinem Kopf nur noch ein leichtes, benebeltes Ziehen, während er sich aufsetzte und nach seinen Hosen angelte.

„Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.“, sagte die Zuyyanerin, als sie fertig angezogen war, als wäre nichts gewesen, und er schmollte.

„Du hast mit mir geschlafen. Ignoriere das nicht einfach.“

„Tu ich nicht, ich habe es genossen. Zieh dich an, rasch.“ Er murrte; diese Frau war wirklich berechnend. So etwas wie Zärtlichkeit kannte sie wohl nicht... was erwartete er auch? Sie war Zuyyanerin. Zuyyaner waren pragmatische Maschinen ohne Gefühle. Er zog seine Hosen an und stutzte, sobald er sich vorsichtig aufgerappelt hatte und sah, wie sie ihm einen langen, in Stoff gewickelten Gegenstand entgegen hielt.

„Ein... Besen?“, riet er doof und sie rührte sich nicht. Seufzend band Zoras seine Hose zu und nahm ihr den vermeintlichen Besen ab. „Was soll ich damit?“ Zu seiner Verblüffung war sie todernst.

„Du hast doch schon davon gehört... in Lorana. Überrascht es dich, Zoras?“ Er starrte sie an – dann fielen ihm plötzlich die Worte von Sagal wieder ein.

„Ich sah dich als Herr über den Schatten, vor dem wir sonst weglaufen, in deiner Hand der Speer der Macht... der dein Schicksal mit dir tragen wird. Der letzte Erbe, heißt es, soll sie tragen... die Hellebarde von Yamir, die in den Schatten fiel und verschwand...“

Er starrte ungläubig das Ding an, das er in der Hand hielt, dann wanderte sein Blick wieder zu Chenoa.

„Das... das ist... die Hellebarde von Yamir?“ Als Chenoa ihm nicht antwortete – was ihn insgeheim ärgerte, aber er war es eigentlich gewohnt, dass sie wenig sprach – zog er den Stoff, in dem das Ding eingewickelt war, herab, um eine scharfe, gebogene Klinge zu Tage zu fördern, die an einem langen, hölzernen Stab befestigt war. Stab und Klinge zusammen waren größer als der junge Mann selbst und verblüfft musterte die blitzblank polierte Waffe, die er in den Händen hielt. Damit konnte er mit einem Schlag einen Mann enthaupten, wenn er sich das so ansah... fassungslos strich er mit dem Zeigefinger über die Klinge und zischte, als er sich prompt in den Finger schnitt an der Kante. „Verdammt, die ist scharf...“, murmelte er dabei, sich den nur wenig blutenden Finger kurz in den Mund steckend, während sein Blick über die mühsam eingravierten Muster am stumpfen Rand der Klinge wanderte. Es waren Zeichen, die er nicht erkannte, aber einige ähnelten den Buchstaben, die sie jetzt benutzten.

„Sie ist dein Erbe.“, erklärte Chenoa da und er fuhr zusammen; da war er so vertieft in die Betrachtung der Waffe gewesen, dass er vergessen hatte, dass die Zuyyanerin noch da war. Er starrte sie verdutzt an. „Es war... Wille der Geister, dass du sie eines Tages bekommst. Sie war für dich bestimmt, schon seit hunderten von Jahren. Niemand kann sie benutzen... abgesehen von dir, weil du derjenige bist, für den sie bestimmt ist.“

„W-was?“, murmelte er, „Warum denn ich? Was hat das alles zu bedeuten?“

„Es ist etwa dreihundert Jahre her, dass ein Mann namens Yamir diese Hellebarde selbst gefertigt hat. Nachdem er starb, konnte niemand sie führen, deswegen verschwand sie und war verschollen... bis vor kurzem.“

„Was soll das heißen, niemand konnte sie führen?“, schnaufte der Mann und griff den Stab, um die Hellebarde anzuheben und ihr Gewicht zu testen. Dafür, dass sie so groß war, war sie verblüffend leicht. „Kann nicht jeder, der genug Kraft im Arm hat, das Ding hochheben?“

„Das schon, aber wir sprechen von verschiedenen Dingen. Du redest davon, sie zum Schneiden einzusetzen. Sie ist aber mehr als nur ein großes Messer am Stiel. Sie ist ein Magiemedium... du kannst mit ihr zaubern, wenn du dich anstrengst. Und das ist es, was niemand vermocht hat... außer dir.“ Zoras schnaubte erneut und zog verächtlich die Stirn in Falten.

„Wer es glaubt, Chenoa.“, schnarrte er und schwang die Waffe herum, „Warum sollte ausge-... wuah!“ Dann erschrak er sich beinahe zu Tode, als mit dem einfachen Schwung, den er ausgeführt hatte, ein kleiner Blitz aus der Klinge schoss und das Gras an der Stelle versengte, wo er den Boden traf. Hustend starrte der Schwarzhaarige wieder auf die Hellebarde und blinzelte. „Ähm... oh.“

„Du wirst natürlich üben müssen, die Macht zu kontrollieren, die in dieser Waffe steckt. Und es ist wichtig, dass du das tust, Zoras... die Zeit ist gekommen.“ Er blickte sie nur stumm an, als sie das bleiche Gesicht senkte und er ein flüchtiges, dämonisches Lächeln über ihre Lippen kriechen sah. „Das Zeitalter... ist quasi vorbei. Wenn du in den Schatten gehst, wirst du sie tragen und das Erbe antreten... das dir zusteht.“ Jetzt wurde es ihm allmählich zu bunt.

„Hör mal auf, hier solche Predigten zu halten, was für ein verdammtes Erbe?!“, empörte er sich, „Mein Vater ist ein Nichtsnutz, der nicht mal zaubern kann, was sollte ich da bitteschön erben? Erst recht nicht so ein Monsterding! Wer zum Geier war eigentlich dieser Yamir?“

„Das sind alles Fragen, die nicht ich dir beantworten kann.“

„Du bist doch auf Zuyya als die Weise Frau bekannt, weil du die begabteste Seherin überhaupt bist, oder nicht?!“, fauchte er, „Du weißt es, findest es nur lustiger, wenn ich mir den Kopf zerbreche, du sadistisches Weibsbild!“

„Nein.“, sagte sie erstaunlich scharf und er fuhr zurück bei ihrem befehlenden Ton, „Das sind Dinge, die mich nichts angehen. Du bist Schamane... ich bin Zuyyanerin. Dies hier ist eine Sache der Schamanen... du wirst schon noch früh genug erfahren, was du wissen willst.“ Zoras kniff die Lippen zusammen, während er die Waffe umklammerte und dann zischend zur Seite sah. Sagal hatte davon gewusst... er könnte ihm vielleicht sagen, was er hören wollte. Die Frage war nur, ob er das jemals täte. Hatte Neisa nicht von irgendeiner Seherin gesprochen, die behauptet hatte, sie und Karana müssten die Welt retten? Vielleicht wusste die ja etwas. Aber das nützte ihm wenig... er würde ganz sicher nicht den ganzen Weg nach Yiara hinauf latschen allein dafür – um dann womöglich noch von Karana zerfetzt zu werden, der sicher auch bis dahin dort war. Wenn er noch lebte...

Er hob das Gesicht wieder, als er über sich ein leichtes Flattern vernahm und beobachtete, wie auf einem der Äste des Baumes, neben dem sie standen, eine Krähe landete. Ohne ein Wort zu sagen beobachtete der Geist des Tieres ihn genau, das konnte Zoras spüren... es fühlte sich unheimlich an und gleichzeitig auf seltsame Weise vertraut.

„Die Vögel.“, murmelte er dumpf in Chenoas Richtung, „Es hat etwas damit zu tun, oder? Sagal nannte mich... Herr der Schattenvögel...“ Er wartete, ob die Frau etwas sagte, aber nichts kam. Als er schon bitter den Kopf wieder senkte, spürte er ihre Hand, die ihm sanft durch die Haare fuhr, sodass er wieder empor sah und in ihr hübsches, emotionsloses Gesicht blickte.

„Es ist deine Bestimmung.“, sagte sie, „Es war Wille der Mächte der Schöpfung. Zu diesem Zweck bist du... einmal geboren worden. Zu diesem Zweck hast du... deinen Namen erhalten, deinen Lebensgeist. Sieh nach Nordosten. Die Zeit der Sieben... ist gekommen. Die Zeit, dich von Kamien abzuwenden und deiner Bestimmung zu folgen, die dir auferlegt wurde. Tief in deinem Inneren kannst du es schon spüren, solange du lebst.“ Ohne noch etwas weiteres zu sagen löste sie ihre Hand von ihm, ehe sie ihm den Rücken kehrte und mit einer federleichten Bewegung in den schwarzen Nachthimmel sprang, um zu verschwinden. Der junge Mann blieb zurück und umklammerte empört über ihre Diskretion sein neu errungenes, vermeintliches Erbstück. Was fiel der ein, aufzutauchen, ihn daran zu hindern, Holia zu zermalmen, ihn auf bestialische Weise schamlos zu verführen, ihm dann ein ominöses Item zu übergeben und schließlich keine seiner Fragen zu beantworten? Er errötete heftig bei den Gedanken an die vorangegangene Vereinigung, während ihn alles, was danach geschehen war, eher verstimmte.

Die Hellebarde von Yamir, hm...? Seufzend blickte er in Richtung Nordosten, wie Chenoa gesagt hatte, in der Hoffnung, ihm würde dann ein Licht aufgehen in all den Rätseln. Aber es blieb schattig... die Nacht würde eiskalt werden.
 

In der Hütte roch es nach Rauch, obwohl das Feuer in der anderen Hälfte des Dorfes gewütet hatte. Ram Derran zischte ungehalten und rümpfte die Nase, während er spürte, wie seine Frau hinter seinem Rücken am ganzen Leibe zitterte. Er konnte es ihr nicht verübeln... nicht nach allem, was sie hatte erleiden müssen. Er war furchtbar...

Das Feuer war verschwunden und die Panik in Holia hatte sich gelegt, als das eigenartige Gewitter vorbeigezogen war. Ram wusste, dass es kein Gewitter gewesen war... es war der Zorn der Himmelsgeister gewesen, den jemand herab auf die Welt beschworen hatte, um sie alle zu vernichten... jemand. Er runzelte verstört die Stirn bei den Gedanken an sein einziges Kind und dessen unkontrollierte Wutausbrüche, die wohl Schuld an dem Inferno gewesen waren. Oh, wenn der Junge nach Hause kam, würde er ihn windelweich prügeln für den Irrsinn. Er hätte seine eigenen Eltern beinahe mit gegrillt mit seinen Blitzen, er konnte von Glück reden, dass ihre Familienhütte tatsächlich nicht dem Feuer zum Opfer gefallen war. Er fragte sich schaudernd, wo Arlon Zinca und sein dämlicher Sohn hin waren... ob sie umgekommen waren? Das wäre so schön...

Nein. Es war unrecht, Menschen den Tod zu wünschen, die Geister verstanden so etwas gerne miss. Dann würden sie es gegen ihn wenden und am Ende würde noch statt Arlon die arme Pakuna sterben... das wollte er nicht, nie im Leben. Schaudernd zog er sich die Felldecke über den Kopf, unter der sie gemeinsam lagen auf ihrem einfachen Schlaflager, als könnte er so die furchtbare Welt von sich abschirmen, obwohl er wusste, dass das nicht möglich war. Pakuna zitterte hinter ihm und sprach kein Wort. Nachdem er sie aus dem Feuer gezerrt und hierher gebracht hatte, hatte sie den Rest des Abends nur dort gelegen und gezittert, ohne etwas zu sagen. Es tat ihm leid... es hätte besser für sie sorgen sollen.

Ram erschrak sich fast zu Tode, als sie plötzlich doch sprach – ihre Stimme war heiser und klang verzerrt, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht.

„Warum... hast du zugesehen...?“ Er erstarrte; dann zog er sich noch tiefer unter die Decke zurück und wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sie wiederholte ihre Frage noch einmal und bemühte sich offenbar, ihr Zittern zu regulieren, was ihr nicht gelang. „Wieso... hast du zugelassen, dass sie... mir all das antun, Ram?“ Es brach ihm das Herz, sie so sprechen zu hören... obwohl er genau wusste, dass sie es zurecht sprach.

Er war ein furchtbarer Ehemann. Er war unfähig, sie zu beschützen... er war weder jemals ein guter Mann noch ein guter Vater gewesen. Und er hasste sich dafür... für seine gnadenlose Unfähigkeit, die sein Bastard von einem Sohn ihm Tag für Tag vor Augen hielt... zurecht. Er sagte nichts und hörte, wie sie fortfuhr.

„Du hast... einmal gesagt, als wir hier... ankamen... dass wir den Geistern danken sollen dafür, dass sie uns in der Not, die wir nichts hatten als unsere zerrissenen Kleider am Leibe, ein Dach über dem Kopf gewährt haben. Du hast gesagt, obwohl ich... von Anfang an wusste, dass Holia ein schlechtes Dorf sein würde... dass wir es ehren sollten, denn es gibt... uns Schutz. Ich habe dir vertraut... und ich habe auf mich genommen, was man von mir verlangte. Ich habe... so viele Nächte... unter diesen Widerlingen gelegen und es erduldet... um deinetwillen, Ram. Ich habe zugelassen, dass sie mich schänden, ich habe zugesehen, wie unser Sohn Tag für Tag mehr in den Schatten fällt... um deinetwillen. Ich wollte dir nicht die Schande machen, mich nicht an deine Worte zu halten... die Geister nicht zu ehren. Und jetzt... jetzt bin ich am Ende meiner geistigen Kräfte... und du sagst kein Wort. Was ist geschehen, Ram...? Sprich doch mit mir... bitte.“ Er schloss bebend die Augen, als ihr die Stimme versagte; plötzlich hatte er das Verlangen, sich selbst zu vierteilen für seine Unfähigkeit. Seinetwegen. Seinetwegen war seine Frau zerbrochen... die schöne, willensstarke Pakuna, die immer das Gute im Leben gesehen hatte, die nicht aufgegeben hatte... er spürte in seinem Inneren, dass die dünne, schwache Stimme, mit der sie sprach, nur der Anfang ihres Bruches war... an dem er Schuld war. Keuchend krümmte er sich neben ihr im Bett zusammen und fasste stöhnend nach seinem Kopf.

„Vergib mir... Pakuna. Ich bin... ich bin dir nie ein guter Mann gewesen... ich kann dich nicht angemessen beschützen und versorgen. Als wir im Krieg von meiner Familie getrennt worden sind... als du schwanger geworden bist... hatte ich immer Angst, dass es so enden würde. Ich bin nicht... wert, dass du hier bei mir liegst, fürchte ich.“ Er spürte sie hinter sich erstarren.

„Was redest du da?“, wisperte sie, „Du hast es... doch nie versucht, seit wir hier sind! Hast du jemals versucht, mich zu beschützen? Oder dein Kind?“

„Wie denn?!“, fuhr er auf, „Wie sollte ich, Pakuna, ich bin unfähig, ich kann nicht wirklich zaubern und ich kann auch sonst nichts! Ehe ich die Hand erhoben hätte, hätte Arlon mir das Genick gebrochen, wenn ich es wage, zu widersprechen! Du hättest... du hättest mit dem Jungen weglaufen sollen... es war mein Fehler, dass es soweit gekommen ist...“

„Weglaufen?“, keuchte sie, „Ich bin deinetwegen geblieben!“ Er fuhr zusammen, als ihre Stimme höher, brüchiger und verzweifelter wurde. „Ich bin geblieben, weil du geblieben bist, und ich würde niemals ohne dich fortlaufen! Wie kannst du so sprechen, Ram?! Tag für Tag leide ich Qualen und verfluche die Geister für das, was sie uns antun, und ich ertrage es um deinetwillen! Weil ich stark sein wollte... weil ich nicht wollte, dass du eine Frau hast, für die du dich schämen musst... eine Frau, die nur Probleme und Ärger macht. Aber wenn ich das alles doch getan habe, wieso... kehrst du mir dann jetzt den Rücken? Wieso hilfst du mir nicht... wenn ich im Inneren vor Angst schreie?“ Er schauderte.

„Nicht du bist die Frau, für die man sich schämen muss... ich bin der Mann, für den du dich schämen solltest. Es ist... einfach unmöglich, ich kann es nicht, Pakuna. Ich kann dir nicht der Ehemann sein, der ich hätte sein wollen... u-und... es frisst mich auf...“ Sie fiel ihm jäh ins Wort und schrie ihn an:

„Du hast keinen Grund, zu heulen, du Jammerlappen! Wie kannst du es wagen, zu flennen, wenn ich es bin, die alles erduldet?! Ich lasse mich schlagen und von anderen Männern besteigen, ich ertrage jede Schande für dich, für deinen Stolz, für unsere Familie, in der Hoffnung, mit dem, was ich tue, irgendetwas tun zu können, damit wir nicht auseinander brechen! Und du liegst da und bemitleidest dich, weil du so ein Nichtsnutz bist?! Das kann ja wohl nicht wahr sein!Wenn du wusstest, wie unfähig du bist, warum wolltest du hier bleiben?! Zoras und ich haben von Anfang an gesagt, das Dorf wird uns Unglück bringen, so wie Chayneh, wo unser Sohn geboren wurde, wo die Männer mich noch während meines Wochenbettes genauso gierig angestarrt haben wie die von hier jetzt! Wir könnten längst fort sein! Wir könnten weg, nach Thalurien, da ist es besser! Da werden wir nicht skeptisch angestarrt, weil wir Schamanen sind... wir sind gebürtig aus Kisara, wir haben jedes Recht, dort zu leben! Wir könnten-...“ Er zischte und kam unter seiner Decke hervor, um sich grimmig zu ihr umzudrehen.

„Nein! Nicht Thalurien. Thalurien ist eine Provinz der Verräter und Meuchler, du weißt das! Niemals setze ich einen Fuß dorthin, nicht, um wieder unter der Fuchtel dieser Bastarde zu sein, nicht, um mit der Schande leben zu müssen, vor ihren Füßen kriechen zu müssen, weil ich als Wurm es ja scheinbar nicht wert bin, in ihrem heiligen Land zu leben! Einen Dreck werde ich, Pakuna!“ Sie starrte ihn aus leeren Augen an und er stockte, als sie zu zittern begann und schließlich nach Luft schnappte. Das war falsch gewesen... er wusste es noch in dem Moment, in dem sie zum Sprechen ansetzte, und er wünschte sich abermals, sich vierteilen zu können.

„Dein Stolz ist alles?“, japste sie, „Weil du... irgendein unerklärtes Problem mit den Lyras hast, willst du hier verrecken? Nur deswegen gehen wir nicht nach Thalurien? Weil... Lyras in Thalurien wohnen?! Wohnten...“

„Lyras sind falsche Heuchler, sie tun freundlich, stechen dir dann aber von hinten in den Rücken!“, blaffte er sie an, „Du verdienst auch nicht, vor denen zu kriechen, und ich werde nicht in einem Land leben, in dem dieser Bastard von einem Kerl Senator ist und die Macht hat, mir zu sagen, was ich zu tun habe! Wie in Dokahsan, wo sie Herrscher waren, bah! Niemals würde ich dich der verräterischen Lügnerbande der Lyras aussetzen, Pakuna!“

Lügnerbande!“, schrie sie ihn wutentbrannt an, „Puran hat im Gegensatz zu dir den Mumm, seine Frau zu beschützen und sich nicht selbst zu bemitleiden!“ Er gab ihr eine schallende Ohrfeige, die sie zurück auf das Schlaflager schmetterte, von dem sie sich aufgesetzt hatte. Hustend fuhr die Frau herum und er keuchte noch entsetzt über seine eigene Hand, die seine Frau geschlagen hatte, während die Worte schon seinen Mund verließen, ohne dass er sie hätte aufhalten können.

„Erwähne nicht seinen Namen, wenn du in meinem Bett liegst, du verdammte Schlampe! Puran, ja?! Ich will nie wieder seinen Namen hören und nie wieder seine arrogante, verdammte Visage sehen müssen, dieser Heuchler, dieser Bastard, diese verdammte Scheißfamilie hat meinen kleinen Bruder auf dem Gewissen und du weißt das, Pakuna! Wie kannst du mich so verraten?! Puran! Pah! Warst du in seinem Bett und hattest Spaß?! Weil er ja so toll darin ist, seine Frau zu beschützen, ja?! Vielleicht solltest du einfach mal nackt vor ihm tanzen und ihn bitten, dich auch zu heiraten, damit dieser Dreckskerl dich auch so toll beschützen kann und dir jede Nacht Freude macht in seinem vergoldeten Bonzenbett mit dem Seidenbettzeug!“

Sie schlug ihm mit solcher Kraft ins Gesicht, dass er rückwärts vom Schlaflager rollte. Der Schmerz war tief... nicht der Schmerz ihres Schlages, sondern mehr der ihres Zorns. Und er hatte ihn verdient... es war unrecht gewesen, was er ihr unterstellt hatte. Sie war Pakuna... sie war nicht so erbärmlich, in eines anderen Mannes Bett zu kriechen. Aber seine Eifersucht ging einfach mit ihm durch, wenn er nur den Namen des verhassten Mannes hören musste... und dass Pakuna Lyras immer gemocht hatte, stieß ihm übler auf, als er jemals vor ihr zugegeben hätte. Es grenzte an Verrat seiner Familie, der seine Frau schon immer sehr nahe gestanden hatte, die Lyras zu mögen... die Familie, die Dokahsan beherrscht hatte, die Schuld daran war, dass einer seiner Brüder als Baby hatte verhungern müssen. Ram hatte ihnen niemals vergeben... und er würde es auch niemals tun. Wie verfluchte er den Zufall, dass Lyras genau wie er mit Pakuna nach dem Krieg gegen Zuyya dummerweise in benachbarten Gegenden gelandet waren... und es hatte ihn immer verblüfft, dass sein eigener Sohn sich ausgerechnet mit Purans Rotzgör geprügelt hatte, als sie noch in die Schule gegangen waren... es war, als hätten die Geister dafür gesorgt, dass seine Familie und die Lyras auch in Zukunft niemals miteinander auskommen würden. Das war eigentlich eine gute Sache.

Sich an die aufgeplatzte Lippe fassend rappelte der Mann sich auf und stierte seine schöne, zerbrochene Frau aus seinen giftgrünen, schmalen Augen eine Weile an.

„Ich muss dazu nichts sagen, Ram.“, sagte sie dumpf, „Du hast den Schlag verdient für deine Worte. Du hättest hundert verdient und einen Tritt zwischen die Beine für diese Abscheulichkeit... ich habe dich viel zu lieb, um dir noch mehr wehzutun...“ Jetzt senkte sie schluchzend den Kopf und er seufzte traurig, als er zu ihr zurück krabbelte und sie vorsichtig in seine Arme schloss.

„Vergib mir...“, murmelte er, „Ich... habe kein Recht darauf, dich anzurühren, Pakuna. Ich... ich habe nur... immer Angst, dich zu verlieren, wenn du seinen Namen sagst... mir... gefällt einfach nicht, dass ihr euch verstanden habt, als wir noch Kinder waren...“

„Lauf mit mir fort.“, wisperte seine Frau in seinen Armen und klammerte sich schutzsuchend an ihn, „Weg aus Kamien, Ram. Lyras sind doch gar nicht mehr in Thalurien... nachdem Arlon und die anderen Idioten es verwüstet haben. Wir könnten ja auch in eine andere Provinz... aber weg von hier. Ich flehe dich an... ich werde dich nie wieder um etwas bitte, Ram, als dieses eine Mal... wenn du mit mir fort läufst. Noch heute Nacht... wenn Zoras heim kehrt, brechen wir auf.“ Ram spürte, wie sich ihr Griff verfestigt, als sie sich an seine Brust klammerte, und er zitterte, während er versuchte, sie zu halten. Sie war so warm... es war angenehm, ihre Wärme und ihre Gutherzigkeit zu spüren, die er nicht im Geringsten verdient hatte.

„Vergib mir, Pakuna...“, flüsterte er erneut und küsste ihre schwarzen Haare, „Ich... habe dir jahrelang nur Kummer gemacht. Ich verspreche, dass ich es wieder gut mache... wenn du es wünschst, werden wir fortlaufen, ja. So schnell wir können... bevor Arlon aus der Asche seines Hauses aufersteht, oder wo auch immer er abgeblieben ist... wir können nicht auf Zoras warten, Pakuna.“

„Er ist mein einziges Kind.“, wisperte sie, „Ich liebe ihn und werde ihn nicht zurück lassen...“

„Er ist ein Geisterkind und entgegen meiner Blutslinie wahnsinnig begabt. Er hat die Gaben des Himmels... er kann sehen ohne Augen, hören ohne Ohren und die Geister beschwören. Ich denke, es dürfte für ihn nicht schwer sein, uns zu finden... vertrau mir. Wenn wir fliehen wollen... so wie Asta... dann müssen wir es jetzt tun, wenn keiner hinsieht. Gib mir deine Hand...“ Sie hob den Kopf, als er sie locker ließ und ihre kühlen Hände zärtlich in seine nahm. „Ich schwöre dir, Pakuna, ich werde... dich jetzt beschützen. Und wenn ich dabei sterbe... ich will nicht verrecken mit dem Wissen, dass dein Liebling Puran dich besser zufriedengestellt hätte als ich es vermag. Hab... keine Angst.“ Er sah sie vor sich schwach lächeln und spürte die Erleichterung darüber in seinem Inneren aufflammen wie ein angenehmes Kerzenlicht.

Sie würde nicht zerbrechen... noch nicht jetzt. Und er würde auch nicht zulassen, dass es soweit käme... nicht seine geliebte Pakuna, seine Blumenfee.

„Ich vertraue dir, Ram...“, wisperte sie, „Ich hätte... Puran Lyra niemals im Leben dir vorgezogen. Und auch dann nicht, wenn er... mich vor Arlon beschützt hätte.“ Ihre Worte rührten ihn so sehr, dass er aufpassen musste, nicht wieder in Selbstmitleid zu versinken...

Er war fürchterlich. Sie verdiente besseres... er liebte sie doch so sehr.
 


 

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blah... nicht viel passiert xD Zorchen hat sein Schwert am Stiel und Ram ist voll emo.

Der Söldner von Zuyya

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

In die Schatten

Die Welt erfüllte ein tiefes, melancholisches Grollen. Neisa hob den Kopf und starrte aus dem Fenster in den fallenden Schnee, während sie die leichte, kaum wahrnehmbare Erschütterung der Mutter Erde unter ihren Füßen spürte, so tief in der Dunkelheit, dass es mehr ein Instinkt sein musste, den sie wahrnahm, als das Beben selbst. Es beunruhigte sie und verschaffte ihr Kopfschmerzen, daran zu denken.

„Tharr... wird in den Schatten fallen... das weißt du. Und du weißt es schon lange... das Zeitalter... ist quasi vorüber, Neisa.“ So sprachen die Geister der Erde zu ihr und sie schwieg, während sie weiter aus dem Fenster der Wohnstube in den Schnee starrte. Dass der Schnee früh fiel in Dokahsan war nicht ungewöhnlich; ungewöhnlich für dieses Jahr war aber die Menge, in der er jetzt schon fiel. Der Holzmond war noch nicht mal ganz vorüber...

Die Erdgeister waren unruhig. Neisa war Heilerin; normalerweise nahmen die Heiler viel seltener und weniger wahr, was die Geister flüsterten, es war eher das Metier der Schwarzmagier, wie ihr Vater und ihr Bruder welche waren. Aber sie hatte sie schon als Kind manchmal gehört... sie sprachen irgendwo aus den tiefen Abgründen der Erdmutter, auf der sie alle lebten. Und sie waren besorgt, genau wie das junge Heilermädchen.

Und was sollen wir tun, wenn unsere Welt... fällt?

Die Antwort der Geister war auch mehr kryptisch.

„Lernen, in der Finsternis keine Furcht zu haben. Vielleicht geht dann die Sonne wieder auf...“

Sie zischte grimmig, während sie sich an die schmale Fensterbank der Stube klammerte und den Kopf etwas senkte. Sie hatte keine Furcht... die hatte sie in diesem Punkt nie gehabt. Die Erdmutter war auch finster, und sie war trotzdem gut zu den Menschen. Neisa war an die Dunkelheit gewöhnt... das war für Heiler auch eher ungewöhnlich. Man sagte, die Heiler als Experten für lebende, wachsende Pflanzen und Kräuter wären selbst wie Blumen, die in der Sonne am besten blühen konnten. Sie war dann wohl eher ein Nachtschattengewächs...

Als der Himmel draußen düster vor sich hin grollte, fuhr sie zusammen. Gewitter? Nein, um diese Jahreszeit wäre das wirklich unnatürlich, erst recht hier im Norden. Neisa schauderte bei dem Gedanken an Gewitter, die sie immer gleichzeitig gefürchtet und doch faszinierend gefunden hatte. Gewitter, hatte sie gelernt, war nicht mehr als eine Vereinigung von Vater Himmel und Mutter Erde. Und wenn Vater Himmel mit seinem Blitz in seine Frau eindrang, gebar sie manchmal die Flammenkinder... die Gedanken ließen das Mädchen plötzlich erröten, ohne dass sie einen wirklichen Grund dafür hätte nenne können.

Es sind doch nur die Mächte der Schöpfung. Das... hat nichts mit uns Menschen zu tun...

„Neisa?“

Sie fuhr herum, als sie plötzlich hörte, wie man sie ansprach, und sie fürchtete schon, es wäre irgendjemand, der ihr ihre unartigen Gedanken ansähe, aber zu ihrer Erleichterung war es bloß Asta, die scheu durch die Stubentür lugte. Asta war keine Magierin, die hatte keine Ahnung von Gedankenlesen. Die Heilerin räusperte sich.

„Was ist?“

„Darf ich... darf ich herein kommen? Oder störe ich dich? Du bist ganz allein... w-wo... sind denn die anderen?“ Die Blonde seufzte, lehnte sich gegen die Fensterbank und winkte Lorons dümmliche, hässliche Schwester zu sich herüber.

„Klar, komm rein. Keine Ahnung, meine Mutter ist mit Tantchen und sonst wem in der Küche, glaube ich. Warum, suchst du jemanden?“ Die wenig Ältere senkte nur verlegen den Kopf, als sie sich auf den Boden neben die Sitzkissen um den Stubentisch setzte. Neisa beschloss, das Grollen der unruhigen Erde und die Gedanken an Gewitter zu verdrängen und sich mit der anderen abzulenken, so setzte sich sich Asta gegenüber auf eines der Kissen. „Nimm dir doch auch eins.“, bot sie ihr an, „Wieso sitzt du auf dem nackten Boden?“

„I-ich möchte... ich möchte doch die guten Kissen nicht mit... meiner Abscheulichkeit beschmutzen. Mein Vater hätte mich erschlagen, hätte ich mich auf ein Kissen gesetzt.“ Neisa verdrehte die Augen.

„Bist du vielleicht ein Opfer, hör dich mal reden. Du bist nicht weniger wert als wir anderen, merk dir das. Du bist ja noch schlimmer als Eneela!“ Asta murmelte eine schüchterne Entschuldigung und Neisa schenkte ihr einen mitleidigen Blick. Es war kein Wunder, dass die Arme so war... bei dem, was ihr Vater und ihr Bruder wohl jeden Tag in Holia mit ihr angestellt hatten. Früher, in der Schule, hatte Neisa mit ihren Freundinnen manchmal über Asta gelacht, weil sie so für Karana geschwärmt hatte... und jeder in der Schule hatte doch gewusst, dass Asta sicher die Letzte war, die bei ihm je eine Chance bekommen hätte. Jetzt schämte sie sich für ihr Verhalten... das hatte Asta nicht verdient.

„Vergib mir...“, sagte sie so dumpf und die Rosahaarige sah verwirrt auf.

„Was?“

„Dass ich über dich gelacht habe, als wir klein waren. Ich weiß, es ist verjährt, aber jetzt gerade... kommt es mir unrecht vor. Tut mir leid.“ Asta lächelte noch verwirrter.

„Aber nicht doch, ich hatte es doch... verdient. Ich... das ehrt mich, was du sagst, Neisa.“

„Ich meine...“, murmelte die Heilerin, „Du bist ein guter Mensch. Du hast nichts getan, was es rechtfertigt, über dich zu lachen... aber wenn man mit dem Wissen aufwächst, dass jeder, der aus Holia kommt, dumm wie Brot und abartig ist, denkt man... eben nicht weit. Dabei bin ich doch nicht... weniger abartig.“ Sie errötete und sah verlegen zur Seite. Asta sprach.

„Ja... in Holia... gibt es nicht wirklich viele Menschen, die... nicht widerlich sind. Zu mir waren sie alle widerlich... eigentlich sind immer nur Derrans nett zu mir gewesen.“ Neisa verkrampfte sich, als sie den Namen hörte und sie an Zoras denken musste, den Mistkerl, der ihr Heimatdorf angezündet hatte. Mit einem Gewitter... das er gerufen hatte, und die Flammenkinder von Vater Himmel hatten dann Lorana gefressen. Sie errötete heftiger und schalt sich innerlich eine dumme Gans. Warum wurde sie rot?

„Ich fürchte mich... vor dem Feuer. Es hat meine Heimat verbrannt... und es verbrennt meine Seele, wenn ich... wenn ich...“, hatte sie versucht, Ryanne zu beichten, aber sie hatte es nicht über sich gebracht... die Gedanken schmerzten auf unnatürlich befriedigende Art und Weise. Sie dachte an die Worte der Seherin und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.

„Männer... sind mühsam, nicht wahr? Vielleicht brauchst du Brandsalbe für deine Wunden... du als Heilerin solltest dich doch damit auskennen, wie man... verbrannte Stellen heilt.“

„Zoras... hat Lorana verbrannt!“, zischte sie und kämpfte gegen den Drang, in Tränen auszubrechen, als ihr Kopf plötzlich heftig zu pochen begann und sie das Gefühl hatte, die Schmerzen würden sie umbringen. „Zoras... ist ein Schattenmonster, ich fürchte... mich vor ihm!“ Zu ihrer Verblüffung widersprach ihr das Mädchen aus Holia quasi.

„Zoras ist doch nur das, was die perversen Bastarde aus ihm machen... ich glaube, die Geister haben ihn genug gestraft.“

„Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich die Strafe verschlimmern...“, versprach Neisa erbost, „Dann wird er sich wünschen, mich nicht aus dem Feuer gerettet zu haben.“

„Ich glaube nicht, dass er ein böser Mensch ist. Er... stürzt sich doch nur selbst in den Schatten und die anderen in Holia schubsen ihn. Hast du... mal seinen Rücken gesehen?“ Neisa schauderte. Ja... sie erinnerte sich an das bizarre, tätowierte Muster auf seiner Haut, das von solcher Abscheulichkeit und gleichzeitig so faszinierend war... als sie nickte, betrachtete sie Asta verblüfft.

„Du weißt davon?“

„Natürlich, jeder in Holia, wenn nicht in halb Kamien, weiß davon, dafür hat Loron gesorgt, nachdem er es zum ersten Mal gesehen hat. Sie waren scheußlich zu ihm damals... wie das passiert ist, war egal, es zu sehen war für Loron genug, dafür zu sorgen, dass alle in der Provinz mit dem Finger auf Zoras zeigen und ihn Missgeburt nennen, das war sicher nicht schön.“

„Sicher nicht.“, stammelte Neisa, „Aber wenn sie so gemein waren, wieso hat Zoras dann noch so lange Lorons Kammerdiener gespielt?!“

„Weil sie sonst Pakuna die Kehle aufgeschnitten hätten... weil... es die einzige Möglichkeit war, dafür zu sorgen, dass... seiner Mutter nicht mehr unnötiges Leid angetan wird als ohnehin schon. Glaub mir... zu mir waren alle Menschen scheußlich und für mich sollten alle bösartig wirken... ich glaube nicht, dass Zoras ein böser Mensch ist. Ich... fürchte mich nur vor seinem Zauber... ich habe Angst davor... dass er irgendwann... doch in den Schatten fällt und dann die Welt vernichtet...“

Neisa starrte sie noch ungläubig über ihre Worte an, da öffnete sich die Tür und Tayson kam herein geschneit.

„Na, sowas!“, flötete er bester Laune, „Neisa, dich habe ich aber lange nicht gesehen. Und Rosi ist auch da, habt ihr was dagegen, wenn ich mich zu euch setze, Mädels?“ Die Heilerin zischte und erhob sich abrupt.

„Du kommst etwas unpassend gerade.“, versetzte sie kaltblütig und schielte den größeren Mann an, der sich darauf am Kopf kratzte.

„Häh?“ Sie brummte. Idiot... sie wusste gar nicht mit Sicherheit, warum genau es ihr widerstrebte, in seiner Gegenwart über Zoras zu sprechen. Die Gedanken an den Zerstörer ihres Heimatdorfes verschafften ihr plötzlich eine ungeahnte Übelkeit, gemischt mit dem Zorn und den flammenden Kopfschmerzen ließ es sie straucheln. Tayson machte ein beunruhigtes Gesicht. „Geht es dir nicht gut? Du wirst plötzlich ganz bleich... du siehst ja fast wie Eneela aus.“ Neisa zischte, bewahrte mühsam ihr Gleichgewicht und taumelte an ihm vorbei zur Tür.

„M-mir geht es gut!“, keuchte sie, „Es... es sind nur Kopfschmerzen. Bitte entschuldige mich, Tayson.“ Damit verschwand sie aus dem Raum, ohne ihm zu offenbaren, dass es nicht nur ihr Kopf war, der schmerzte, sondern auch das Feuer in ihrem Inneren, das sie zu verbrennen drohte.

„Vielleicht brauchst du Brandsalbe für deine Wunden... du als Heilerin solltest dich doch damit auskennen, wie man... verbrannte Stellen heilt...“
 

In dem Zimmer, in dem Neisa zusammen mit den anderen Frauen (abgesehen von ihrer Tante und ihrer Mutter) übernachtete, war keiner, als sie eintrat. Asta war schließlich noch in der Stube, wo Eneela und die Seherin waren, wusste sie nicht, und eigentlich war es ihr auch einerlei. Sie hatte niemanden, mit dem sie reden konnte, alle ihre Zimmergenossinnen waren dafür komplett ungeeignet. Eneela sprach ja kaum überhaupt einmal – und wenn, dann offenbar nur mit Simu, an dem sie zu hängen schien. Simu schien tatsächlich der Einzige zu sein, der Zugang hatte zu dem schüchternen, verstörten Lianermädchen. Und Ryanne war geistesgestört, das war auch keine Hilfe. Sie sprach entweder in Rätseln oder erzählte Mist, wenn sie gerade mal wieder ihr Gedächtnis verloren hatte. Vielleicht würde sie mit Simu sprechen... aber der war ja bei Eneela. Vermutlich. Und mit Karana konnte man nicht objektiv über Zoras Derran sprechen; man musste nur wagen, seinen Namen zu nennen, und ihr Bruder ging garantiert an die Decke.

Neisa seufzte, rieb sich die Schläfen und setzte sich lustlos auf ihr Schlaflager, während sie darüber nachdachte, ob das schwarzhaarige Mädchen wohl wirklich Karanas Liebhaberin war. Zumindest machten sie Nachts Dinge, die dafür sprächen... und abgesehen davon hatte Tante Alona eigenartige Dinge gesagt vor einigen Tagen.

„Sie sagt, Karana nennt sie Saidah. Fand ich eigenartig, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich auch geglaubt, sie würde mich an jemanden erinnern. Auf Saidah bin ich bis dahin allerdings gar nicht gekommen. Aber jetzt, wo sie es selbst gesagt hat...“

Neisa wusste nicht, was genau Tante Alona daran beschäftigte – es konnte ihr vermutlich egal sein. Die kleine Heilerin jedenfalls, die das gehört hatte, hatte die Sache plötzlich ganz anders betrachtet. Sie erinnerte sich nicht daran, wie Saidah Chimalis aussah, aber wenn Iana ihr ähnelte, war es kein Wunder, dass ihr Bruder so scharf auf sie war. Sie fragte sich, ob die arme Iana wusste, wer Saidah eigentlich war... oder eher, was genau Karana eigentlich mit der Geisterjägerin verband. Karana war sicher nicht dumm genug, ihr ins Gesicht zu sagen, dass seine Lehrmeisterin seine größte Flamme war und er sich selbst jetzt, wo seine Lehre bei ihr seit über einem Jahr vorbei war, noch immer nach ihr verzehrte... alle anderen Mädchen, die er seitdem so beglückt hatte, waren doch nicht mehr gewesen als Ablenkung und ein vergeblicher Versuch, die Frau zu vergessen, die für ihn die erste gewesen war, die er genommen hatte. Neisa fand die Vernarrtheit ihres Bruders in die Frau merkwürdig. Saidah jedenfalls schien nicht so zu fühlen wie er, denn ihr Bruder ließ ihren Vater jedes Mal, wenn Geisterjägerrat anstand, ausrichten, dass er sie vermisste oder andere derartige Sprüche, und Senator Lyra hatte zumindest nie einen Gruß zurück übermittelt, wenn er heim gekommen war.

„Hat sie was zu dir gesagt, Vati?“, hatte Karana dann in seinem verliebten Eifer gefragt, jedes Mal, und der Vater hatte nur etwas wehleidig gestöhnt und nichts weiter gesagt, außer manchmal:

„Sie ist gesund, sorge dich nicht.“

Neisa überlegte sich, dass das schwarzhaarige Mädchen hier echt bemitleidenswert war, wenn sie jetzt so etwas wie Karanas Saidah-Ersatz wurde, nur, weil sie zufällig so aussah. Sie war schon eine sehr hübsche junge Frau... aber sie war nicht Saidah, und sie dann so zu nennen war irgendwie verräterisch.

Die Heilerin seufzte und lehnte sich auf dem Lager sitzend gegen die Wand, die Knie anziehend. Die Gedanken lenkten sie ab... das war gut. Just in dem Moment, in dem sie das dachte, klopfte es vorsichtig an der Tür. Sie überlegte noch, ob sie sich schlafend stellen sollte, hatte aber keine Zeit mehr, sich hinzulegen und so zu tun, denn da öffnete sich die Tür schon und Tayson kam wieder zu ihr.

„Du verfolgst mich ja, ich werde noch paranoid.“, stöhnte sie bei seinem Anblick und er strahlte sie mit der Naivität eines Kindes an.

„Deine Mutter hat dir Tee gemacht für deine Migräne, ich habe ihn dir mitgebracht. Tut mir leid, wenn ich dir auf die Nerven gehe...“

„Ja, tust du.“, stöhnte sie, war aber insgeheim dankbar für den Tee, als er herein kam, und frohen Mutes setzte er sich neben sie – für ihren Geschmack etwas zu dicht, sodass sie sich räusperte und weg rückte. „Setz dich nicht gleich auf meinen Schoß!“

„Ich habe mir einfach gedacht, dich zu nerven hat mehr Erfolg als es sein zu lassen, so vergisst du mich wenigstens nicht. Und da Karana gerade nur Augen für sein Mädchen hat, dachte ich, ich nutze die Gelegenheit, in der er mich nicht von dir weg zerrt als eifersüchtiger großer Bruder, um vielleicht einmal dazu zu kommen, dir zu beweisen, dass ich nicht so ein Arsch bin, wie du vielleicht denkst!“ Sie hustete, den Teebecher nehmend, und linste ihn an.

„Ich habe nie geglaubt, du seist ein Arsch. Ich glaube nur, du bist ein Vollidiot... wenn du jetzt gehofft hast, mich umgarnen zu können, so ist dies ein schlechter Zeitpunkt. Mir ist gerade nicht so danach, ich fühle mich unwohl und ich habe gelernt, dass Männer mir nur Kummer bereiten.“ Tayson sah verdutzt aus.

„Was, wieso das? Wer hat dir wehgetan, Neisa?!“ Sie sah ihn erschrocken an, als er plötzlich unwahrscheinlich ernst wurde. „Wer? Ich ziehe ihm die Haut ab, wenn es sein muss, dass er es wagt...“ Ungläubig bemerkte sie, dass er es völlig ernst meinte und es nicht etwa nur daher sagte, um sie eventuell zu beeindrucken. Dass er es ernst meinte, beeindruckte sie mehr als die Worte an sich, und sie stellte die Teetasse auf ihren Schoß und senkte keuchend das Gesicht.

„Nein... so... ist es auch nicht. Niemand hat mir wirklich wehgetan, Tayson. Ich... wusste nicht, dass dich das ernsthaft kümmert. Ich meine... du bist ein Schürzenjäger wie mein Bruder... dass du was von mir willst, weiß ich ja, aber ich... wusste nicht, dass dir dabei etwas an meinem Wohlergehen liegt...“

„N-natürlich tut es das!“, japste er, und sie war verwirrt, weil er sie nicht, wie es seine Art gewesen wäre, einfach stürmisch umarmte oder ihr sonst welche Zärtlichkeiten aufzwang; er saß vollkommen seriös und untypisch neben ihr und schien wahrlich ergrimmt darüber, dass sie Kummer hatte. Was war denn mit dem los? „Was ist passiert, Neisa? Nachdem... du in Lorana verschollen warst... hatte ich Angst, Loron oder so jemand hätte dich in die Finger gekriegt... und... als Simu dich endlich zu uns zurück gebracht hat, warst du wütend und unglücklich. Ich habe gesehen, wie du aus dem Fenster nach Süden gestarrt hast, Tag für Tag, und wie du über deine Kopfschmerzen geklagt hast. Simu hat zwar... gesagt, es wäre der Verlust von Lorana gewesen, der dich so fertig gemacht hätte, aber das kann es doch nicht allein sein... also sag mir, was ist mit dir geschehen? Und ich verspreche dir, ich werde... es wegmachen. Und wenn ich dafür töten muss, ich werde... wegmachen, was dich unglücklich macht.“

Sie war verwirrt und errötete. Was redete er denn da?

Du kannst... Zoras Derran nicht 'weg machen'. Er ist ein Dämon... ein Herrscher über Blitz und Schatten. Du bist... doch nur ein Mensch...

Sie konnte und wollte ihm das nicht sagen. Und der Gedanke, Tayson würde versuchen, Zoras zu töten, weil er sie erzürnt hatte, ließ sich in ihrem Inneren ihren Magen zusammenziehen, sodass es schmerzte. War es wirklich der Gedanke daran, Zoras zu töten, oder der Gedanke an den Kerl überhaupt... der ihr Schmerzen bereitete? Sie dachte flüchtig an die Tage, die sie mit Karanas Rivalen alleine verbracht hatte, an alles, was sie von ihm erfahren hatte, an seine aufgesetzte, kalte Fassade, hinter der ein wirklich bemitleidenswerter Mensch steckte, der grauenhafte Dinge erlebt hatte. Sie dachte an die fürchterliche Tätowierung auf seinem Rücken und die Vorstellung, wie sehr das geschmerzt haben musste, war so grauenhaft, als wäre es ihr ebenso widerfahren.

„Zoras ist ein guter Mensch...“, hatte Asta gesagt, und Neisa wusste es doch selbst. Er hatte sie vor Loron gerettet, der ihr wirklich Schlimmes angetan hätte. Er hatte sie zu ihrer Familie bringen wollen mit dem Wissen, dass er dort auch Karana hätte begegnen können, der bei dem Anblick seiner Schwester ausgerechnet bei ihm vermutlich ausgerastet wäre, er hatte ihr Schutz geboten... und er hatte verdammt noch mal Lorana angezündet. Und die anderen Dörfer...

Sie wurde immer verwirrter, weil sie nicht mehr wusste, ob sie wirklich deswegen wütend auf ihn war. Ob sie überhaupt wirklich wütend war... oder es nur vorgab, um verzweifelt zu versuchen, die Brandwunden zu löschen, die in ihrem Inneren bluteten...

Sie merkte erst, dass sie weinte, als Tayson ihr behutsam die Teetasse abnahm und ihr ganz vorsichtig über die blonden Haare streichelte.

„Weine nicht...“, murmelte er, „Du musst... es mir nicht sagen, wenn es dich zu sehr mitnimmt. Ich... habe mir nur Sorgen gemacht, das ist alles. Vergib mir, Neisa, ich hätte nicht fragen sollen. Vielleicht bin ich ja doch ein Idiot...“ Sie schauderte, als er ihre Haare so sanft berührte, und zum ersten mal, seit sie den Trottel kannte, spürte sie, dass hinter all seinen dämlichen Annäherungsversuchen eine wirkliche, ernsthafte Absicht steckte, sie zu beschützen und sie zu lieben. Es ging nicht darum, eine hübsche Freundin zu haben, oder die verwöhnte Tochter eines Politikers, es ging ihm tatsächlich nur um sie. Er hatte nicht die Absicht, sie zu benutzen oder ihr wehzutun... oder sie zu verunsichern, wie es andere taten. Er war einfach nur da, und die Erkenntnis, dass er es wirklich ernst meinte, tröstete sie und spendete ihr eine heilende Wärme, als sie daran dachte. Und sie schluchzte, ehe sie sich zur Seite gegen seine Brust kippen ließ und sich dem Verlangen hingab, einfach zu weinen.

„Vielleicht brauchst du Brandsalbe für deine Wunden... du als Heilerin solltest dich doch damit auskennen, wie man... verbrannte Stellen heilt...“

Sie zitterte, als sie plötzlich feststellte, dass dies hier die beste Heilung war. Es war nicht verunsichernd, es tat gut, als er sie einfach im Arm hielt, ohne sich aufzudrängen oder irgendetwas zu sagen. Er war einfach nur da, er hielt sie fest und dämpfte damit das schmerzende Feuer in ihrem Inneren, das sich so unwohl anfühlte... plötzlich tat es ihr leid, die ganzen Jahre immer so gemein zu ihm gewesen zu sein. Sie hatte ihn definitiv falsch eingeschätzt...

„Es ist... eben eine Dummheit... meines Geistes!“, keuchte sie in seinen Armen, indem sie sich an ihn klammerte und seinen Nacken mit den Armen umschlang, während seine Hände über ihre Haare und ihren Rücken fuhren. „Ich habe Angst vor dem Gewitter... aber gleichzeitig reizt es mich und zieht mich einfach an, ohne dass ich es verhindern kann... und es ist... ist so heftig, dass ich möglichst so dicht... dran sein will, wie es geht, zugleich möchte ich wegrennen! Und... und... dann komme ich einfach zu nah dran und... die Blitze verbrennen mich... es ist nur, weil ich so dumm bin! Und dann wundere ich mich, dass ich mich verbrenne... vergib mir, Tayson...“ Sie spürte, wie er sich vorsichtig fester an sich zog und wie er etwas davon murmelte, dass es schon gut wäre. Dass sie sich nicht fürchten müsste, dass er sie vor dem Gewitter beschützte. Und sie wusste mit Gewissheit, dass er in seinem naiven Geist eines Nichtmagiers nicht darauf kommen würde, dass sie in Wahrheit gar nicht von einem Gewitter sprach... es war gut so. Sie wollte nur in seinen Armen hängen und spüren können, wie die Verbrennungen heilten... sie wollte nicht mehr an Zoras denken.
 

Als Puran Lyra seiner Cousine eine Antwort auf ihre Botschaft schickte, war der Mond der Stürme längst angebrochen, der vorletzte Mondeszyklus des Jahres. Die Botschaft kam mit dem Wind in Form einer schwarzen Kondorfeder, und sie kam zum Fenster herein und landete in der Suppe, die Alona gerade hatte kochen wollen. Die Frau fing an zu fluchen und Karana hörte seine Mutter vor Erleichterung jauchzen, dass sein Vater endlich einmal etwas von sich hören ließ.

„Saidah kann mit ihren verdammten Federn nicht zielen!“, fluchte Tante Alona, als sie mit dem nassen Ding aus der Küche in die Stube stampfte, wo ihr Neffe mit Iana auf der Couch saß, am Tisch hockten der komische Söldner und die Seherin, die seit dessen Ankunft gar nicht von seiner Seite hatte weichen wollen. Karana fand sie beide komisch, aber sie gaben in der tat ein lustiges Paar ab – vor allem der Kerl, der nicht den Eindruck machte, als interessierte er sich auch nur einen Hauch für die arme Ryanne.

„Saidah?“, fragte Iana neben Karana ungläubig und er räusperte sich.

„Ja, sie ist Herrin über die Geister von Kondoren und Krähen. Sie kann Federn als Botschaften benutzen, das heißt, eigentlich verwandelt sie Briefe in Federn und schickt diese dann, sie sind viel schneller als jeder Bote und jede Taube. Dummerweise landen ihre Federn immer irgendwo, wo sie sicher nicht landen sollten, oder kommen zu Zeiten, die unpassend sind...“ Er verdrängte es, weiter an seine Meisterin zu denken, während Iana neben ihm saß; das wäre nicht gut. Aber er konnte einfach nicht vermeiden, das leichte Kribbeln der Nervosität in sich zu spüren, wenn er jetzt die Feder sah, die seine Tante mit einer grimmigen Handbewegung zurück in ein Pergament verwandelte. Und es war ein ganz schön langes Pergament.

„Der gute Herr hat wohl viel zu erzählen.“, grinste Ryanne am Tisch, und neben Tante Alona kam Karanas Mutter zum Stehen, die ganz aus dem Häuschen war wie ein kleines Kind.

„Hibbel hier nicht herum, Leyya, mach dich nützlich und rufe die anderen, damit ich nicht dreimal vorlesen muss.“ Karana setzte sich aufrecht hin, während seine Mutter artig hinaus rannte, um die anderen zu holen. Was es wohl zu berichten gab, und dann so viel? Er hoffte, seinem Vater ging es gut...

„Vielleicht kriege ich ja jetzt meinen Lohn.“, sagte Iana neben ihm und er linste sie schmollend an.

„Du willst doch gar nicht mehr wirklich weg?“

„Wer weiß. Wenn du dich mal nicht benimmst, kann ich wenigstens damit drohen, damit du mir dann wie ein Hund hinterher krabbelst und mich anflehst, zu bleiben.“ Zu Karanas Verblüffung grinste der komische Yarek darauf verhalten, sagte aber nichts weiter. Kurz darauf kamen auch schon alle übrigen in die Stube, während Tante Alona für sich über das natürlich auch feuchte Pergament meckerte und sich beklagte, dass die Schrift verwischte.

„Sind jetzt alle da?“, fragte sie dann, als sich Neisa, Tayson, Simu, Eneela und Asta um den Tisch herum gesetzt hatten, „Die meisten tangiert das ja gar nicht, aber vielleicht interessiert euch ja, was in Vialla vorgeht. Also, mein offenbar sehr emsiger Cousin schreibt mir:

Du hast eine grauenhafte Schrift, Alona, aber Neron konnte sie in betrunkenem Zustand lesen, ein Hoch auf ihn, du solltest ihn loben.

Gut, das... wollten jetzt alle wissen... weiter.

Die Dinge stehen grauenhaft. Wirklich grauenhaft, die Bestien aus dem Osten haben Dobanjan überrollt und sind vermutlich auf dem Weg nach Vialla. Der König hat uns gebeten, sie aufzuhalten, wir wissen alle, was das bedeutet. Sie sind wahnsinnig viele und zu großer Wahrscheinlichkeit den unsrigen Leuten überlegen. Man hat schon Truppen aus allen Provinzen angefordert, Sagal war in Janami und Intario und man verhandelt mit Senjo, soweit das funktioniert. Die Trottel aus Kamien sind fort aus Thalurien, da aber als nächstes vermutlich die Leute aus Ela-Ri dort einmarschieren, ist das einerlei. Was immer passiert, bitte bleibt einfach da oben, selbst, wenn Vialla fallen sollte, habt ihr von Yiara aus genug Möglichkeiten, zu fliehen. Ich bete zu den Geistern von Himmel und Erde für eure Gesundheit, Alona. Wir hatten die kluge Idee, dich nach Alymja zu schicken, ins Nordreich. Ich dachte, du hättest mal erwähnt, dass du da irgendwen kennst, der was zu melden hat, bitte korrigiere mich, wenn ich mich irre – dann aber bitte schnell, wer weiß, wer mir den Kopf abhaut. Jedenfalls brauchen wir jede Unterstützung, die wir kriegen können und der Heerführer hat gesagt, die Flotte von Alymja könnte die massigen Schiffe aus dem Osten quasi von hinten durchschlagen. Bitte tu mir den Gefallen, Cousine, vielleicht ist es der Letzte, den du mir erweisen wirst. Ach ja, was sollte das mit irgendeiner Belohnung? Entschuldige, wir sterben hier vielleicht, aber wenn wir das überleben, zahle ich dem Mädchen gerne, was es verlangt, das muss jetzt aber warten. Dann verbleibe ich (hoffentlich noch eine Weile) mit freundlichen Grüßen an die Familie und besonders natürlich meine Kinder.“

An dieser Stelle pausierte die Tante und die anderen schwiegen ungläubig über das, was sie hörten.

„War das alles?“, fragte Yarek und sah das ellenlange Pergament an, „So ein langes Pergament für den Text?“

„Hier folgt ein Absatz.“, sagte Alona und räusperte sich, „Der Teil hinter dem Absatz ist nur für Leyyas Augen bestimmt, wird mir hier angekündigt.“ Karana musste lachen, als seine Tante errötete und den Brief seiner Mutter reichte, die eher erbleichte. „Lies das bitte für dich alleine im Schlafzimmer, Leyya.“ Die anderen hüstelten teilweise und die Heilerin erzitterte.

„Meint der das ernst oder albert er herum damit, dass sie sterben?“, fragte Iana dann in die peinliche Stille hinein, und darauf sahen sie alle an. Karana schnaufte.

„Mein Vater ist Herr der Geister, der stirbt nicht einfach so.“

„Aber es ist Ela-Ri, das uns angreift.“, meinte Yarek, „Und dein Vater ist auch nur ein Mann, letzten Endes.“

„Das... das ist ja grauenhaft!“, japste Simu und Karana drehte verwirrt den Kopf in Richtung seiner Schwester, die mit einem mal hysterisch zu weinen anfing.

„Vati darf nicht sterben! Vati k-kann nicht sterben, das geht nicht! Ich habe Angst... ich will das nicht!“ Und sie fing panisch an zu heulen, worauf Simu und Tayson versuchten, sie zu beruhigen. Karana sah bestürzt zu seiner Tante, die benommen zu Boden blickte und dann unmerklich ebenfalls zitternd eine Hand hob, um sich eine Strähne hinter das Ohr zu streichen.

„Ich... breche sofort auf nach Alymja. Ich überlasse euch... solange die Obhut über mein Haus. Wehe es ist beschädigt, wenn ich zurück komme, Karana, hörst du?“ Karana konnte nicht antworten. Er hörte nur seine Schwester wimmern, Tayson irgendetwas murmeln, das sie beruhigen sollte und wie Iana neben ihm komplett erstarrt die Luft einzog.

Was sie in Dobanjan gesehen hatten, war nur der Anfang gewesen. Es kam wirklich ein fürchterlicher Krieg auf sie zu... nein, sie waren schon mittendrin.

Der Gedanke, er könnte seinen Vater und auch Saidah vielleicht niemals mehr wiedersehen, verschaffte ihm eine solche Übelkeit, dass er das Gefühl hatte, er würde ohnmächtig.
 

Der Himmel grollte und das Dach des Hauses ächzte unter dem Gewicht der Schneemassen, die bereits gefallen waren. Draußen heulte der Wind in der heraufziehenden Finsternis und die Geister der Erde wisperten vom Ende der Welt. Wie konnten sie davon sprechen und den Menschen so schadenfroh vorhalten, dass sie alle untergehen würden?

Leyya Lyra war verzweifelt. Unter anderen Umständen hätte sie sich wie ein kleines Kind über den Brief ihres Mannes gefreut, sie hätte kichernd auf dem Bett seiner Cousine gelegen, in deren Zimmer sie auf einem extra aufgebauten Gästelager schlief, mit den Beinen gestrampelt und sich nach ihm gesehnt, wie sie es immer tat. Aber nach den Worten, die Alona vorgelesen hatte, konnten die Zeilen, die Puran allein für sie geschrieben hatte und die nur sie etwas angingen, sie nicht aufmuntern. Normalerweise wäre sie errötet über die so dezenten und doch intimen, liebevollen Worte, aber die Farbe wollte einfach nicht mehr in ihr Gesicht zurückkehren bei dem bloßen Gedanken daran, sie könnte ihn niemals wiedersehen. Eigentlich war es auch mehr das, was er schrieb, oder es lag an ihrer Panik, dass sie seine Worte als ein durch die Blumen übermitteltes, allerletztes Lebewohl auffasste.

Sie wollte nicht, dass er starb... wenn er starb, würde sie mit ihm sterben, und nicht etwa, weil sie sich selbstlos das Leben nehmen würde, es würde von allein passieren. Sie gehörten zusammen, sie hatte es schon als Kind gespürt, als sie ihn getroffen hatte im Krieg... sie hatte von Anfang an gewusst, dass er der einzige Mann auf der Welt für sie sein würde, für immer und ewig. Sie war so unverschämt jung und verliebt gewesen damals, und als sie mit ihren zarten vierzehn Sommern ihren Sohn Karana geboren hatte, hatte sie sich für erwachsen gehalten. Jetzt war sie älter... aber sie empfand immer noch dieselbe, brennende Liebe für ihren Gemahl, und sie wusste, dass es nichts zur Sache tat, wie alt sie oder er werden würde, sie würde es immer so empfinden, sie würde auch als alte Frau noch das Feuer eines jungen Mädchens spüren, wenn sie mit ihm das Bett teilte... die Gedanken, dass ihr gemeinsames Leben auf so eine Art enden sollte, schmerzten sie nicht nur, sie brachten sie um. Sie musste weinen... sie wollte gar nicht weinen. Sie wollte stark und tapfer sein, um ihrem Mann eine gute Frau zu sein, für deren Nutzlosigkeit und Schwäche er sich nicht zu schämen bräuchte... aber sie konnte einfach nicht, als sie am Boden des Schlafzimmers hockte, in ihren Händen das Pergament, und bitterlich weinte.

Als Alona zu ihr kam, zuckte sie kurz zusammen, dann spürte sie, wie die ältere Frau sie schweigend in die Arme schloss. Sie lehnte ihre Stirn an die Schulter ihrer gefühlten Cousine und konnte die Tränen einfach nicht bändigen, die ihr über das Gesicht rannen.

„Shhht...“, wisperte Alona ihr zu, „Beruhige dich. Niemand sagt, dass sie wirklich sterben.“

„Ich habe... solche Angst...“, schluchzte die kleinere Heilerin aufgelöst, „Ich... vermisse ihn so sehr... mir hilft kein Brief, mir helfen keine Gedanken... i-ich kann nicht leben ohne ihn... d-du weißt das!“ Sie umarmte die Frau verzweifelt und vergrub das Gesicht in ihrer Schulter, und Alona seufzte leise.

„Ich werde gleich nach Alymja aufbrechen. Der Mann, den ich kenne, war einst hier im Land Mitglied des obersten Rates der Telepathen, dem auch ich angehöre. Seine Frau stammte aus Alymja und sie sind deswegen zurück in ihre Heimat gekehrt vor vielen Jahren. Er ist dort aber ein Mann von Rang und Ehre, er könnte sicher mit dem König des Nordreiches sprechen. Wir haben gute Beziehungen zu Alymja, die Chance ist groß, dass sie bereit sind, uns zu helfen.“ Sie machte eine Pause und Leyya bebte in ihren Armen, als sie langsam darum kämpfte, die Tränen zu bezwingen. „Wenn sie mit der Flotte nach Süden aufbrechen... werde ich mit ihnen fahren. Wenn sie die Armee aus dem Osten von hinten überrumpeln, komme ich vielleicht nach Vialla. Ich bin Telepathin, ich kann Barrieren bauen. Ich... werde schon nicht zulassen, dass deinem Mann etwas geschieht, soweit ich es vermag. Das ist alles, was ich tun kann... Puran ist ein Genie, er ist ein wahnsinnig mächtiger Schamane und Herr der Geister. Gib nicht gleich die Hoffnung auf.“ Leyya ließ sie bestürzt los und sah sie aus großen, braunen Augen fassungslos an.

„Du... du willst hinunter in den Krieg?“ Die Ältere seufzte und tat genervt.

„Familienbande und so, du weißt schon. Puran ist mir wie ein älterer Bruder und wir sind die einzigen, die von unserem Clan übrig sind... ich käme mir pietätlos vor, mich rauszuhalten.“ Sie lächelte leicht und die Heilerin keuchte, als Alona sich erhob.

„Nimm mich mit!“, japste sie, „Bitte... wenn du gehst, dann werde ich auch gehen! Ich werde nicht... hier sitzen und darauf warten, dass mich eine Nachricht erreicht von eurem Tod... ich möchte mit dir kommen!“ Alona blinzelte.

„Dein Mann würde mich häuten, wenn ich das zuließe, das weißt du. Puran würde nie wollen, dass du da hin gehst.“ Leyya erhob sich bebend und drückte den Brief zitternd an ihre flache Brust.

„Puran hat einmal gesagt... dass das Wichtigste für ihn an einer Frau ist, dass sie ihren eigenen Geist hat und selbstständig denken kann, dass sie nicht immer blind das tut, was ihr Mann verlangt. Und wenn er mich schlagen sollte, wenn ich ihn sehe... dann nehme ich es hin, wenn ich ihn nur noch einmal sehen kann... bitte nimm mich mit.“ Die Telepathin senkte bedrückt den Kopf und Leyya spürte bereits, dass sie gewonnen hatte, ehe Alona dumpf fortfuhr.

„Was wird aus euren Kindern? Wenn wir alle umkommen... sind deine Kinder Waisen.“

„Karana ist alt genug, um für seine Schwester zu sorgen, für Simu gilt dasselbe. Außerdem werden sie von diesem rothaarigen Spinner beschützt, das hat er gesagt... sie sind die Sieben. Vielleicht... helfen uns die Schicksalsgeister...“ Darauf hatte die Cousine offenbar keine Einwände. Sie wandte sich wortlos zur Tür und sprach erst, als sie schon draußen war.

„Dann packe, was du brauchst, rasch. Ich werde nicht auf dich warten, Leyya, beeile dich also.“
 

Neisa sah mit gemischten Gefühlen zu, wie ihre Tante und ihre Mutter sich nach kurzer Verabschiedung auf den Weg machten, um nach Alymja zu gelangen. Das Inselreich lag ganz im Norden von Tharr und der Weg war weit; zum Glück war Tante Alona eine fähige Magierin und ihr Teleport wäre mächtig genug, sie beide schnell dorthin zu schaffen. Einerseits erfüllte es die kleine Heilerin mit Hoffnung, zu sehen, dass Leute handelten... dann aber fragte sie sich, wie hilfreich zwei Frauen im Nordreich sein würden... ob der König überhaupt helfen wollen würde? Und ob die Flotte von Alymja stark genug war, gegen Ela-Ri zu kämpfen? Immerhin war das Nordreich sehr klein und nicht sehr dicht besiedelt... wie viele Männer könnten die schon aufbringen?

Sie zwang sich, nicht daran zu denken, als sie des Nachts hellwach auf ihrem Lager lag und die anderen bereits zu schlafen schienen. Man hatte sich nach dem Aufbruch der beiden Frauen zur Eile gedrängt und gemeinsam beschlossen, bald nach dem Mädchen Jamali zu suchen, von dem Yarek gesprochen hatte... die Zuyyanerin, die mit zu den Sieben gehörte. Vielleicht konnten sie zusammen etwas ausrichten...? Wozu sonst waren sie denn auserwählt? Aber Neisa konnte sich nicht vorstellen, wie sie zu siebt – oder eher sechst, sofern sie diese Zuyyanerin fanden, denn der siebte im Bunde war ja gänzlich unbekannt – etwas tun können sollten gegen die Horden aus dem finsteren Ostreich. Es hieß, sie zwangen wilden Bestien ihren Willen auf, ähnlich wie Karana seinen Hund kontrollierte, nur mit furchtbareren Monstern... es hieß, sie verspeisten ihre Opfer roh und badeten in ihrem Blut. All das konnten auch bloß Märchen sein... fest stand aber, dass so wenig über Ela-Ri bekannt war, weil kein Mensch jemals lebend von dort zurückgekehrt war. Neisa schauderte bei dem Gedanken daran und die Schatten, die über das reich herfielen, befielen auch ihren Geist und verpesteten ihn mit Angst und Verzweiflung.

Draußen donnerte es und sie fuhr zusammen. Gewitter? Die Gedanken ließen sie schaudern, und dennoch rappelte sie sich rasch auf, um zum Fenster des Zimmers zu tapsen, den Vorhang ein Stück zur Seite zu ziehen und hinaus zu sehen. Draußen tobte ein brutaler Schneesturm, der vom Donnern aus dem Himmel untermalt wurde in seiner Grausamkeit. Es war eiskalt geworden in den vergangenen Tagen... das Wetter war ungewöhnlich hart. Sie fuhr erneut zusammen, als sie zwischen allem Schneegestöber am Himmel das Wetterleuchten sah. Als wäre das ein Zeichen spürte sie das Schmerzen des Feuers erneut, und sie dachte verwirrt an Tayson, der zu ihr gekommen war und sie getröstet hatte. Jetzt war sie allein... sie wünschte sich, er würde wieder kommen.

Das Grollen des zornigen Himmels ließ das junge Mädchen zusammenfahren und sie umschlang bebend mit ihren Armen ihren schlanken Körper.Unter ihren Füßen spürte sie das Zittern der Erde... die Unruhe der Geister, die sie in ihrem Inneren genauso erschütterte wie Mutter Erde selbst.

„Fürchtest du dich... Neisa?“, wisperten die Geister und sie trat strauchelnd vom Fenster weg, als sie eine unwohle Gänsehaut überkam.

„Ja...“, stammelte sie atemlos, während sie weiter zurücktrat und beinahe über Eneela gestolpert wäre.

„Du brauchst dich nicht zu fürchten...“, krächzten die Erdgeister und sie spürte, dass ihr schwindelig wurde, „Die Brandwunden... werden dich nicht töten. Der Instinkt, der dich zieht... ist ein Teil von dir, den du nicht ablegen kannst. Ein verborgener Teil deines Geistes... der sich danach sehnt...“

„Ich habe Angst! Hört auf, zu sprechen, Erdgeister!“, keuchte sie, stieß gegen die Zimmertür und öffnete sie apathisch, ehe sie hinaus auf den Flur stolperte, von einer Furcht und einem Verlangen ergriffen, das sie nicht verstand. Warum rannte sie mitten in der Nacht durch das Haus ihrer Tante? Die Geister zogen sie... es war, als würden sie sie an den Händen nehmen und zur Haustür ziehen, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Als sie Tür aufstieß, blies ihr der heulende Schneesturm entgegen.

„Die Schatten kommen... und sie kommen rasch, Neisa. Wenn du etwas tun willst... halte dich südwestlich. Die Zusammenkunft der Sieben... wird im Hochland sein. Eile dich, rasch... in die Finsternis, Tochter von Puran Lyra.“

Sie hatte Angst. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie mehr instinktiv, weil die Geister es ihr befahlen, ihre Stiefel und einen Wintermantel ihrer Tante anzog, der ihr zu groß war. Sie schlug sich die Kapuze über den Kopf, während der Schneesturm bereits um ihre Beine fegte und sie nicht begriff, was sie tat – warum ging sie fort?

Die Zusammenkunft der Sieben wird im Hochland sein.

Ja... dann musste sie dorthin. Dort würde sie die Zuyyanerin treffen! Sie musste sofort aufbrechen... auf der Stelle. Jetzt.

Als sie schon wie in Trance nach der Türklinke griff, hörte sie hinter sich leise Schritte, und sie war erstaunt, als plötzlich Karanas großer Hund neben ihr in der Tür auftauchte. Das Tier sah sie forschend an und schien genau zu wissen, was sie vorhatte. Sie fragte sich, ob es sie aufzuhalten versuchte, aber Aar tat nichts, als sie aus der Tür strauchelte und die beißende Kälte trotz des Mantels spüren konnte.

„Komm, Aar!“, keuchte sie und streckte die Hand nach ihm aus, „Karana nennt dich Bruder... dann bin ich deine Schwester. Wirst du deine Schwester beschützen, Aar... wenn sie alleine in den Sturm rennt? Wir müssen rasch sein, Hund... in die Finsternis. Dann wird alles gut... die Geister haben es gesagt!“ Der zottige Hund legte den Kopf schief, folgte ihr aber, als sie ihn noch einmal rief. Und er ließ das Heilermädchen nicht aus den Augen, als er zusammen mit ihm hinaus in den Schneesturm lief.
 

Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt – aber nur der draußen, denn im Haus fing er erst an, als Karana erfuhr, dass seine Schwester und sein Hund verschwunden waren.

„Was sagst du da, Seherin?!“, fuhr er die Blonde an und schüttelte sie energisch, „Sie sind gestern Nacht in den Sturm gelaufen?! Sind die noch ganz bei Trost?! Oder bist du es, du Schlampe, dass du sie hast gehen lassen?!“

„Hey...“, brummte Yarek hinter ihm, während Karana die Seherin schüttelte und das Verlangen spürte, sie einfach gegen die Wand zu schlagen und umzubringen für ihre Nutzlosigkeit. Da war sie schon Seherin und wusste alles und dann sowas! Und die Tür war sperrangelweit offen gewesen, jetzt war es eisig im Haus und der ganze Flur war voller Schnee.

„Ich meine das ernst, hast du sie noch alle?! Warum, verdammt, rennt meine verblödete Schwester alleine mit einem Hund durch die Wildnis?! Vielleicht ist sie schlafgewandelt! Deinetwegen ist sie vielleicht erfroren oder sonst wie gestorben, Ryanne!“ Er schüttelte sie noch immer und Yarek räusperte sich hinter ihm.

Hey, sag ich...“

„Karana!“, empörte Simu sich, der gemeinsam mit Tayson auch dazu stieß, während Iana, Asta und Eneela etwas verwirrt am Rand standen. „Lass sie doch mal ausreden, bevor du sie zu Tode rüttelst, du Wahnsinniger!“

„Es wäre kontraproduktiv, sie umzubringen, auch, wenn sie dumm ist.“, addierte der rothaarige Söldner und zündete sich eine Kippe an, „Immerhin weiß sie mitunter Sachen. Wenn du sie umbringst, sagt dir gewiss keiner, was deine dumme Schwester geritten hat.“ Karana fluchte ungehalten und stieß die Seherin angewidert zu Boden, ehe er sich krampfhaft daran hinderte, ihr den Schädel einzutreten. Seine Schwester! Neisa war weg, das war ihre Schuld! Sie hatte es gewusst und sie hatte es nicht verhindert, diese Verräterin!

„Es war Wille der Geister!“, schnaufte die Blonde am Boden und rückte ihre wenige Kleidung zurecht, „Sie haben gesprochen, ich habe es gehört. Sie haben sie nach Südwesten gezogen, ins Hochland.“ Als Karana schon wutentbrannt die Zähne fletschte und mehr denn je Lust hatte, sie wie ein Wolf zu reißen und ihr die Kehle zu zerfetzen, sah sie ihn mit ihrem apathischen Blick und dieser grauenhaften Überlegenheit an, dass er seinen Zorn augenblicklich hinunter schluckte und hustete. Ryanne lächelte dämonisch und ihre violetten, merkwürdigen Augen hatten einen seltsam fernen Ausdruck, als sie sprach. „Im Hochland... werden sie zusammen treffen. Alle Sieben. Neisa hat es gewusst und ist voraus gelaufen. Neisa ist eine gute Seherin, obwohl sie Heilerin ist. Aber ich sehe in ihr... die Macht der Seele... die über sie wacht, wenn sie unkonzentriert ist.“ Karana war verblüfft.

„W-was meinst du damit?“, murmelte Simu, „Jemand... wacht über sie? Die Geister?“

„Hihi...“, kicherte Ryanne und erhob sich taumelnd, „Geister sind es in der Tat, und sie sind mächtig. Deine Schwester, Karana... braucht weniger Schutz, als du annehmen wirst.“ Sie wandte sich von ihm ab, während er nur starren konnte, und sah zu Yarek, dabei verführerisch mit den Lidern plinkernd. „Du weißt es auch, oder, Yarek Liaron? Wir müssen aufbrechen und ihr folgen... rasch, rasch. Damit wir rechtzeitig kommen... und sie nicht verpassen, unsere beiden letzten Mitstreiter.“
 


 

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Hurra, drama XD

Für dein Lächeln

Zoras hatte überlegt, ob es sinnvoll wäre, seine neu errungene Waffe irgendwie zu verstecken, wenn er zurück in das qualmende Holia kehrte. Das Problem war aber die Größe des Dings... wie sollte er es verstecken, es war verdammt noch mal größer als er selbst... wieder einmal verfluchte er seine geringe Körpergröße. Was war das bitte für eine Strafe der Geister, einen Mann dermaßen klein sein zu lassen? Sogar Simu Lyra war größer als er, verdammt... das war echt demütigend. Er war der Meinung, seine nicht vorhandene Größe wäre Schuld an all seinem Unglück; zumindest hatte sie nie dazu beigetragen, es zu lindern. Weil er als Kind so klein und zierlich und sein Gesicht laut anderen Leuten so zart wie das eines hübschen Mädchens gewesen war, hatten die Räuber ihn so entzückend gefunden... als er nach Holia gekommen war und Loron zum ersten mal gesehen hatte, hatte er gedacht:

Ach, wenn ich so ein hässlicher Hanswurst wie der da wäre, wäre das sicher nicht passiert. Dann hätten sie mich nicht tätowiert oder wie eine Frau geschändet, sondern mich höchstens aufgefressen, und das wäre sicher angenehmer und nicht so entwürdigend gewesen...

Er schauderte jetzt bei den Gedanken und verdrängte sie, als er das Dorf betrat, das er vor einer Weile noch halb zerfetzt hatte. Der eine Teil des Ortes rauchte noch vom vergangenen Feuer; begegnen tat er keinem Menschen, während er seine merkwürdige Hellebarde einfach mit sich herum trug und es ihm jetzt egal war, ob sie jemand sah. Falls Loron kam, um ihm die Fresse zu polieren, würde er ihm mit diesem Monsterding einfach eins überbraten... obwohl er immer noch nicht so wirklich verstanden hatte, warum Chenoa der Meinung war, dass es für ihn bestimmt war. Erbe... er konnte doch gar kein Erbe von irgendetwas sein, nur von einer Familie voller Verlierer. Sein Vater hatte unter Garantie niemals eine solche Waffe in seiner Familie gehabt. Zoras blieb stehen und betrachtete die so fein gearbeitete Klinge noch einmal, sofern das im Mondlicht möglich war. Nebenbei fiel ihm auf, dass das Licht des Mondes tatsächlich unnatürlich hell war in jener Nacht, was ihm das Betrachten immerhin erleichterte. Die Klinge der Waffe war mit unglaublicher Sorgfalt gefertigt worden. Die zierlichen Gravuren darauf mussten eine wahnsinnig mühselige Arbeit gewesen sein, die das Fingerspitzengefühl eines Meisterhandwerkers erfordert hatte, vermutete er; so, wie das Ding aussah, war es eine Spezialanfertigung, vielleicht sogar ein Unikat, es musste so sündhaft teuer gewesen sein, dass vollkommen ausgeschlossen war, dass die Derran-Familie sich so etwas jemals hätte leisten können. Und was sollte eine Familie von Leuten, die unbegabt im zaubern waren, mit einem Magiemedium?

„Chenoa muss sich definitiv irren.“, murmelte der junge Mann konfus, „Ausgerechnet ich. Nicht, dass ich mich beschweren würde. Vielleicht kann ich Karana damit den Hintern versohlen.“ Der Gedanke war erfreulich, auch wenn er jetzt erst mal keine Lust hatte, dem herrischen Lyra-Prinzen zu begegnen. Aber Sagal hatte auch schon davon gesprochen... warum sollten der und Chenoa, beides Menschen mit unglaublichen Sehensgaben und großer, gefährlicher Macht, sich darin irren? Oder ihn gar anlügen... was hätten sie davon? Und was hatten sie davon, wenn er diese Waffe trug?
 

Er zwang sich, die Gedanken auf wann anders zu verschieben, als er sich durch das Geröll von Holia kämpfte, um zur Hütte seiner Eltern zu gelangen. Er fragte sich, ob sie in Ordnung waren... der Gedanke, er könnte seine Mutter mit dem Feuer verletzt haben, verschaffte ihm Übelkeit. Er beeilte sich, voran zu kommen, und als er die Tür der Hütte aufstieß und nach Pakuna rief, antwortete ihm gähnende Leere.

Die Hütte war verlassen. Zoras blinzelte in der Finsternis der kleinen, schäbigen Behausung und suchte in der Schlafnische, doch auch dort war niemand. Weder sein Vater noch seine Mutter war irgendwo zu sehen. In dem kleinen abgetrennten Badezimmer war auch kein Mensch. Seufzend stellte Zoras die Hellebarde gegen die Wand und hockte sich über die Kochstelle der Hütte, um in der Asche vielleicht noch ein brauchbares Holzstück zu finden, das er anzünden könnte. Was er fand war kaum länger als sein Daumen, aber es war besser als nichts, so entzündete er das kleine Stück Holz mit dem Feuerzauber Vaira an und erleuchtete somit wenigstens schwach die leere Hütte.

„Wo sind die hin?“, wunderte er sich besorgt, „Verdammt, wenn Arlon Mutter vielleicht wieder verschleppt hat-...?! Und wo ist der Idiot von meinem Vater?!“ Fluchend fuhr er herum und fing gerade an, sich richtige Sorgen zu machen, da entdeckte er direkt neben der Haustür ein kleines Stück Pergament am Boden liegen. Das hatte er im Dunkeln natürlich nicht gesehen... rasch kehrte er zur Tür zurück, um es aufzuheben und dort tatsächlich eine Nachricht vorzufinden, die ihn irgendwie erleichterte.

Zoras; wenn du das liest, sind wir fort. Komm uns nach, es gibt keinen Grund, dass wir länger in Kamien bleiben. Ich habe dich lieb... Pakuna.

Seine Mutter war also wohlauf und offenbar war sein Vater bei ihr. Noch besser, der Vollpfosten hatte endlich mal die Erleuchtung bekommen, seine Frau von hier wegzubringen, wie es schien... zum ersten Mal im Leben war Zoras seinem Vater dankbar dafür, dass er existierte. Er hoffte nur, dass er auch wirklich auf Pakuna aufpasste...

„Komm uns nach.“, wiederholte er die Worte seiner Mutter pikiert, „Du bist gut, Muttchen, das zu fordern und nicht zu sagen, wohin ihr eigentlich geht. Aber ich bin froh, dass es dir gut geht.“

Er verbrannte die Nachricht mit der Miniaturfackel in seiner Hand, damit nicht irgendjemand anderes noch erfuhr, dass seine Eltern getürmt waren und sie womöglich verfolgte. Unter seinem eigenen, schäbigen Schlaflager, das er jahrelang sein Bett genannt hatte, kramte er ein neues Hemd hervor, um endlich nicht mehr halb nackt einher rennen zu müssen; das angezogen und zugeknöpft schnappte er sein merkwürdiges Erbstück und verließ die Hütte und anschließend das ausgestorbene Dorf. Er würde auch nie wieder zurückkehren, so viel war gewiss. Wo wohl all die Bewohner waren? Die waren sicher nicht alle verbrannt... versteckten sie sich aus Furcht vor den zornigen Himmelsgeistern und würden nicht wagen, wieder herauszukommen, bis die Nacht vorüber war? Was immer sie durchmachten, es geschah ihnen recht.

Als er Holia verlassen hatte, drang ihm noch immer der Geruch von verbranntem Fleisch und Holz in die Nase, obwohl das Dorf jetzt hinter ihm lag und der Wind aus dem Osten kam. Stirnrunzelnd hielt der junge Mann an und blickte dem Wind entgegen in die Finsternis. Und obwohl es dunkel war, erkannte er vor seinen inneren Augen die Feuer, die wüteten, die Zerstörung, die kommen würde... er sah die mit Blut besudelte, zerbrochene Erde und hörte über sich das Grollen des Himmels, und ein eisiger, unangenehmer Schauer rann ihm über den Rücken bei den Bildern, die die Geister ihm schickten, wenn er nach Osten sah...

Osten. Die Richtung, in der das Dämonenreich Ela-Ri liegt... das uns angreift. Dann... hat der Krieg schon begonnen...

Er keuchte, als er das Donnern nicht nur in der Vision hören konnte, sondern auch in der Wirklichkeit, und bebend drehte er den Kopf nach Südosten, als jeder dumpfe, weit entfernte Donnerschlag ihm durch Mark und Bein ging. Es war kein Donner... es waren die Trommeln des Krieges. Und sie kamen näher... sie kamen auch hierher aus dem Süden. Sie würden über Kisaras Küsten schwemmen, hinauf nach Norden, nach Nordosten und nach Nordwesten zugleich, und es waren Massen. Die Erkenntnis ließ Zoras abermals japsen und er erinnerte sich an die Worte der Geister.

„Mit Feuer und Schatten... wird das Bündnis der Drei Welten zerbrechen. Und dann... wenn das Ende der Welt kommt... ist die Zeit der Sieben gekommen.“

Er fragte sich, was das bedeuten sollte – was für Sieben? Flüchtig entsann er sich, dass Neisa irgendetwas erzählt hatte... eine Seherin hatte behauptet, dass sieben Menschen auserwählt seien, die Welt zu retten. War es das?

„Dann sollen diese sieben sich mal bitte beeilen!“, keuchte er ungehalten und verspürte den Drang, schneller weg zu kommen, nur fort vom Süden, fort von Kamien, fort von den grauenhaften Trommeln, die den Tod ankündigten. „Und selbst, wenn es wirklich Karana und seine Geschwister sind, und wer auch sonst noch... dann sollen sie sich beeilen und Ela-Ri zerschlagen, bevor das ganze, verdammte Reich draufgeht!“ Mit einem Fluchen umklammerte er seine Hellebarde fester und erinnerte sich an Chenoas Rat; es kam ihm plötzlich vor, als wäre es ewig her, dass er sie getroffen hatte... dabei war es noch in dieser Nacht gewesen. Die Gedanken an sie ließen ihn verlegen erröten. Diese schamlose Frau...

„Sieh nach Nordosten. Die Zeit der Sieben... ist gekommen. Es ist Zeit, Kamien den Rücken zu kehren, Zoras.“

Ja, das sah er genauso. Die Gedanken an die Frau und ihre unverschämt betörende Ader verdrängend wandte er sich nach Nordosten, in der Hoffnung, in dieser Richtung vielleicht irgendetwas herauszufinden, was ihm weiterhalf... oder seine Eltern, von denen er stark hoffte, dass sie nicht ausgerechnet nach Süden geflohen waren.
 

Sein Weg führte ihn zurück ins ausgebrannte Thalurien. In den ersten Tagen, die er alleine durch die Wildnis wanderte, einfach mal nach Nordosten gehend, fand er kaum Rast; er hatte immerzu die Furcht, die Männer aus Holia könnten ihn verfolgen, im Schlaf überfallen und ermorden, oder schlimmer, ihn die Torturen der Räuberhöhle seiner Kindheit wieder erleben lassen. Bei diesem notgeilen Sack Loron konnte er sich das beinahe vorstellen... schließlich war er der Prinz von Holia. Und Zoras hatte ihn gedemütigt... in seinem Rachedurst würde der wahnsinnige Rammler sicher darüber hinweg sehen, dass Zoras kein Mädchen war... die Gedanken machten ihn wahnsinnig und er rannte schneller, als könnte der verhasste Kerl tatsächlich plötzlich aus dem Gebüsch springen und ihn überfallen. Während er rannte, wünschte er den Mistkerlen in Holia fluchend den Tod und ärgerte sich, dass er das Dorf nicht doch ganz zerstört hatte, nachdem seine Eltern dann ja weg gewesen waren... es wäre eine gute Gelegenheit gewesen.

„Die Mächte der Schöpfung werden das schon selbst erledigen...“, hatte Chenoa gesagt, und er schauderte plötzlich bei der Erinnerung – ja, richtig. Ela-Ri würde kommen und Kamien platt mähen, nichts würde übrig bleiben als verbrannte Erde und das Klagen des Windes. Die Gedanken machten ihn euphorisch und ließen ihn stehen bleiben, um schallend zu lachen.

„Ja, seht ihr!“, schrie er in den wolkenverhangenen Himmel, „Der Zorn der Geister wird euch strafen für eure Abscheulichkeit! Ich werde demütig vor euch kriechen, Geister von Himmel und Erde, wenn ihr mir diesen Gefallen tut... zerreißt sie und lasst nichts von ihnen übrig!“ Die Geister antworteten mit einem dumpfen, lauernden Grollen aus dem Süden.

Ernüchtert ließ der Schamane die Arme sinken und drehte sich um, um zurück zu sehen in die Richtung, aus der er gekommen war. Wie lange war er jetzt unterwegs? Thalurien lag bereits hinter ihm und es kam ihm vor, als ginge er den Weg noch einmal, den er mit Neisa gegangen war. Die Gedanken an Karanas kleine Schwester waren gleichzeitig ermüdend und stimmten ihn irgendwie unruhig. Neisa hatte eine für ihr Alter unglaubliche Weitsicht... mitunter hatte sie ihn verblüfft mit dem, was sie so gesagt hatte. Aber dann war ihm anschließend auch immer wieder aufgefallen, dass sie letztendlich eben doch nur ein halb erwachsenes, bockiges Kind blieb. Sie war erst vierzehn... und sie war noch keine richtige Frau. Und trotzdem kam es ihm mitunter, wenn er ihr Gesicht sah, vor, als wäre sie viel älter und weiser, als sie eigentlich aussah. Das waren die Momente, in denen er ihre Erscheinung als angenehm empfand... auf eine ganz tief in seinem Inneren vertraute, schöne Weise, die er nicht benennen konnte. Was war das in ihm, das sich immer so zu der bockigen Prinzessin hingezogen fühlte? Sicher war es nicht bloß die Tatsache, dass sie vernünftig mit ihm sprechen konnte, als so ziemlich einziger ihm bekannter Mensch abgesehen von Pakuna. Sie hatte weder jemals vorgehabt, ihn zu erschlagen, wie Karana, noch ihn zu benutzen, wie Loron, noch ihn zu demütigen, wie sein Vater.

Sie hatte sich nur gewünscht, dass er lächelte.

Er zwang sich brummend, sie zu vergessen. Neisa war weit weg... sie war in Yiara in Sicherheit, dorthin würde Ela-Ri, wenn überhaupt, nicht so rasch gelangen. Erst mussten sie an Vialla und der Streitmacht des Königs von Kisara vorbei. Und Neisas Vater war doch sicher auch noch irgendwo, der würde schon dafür sorgen, dass niemand seiner Familie zu nahe kam. Zoras hoffte, dass seine eigenen Eltern ebenfalls wohlauf waren... im Stillen wünschte er ihnen alles Gute, denn er hatte nach vielen Tagen der Reise nicht das Gefühl, dass er sie so schnell wiedersehen würde.
 

Alleine zu reisen war überaus öde. Er war eigentlich Einzelgänger und genoss es, keine Menschen um sich herum zu haben, aber auf die Dauer war es ermüdend, durch Gebirge und Wälder zu wandern und aus Langeweile mit sich selbst zu reden. Oder mit der Hellebarde, die er manchmal fragte, ob sie ihm nicht erklären wollte, wer denn Yamir war; bisher hatte ihm die Waffe nicht geantwortet und die Geister von Himmel und Erde schwiegen ihn ebenso eisern an. Er hörte die Trommeln nicht mehr. Sie waren weit weg... er fragte sich, wo genau er eigentlich war. Sein Gefühl sagte ihm jedenfalls, er wäre noch in Kisara... vermutlich irgendwo auf den Hochebenen im Zentrum des Landes.

Zoras war ein guter Jäger; sein Vater hatte ihm zwar nur wenig von seinem eigenen Können vermittelt – und Jagen war das Einzige, in dem Ram Derran jemals richtig begabt gewesen war – aber es reichte allemal, um sich jetzt selbst ernähren zu können. Er hatte nur keinen richtigen Speer; mit der Hellebarde hatte er es schon versucht, aber sie war zu massiv und flog nicht weit, oder ihr Flug machte so einen Lärm, dass jedes Beutetier rechtzeitig gewarnt wurde und fliehen konnte, ehe die Waffe scheppernd zu Boden flog. Zum Glück gab es noch den Schneidezauber Sura, den man in so einem Fall hinter den Kleintieren her jagen konnte, und der verfehlte sie selten. Als er an einem Abend irgendwo in der zerklüfteten Berglandschaft von Kisara saß, aus Reisig ein kleines Feuer entzündet hatte und darüber eine Kaninchenkeule briet, kam sein Diener, die schwarze Krähe zum ersten mal wieder zu ihm zurück. Das Tier landete flatternd auf einem größeren Felsbrocken dem Mann gegenüber und wurde vom Feuer auf seltsame Weise beleuchtet, sodass es unheimlicher aussah, als es war.

„Ach, lässt du dich auch mal wieder blicken, Vogelgeist?“, fragte Zoras und war irgendwie erfreut über die Gesellschaft – wie armselig war er, dass er sich schon über die Gesellschaft eines Aasfressers freute? „Willst du jetzt meine Seele holen?“ Der Vogel legte nur mit aufgeplustertem Gefieder den Kopf schief und der junge Mann seufzte, griff nach den Resten des erlegten Kaninchens neben sich und warf dem Tier ein Stück rohes Fleisch zu. „Da, friss.“ Als hätte die Krähe darauf gewartet, stürzte sie sich auf das rohe Fleisch und zerriss es genüsslich mit dem Schnabel. Eine Weile hockten der Mann und der Vogel gemeinsam schweigend am Feuer und verzehrten die Beute, schließlich ließ sich das Tier doch dazu herab, zu sprechen.

„Du fragst dich, warum du den Speer des Seelenfängers trägst... die Hellebarde des Yamir.“ Zoras hielt im Kauen inne und blinzelte überrascht.

„Ach.“, machte er, nachdem er das Fleisch herunter geschlungen hatte, „Willst du mir zufällig Antworten geben? Zu gütig.“

„Du bist ein hastiger Bursche, Zoras Derran.“, erklärte der Geist der Krähe, „Du willst alles jetzt sofort wissen und verstehen, dabei dauert manches seine Zeit. Achte auf das innere Gleichgewicht... darauf, dass dein Körper und deine Seele eins werden, wenn du deine Waffe benutzt. Du hast das Potential, das dir zusteht... in deinen Adern fließt die Macht der Großkönige, von denen du abstammst. Du musst nur lernen, deine Macht zu beherrschen.“

„Ja, das beantwortet meine Fragen aber nicht.“, behauptete der Schwarzhaarige, „Kannst du mir sagen, wer Yamir ist? Und was für Großkönige sollen das sein, von denen ich abstamme?“

„Deine ersehnten Antworten kommen, wenn du aufhörst, zu suchen. Wenn du dich so verbissen darauf konzentrierst, fallen sie in den Schatten. Ich kann nur wiederholen, was alle sagen. Es ist deine Bestimmung, die Hellebarde zu tragen. Das war schon deine Bestimmung, als die Waffe verschwand vor mehreren hundert Jahren... sie hat gewartet im Schatten, auf den Tag, an dem du ein Mann sein würdest, auf den Tag, an dem sie zurückkehren würde zu ihrem rechtmäßigen Herrn.“

„Die Waffe... hat darauf gewartet?“, machte Zoras verblüfft und sah die Hellebarde vorwurfsvoll an. „Du hast mir nicht gesagt, dass du Gefühle hast, willst du vielleicht ein Stück Fleisch?!“ Er hörte das Kichern der Krähe in seinem Kopf und sah das Tier wieder an.

„Weißt du, Zoras... die mächtigsten aller Waffen, die von Sterblichen geschmiedet wurden, sind jene, die ihren eigenen Geist besitzen. Das macht sie so mächtig... heutzutage gibt es nicht mehr viele der alten, mächtigen Waffen. Deine Hellebarde zum Beispiel hat einen Bruder, wenn man es so nennen will, im selben Feuer geschmiedet, im selben Moment gefertigt, mit derselben, gewaltigen Macht der Himmelsgeister. Du wirst es erkennen, wenn du es dereinst sehen wirst, das Schwert... das dein Schicksal auf die gleiche Weise bestimmt wie diese Hellebarde es tut. Die Geister... knüpfen die Bänder dort, wo sie sie haben wollen.“ Zoras zog die Stirn in Falten.

„Warum ich? Es war mir vorherbestimmt, gut, weiß ich inzwischen. Aber... warum ausgerechnet mir?“

„Weil du der letzte... auf Tharr geborene Erbe des Clans bist. So hat es die Legende bestimmt vor dreihundert Jahren. Nach dir... wird kein Erbe mehr auf Tharr geboren werden.“ Zoras schauderte, als er sich die Worte durch den Kopf gehen ließ. Kein Erbe mehr? Von welchem Clan auch immer die Rede war, die Derrans konnten es unmöglich sein... wenn er der letzte Erbe war und nach ihm niemand mehr folgen würde, hieß das nicht, dass er kinderlos sterben würde? Nicht, dass es ihn überrascht hätte... er hatte keine Frau, für die er sich interessierte, und hatte nicht die Absicht, eine Familie zu gründen. Aber irgendwie war es ernüchternd, es bestätigt zu wissen...

„Und wenn es meine Bestimmung ist, dieses mächtige Medium zu tragen...“, murmelte er dann dumpf, „Was... soll ich damit machen? Chenoa... hat gesagt, ich soll lernen, sie zu beherrschen. Wozu? Was... ist es denn, wozu ich auserwählt wurde?“ Der Vogelgeist krächzte und flatterte mit den Flügeln, während das Feuer zwischen ihnen knisterte. Die Augen des Tieres waren pechschwarz wie sein Gefieder, als Zoras ihm ins Gesicht blickte und plötzlich spürte, dass ihm die Antwort, wenn er eine bekäme, nicht gefallen würde.

„Du... wirst in den Schatten wandern und da... wirst du dein Erbe antreten, Zoras. Das Zeichen... des Herrschers trägst du bereits. Wenn du nach Vialla kommst, wirst du es besser wissen.“ Zoras blinzelte – aber als er schon zum Sprechen ansetzte, flatterte das Tier davon in die kalte, windstille Nacht. Er keuchte und umklammerte seine Waffe, das Zeichen des Herrschers vermutlich... was sollte das heißen? In den Schatten? Doch nicht etwa nach Ela-Ri... oh nein, da würde er unter Garantie niemals hingehen.

Vialla...? Soll das heißen, ich muss nach Vialla? Was... was soll ich denn da?!

Grimmig darüber, dass er noch immer nicht klüger war als vorher, legte er sich neben das Feuer auf den trockenen Boden und rollte sich zusammen, um zu versuchen, etwas Schlaf zu finden. Die Geister konnten ihn mal. Entweder sie sagten nächstes Mal klipp und klar, was sie von ihm wollten, oder er würde sie so lange lynchen, bis sie es taten.
 

Der Morgen brachte Nebel über das Gebirge. Über Nacht hatte es gefroren; Zoras war die Kälte aus Holia gewohnt, dort war es auch nie gut geheizt gewesen. Da das Dorf im Inland lag, waren die Winter durch das Kontinentalklima entgegen der trockenen, heißen Sommer verblüffend kalt. Der junge Mann schauderte jetzt ob der beißenden Kälte, als er sich schwerfällig vom Boden erhob und mit dem Fuß Sand auf die letzten, erloschenen Reste seines Lagerfeuers scharrte. Er fragte sich, was ihn geweckt hatte... es war nicht die Kälte gewesen und Hunger war es auch nicht, war er der Meinung, als er sich skeptisch umsah und durch die dicke Nebelbrühe Schwierigkeiten hatte, überhaupt viel zu sehen. Es war, als wären die Berge und das Ödland verschluckt worden von einer Masse an Geistern. Ob es so wohl im Geisterreich aussah, so neblig, verschwommen und still? Irgendwo hörte er in der Ferne das Klappern von Steinen, die von den Felsen abbrachen, vielleicht hatte ein Tier sie gelockert. Von dem Geräusch der fallenden Steine abgesehen war es unheimlich still... Zoras sah sich unwirsch in alle Richtungen um, als er das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Langsam griff er seine Waffe, um zur Not bereit zu sein, falls irgendein abgemagerter Berglöwe der Meinung sein sollte, der Mann wäre ein geeignetes Frühstück. Das konnte der knicken...

Es war in diesem Moment, dass seine Instinkte ihn alarmierten und er sich rasch nach Norden wandte; und es war kein Berglöwe oder ein anderes Raubtier, das ihn beunruhigte, sondern der plötzlich rasant steigende Lärmpegel in einiger Entfernung; allem voran der Schrei einer Frau.

Sein erster, panischer Gedanke war seine Mutter. Was, wenn seine Eltern auch hier in der Gegend waren und jetzt selbst von Berglöwen verspeist wurden? Dann dachte er sich, es wäre doch ein echt komischer Zufall, dass sie ausgerechnet hier herum eierten... davon abgesehen folgte dem Schrei kein Brüllen eines Löwen, sondern das Kläffen wilder Wölfe. Der Schwarzhaarige bekam kaum Zeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen, da tauchten sie plötzlich knapp vor ihm aus dem Nebel auf, wie Geister, die aus dem Nichts erschienen, und Zoras fragte sich, ob seine Sinne ihm einen Streich spielten, als die junge Frau unverhofft gegen seine Brust rannte, zurück stolperte und keuchend zu Boden stürzte. Und sie weitete in demselben Unglauben die Augen wie er, als sie sich rasch auf die Beine rappelte.

„Zoras?!“

„Neisa?!“, antwortete er ihr unverhofft; er hatte keine Zeit, sich zu fragen, was sie hier verloren hatte und wieso sie nicht in Yiara war, denn hinter ihr tauchten aus der Suppe die Wölfe auf, die sie offenbar verfolgten. Unter ihnen war ein ganz schwarzer, der aber verblüffenderweise versuchte, seine Artgenossen daran zu hindern, das Mädchen zu fressen. Karanas Hund, fiel Zoras ein, es konnte nur das seltsame Tier sein, das Karana seinen Bruder nannte, denn außer diesem hier hatte Zoras nie einen Wolf gesehen, der einem Menschen half. Als einer der wilden Wölfe den Hund in den Nacken biss und zu Boden zwang, stürzten die anderen geifernd an ihm vorbei auf die beiden Menschen zu. Sie mussten wirklich ausgehungert sein, sich ausgerechnet Menschen als Beute zu suchen... „Wieso bringst du dich immer in Schwierigkeiten, Neisa?“, empörte Zoras sich, indem er das Mädchen zurück schubst, „Verschwinde, du dummes Ding, oder willst du gefressen werden?!“ Mit diesen Worten riss er seine überlange Waffe herum und erwischte mit der Klinge mehr zufällig direkt eines der Tiere. Es wurde verletzt und zog sich jaulend zurück, worauf die anderen verdutzt inne hielten. „Na los, verpisst euch!“, befahl Zoras den übrigen Tieren, dabei schwang er die Hellebarde nach vorne und drohte ihnen mit der scharfen, blutigen Klinge. „Letzte Warnung, Freunde. Macht, dass ihr weg kommt, ich will kein unnötiges Blutvergießen.“ Die Tiere knurrten skeptisch beim Anblick der Waffe, und als sie immer noch keine Anstalten machten, davon zu laufen, riss Zoras die Waffe ein Stück herab und schleuderte ihnen einen Blitz aus der Klinge entgegen. Das war offenbar beeindruckend genug, jetzt zogen sie die Schwänze ein und rannten zurück in den Nebel. Karanas Hund erhob sich strauchelnd und kläffte ihnen triumphierend hinterher.

Zoras seufzte genervt, ehe er sich zu dem Mädchen umdrehte, das sich ohne weitere Umschweife an seine Brust warf, als wäre er der letzte, rettende Ast in einem reißenden Fluss, an den sie sich klammern müsste.

„Ich habe gewusst, du würdest da sein...“, keuchte sie und er war verwirrt über ihre Worte, „Ich habe es gespürt, ich habe es schon gestern gewusst, ich bin so froh... ich... bin so froh, dass du hier bist!“ Ehe er eine Chance bekam, etwas zu erwidern, hängte sie sich an seinen Hals, streckte sich und küsste jede seiner Wangen, dann seine Nase und schließlich seine Lippen. Nur kurz, und als sie von ihm abließ, war ihr Blick so verklärt, dass er kurz Angst hatte, sie stünde unter Drogen. Er war nicht fähig, darüber nachzudenken, was sie gerade getan hatte, die ganze Situation erschien ihm zu unwirklich dafür.

„Was... hast du hier zu suchen?“, brachte er dann mit heiserer Stimme hervor und schauderte, als sie vor ihm erzitterte und keuchend das Gesicht senkte, das jetzt errötete. Sie schwieg eine Weile.

„Die Geister haben zu mir gesagt, ich solle nach Süden gehen. Ich bin losgelaufen von Yiara aus... nur Aar ist mit mir gekommen. Aber die anderen kommen bestimmt, es heißt, die Vereinigung der Sieben wäre auf dem Hochland!“ Er runzelte die Stirn und fasste nach ihrem Gesicht.

„Fieber hast du nicht, aber du redest wirr.“, murmelte er, „Du tauchst aus dem Nichts auf, stürzt dich in meine Arme, als sei ich dein seit Jahren verschollener Geliebter, und erzählst dann Unsinn! Was soll ich davon halten?“

„Geliebter...?“, murmelte sie apathisch und schauderte, offenbar unschlüssig, was sie dazu sagen sollte. Er räusperte sich verlegen.

„Ich wollte nicht behaupten, dass du mich liebst, bei Himmel nicht.“, wandte er ein, „Das... wäre ja wohl wirklich verwunderlich.“ Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn kurz, ehe sie flüchtig den Kopf neigte.

„Danke, dass du sie verjagt hast.“, sagte sie dann, „Ich bin eben ein unfähiges Mädchen... vermutlich hielten sie mich für leichte Beute. Kein Wunder, ein Mädchen und ein Hund alleine in dieser Schweinekälte... aber, sag, Zoras, was... machst du denn hier? Ich dachte, du wärst wieder in Kamien!“

„Da war ich.“, räumte er ein, „Na ja, nach... einem kleinen Zwischenfall bin ich dann weg von da, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Weg aus dem Süden... Ela-Ri wird inzwischen dort sein.“ Neisa starrte ihn panisch an.

„Ela-Ri?!“

„Als ich ging, hörte ich schon die Trommeln von der Küste. Ich hoffe ja, dass euer König in Vialla so etwas wie eine Armee hat, mit der er denen Einhalt gebieten kann.“ Er musterte sie skeptisch, während der Hund winselnd um ihre Beine schlich. „Du solltest ihn heilen. Die Wölfe haben ihn gebissen, glaube ich...“ Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, schalt er sich, das war ja großartig. Das blonde Mädchen hockte sich zu dem Tier herab und heilte mit ihrer Magie die Bisswunden, worauf Karanas Hund gleich viel munterer aussah. „Was hast du jetzt vor, Neisa? Was... ist das mit den Sieben, wovon du sprichst? Hat es mit dieser Seherin zu tun?“

„Oh, ja. Inzwischen ist noch ein zuyyanischer Söldner gekommen, Yarek, der hat auch davon gesprochen und eine Seherin namens Chenoa soll ihn beauftragt haben, die Sieben zu beschützen.“ Zoras hustete.

„Chenoa?!“, rief er erschrocken und errötete bei dem Gedanken an die Frau; wenn er nur ihren Namen hörte, musste er unweigerlich an die schamlose Vereinigung denken... auch, wenn es eigentlich eine angenehme Erinnerung war.

„Ja, sie ist die Beraterin des Kaisers von Zuyya!“

„Das weiß ich zur Genüge, danke... ich... kenne sie.“ Neisa wirkte erstaunt.

Du kennst Chenoa von Zuyya?! Wie jetzt, woher denn das?“ Er räusperte sich.

„Sie tauchte vor einigen Jahren mal bei mir auf und hat lauter mysteriöse Dinge gesagt. Anstrengende Person, die mehr weiß, als einem recht sein kann...“ Und sie war eine geschickte Liebhaberin... er hütete sich, Neisa das zu sagen.

„Ist ja faszinierend!“, behauptete das Heilermädchen vor ihm verwirrt, „Du kennst Chenoa! Was... was hat sie denn gesagt, wenn ich fragen darf?“ Er seufzte und hob kurz die Waffe hoch.

„Sie hat mir das hier gegeben und behauptet, es sei mein Erbstück. Ziemliches Monsterding, wenn ich erst mal raus habe, wie man es effektiv benutzt, ist es sicher bestialisch.“ Er sah, wie ihre verschiedenen Augen sich ungläubig weiteten und wie sie die Hellebarde lange betrachtete.

„Das Ding ist gigantisch groß...“, keuchte sie, „Du... du hast vorhin damit gezaubert, oder irre ich mich?“

„Es ist ein Magiemedium. Eine wirklich fürchterliche Waffe, wenn der Träger sie nutzen kann. Du weißt sicher nicht zufällig, wer Yamir ist oder war? Sagal nannte die Waffe Hellebarde von Yamir... aber irgendwie möchte mir niemand sagen, wer das eigentlich ist.“ Wie er erwartet hatte, schüttelte sie den Kopf; aber ihr Blick veränderte sich, als er davon sprach, obwohl er nicht verstand, inwiefern und warum. Neisa war seltsam gewesen die letzten Male, die er sie getroffen hatte... er erinnerte sich an die Reise mit ihr und an die Momente, in denen sie plötzlich so anders gewesen war... fremd, aber auf eine bizarre, tief verborgene Weise auch vertraut... dieser starre, wissende Blick in ihren merkwürdigen Augen, mit dem sie ihn jetzt ansah, das Gefühl, wie sie sich vorhin an ihn gehängt hatte, ja, selbst wie sie ihn geküsst hatte. Es kam ihm seltsam vor, dass es sich gut anfühlte... so, als hätte er seit Jahrhunderten auf diesen Moment gewartet, in dem sie vor ihm stand und ihn auf diese Weise ansah. Ihr Blick betörte ihn irgendwie, obwohl er sicher war, dass das nicht ihre Absicht war. Irgendetwas in ihm verlangte plötzlich danach, sie wieder an sich zu ziehen und sie auch zu küssen, nur heftiger, intensiver...

Er schalt sich einen Narren. Was war denn los mit ihm, hatten ihn jetzt alle guten Geister verlassen, dass er sich ernsthaft einbildete, sexuelles Interesse an Karanas Schwester zu haben? Ausgerechnet... Karana würde ihm den Kopf abreißen. Er hatte keine Angst vor dem Sohn des Herrn der Geister, das hieß aber nicht, dass es klug war, ihn offen herauszufordern. Der junge Mann seufzte ergeben, als er den Blick von dem Mädchen abwandte und sich dann daran machte, an ihr vorbei zu gehen.

„Vergib mir, Neisa.“, murmelte er, „Ich will dich nicht länger aufhalten. Da du und der Hund ja jetzt in Ordnung seid, entschuldige mich.“
 

Das Mädchen drehte ungläubig den Kopf, als er an ihr vorbei ging, und sie schnappte nach Luft.

„Du rennst weg?“, fragte sie dumpf, „Vergib mir? Das ist alles und... dann rennst du weg?“ Zoras blieb stehen und sah über die Schulter zu ihr zurück.

„Warum? Gibt es noch etwas, das wir zu klären hätten?“ Sie öffnete bereits den Mund, dann sprach sie aber doch nicht. Sie wollte ihm sagen, dass er sie an das Gewitter erinnerte, das sie zugleich aufregte und ängstigte. Sie wollte ihm sagen, dass sie das Gefühl hatte, in seiner Nähe das Feuer des Blitzes zu fangen und darunter unter Schmerzen zu verbrennen... aber auf bizarre Weise war es nicht zwingend unangenehm... die Gedanken verwirrten sie. Warum fühlte sie sich immer so, wenn sie mit ihm alleine war? Es war gleichzeitig berauschend und doch abstoßend, und sie wusste im selben Moment auch, dass es nicht gut war, was sie so dachte oder fühlte. Es beschämte sie, nichts antworten zu können auf seine Frage, so senkte sie mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf. Sie konnte nicht darüber sprechen...

„Du hast Lorana angezündet.“, murmelte sie dann, um irgendetwas zu sagen, und sie hörte, wie er die Luft ausstieß. Eigentlich hatte sie über das Thema nicht mehr sprechen wollen... sie konnte es mit Reden nicht rückgängig machen und er konnte es auch nicht, ob es ihm nun leid tat oder nicht. Es war Wille der Geister gewesen... genau wie das Feuer, das sie spürte und das ihr Kopfschmerzen bereitete.

„Das hatten wir doch geklärt.“, schnarrte er da und war offenbar nicht angetan von dem Thema, „Dann zürne mir eben den Rest deines Lebens, Neisa, ich habe es wohl verdient.“ Sie ballte die Fäuste und kämpfte innerlich gegen das Pochen ihres Schädels an, das ihr schwindelig werden ließ. Sie sah ihn an, ihm in sein bildhübsches Gesicht und seine dämonischen Schlitzaugen, und sie wollte ihn festhalten, sie wollte, dass der Blitz sie verbrannte und die Flammenkinder wachsen ließ... gleichzeitig wollte sie wegrennen, sich in einer dunklen Höhle verstecken und ihn von jetzt an meiden. Sie dachte an Tayson, dessen Anwesenheit sie beruhigt hatte, obwohl er gar nichts wirklich Imposantes getan hatte... oder vielleicht gerade deswegen. Tayson regte sie nicht auf. Er gab ihr Schutz vor dem Feuer, das sie so anzog, obwohl sie genau wusste, wie gefährlich es war...

Und dennoch hatte sie die schützende Umarmung verlassen und war wieder zurück zur Gefahrenquelle gekehrt. Sie war töricht...

„Ich kann dir nicht zürnen...“, hörte sie sich selbst wispern und sie war verwirrt darüber, dass sie das sagte. Zoras zog eine Braue hoch und war offenbar ebenfalls verwirrt. „Du... bist kein böser Mensch. Du kannst lächeln... ich habe es gesehen. Tu es für mich... noch einmal. Lächle...“ Er zuckte nur missmutig mit einem Mundwinkel.

„Dann gib mir einen Grund, um den ich lächeln soll. Im Moment sehe ich dazu keinen Anlass.“ Sie schwieg eine Weile.

„Ich habe von dir geträumt, ehe ich dich traf. Ich glaube, die Geister von Himmel und Erde wollten von Anfang an, dass ich herkomme, um dich zu finden. Ich... habe es selbst nicht gleich bemerkt... vielleicht bin ich gar nicht wegen der Sieben weggerannt, sondern, weil ich... dich sehen wollte. Es verwirrt mich, dich zu sehen, aber irgendwie macht es... mich immer glücklich. Ich habe... keine Angst vor dir...“ Nur vor dem Blitz fürchtete sie sich. Und sie wusste, dass er der Herrscher der Blitze war, wenn er zauberte... er war ein begnadeter Magier, und er stand nicht hinter ihrem Bruder zurück.

Zoras murrte.

„Was du sagst, lässt mich nicht lächeln, sondern verwirrt mich immer mehr. Es ehrt mich, dass du dich freust, mich zu sehen, aber Sinn ergibt es irgendwie nicht. Solltest du nicht den Mann, den dein eigener Bruder so verabscheut, ebenfalls hassen? Warum hast du es dann nie getan? Das ist pietätlos... hätte ich einen großen Bruder, würde ich zu ihm halten. Glaube ich.“

„Auch, wenn dein Bruder wie Karana wäre?“, fragte sie kalt und er blinzelte, während sie sich noch selbst darüber wunderte, wie herzlos sie war, wenn sie jetzt an ihn dachte. „Wenn du einen Bruder hättest, der nach seinem Vergnügen mit den Frauen macht, was er will – zugegeben wenigstens mit ihrem Einverständnis, im Gegensatz zu Loron – der glaubt, die ganze Welt und alles darin müsste ihm gehören und dem es nur um seine eigene Befriedigung geht? Mir tut das Mädchen leid, mit dem er jetzt seit einer Weile das Bett teilt... sie sieht aus wie Saidah. Wird sie dann jemals etwas anderes für ihn sein als sein Saidah-Ersatz? Nein... Karana ist verblendet. Natürlich mag ich ihn trotzdem, er ist mein Bruder. Aber zu ihm halten kann ich erst, wenn ihm jemand eines Tages so heftig ins Gesicht geschlagen hat, dass er die Augen aufmacht und feststellt, dass die Welt sich nicht um Prinz Lyra drehen wird. Du bist nicht verblendet, Zoras... du bist nur... zu dicht an den Schatten. Und sie fressen dich auf... ich will nicht, dass du gefressen wirst. Ich würde... um dich weinen.“ Dann senkte sie den Kopf und hörte, wie er sich räusperte. Er schwieg lange... als er sprach, wurden ihre Kopfschmerzen heftiger und sie fuhr zusammen.

„Dann... werde ich ihm ins Gesicht schlagen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Du willst, dass ich lächle... und selbst hast du es auch schon lange nicht mehr getan. Ich werde es tun, wenn du es auch tust, Neisa. Darauf gebe ich dir mein Wort.“ Sie hob den Kopf wieder, obwohl er schmerzte, und erzitterte, weil der Mann plötzlich dichter vor ihr stand. Er seufzte, hob eine Hand und streckte sie nach ihrem Gesicht aus, um sie zu berühren... und sie wünschte sich, dass er es tat. Sie wünschte sich, er würde sie anfassen und nicht mehr loslassen... es würde brennen, aber es wäre ein gutes Feuer, oder nicht? Die Gedanken waren so berauschend und lösten in ihr eine quälende Sehnsucht aus, als sie darauf wartete, dass er sie im Gesicht berührte... aber kurz vor ihrer Wange hielt er inne, blickte sie schweigend an und ließ die Hand dann unverrichteter Dinge wieder sinken. Das Mädchen war zugleich enttäuscht und dennoch erleichtert... ihre Gefühle machten sie krank.

Und sie sehnte sich nach Taysons Schutz...

„Dann warte mit mir in den Bergen, bis die anderen kommen.“, verlangte sie leise, „Dann wird Karana kommen. Dann kannst du ihn schlagen. Vielleicht nimmt sein Geist dann mal Vernunft an... ich wünsche es mir... so sehr.“ Plötzlich fühlte sie sich ausgelaugt; es musste von der langen, harten Reise durch den Schnee und dann durch das vom Wind gepeitschte Tal des Hochlandes kommen. Sie strauchelte und hörte den Hund winseln, ehe sie sich an dem Felsen neben ihr abstützte und erzitterte, weil ihre Knie nachzugeben drohten. „Vergib mir, ich... verlange viel von dir.“

„Na ja.“, machte er mit einem leisen Seufzen, „Es ist wohl einfach Wille der Geister, der uns immer auf so komische Weise zueinander führt. Du bist müde... ruhe dich aus. Wenn du einmal die Welt retten sollst mit deinen sechs Verbündeten, musst du ausgeruht sein.“ Sie lachte bitter, indem sie sich tatsächlich zu Boden sinken ließ und sich zitternd die blonden Haare raufte.

„Ich frage mich immer... was die Geister dabei geritten hat, nur sieben Menschen auszusuchen... ich weiß nicht mal, was wir tun sollen. Glaubst du, die Seherin hat gelogen? Vielleicht gibt es gar keine Sieben.“

„Vermutlich wird es sich zeigen.“, machte er und zuckte mit den Schultern, „Aber ich glaube, letzten Endes macht es keinen Unterschied, ob es sie gibt oder nicht. Die Geister... lenken uns auf die Wege, die sie für uns bestimmt haben. Und wenn wir weglaufen, machen wir nur einen Umweg, wir kehren immer wieder dorthin zurück, wo sie uns haben wollen. Wir Sterbliche sind nichts anderes als Spielfiguren. Und das Spiel ist grausam, egal, welche Sieben am Ende auserkoren sind, die Welt zu retten. Viel wichtiger ist die Frage, ob es... sich lohnt, die Welt zu retten. Sag es mir, Neisa. Du als Auserwählte... wofür würdest du die Welt retten wollen?“ Sie sah ihn verblüfft an.

„Was?“

„Entweder sie geht unter... wovon wir alle schon lange Visionen haben... oder sie wird gerettet. Wenn sie untergeht, sterben wir alle, alle ereilt dasselbe Schicksal. Und der Witz ist, dieses Schicksal ereilt uns so oder so, egal, in welcher Welt, egal, auf welche Weise. Ich meinerseits kenne mehr Menschen, die den Tod verdienen, als solche, die das Leben verdienen. Ich habe gelernt... dass die Welt ein furchtbarer Ort ist und das Schlachtfeld der Spielfiguren der Geister. Mehr nicht.“ Neisa sah zur Seite und runzelte einen Moment die Stirn, als sie über seine Worte nachdachte.

„Du würdest sie nicht retten, oder? Wenn du es wärst, der an meiner Stelle wäre... du würdest es nicht tun.“

„Sagen wir, das kommt auf den Preis an. Wenn die Geister mir versprechen würden, den Schatten... in meiner Seele zu zerreißen, würde ich es tun.“ Sie fragte sich kurz, was für einen Schatten er meinte. Dann dachte sie an seine bizarre Tätowierung und sagte sich, dass seine Vergangenheit gewiss schmerzhaft und voller Finsternis gewesen sein musste... es musste daran liegen. Die Gedanken waren ernüchternd.

„Dann rette ich sie für dich.“, sagte sie leise, und sie sah, wie er vor ihr verblüfft zusammenfuhr. „Dann... rette ich sie... und nehme dir deine Schatten. Damit ich dich noch einmal lächeln sehe. Dein Lächeln... ist es mir wert...“
 


 

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Yeah, Zorchen xD und Neisa xD Ihr erster Kuss, obwohl er sehr random war XD

Begegnung

Yarek Liaron war die Ruhe selbst. Es war eine hart antrainierte Ruhe, und er merkte jetzt, dass er sie dringend brauchte. Chenoas Ausbildung war der Hammer gewesen, sie war sowohl gnaden- als auch skrupellos, die Weise Frau. Aber hätte sie ihn nicht vorbereitet auf das, was er zu tun hatte, hätte er Karana vermutlich schon vor Tagen erschlagen, als sie in Yiara aufgebrochen waren.

Dieser Penner schimpfte und fluchte auf seine verlorene Schwester, auf seinen Hund, auf die ganze Welt, die sich gegen ihn verschworen hatte, wie er wohl der Ansicht war, und das tat er ununterbrochen, seit Neisa verschwunden war. Wie konnte ein Mann denn nur so egozentrisch sein? Karana hatte offenbar als Kind zu heiß gebadet oder irgendetwas Verdorbenes gegessen, dass er sich jetzt einbildete, er wäre der Mittelpunkt der Welt und alles hätte nach seiner Nase zu tanzen. Aber sonderlich überrascht war der rothaarige Mann nicht darüber... Chenoa hatte ihn schon auf Zuyya vor ihm gewarnt.

„Pass auf Karana auf. Er mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen, aber er ist gefährlich... nicht etwa, weil sein Vater der Herr der Geister ist. Sein Vater ist ein guter, loyaler Kerl. Nur sein Sohn ist aus einem Grund, den ich dir nicht erklären kann, verblendet... du wirst feststellen, dass er seine Momente hat, in denen er ein anderer Mann zu sein scheint. Beobachte diese Momente, Yarek... sie sind wichtig. Und gefährlich.“

Yarek zog in aller Seelenruhe an seiner Zigarette und beobachtete wie geheißen Puran Lyras Sohn, der allen anderen vorweg fluchend und zeternd durch die gefrorene Tundra stampfte. Sie waren schon Tage unterwegs; die Schamanen hatten zum Glück einen inneren Kompass mit ihren Instinkten, sodass sie definitiv nach Süden gingen. Karana hatte auf die zaghafte Frage eines der anderen, wohin sie denn gehen müssten, um Neisa zu suchen, barsch geantwortet, dass die Geister gesagt hätten, sie müssten nach Süden. Die Zeit der Sieben war gekommen, hatte es geheißen. Yarek war froh darum, dass die Geister dem Trottel da vorne offenbar nahelegten, was wichtig war; das machte seine eigenen Aussagen glaubhafter. In diesem Punkt musste er der komischen Fannerin danken, die die Vorarbeit geleistet hatte; als er nach Yiara gekommen war, hatten die Betroffenen es bereits gewusst. Der Mann hatte sich gefragt, wie Chenoa sich das vorstellte, dass er nach Tharr zurückkehrte, irgendwelchen fremden Kindern erzählte, sie sollten die Welt retten und die ihm das abkauften. Chenoa war eben ein ausgefuchstes Flittchen, sie hatte vermutlich von der Seherin gewusst; und es nicht für nötig gehalten, es ihm zu erzählen, wie so einiges andere auch. Er hoffte ja, dass die blonde Frau sich nicht irrte damit, dass sie im Hochland die beiden letzten Mitstreiter finden würden. Yarek war kein Seher, er hatte keine Ahnung von Magie. Er wusste nur das, was Chenoa ihn gelehrt hatte.

„Du grübelst schon wieder!“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen, und er blickte hinab auf die Seherin, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war, als hätte sie gespürt, dass er gerade an sie gedacht hatte. Der Mann nahm die Kippe aus seinem Mund und musterte die Frau. In der kalten, kahlen Landschaft des heraufziehenden Winters wirkte sie so fehl am Platz mit ihrem Äußeren einer Südländerin. Eine Frau, die so aussah, gehörte in die Wüste, nicht in den Dauerfrost des Nordens. Er spürte den Winter gar nicht mehr... verglichen mit Zuyya war es hier sehr licht und angenehm. Dass er einmal in einer warmen Gegend gelebt hatte, war so lange her, dass er sich fragte, ob er nicht langsam ein alter Mann war, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte, wie die brütende Hitze des Sommers sich anfühlte und wie es war, um genug Trinkwasser zu bangen.

„Nein, ich meditiere.“, gab er jetzt monoton zurück, „Oder tue zumindest so, in der Hoffnung, ich könnte Karanas Gezeter da vorne dadurch ausblenden.“

„Er hat eine schöne Singstimme!“, erklärte Ryanne ihm und Yarek schnaubte.

„Der singt?“

„Nein, eigentlich nicht, aber an sich hat er eine schöne Stimme, er könnte bestimmt gut singen.“

„Ich hoffe sehr, dass er uns das erspart, mir reicht das ewige Fluchen schon. Ein anstrengender Bursche, dieser verwöhnte Prinz. So, wie er gerade drauf ist, würde jeder Gegner vor ihm davon rennen, da bin ich als Beschützer wohl überflüssig.“

„Sei doch froh.“, kicherte Ryanne und hakte sich ungefragt bei ihm unter, „Dann kannst du mehr Zeit mit mir verbringen!“ Er sagte eine Weile nichts und sah sie dumm an.

„Was sagt dir, dass ich die Absicht hätte, mit dir Zeit zu verbringen?“

„Ich bin eine Frau.“, erklärte sie trällernd, „Und du wirst es wollen!“ Er lachte kurz.

„Sehr überzeugt von sich selbst, die Dame, was? Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ganz so nötig habe ich es normalerweise nicht.“

„Wenn du da bist, vergesse ich nichts mehr!“, erklärte sie ihm gut gelaunt und er seufzte.

„Das ist schön für dich. Aber nicht mein Bier.“ Damit befreite er sich sanft von ihrem Arm und suchte etwas Abstand. Sie folgte ihm wie ein treudoofer Hund.

„Du bist wie ein Buch mit sieben Siegeln. Oder versuchst es zu sein, aber ich sehe dich, Yarek Liaron.“, erklärte sie, und plötzlich war das Fröhliche aus ihrem Gesicht verschwunden, als er sie ansah und ihre violetten Augen ihn mit einer Schärfe musterten, die ihn spüren ließ, dass sie wirklich eine Seherin war. Violette Augen... irgendwie hatte die Farbe etwas zuyyanisches.

„So.“, seufzte er dann, schnippte den Rest seiner Kippe mit den Fingern auf die Erde und ging ungerührt weiter, „Und was siehst du, Seherin?“

„Einen Krieger, der des Krieges überdrüssig ist, der seine letzte Aufgabe erfüllt, um dann für immer seine Ruhe zu haben. Chenoa hat es dir gesagt, oder? Dass die Geister dir diese Aufgabe gegeben haben... und dass es das letzte Mal sein wird, dass du ein Krieger sein musst. Denkst du, du stirbst?“

„Keine Ahnung. Wenn, wäre es sicher recht so. Ich bin des Krieges überdrüssig, das ist wahr... des Lebens nicht, es ist nicht so, dass ich den Tod suche. Aber er kommt zu jedem von uns und ein Mann kann ihn nur anlächeln, wenn es soweit ist.“ Ryanne rührte sich nicht, davon abgesehen, dass sie noch immer den anderen nach Süden folgten.

„Hat Chenoa das auch gesagt?“, fragte sie dann, „Deine... weise Mentorin?“ Er feixte einen Moment, ehe er ihr antwortete.

„Nein. Zuyyaner lächeln niemanden an, nicht einmal den Tod.“
 

Als die Nacht herein brach, rasteten sie. Sie hatten einen Pass über die schmalen, letzten Ausläufer der großen Iketh-Berge genommen und mussten jetzt schon im Norden des Hochlandes sein. Das Abendessen war nur dürftig, weil sie in ihrer Hast nicht mehr aus Tante Alonas Haus mitgenommen hatten, als sie gemütlich tragen konnten. Eneela hatte Angst, ein Lagerfeuer zu entzünden, weil sie fürchtete, die Krieger aus dem Ostreich könnten es vielleicht sehen; Simu hatte ihr die Sorge ausgetrieben und erklärt, dass sie so weit im Norden unter allergrößter Garantie noch nicht sein konnten. Sie würden von Süden und Südosten kommen, um den Norden einzunehmen, müssten sie erst einmal an Vialla vorbei, der Reichshauptstadt.

Die Gespräche machten Karana nur noch nervöser, als er schon war. Sein Vater war in Vialla mit den anderen Geisterjägern. Er fragte sich, ob die Feinde aus dem Ostreich schon vor den Mauern der Stadt standen. Ob der König schon im Morgengrauen den Befehl zur Schlacht geben würde... und er fragte sich, ob seine Mutter und seine Tante in Alymja etwas erreicht hatten. Sie waren seit mehreren Tagen fort, mit Glück hatten sie sofort Kontakt mit dem Herrscher der Nordinseln aufbauen können und waren vielleicht schon auf dem Weg in den Süden, genau wie sie es hier waren...

Der Schamane verfluchte noch einmal empört seine dumme Schwester, die einfach alleine mit dem Hund davon gerannt war. Was bildete sie sich ein? Dass sie stark und klug genug war, um alleine im nahenden Winter durch die Pampa zu rennen? Wohin wollte sie überhaupt? Das war absolut unverantwortlich! Wenn ihr etwas zugestoßen war... nein, er wollte gar nicht daran denken. Der bloße Gedanke daran, seine Schwester irgendwo tot und zerrissen von Raubtieren am Boden zu finden, ließ seinen Magen sich schmerzhaft zusammenziehen und er verfluchte jetzt sich selbst, weil er nicht besser auf sie aufgepasst hatte... sie war noch nicht mal eine richtige Frau! Es konnten ja nicht nur Raubtiere kommen, vielleicht ja auch lüsterne Räuber, die in den Bergen hausten und es als willkommen ansahen, dass ein hübsches, junges Mädchen alleine durch ihr Revier irrte... die Gedanken waren fast noch unerträglicher als die an Neisas brutalen Tod durch Raubtiere.

„Wenn ich dich erwische, Neisa, dann verpasse ich dir so eine Ohrfeige, dass du es nie wieder wagen wirst, mir davonzulaufen!“, zischte er grantig und warf angewidert den Rest seines Essens ins Lagerfeuer, sodass das Fett zischte, als es verbrannte. Die anderen beachteten seine Wutausbrüche kaum noch... so ging es ja seit Tagen. Nur Tayson schnaubte, der ein Stück weit neben ihm saß.

„Jetzt mach mal einen Punkt, Karana! Sie ist deine Schwester und nicht deine Ehefrau, oder? Du führst dich auf, als wäre deine Frau mit einem anderen Mann durchgebrannt...“ Karana fuhr zischend zu seinem Freund herum und entblößte warnend seine spitzen Eckzähne. Eneela erschauderte irgendwo weiter hinten und senkte hastig das Gesicht, als fürchtete sie, dass er sie fressen könnte. Der Schamane beachtete die Lianerin gar nicht.

„Halt die Klappe, du Vollhorst!“, fuhr er Tayson stattdessen an, „Ja, sie ist meine Schwester, und ich habe verdammt noch mal Angst um sie! Ich habe die Verantwortung für sie und deshalb ist es unverzeihlich, was sie sich da eingebildet haben mag!“

„Du bist nicht der Einzige, der sich sorgt!“, schnaubte Tayson darauf und verengte die grünen Augen zu schmalen Schlitzen, „Aber sie hatte sicher ihre Gründe... strafe sie doch nicht gleich, wenn wir sie erst mal finden, sondern freue dich, wenn sie wohlauf ist!“

„Sie hat verdammt noch mal meinen Hund entführt!“, ereiferte Karana sich fuchsteufelswild und er hörte Yarek verblüfft auflachen.

„Ach, darum geht es... Himmel, was für eine Schreckschraube!“ Karana ignorierte ihn und Tayson seufzte, ehe er sich verlegen am Kopf kratzte.

„Ryanne hat gesagt, dass Neisa weniger Schutz braucht als wir annehmen... vertrau deiner Schwester doch einfach, sie ist kein Baby mehr. Vielleicht geht es ihr ja-...“ Karana fiel ihm ins Wort.

Ryanne, ja! Die Seherin, die dauernd ihr Gedächtnis verliert und Blödsinn erzählt, auf die würde ich auch unbedingt als erstes bauen, du notgeiler Lackaffe!“

„Ich habe schon lange nichts mehr vergessen!“, empörte diese sich gerade und Tayson errötete.

„Was heißt hier bitte notgeiler Lackaffe, du hattest genauso deinen Spaß mit ihr...“ Jetzt quiekte Eneela irgendwo erschrocken und Simu mischte sich wütend ein:

„Könnt ihr eure Sexgespräche wo anders führen?! Wir essen hier!“

„Ach, du bist ja nur neidisch, weil du nie eine abkriegst.“, kicherte Tayson, der das offenbar nicht begriff, und Karana sprang auf und zeigte drohend mit dem Finger auf seinen Freund.

„Ich warne dich!“, blaffte er ihn an, „Du... lässt deine flinken Finger von meiner Schwester! Wenn ich dich erwische, wenn du ihr auch nur einen Zoll zu nahe kommst, du verdammter-...!“ Er stoppte mitten in seinem Wutanfall und alle sahen ihn verblüfft an, einschließlich Tayson, dessen Augen sich weiteten. Plötzlich herrschte eine unangenehm angespannte Stille in dem kleinen Lager, als Karana begriff, was er da tat; Tayson war sein Freund, mit welchem Recht stauchte er ihn jetzt so zusammen? Er wusste, dass sein Freund Neisa immer schon schöne Augen gemacht hatte, aber dennoch hatte er genug Respekt, sie nicht anzurühren, solange sie nicht signalisierte, dass sie es zulassen würde. Tayson war zwar ein Schürzenjäger, aber er war kein übler Kerl, er hatte Neisa nie etwas angetan und würde das auch nicht. Ohne den Satz zu beenden fuhr Karana schnaubend herum und stampfte davon in die Finsternis, um seinen Zorn alleine loszuwerden.

Was war los mit ihm? Er fragte sich selbst schon seit vielen Wochen, warum er immer so eine Wut in sich hatte... warum er jetzt so maßlos übertrieb, seit Neisa weg war. Sie war seine Schwester... aber Tayson hatte nicht unrecht, was er so erzählte, musste wirklich klingen, als jagte er seiner durchgebrannten Ehefrau und ihrem heimlichen Liebhaber nach. Die Gedanken verwirrten ihn, als er sich ein gutes Stück vom Lager entfernt an eine Felswand lehnte und sich stöhnend mit den Händen über das Gesicht fuhr. Vielleicht lag es an dieser Sache mit den Sieben... er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es diese kurzen Momente waren, die manchmal kamen, in denen sein Geist plötzlich Dinge tat, die er gar nicht vorgehabt hatte. Dann sagte er Dinge, die er niemals hätte sagen wollen, oder tat Sachen, die ihm nicht im Traum hätten einfallen sollen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass etwas Fremdes von ihm Besitz ergriff, und es wurde mächtiger in der letzten Zeit... und es machte ihn kaputt und zehrte ihn aus. Er war verzweifelt. Was machten die Himmelsgeister mit ihm?

Als er Schritte in der Dunkelheit hörte, drehte er missmutig den Kopf. Er erkannte Iana, die zu ihm kam, und in gebührendem Abstand hielt sie an.

„Du machst es schon wieder.“, murmelte sie, und er richtete sich etwas mehr auf und seufzte tief.

„Was denn?“, fragte er benommen, obwohl er die Antwort schon kannte. Sie kannte ihn... er war verblüfft, das festzustellen. Eigentlich kannte er sie doch erst zwei Monde. Und trotzdem vermittelte sie ihm das Gefühl, als würden sie sich seit Jahrzehnten auswendig kennen, sie ihn genauso wie er sie. Es war ein vertrautes Gefühl, und es war angenehm, als er sie jetzt ansah. Im Dunkeln erkannte er kaum mehr als ihre Silhouette. Und doch spürte er ihren Blick, ihre blauen, wissenden Augen, die auf ihm ruhten, und der Gedanke betörte ihn.

„Du... hast schon wieder so einen Mistkerl-Moment. Die hast du oft... das besorgt mich, Karana. Was ist los?“ Er seufzte erneut.

„Wenn ich das wüsste!“, jammerte er und war erschrocken darüber, wie schwach und dumm er sich plötzlich vorkam, wie sehr die Verzweiflung und die Verwirrung ihn einnahmen; es war doch zum Heulen. „Ich weiß es nicht, Iana... ich wünschte, ich wüsste es! Ich wünschte, ich könnte etwas dagegen tun, verdammt! Ich sage Dinge, die ich gar nicht denke, ich spüre diese grauenhafte Wut, irgendwo tief vergraben in meinem Geist, und weiß nicht mal, warum oder auf wen ich so wütend bin! Ich verdrehe die Augen über Ryanne, die ihr Gedächtnis verliert und sich fragt, wer sie ist, verdammt, d-dabei... dabei habe ich... so panische Angst, eines Tages... selbst nicht mehr zu wissen, wer ich bin! Solange ich nicht weiß, woher dieser Hass in mir kommt... habe ich diese verdammte Angst, ich weiß... einfach nicht, was ich machen soll... ich will das nicht, verstehst du? Ich will meinem Vater ein guter Sohn sein, auf den er stolz sein kann. Ich will meinen Geschwistern ein guter Bruder sein, dem sie vertrauen können! Ich... ich will dir... dir ein guter Mann sein, den du lieben und begehren kannst! Ich will so viel, aber... aber in letzter Zeit habe ich einfach das Gefühl, dass mir die ganze Welt aus den Händen gleitet und ich nicht einmal weiß, wieso! Dass alles, was ich festhalten will, alles, wofür ich kämpfe und lebe, in meinen Händen zerfällt, als wäre es aus Asche... und das... das macht mir Angst! Es macht mir einfach so eine wahnsinnige, grauenhafte Angst, dass ich mich wie ein kleines Kind heulend unter meiner Decke verkriechen will... verlange... nicht von mir, Iana, dass ich... dir sage, was los ist!“

Als er keuchend an der Felswand entlang zu Boden rutschte, um sich zusammenzukauern, kam sie zu ihm und umarmte ihn zärtlich. Sie sagte kein Wort; und er war ihr dankbar für ihre bloße Anwesenheit, für die Wärme, die sie ihm gab, als er ihre Umarmung erwiderte. Karana spürte das Band, das sie beide miteinander verband... es war der Wille der Geister, dass sie sich getroffen hatten. Dass sie wie Saidah aussah... dass sie ihn mit ihrer Anwesenheit beruhigte und tröstete, ihm die Kraft gab, sich der Angst entgegen zu stellen. Er war ein Mann... Männer sollten die Frauen beschützen, nicht andersrum. Und dennoch fühlte es sich nicht falsch an, in diesem Moment, in dem sie ihm in der Finsternis einfach den Halt gab, den er ihr eigentlich geben sollte. Und er würde es auch wieder tun, schwor er sich; wenn das alles vorüber war, wenn er seinen Geist in den Griff bekam, würde er den Zorn in sich besiegen und vernichten. Dann würde er nicht mehr zulassen müssen, dass sie ihn stützte...

„Ich... begehre dich doch, Karana.“, flüsterte sie da neben seinem Ohr und er erstarrte kurz, als er spürte, wie sie die Umarmung verlegen verfestigte. „Du hast... mir meinen Namen gegeben. Deshalb... begehre ich dich...“ Er hob den Kopf, um in die Richtung zu sehen, in der ihr Gesicht sein musste. Es war dunkel, aber er konnte sie trotzdem erkennen, ehe er sich zu ihr beugte und sie ohne weitere Worte küsste. Ja... er hatte ihr ihren Namen gegeben. Schon oft... und er spürte jetzt das Verlangen aufflammen, es noch einmal zu tun, als sie ihren schlanken Körper gegen seinen drückte und dabei ein Knie gegen seine Hose drückte, um unmissverständlich klar zu machen, dass sie genauso danach verlangte wie er. Keuchend löste er sich von ihren Lippen und zog sie an sich, während ihre Finger zu seiner Hose hinab wanderten und seinen Gürtel öffneten.
 

Iana fühlte sich dreckig. Sie fühlte sich immer dreckig, wenn sie mit ihm schlief, obwohl es ihr Freude bereitete... sie hasste es, sich eingestehen zu müssen, dass sie es auf irgendeine perverse Weise erregend fand, wenn er sie so in Besitz nahm und sie berührte, wenn er in ihr das Feuer entfachte, das sie bis vor kurzem gar nicht gekannt hatte. Sie waren ein gutes Stück weg von den anderen, dennoch hatte sie Angst, man könnte sie hören, als sie auf den harten, gefrorenen Boden lag und Karana mit ihr vereint war. Iana spürte die Kälte nicht, obwohl ihr Atem in der Nachtluft kondensierte und zu Dampf wurde; sie spürte nur die Hitze, die sie gleichzeitig so berauschte und die sie trotzdem hasste, während sie sich keuchend an Karanas Hals klammerte und ihren brennenden Unterleib gegen seinen presste, während er über ihr lag, zitternd ihren Namen hervor presste und sich schließlich mit einem erleichterten Stöhnen in ihr ergoss. Dann küsste er sie, während sie spürte, wie das Feuer ihrer Lenden allmählich abkühlte.

„Du bist... schwer zufriedenzustellen!“, meckerte er dann, als er von ihr abließ und sie empört musterte, „Hattest du jemals einen Höhepunkt, wenn ich dich genommen habe? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass immer nur ich komme...“ Sie errötete, was er vermutlich nicht sah, weil es dunkel war.

„E-einen... was?“ Karana schwieg einen Moment und sie fragte sich, ob es jetzt dumm war, dass sie nicht genau wusste, wovon er sprach. Sie wollte sich rechtfertigen und addierte ärgerlich: „Du bist der erste Mann, der in mich eingedrungen ist, ich habe doch keine Ahnung von Sex!“

„Du weißt nicht, was ein Höhepunkt ist!“, keuchte er über ihr, „D-das – das... tut mir jetzt richtig in der Seele weh... das ist ja... Himmel, sag doch was!“ Er wirkte ehrlich bestürzt und sie blinzelte, während sie sich fragte, wie sie etwas hätte sagen sollen über etwas, das sie nicht kannte. Er zog sich keuchend aus ihr zurück, als die verblüffende Erkenntnis ihn offenbar schrumpfen ließ, und begann dann rasch, sich anzuziehen, was sie ihm gleich tat.

„Dann zeig es mir eben.“, sagte sie frei heraus, „Was ein Höhepunkt ist.“

„Du entspannst dich nicht genug.“, behauptete er, „Ich glaube, es liegt daran, dass du es noch immer peinlich findest, dass du es magst, wenn ich mich mit dir vereine... bin ich wirklich so ein Arsch, dass du dich dafür schämen musst?“ Sie errötete ertappt und fragte sich, ob es wirklich daran lag.

„Ich... nein, das ist es nicht. Oder doch... manchmal bist du wirklich ein Arsch. Am Anfang... fand ich dich so furchtbar, dass es mir... einfach meinem Geist gegenüber... noch immer unangenehm ist... zuzugeben, dass du nicht so behindert bist, wie ich zuerst geglaubt habe.“ Genau genommen war er trotzdem behindert; aber sie wollte ihn dennoch, und das war es, was ihr aufstieß. Warum begehrte sie so einen verwöhnten Idioten? So gemein von ihm zu denken versetzte ihr unverhofft einen kleinen Stich und sie bereute es. Er war ein Idiot, aber auf merkwürdige Weise hatte sie ihn so lieb gewonnen... sie fühlte sich an ihn gebunden. Und es war keine zwanghafte Bindung... sie fühlte sich wohl, wenn sie mit ihm zusammen war. Er hatte ihr nicht nur ihren Namen gegeben, sondern auch die Wärme einer Heimat, die sie lange nicht gehabt hatte, nachdem ihr Vater gestorben war. Wenn sie an Karanas Seite war, wusste sie, dass sie hier richtig war... ja, wofür schämte sie sich dann? Dafür, dass sie so ungezügelt dem Verlangen nachgab, sobald er es wagte, sie intimer anzufassen, und ihm dann sofort verfiel? Er machte es gut... mit jedem Mal, das er es tat, hatte sie weniger Schmerzen, vermutlich gewöhnte sich ihr Unterleib an die Berührungen und die Hitze. Es lag sicher nicht an seiner Unfähigkeit, dass sie sich nicht entspannte... es lag an ihr selbst und ihrem dämlichen Stolz... der nicht zulassen wollte, dass sie einem anderen Menschen, vor allem diesem Mann, so gnadenlos zu Füßen lag... Iana beschloss mutig, daran zu arbeiten.
 

Die Kameraden wurden im Morgengrauen von einem dumpfen Beben der Erde geweckt. Während die ängstliche Asta sofort glaubte, die Welt ginge unter, fragte Simu sich eher, ob die Armee von Ela-Ri wirklich schon so weit im Norden sein konnte, dass ihre stampfenden Schritte den Boden vibrieren ließen. Aber während sich alle erhoben und sich wunderten, hörte er schon auf und war dann genauso plötzlich vorüber wie es gekommen war.

„Was sollte das denn?!“, fragte Tayson verwirrt, „Ihr habt doch auch gemerkt, dass die Erde gezittert hat, oder?“ Er sah erst Simu, neben dem er stand, dann Karana an, der nur schnaubte.

„Natürlich haben wir das. Mutter Erde sagt, wir sollen weiter gehen, vielleicht finden wir heute Neisa!“

„Ich vermute eher nicht, dass Mutter Erde deswegen bebt...“, murmelte Yarek, was Simu ihn verblüfft ansehen ließ; etwas dazu sagen tat er nicht, denn der rothaarige Typ ging schon, sich eine Zigarette ansteckend, an ihm und Tayson vorbei gen Süden, weil Karana offenbar nicht vorhatte, länger zu warten. So brachen sie ihr Lager ab und machten sich zügig wieder auf den Weg durch das Hochland. Tayson schien auch bemerkt zu haben, dass Yarek offenbar seine eigene Meinung hatte, und erstaunlicherweise wendete sich der schwarzhaarige Einfaltspinsel jetzt an Simu.

„Der Typ zweifelt wohl Karanas Instinkte an, denkst du, er hält sich nur für etwas Besseres oder er ist wirklich gescheiter?“ Simu war verwirrt darüber, dass der Mann mit ihm sprach; sie kannten sich zwar genauso lange wie Tayson Karana kannte, aber an sich hatten sie nicht viel miteinander zu tun gehabt bisher.

„Tja, was weiß ich? Er kommt von Zuyya, Zuyyaner sind grundsätzlich gruselig und meistens anderer Meinung als die Schamanen, egal, um was es geht. Sieh dir an, woran sie glauben. Sie sagen nicht, dass Mutter Erde und Vater Himmel die Eltern der Welt und aller Dinge sind, sie sagen, ein Gott namens Katari hat Khad-Arza entstehen lassen, sowie alles Leben.“ Tayson seufzte.

„Ja, schon... das meine ich ja. Zuyyaner halten sich grundsätzlich für besser und schlauer, oder nicht? Weil sie die Raumschiffe erfunden haben... ich frage mich, ob die sich alle für etwas Besseres halten oder ob sie es tatsächlich sind. Was denkst du?“

„Ich kann Zuyyaner nicht leiden.“, murmelte der Blonde dumpf, ohne näher darauf einzugehen, warum er die Bewohner des blauen Mondes so verabscheute; Tayson wusste es vermutlich ohnehin. „Aber bei dem Typen bin ich mir nicht sicher...“ Er sah nach vorne auf Yarek, an dem wieder die Seherin klebte und davon erzählte, dass die Welt untergehen würde. „Er hat zwar rote Haare und er ist ziemlich emotionslos... aber aus irgendeinem Grund hege ich ihm gegenüber nicht diesen Groll, den ich für alle anderen Zuyyaner empfinde. Normalerweise schüttelt sich in meinem Inneren etwas, wenn ich nur von ihnen höre... bei dem da ist es irgendwie nicht so.“ Tayson sagte lange nichts.

„Glaubst du ihm? Dass er da ist, um uns... na ja, euch... zu beschützen? Euch Sieben, meine ich?“

„Er macht nicht den Eindruck, als hätte er Freude an unserer Gesellschaft, er ist sicher nicht hier, weil er unsere Freundschaft will.“

„Na ja, vielleicht Neisas Freundschaft, deswegen hilft er uns suchen.“ Jetzt musste Simu lachen.

„Er ist sicher extra von Zuyya gekommen, um Neisa zu treffen, garantiert. Nicht jeder ist so verrückt nach ihr wie du.“ Er hatte ein blödes Grinsen erwartet; umso verblüffter war der blonde Mann, als er zur Seite sah und Tayson sich verhalten räusperte und am Kopf kratzte.

„Ich bin nicht verrückt nach ihr... du verstehst das natürlich nicht, du bist ihr Bruder, quasi. Aber sie ist hübsch und klug... wie so eine kleine Blume, die im frühesten Frühling aufblüht. Und genauso zierlich und zerbrechlich wirkt sie, es... ist einfach so eine Art Beschützerinstinkt, der mich überkommt, wenn sie da ist. Ich will auf sie aufpassen... wenn Karana mich lässt, heißt das.“

„Ich glaube, du hast da was falsch verstanden.“, machte Simu, „Mit einer Frau das Bett zu teilen ist nicht dasselbe wie sie zu beschützen, Tayson.“ Er errötete und schlug ihm gegen den Hinterkopf.

„Du Lackaffe, ich habe das ernst gemeint! Ich weiß, sieht komisch aus, Tayson meint etwas ernst, gar nicht erst hinhören, ja, ja! Warum sollte ich dich anlügen? Du würdest es doch sowieso merken, du bist schließlich Simu, der Skeptiker.“

„Mich verblüfft, dass du so ein Wort kennst.“, feixte der Blonde, ohne zu lachen, und Tayson brummte missmutig.

„Neisa ist noch keine Frau, oder nicht? Ihr Schamanen – ach, du bist ja gar keiner... braucht doch dieses Ritual, damit ihr erwachsen werdet, oder nicht? Also selbst, wenn ich vorhätte, sie flachzulegen, könnte ich das doch noch gar nicht, solange sie nicht dieses Ritual hatte. Da Karana mir noch weniger glauben würde als du es tust, so aus Prinzip, dachte ich, ich frage dich als ihren anderen Bruder mal...“ Simu seufzte.

„Selbst, wenn ich dir erlaube, dich meiner Schwester zu nähern – wenn sie es wünscht – kannst du Karana trotzdem nicht übergehen, du kennst ihn ja. Er stellt sich wahnsinnig an, wenn es um Neisa geht, manchmal denke ich...“ Er brach ab und pausierte kurz, ehe er fortfuhr: „Wie du gestern gesagt hast... manchmal... macht es wirklich den Eindruck, dass Karana sie am liebsten selbst heiraten würde, ehe er zuließe, dass es jemand anderes tut.“ Es war merkwürdig, Tayson zuzustimmen; meistens hatte der Dorftrottel aus Gemi von nichts Ahnung. Aber dieses Mal hatte er einfach wahr gesprochen... was immer Karana in der kleinen Schwester sehen mochte, Simu wurde das ungute Gefühl nicht los, dass es mehr als nur eine kleine Schwester war. Er verdrängte die verstörenden Gedanken, um Tayson wieder anzusehen. „Du sagst, du willst sie beschützen? Wovor, frage ich dich? Neisa ist tapferer, als sie erscheint... auf mich wirkte sie selten schutzbedürftig. Meine Schwester, die sich vor nichts fürchtet.“ Zu seiner Verwunderung war der Blick des wenig Älteren noch immer ernst, als er ihm ins Gesicht sah, ehe er leise antwortete.

„Ich habe sie in Yiara gesehen. Ich war bei ihr... und es war definitiv ein Moment, in dem sie nicht die furchtlose Neisa war, die wir kennen. Ich weiß ja auch, wie sie ist... in dem Moment war sie anders. In dem Moment... wollte ich sie in die Arme nehmen und festhalten, damit ihr niemand ein Leid zufügt. Und wer es wagen sollte, ihr wehzutun... dem... wollte ich den Kopf abschlagen.“ Der Blonde weitete stumm die Augen bei diesen Worten, in denen so viel Ernst und Wahrheit lag, wie er nie zuvor aus diesem Mund vernommen hatte. Was machte dieser Kerl da? War er etwa dabei, zu einem erwachsenen Mann zu werden, der so etwas wie Verantwortung kannte?

Sie kamen nicht dazu, das Gespräch fortzuführen, denn in diesem Moment schrie Karana vor ihnen plötzlich auf und die anderen hielten abrupt an. Als Simu sich noch fragte, was geschehen war, sah er nach vorne und erkannte das vermeintliche Problem. Zwischen den Felsen in der Ferne war Neisa tatsächlich aus dem Nebel aufgetaucht, offensichtlich absolut unversehrt. Und bei ihr war nicht nur Karanas zottiger Hund, sondern einmal wieder Zoras Derran, wie der Blonde noch aus weiter Ferne erkennen konnte – es gab keinen anderen Mann in dieser 'Größe', der es hätte sein können.

„Was zum Himmel.“, stöhnte er auf die Erkenntnis, „Was... was macht der denn schon wieder hier? Sucht er etwa den Tod, schon wieder mit Neisa herum zu laufen, wo er doch sicher in Visionen ahnen kann, dass er so Karana begegnet?!“ Er fluchte ungehalten vor sich hin und merkte erst später, dass Tayson neben ihm stand, und verblüfft starrte Karanas Freund ihn jetzt an.

„Was? Was meinst du denn mit schon wieder, Simu?!“ Simu konnte sich sparen, zu erklären, warum er nichts davon erzählt hatte, dass er seine Schwester schon einmal bei Karanas Nicht-Freund gefunden hatte, denn sein Bruder hatte auch längst bemerkt, mit wem er es zu tun hatte.

„Was zur Hölle hast du denn hier verloren, Kurzhöschen?!“, blaffte er ihn noch von weitem zornig an, „Bist du noch ganz schussecht, hier aufzutauchen, als wären wir seit Jahren Freunde?! Was hast du, verdammt noch mal, mit meiner Schwester zu schaffen?!“ Simu beobachtete, wie Neisa den Kopf zur Seite drehte und irgendetwas vor sich hin murmelte, was sie nicht verstehen konnten, weil sie noch zu weit weg waren. Aber allem Anschein nach schien das Mädchen weder überrascht noch sonderlich erbaut über die Begegnung mit ihnen zu sein; oder zumindest mit Karana.

Was auch immer zwischen ihr und Zoras Derran abgegangen ist, irgendwie macht es einen wirklich schändlichen Eindruck.

„Halt die Backen, du Vollhorst!“, brüllte Zoras dann, während er in gebührendem, aber hörbarem Abstand vor der Gruppe zum Stehen kam, neben ihm Neisa, während Aar schon kläffend zu seinem Herrchen zurück rannte und sich als einziger zu freuen schien. „Ich habe gar nichts mit ihr zu schaffen, bilde dir nichts ein! Ich treffe deine blöde Schwester immer nur zufällig, das ist nicht meine Schuld!“

„Immer?!“, empörte sich Karana, „Wann denn noch, habe ich etwas verpasst?!“ Jetzt zückte Zoras seine Waffe, und Simu fiel erst jetzt der monströse Speer auf, den der Zwerg da mit sich trug, dessen messerscharfe, riesige Klinge er jetzt auf die Gruppe richtete, in seinem Gesicht die pure Abscheu.

„Du solltest mir dankbar sein, Prinz Lyra!“, zischte der Schwarzhaarige prompt und Simu seufzte innerlich. Natürlich, er musste ja einen Streit vom Zaun brechen... was erwartete er? „Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre deine ewige Jungfrau von Schwester jetzt eine besudelte, geschändete Frau, die offiziell nie eine Frau wäre, weil sie statt des traditionellen Blutrituals eine sicher wunderbare und schmerzhafte Nacht mit Loron Zinca verbracht hätte. Ich schulde dir also weder Rechenschaft noch sonst irgendetwas, Karana!“ Karana schien einen Moment baff zu sein durch die Worte, der er da hören musste; dann fing er sich aber wieder und schnaubte wütend:

„Du hättest mich in Lorana beinahe umgebracht, nachdem du mein Heimatdorf angezündet hast, und so viele andere Dörfer auch, du Dämon! Dann entführst du meine Schwester und erwartest, dass ich dich ziehen lasse?! Ich werde dich zerfetzen, du elender Wurm, du verdammter, dreckiger...!“

„Tss.“, machte der Kleinere unerschütterlich, „Und mich nennst du Dämon, du läufst hier Amok, Karana. Hüte dich... wenn du nicht wieder so enden willst wie letztes Mal. Ich weiß ja nicht, ob deine Raubkatzenfreundin dich noch einmal retten möchte... offensichtlich hast du ihr genug Honig ums Maul geschmiert, dass sie noch bei dir ist, sonst hätte sie inzwischen begriffen, was für ein verblendeter Hornochse du bist!“

„Entschuldige mal, Kleiner, zieh mich nicht mit rein!“, empörte Iana sich jetzt und Simu fasste sich stöhnend an den Kopf.

„Kann nicht irgendwer etwas tun?!“

„Sprich, Neisa!“, zischte Zoras in dem Moment und wandte den Kopf zu dem blonden Mädchen neben sich, das bisher geschwiegen hatte, „Worauf wartest du eigentlich?“ Das fragte Simu sich auch – und umso mehr, als seine Schwester den Kopf hob und ihr Blick so verklärt wirkte, dass ihm kurz der Gedanke kam, dass Zoras sie mit irgendetwas betäubt hätte; er verwarf den Gedanken nur deswegen, weil er dem kleinen Mann instinktiv eigentlich nicht zutraute, Neisa wirklich etwas anzutun. Er war ihr oft begegnet und hatte ihr noch nie etwas angetan. Aber was war das dann für ein Blick, mit dem sie jetzt zu ihnen herüber sah, mit dem sie mehr an die verrückte Seherin erinnerte als an Neisa, die sie eigentlich war? Und als sie sprach, war es nicht nur Karana vorne, der bei den Worten zusammenfuhr, weil die Welt, die sie gewohnt waren, plötzlich zusammenzufallen schien.

„Mach ihn fertig, Zoras. Die Geister werden dich unterstützen und meinem Bruder den Rücken kehren.“
 

Es war in dem Augenblick, in dem Karana da stand, als hätte der Donner des Himmels ihn getroffen, als die Worte seiner Schwester die Gruppe erreichten – und die Bedeutung, die mit ihnen schwang. Der kleine Mann neben ihr schien nur darauf gewartet zu haben, dass sie das sagte, denn jetzt sprang er nach vorne, direkt auf Karana zu, und schwang dabei diese furchterregende Waffe durch die Luft, die aussah, als wäre sie fähig, mit nur einem Schwung einen Mann in zwei Hälften zu schneiden. Yarek hatte schon Waffen gesehen, die noch grauenhafter wirkten, aber dieses Ding übertraf selbst Chenoas blutrünstige Naginata um Längen. Es war aber nicht der Anblick der Waffe, der den Mann jetzt seine Kippe fallen lassen ließ, während er mit offenem Mund auf das Szenario vor sich starrte, in dem der Knirps mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und einem einzigen Satz sofort über Karana war, um dann seine monströs große Hellebarde empor zu reißen; an der geschwungenen Klinge entstand mit einem lauten Krachen ein Blitz, und noch immer in der Luft schmetterte dieser Typ den Zauber herab auf die Erde, indem er die Waffe abermals herum riss; donnernd krachte der Blitzzauber direkt vor Karanas Füße, und der Sohn des Herrn der Geister schien nicht fähig zu sein, sich zu bewegen oder irgendwie zu reagieren. Von der Erschütterung des Blitzes in der Erde wurde Karanas Mädchen zu Boden geworfen und Asta und Eneela schrien vor Angst, während Simu und der schwarzhaarige Trottel irgendetwas zu fluchen anfingen.

„Karana!“, schrie Simu, „Verschwinde da, verflucht!“ Aber der rührte sich immer noch nicht, bis zu dem Moment, in dem der kleine Kerl direkt vor ihm landete und ihm statt der tödlichen Waffe bloß seine nackte Faust ins Gesicht rammte. Karana keuchte und stürzte durch den heftigen Schlag zu Boden. Yarek beobachtete ungläubig, wie der großkotzige Schamanenprinz plötzlich mitten auf der Erde lag, vor ihm das gähnende Loch, das der Blitz verursacht hatte. Was die anderen machten, merkte er nicht – stattdessen hörte er plötzlich Ryanne neben sich kichern.

„Du siehst es auch, oder?“, flüsterte sie ihm verschwörerisch ins Ohr, „Der kleine Mann trägt den Speer des Seelenfängers, Yamirs Hellebarde! Ich habe davon geträumt, dass einer kommen würde, der sie trägt... er war auch schon in Lorana. Damals hatte er seinen Speer aber noch nicht...“

„Speer des Seelenfängers?“, murmelte Yarek, „Was hat das zu bedeuten?“ Er beobachtete in aller Ruhe, wie Karana jetzt taumelnd auf die Beine kam und offenbar versuchte, dem Zwerg Kontra zu geben. Ihn übelst beschimpfend riss er seine Hände empor und schleuderte dem Angreifer einen Windzauber entgegen, der einen normalen Menschen sicher zerrissen hätte; der kleine Typ riss seine Hellebarde erneut nach vorne, fing damit Karanas Zauber ab und triumphierte bereits, als die Macht der Windmagie ihn plötzlich zurück schleuderte und ihm seine Waffe aus den Händen riss. Yarek sah Simu und Tayson an sich vorbei nach vorne rennen, und als er schon fürchtete, sie würden sich einmischen, rannten sie aber nur zu Neisa, um sie festzuhalten, während sie wüst auf sie einredeten.

„Macht doch etwas!“, schrie Eneela in blinder Panik, „Ihr seid doch hier, um uns zu beschützen! Tut doch etwas, Karana wird sterben!“

„Hilfe!“, schrie das rosahaarige Mädchen hinterher, und Yarek ignorierte die beiden, weil Karana in dem Moment wutentbrannt herum fuhr und seine spitzen Raubtierzähne entblößte, als wollte er signalisieren, dass er jeden zerfleischen würde, der es wagte, an ihm zu zweifeln.

„Ich werde nicht sterben, verdammte Scheiße!“, fuhr er den Rest der Gruppe an, ehe er herum fuhr und die Arme wieder empor riss, „Nein, dieses Mal wirst du es sein, der verreckend am Boden liegt, Kurzhöschen! Das... vergebe ich dir nicht, niemals! Wenn du meiner Schwester auch nur noch einmal zu nahe kommst... reiße ich dich in Fetzen!“ Und er warf den Kopf in den Nacken und brüllte zum Himmel hinauf, um die Geister zu beschwören, die ihm die Macht verleihen sollten, die er haben wollte.

„Das ist dein Zug, Yarek.“, kicherte Ryanne, die an seinem Hals hing, und er schüttelte sie energisch ab, ehe er auf seinen Rücken langte und seine eigene Waffe aus der Scheide zog. Eine Masamune war kein einfaches Schwert; ihre Klinge war viel härter, schärfer und unnachgiebiger, sodass sie sogar fähig war, Steine zu zerschlagen. Yarek hatte noch nie darüber nachgedacht, ob sie auch fähig war, die geballte Macht der Himmelsgeister aufzuhalten... bisher hatte er nur mit Chenoa trainiert und zuyyanische Zauber waren anders als das hier. „Du bist schließlich der Krieger, der die Sieben beschützen muss. Und Zoras Derran ist gefährlicher, als seine Größe vermuten lässt.“ Die Seherin gluckste amüsiert, während sie sprach, und Yarek sah sie unverblümt an, die blauen Augen argwöhnisch verengend.

„Ist das sein Name? Zoras Derran?“

„Ja, das ist sein Name!“, erwiderte Ryanne schelmisch, „Ein mächtiger Name seines Clans, viele Männer vor vielen Jahrhunderten haben schon diesen Namen getragen. Dass er so heißt ist der Grund dafür, dass er die Hellebarde trägt. Und der Grund dafür, dass Neisa diese Dinge tut... daran ist nur sein Name Schuld. Da siehst du, wie mächtig der Name ist!“ Yarek fluchte ungehalten und vergeudete keine Zeit mehr mit dem Geplapper der Seherin. Sie war komisch, aber sie musste recht haben... Chenoa hatte von ihm gesprochen. Er verfluchte sich dafür, es nicht von Anfang an gewusst zu haben, als er nach vorne sprintete in dem Moment, in dem zwischen Karanas Händen mit einem Donnern aus dem Himmel und einem Zittern der Erde ein Windwirbel entstand von der Größe eines ausgewachsenen Nadelbaumes.

Sein Name – sein verdammter Name war es, und jetzt, wo er ihn wieder gehört hatte, fiel es Yarek wie Schuppen von den Augen.

Der ist es. Mit absoluter Sicherheit... der ist es.

Und er verfluchte Chenoa innerlich, weil sie ihm nicht einfach eine Liste gegeben hatte; sie war die Weise Frau. Unter Garantie hatte sie gewusst, dass er seinen Namen vergessen würde. Törichte Frau... wenn er sie wiedersah, würde er ihr die Meinung sagen.

„Hört mich an, Geister des Himmels und der Erde!“, hörte er Karana vor sich brüllen, während sein kleiner Kontrahent sich auf die Beine rappelte und fluchend nach seinem Speer der Vernichtung griff. „Kommt und schickt mir euren Zorn! Ich bin Karana, Sohn des Herrn der Geister, Erbe des Ruferclans! Es ist eure Pflicht, mir zu folgen, Geister!“

„Tss!“, schnaufte Zoras Derran darauf und packte seine Waffe, „Hörst du, Vater Himmel? Karana bildet sich ein, dich beherrschen zu können, hah! Karana bildet sich ein, er sei der König aller lebenden und toten Dinge! Karana kapiert nicht, dass ihr für eure Macht auch etwas haben wollt, Himmelsgeister! Komisch, dass ich es verstehe, wo Karana es doch ist, der eine richtige Magielehre bei einer richtigen Lehrerin hatte! Ich glaube, er hat ihr ein bisschen zu viel auf den Arsch geguckt und ihr nicht richtig zugehört, als sie ihm erklärt hat, was es ausmacht, ein Schamane zu sein! Und mich nennen sie töricht oder wahnsinnig, hah!“ Die Worte schienen Karana nur noch mehr zu provozieren, denn er fluchte wutentbrannt und mit seinem Brüllen ertönte ein ohrenbetäubendes Donnern aus dem Himmel, als der kleine Kerl seine Hellebarde in den Himmel empor riss und der Sohn des Herrn der Geister seinen Wirbelwind mit einem wutentbrannten Fluch nach vorne auf ihn zu schmetterte. Yarek fragte sich, warum immer er diese beschissenen Aufgaben bekam, als er mit einem Satz zwischen die beiden jüngeren Männer hechtete und seine Masamune mit einem gezielten Streich direkt in das Auge des Wirbelwindes stach.

Eigentlich war das Schwert keine magische Waffe, nur die Klinge war stabiler; es musste auch Wille der Geister sein, der Yarek jetzt half, andernfalls hätte Karanas Wirbel ihn zerfetzen müssen. Der Prinz des Lyra-Clans hatte eine wahnsinnig große Macht... Yarek erinnerte sich in dem Moment, in dem er nur noch vom Dröhnen des Windes und dem Druck der Magie umgeben war, an Chenoas Worte.

„Karana ist gefährlich... du musst auf ihn besonders aufpassen, seine Aufgabe ist sehr groß. Und er ist mächtig... hüte dich vor ihm.“

Einen Moment später war es dann vorüber. Yarek hörte das schmerzhafte Geräusch des Windzaubers nicht mehr und öffnete blinzelnd die Augen; der Wirbel war verschwunden, hatte sich aufgelöst, und jetzt stand er, Yarek, zwischen den beiden Schamanen, Karana gegenüber und die Masamune in seine Richtung haltend. Hinter ihm war Zoras Derran, der jetzt erschrocken die Luft einzog.

„W-wo kommt der Mann her?!“, fragte er sichtlich verblüfft, „W-wie, hat der gerade den Zerstörer zerstört?! Ist ja Hammer...“

„Yarek!“, fauchte Karana und schnappte bebend nach Luft, als er dem größeren Mann entgegen sah und seine grünen Augen lauernd verengte. „Was machst du da?! Du willst mich beschützen, wie edel von dir. Aber ich habe deinen Schutz jetzt nicht nötig! Mit Zoras werde ich alleine fertig! Geh zur Seite... das ist mein Kampf. Er hat meiner Schwester den Kopf verdreht und wer weiß was noch mit ihr gemacht, dieser Wichser!“

„Ich bin kein Wichser und ich habe deine verdammte Schwester nicht angerührt!“, empörte Zoras sich, „Warum denken alle von mir, dass ich so ein Stecher wie Loron sei, nur, weil ich in Holia gelebt habe?!“

„Halts Maul!“, fuhr Yarek ihn an, über die Schulter sehend, und der Zwerg verstummte augenblicklich, warf ihm aber einen bitteren Blick voller Argwohn zu. Der Rothaarige ließ die Masamune sinken und spuckte Karana vor die Füße.

„Reiß dich am Riemen, du Vollidiot, bevor du noch ganz Tharr in die Luft jagst! Und wenn du noch einmal in diesem Ton mit mir sprichst, schlage ich dir meine Faust auf dein anderes Auge und mache deine Veilchen symmetrisch. Du magst der Sohn des Senators sein, aber ich bin der blöde Sack, der euch Sieben beschützen soll. Und wie du siehst, können mir deine Zauber nichts anhaben.“ Das war sicher gelogen – nur dieses Mal war es gut gegangen, aber er würde sicher nicht vor diesem arroganten Trottel den Schwanz einziehen. Es regte ihn auf, verdammt; er wünschte sich, er könnte so emotionslos wie Chenoa sein.

Die Worte schienen mehr zu ziehen, denn Karanas Blick veränderte sich. Er strauchelte entkräftet und schnappte keuchend nach Luft.

„Geh aus... dem Weg.“, stöhnte er, „Ich komme zurecht. Ich verspreche dir, mir wird nichts geschehen.“ Yarek schnaufte. Wurde Zeit, die Dinge zu erklären.

„Nein, du missverstehst mich.“, sagte er so kalt, „Ich habe dich nicht beschützt, Karana, sondern ihn!“
 

Zoras hatte das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Was zum Geier wurde hier eigentlich gespielt? Neisa musste sich geirrt haben; es war mehr als ein Schlag in die Fresse nötig, um Karanas Geist zur Vernunft zu bringen. Vermutlich hätte er es unter anderen Umständen tun sollen... wenn der Idiot jetzt dachte, er hätte Neisa geschändet, war es ja kein Wunder, dass er wütend wurde. Er wäre auch wütend, wenn er jemanden verdächtigte, seine Mutter geschändet zu haben... aber das alles wurde nebensächlich, als plötzlich dieser Typ mit den roten Haaren zwischen ihnen stand und jetzt behauptete, ihn beschützen zu wollen.

„Moment mal.“, wagte er wieder, sich einzumischen, „Habe ich das richtig verstanden, du hast mich vor Karana beschützt?! Ähm... das ist sehr nett, aber erstens überflüssig und zweitens, was zum Himmelsdonner soll das hier?!“ Jetzt drehte der Rothaarige sich zu ihm um und musterte ihn. Mit einem Schwung steckte er sein riesiges Schwert zurück in eine Scheide, die er auf dem Rücken trug, ehe er aus seiner Manteltasche eine Zigarette holte und sie sich ansteckte.

„Du hast richtig verstanden, Zoras Derran. Mein Name ist Yarek. Ich bin gekommen, weil es meine Aufgabe ist, die Sieben zu beschützen, die Khad-Arza vor dem Untergang retten sollen. Oder so. Du kennst doch Chenoa, oder etwa nicht? Wieso hat diese Verräterin dir das nicht selbst erzählt und lässt mich mal wieder die Arbeit machen?“ Zoras errötete automatisch bei der Erwähnung der Zuyyanerin. Verdammt noch mal, warum erregte ihn die bloße Erwähnung ihres Namens?! Diese verdammte Frau, hätte sie doch nur nie mit ihm geschlafen...

„Chenoa...?! Wie jetzt...? Ja, ich kenne sie, sie...“ Er sah verwirrt auf die Hellebarde, dann auf den Kerl, dann auf Karana, hinter dem Asta und Simus Lianerfreundin standen, zusammen mit einer grinsenden Frau, die definitiv zu wenig an hatte. „Sie hat mir... das Ding gegeben, aber... häh?!“, war alles, was er dazu sagen konnte; ehe der Mann, der Yarek hieß, sprechen konnte, tat es Karana.

„Wie bitte?!“, fiepte er, „Zoras ist... einer der Sieben?! Das ist doch wohl ein Witz?!“

„Ausgerechnet der Typ?!“, erklang die Stimme von Karanas Raubkatzenfreundin, die sich wieder aufrappelte und an deren Seite der schwarze Hund saß. „Der, der halb Thalurien zerstört hat?! Und Karana fast getötet hätte? Wie soll denn so einer die Welt retten?“

„Woher soll ich das wissen, ich habe das nicht ausgesucht!“, sagte Yarek und zog an seiner Zigarette, „Chenoa hat es mir so gesagt. Jetzt, wo ich seinen Namen höre, fällt es mir wieder ein. Herzlichen Glückwunsch, Zoras Derran, du wurdest auserwählt, einer Gruppe beizutreten, die du augenscheinlich sehr gern hast und die offenbar auch sehr erfreut über deine Existenz ist. Aber wenn du jemanden zum Reden brauchst, die Seherin redet mit jedem.“ Damit kehrte er Zoras den Rücken und ging zurück zu den anderen, offenbar nicht gewillt, weiteres zu sagen. Zoras starrte Karana mit offenem Mund an – und der starrte genauso fassungslos zurück, jeder Zorn und jeder Hass war aus seinem Gesicht verschwunden. Da war nur noch Verblüffung über das, was gerade passiert war.

Zoras fühlte sich etwa genauso; da hatte er doch neulich noch mit Neisa darüber gesprochen, dass er nicht bereit war, die Welt zu retten, weil sie es nicht wert war... wobei er den Preis noch nicht kannte. Chenoa hatte das die ganze Zeit gewusst? Warum hatte sie nie etwas gesagt? Hatte sie ihn dann deswegen trainiert, als er noch ein Kind gewesen war? Er fand, sie hätte ihn darauf vorbereiten sollen... etwas in ihm verlangte danach, sich nach Neisa umzudrehen, die von Simu und Tayson bemuttert wurde, aber er hinderte sich vor Karanas Augen lieber daran. Jeder Blick in Neisas Richtung würde den wieder provozieren...

Das Japsen von Asta riss sie alle aus ihrer Verblüffung und Zoras sah zu Lorons Schwester hinauf, die erbleichend nach Nordosten zeigte.

„D-da, seht! Da kommt die Armee von Ela-Ri!“ Alle schrien auf und rannten zu ihr, um sich selbst zu überzeugen, und Zoras warf Neisa jetzt doch einen verstohlenen Blick zu, als sie an Taysons Hand an ihm vorbei lief, zurück zu ihrem Bruder und den anderen Deppen. Sie beachtete ihn nicht, aber sie wirkte plötzlich beruhigt und der irre, verklärte Blick war aus ihrem Gesicht verschwunden, den sie gehabt hatte, als sie ihm noch einmal bestätigt hatte, dass er Karana schlagen sollte. Er fragte sich, was eigentlich in ihrem Kopf vorging, ihn erst zu hassen, sich dann in seine Arme zu schmeißen, ihn dann auf Karana zu hetzen und dann ohne ihn eines Blickes zu würdigen an Taysons Hand an ihm vorbei zu rennen. Ausgerechnet Tayson, der Depp der Nation.

„Ela-Ri?!“, rief Simu, „Das kann gar nicht sein, die kommen doch nicht aus dem Norden!“

„Aber da hinten kommen tatsächlich viele Männer, Soldaten!“, bemerkte Karana verblüfft, der sich mit der Hand die Augen abschirmte und gen Nordosten starrte. Zoras ging nur ein paar Schritte nach vorne, um vielleicht etwas sehen zu können; er wollte nicht näher an diese Typen heran als nötig, aber einfach davon zu gehen erschien ihm gerade unpassend. Vielleicht konnten sie seine Fragen beantworten... eine der Frauen musste die Seherin sein, vermutlich die mit zu wenig Kleidung. Vielleicht sollte er sie einfach mal fragen, ob sie wüsste, was das alles sollte... aber darin, Frauen anzusprechen, die größer waren als er, war er nicht sonderlich begabt...

„Was kommt denn da für eine Armee?!“, fragte Tayson da, „Aus dem Norden? Wollen die zu uns?“

„Wir stehen mitten auf dem Weg, ich glaube nicht, dass sie speziell zu uns wollen...“, bemerkte Yarek trocken, der immer noch genüsslich rauchte, „Wir bleiben hier und warten, bis sie näher kommen, dann fragen wir sie.“

„Und wenn sie uns angreifen?!“, jammerte Asta, und Tayson lachte:

„Ich passe schon auf euch Mädels auf, Rosi.“ Asta errötete daraufhin und Zoras fragte sich, was es eigentlich war, das ihn an Tayson so störte; dass er Neisas Hand hielt oder dass er, während er das tat, auch noch andere Frauen angrinste? Wenn Simu so etwas sagte, war das anders, denn der war wirklich eine Beschützernatur, aber Tayson? Der war doch genauso ein Schwerenöter wie Karana... nein, er musste schlimmer sein, wenn er selbst die arme, hässliche Asta angrinste.

„Wenn sie keine Zuyyaner sind, greifen sie schon nicht einfach so eine Gruppe Reisender mit Frauen an.“, versetzte Simu zerknirscht, „Sowas erbärmliches bringen nur die Zuyyaner, wie wir im Krieg gelernt haben.“

Und Räuber im Wald von Senjo, addierte Zoras in Gedanken und schauderte bei der Erinnerung an diese Bastarde, die ihn und seine Eltern mitten im Winter überfallen und verschleppt hatten, als er klein gewesen war. Die Gedanken verschafften ihm den gewohnten Brechreiz und er zwang sich, ihn zu unterdrücken. Fort mit den widerwärtigen Gedanken.

Der Führer des Bataillons, das sich aus dem Norden die Straße herab näherte, schien nicht vorzuhaben, sie anzugreifen. Die Kameraden erkannten das Banner der Provinz Anthurien, die im Nordosten des Landes lag.

„Seid ihr Eingeborene?“, fragte der Heerführer, als er seine Soldaten in Hörweite der Gruppe kurz anhielt. „Zuyyaner?“ Offenbar verwirrten ihn die roten und rosa Haare der beiden Mitreisenden und Yarek meldete sich zu Wort.

„Nein, keine Zuyyaner, keine Angst. Wir kommen gerade aus Yiara und sind nur zufällig hier.“

„S-so viele Männer!“, keuchte Asta und wich zurück, „So... viele Kämpfer...“

„Ihr kommt aus Anthurien?“, rief Karana dem Führer zu, „Seid ihr auf dem Weg nach Vialla?“

„Der König hat Verstärkung aus allen Provinzen angefordert, deswegen gehen wir nach Vialla, richtig.“, erwiderte der Mann, „Ihr solltet nicht nach Süden reisen, dort ist es gefährlich. Krieg und Schatten kommen über das Land – mal wieder.“

„Nehmt uns mit!“, schrie Neisa plötzlich so laut sie konnte, und alle fuhren herum und starrten sie an, Karana erbleichte.

„Wie bitte?!“, fuhr er sie an und sie umklammerte bebend Taysons Hand, ehe sie schrie:

„Bitte, nehmt uns mit! Ich... ich bin Heilerin, ich kann sicher helfen! Ich bin die Tochter von Puran Lyra, mein Vater ist in der Hauptstadt und ich will... nicht zulassen, dass ihm etwas geschieht, während wir warten, ob Ela-Ri bezwungen wird! Wir... sind die Sieben, die auserwählt sind, um Khad-Arza zu retten, so hat man gesagt! Für... irgendetwas muss das doch gut sein!“ Die Blicke der anderen hafteten auf dem Mädchen und Zoras keuchte. War sie verrückt, da herunter zu wollen?

„Dein Vater ist der Herr der Geister!“, schnappte er, ehe er sich aufhalten konnte, „Der stirbt schon nicht einfach so! Er hat den verdammten Kaiser von Zuyya geschlachtet, da wird er ja wohl mit Ela-Ri fertig! Vialla ist kein Ort für dich, Neisa.“ Sie sah ihn an – und er errötete, als sie lächelte, was zu seinem Glück keiner zu bemerken schien.

„Ich habe dir versprochen, ich rette die Welt, damit du lächelst...“, hörte er sie sagen, und er hoffte inständig, dass auch das niemand gehört hatte... zum Glück fragte jetzt der Heerführer aus Anthurien, was das zu bedeuten hätte, und lenkte damit aller Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Das kann Euch auf dem Weg gewiss die redefreudige Seherin erklären, Herr.“, behauptete Karana darauf und bemühte sich offenbar, fröhlich zu klingen, obwohl man ihm seine Anspannung von zuvor noch deutlich genug anmerkte; plötzlich schien er seine Meinung geändert zu haben. „Wenn Ihr nichts dagegen habt, begleiten wir Euch. Wir können uns selbst beschützen, Ihr verpflichtet Euch also zu gar nichts.“ Zoras hörte Simu brummen.

„Karana, ich denke nicht, dass Vati das gutheißen wird. Er hat uns nicht nach Yiara geschickt, damit wir ihm jetzt zur Seite eilen und dann noch selbst draufgehen. Und wer erbt den Lyra-Clan, wenn du erschlagen wirst?“

„Willst du lieber in Yiara hocken und abwarten, wer überlebt?!“, empörte sein Bruder sich und zeigte auf Neisa, „Sie hat recht! Und ich bin verdammt noch mal kein kleiner Junge, der beschützt werden muss, ich bin ein Mann! Und davon abgesehen heißt es, dass die Sieben in den Schatten gehen sollen – also dorthin, wo der Krieg ist! Wenn du Schiss hast, bleib hier oben bei den Berglöwen.“ Damit war die Sache für ihn erledigt und der Führer der Armee schien einverstanden zu sein, die Gruppe mitzunehmen, denn er winkte sie heran und setzte sich dann schon eilig wieder in Bewegung mit seinem Trupp, offenbar annehmend, dass die Fremden ihm dann schon folgen würden. Karana war gemeinsam mit Neisa, Tayson, seiner Raubkatzenfreundin, dem rothaarigen Kerl und der zu knapp angezogenen Frau schon dabei, eben dies zu tun, während Simu gemeinsam mit Asta, der Lianerin und Zoras zunächst stehen blieb. Zoras schloss zu ihnen auf; von Simu hatte er nichts zu befürchten und von den Mädchen vermutlich erst recht nicht.

„Falls es dich beruhigt, ich gebe dir recht, Simu.“, versetzte er dumpf und der Blonde sah ihn zweifelnd an.

„Danke, wenigstens einer. Falls wir nach Vialla kommen, wird mein Vater fuchsteufelswild sein, wenn ausgerechnet Neisa da auftaucht. Was für eine dumme Idee, die wohlbehütete Tochter an die Front zu schicken, Sieben hin oder her. Karana hat doch echt eine Klatsche.“

„Und denkt nur an sich selbst.“, addierte Zoras und freute sich innerlich diebisch, dass selbst Karanas treuester Gefolgsmann, sein eigener Bruder – wenn auch nicht biologisch – offenbar dabei war, ihm den Rücken zu kehren. Der Schwarzhaarige nickte in Astas Richtung. „Für euch beide scheint es ja auch unglaublich begeisternd zu sein. Weil ihr vermutlich beide wahnsinnige Kämpferinnen seid, so rein äußerlich.“ Asta jammerte schüchtern und das Lianermädchen fuhr wie vom Donner getroffen zusammen, als man es ansprach. Schreckhaft wie ein Rehkitz, wenn nicht schlimmer, fuhr es Zoras durch den Kopf, und er fragte sich, was dieser armen Kreatur angetan worden war, dass sie so reagierte.

„Ich... ich fürchte mich vor Karana...“, gestand sie wimmernd und Zoras blinzelte Simu ungläubig an, der nur bestürzt die Schultern hoch zog. „Er hat die Fangzähne des Dämons... genau die gleichen, ich habe es gesehen. Es... es macht mir Angst! Warum passiert immer nur mir so etwas?“ Dann sagte sie nichts mehr und senkte zitternd den Kopf, offenbar nicht bereit, weiter zu sprechen. Zoras hob eine Braue und sah den blonden Mann neben sich an, in der Hoffnung, er würde ihm erklären, was die Lianerin meinte; Zähne des Dämons? Was für ein Dämon?

„Du fantasierst, Eneela.“, war Simus dumpfer Kommentar und er berührte mit einem Finger ganz behutsam ihre herab hängende Hand. „Karana ist zwar ein Idiot, aber kein Dämon, das schwöre ich dir. Er wird dir nichts antun. Und falls er es doch versuchen sollte, werde ich dich beschützen. Hab keine Angst. Komm jetzt... wir sollten ihnen nach, wir haben ja keine Wahl. Als ob Karana Neisa ausreichend beschützen könnte, während er mit seinem Mädchen da beschäftigt ist.“ Dann wandte er sich an Zoras und zeigte ein etwas wehmütiges Lächeln, das bedeutete, dass es ihm leid täte. „Kommst du mit uns? Offenbar gehörst du wie Eneela und ich zu dieser Gruppe aus sieben Menschen... eine merkwürdige Laune der Geister, gerade Karana und dich dazu auszuerwählen. Aber es wird sicher einen Grund dafür geben.“

„Kennst du ihn denn?“, fragte der Schamane dumpf, während er Simus Frage schweigend bejahte, indem er schon mal los ging und die drei anderen ihm darauf folgten. Simu lachte bitter.

„Ich? Vergiss es. Ich weiß nicht, was die Geister sich dabei gedacht haben; bei Karana und dir sehe ich es ein, ihr seid beide mächtige Magier. Neisa ist Heilerin, Eneela ist Lianerin; was Karanas Mädchen genau ist, weiß ich nicht... ich glaube, er sagte einmal, sie sei Halblianerin. Aber ich? Was bin ich schon? Ich wüsste nicht, womit ich die Welt retten sollte... mit einem Messer?“

„Ich glaube.“, murmelte Zoras und sah in den Himmel, an dem sich düstere Sturmwolken zusammen brauten, „Die Geister wollen gar nicht sieben Krieger... vielleicht bist du es gerade deshalb, weil du keiner bist. Du bist kein Kämpfer, aber dafür ein ziemlich begabter Denker, und du bist, wie man an deinen Begleiterinnen hier sieht, ein guter Mensch. Ein... viel besserer als alle anderen, die dazugehören, vermute ich... vielleicht ist es das.“ Der Blonde gluckste leise.

„Das ehrt mich, sowas von ausgerechnet dir zu hören, da muss es ja etwas bedeuten. Wenn du mit uns kommst, meide Karana einfach. Und Neisa am besten auch, sonst hast du gleich wieder Karanas Mordlust an der Backe. Und wenn du zu den Sieben gehörst, brauchen wir dich noch... was meinem Bruder egal sein wird, sobald du es wagst, Neisa anzusehen.“

„Keine Sorge, in Taysons Nähe muss ich nicht unbedingt sein, und der scheint ja jetzt wie eine Klette an ihr zu hängen. Seit wann sind die beiden denn so dicke?“

„Keine Ahnung, ich habe mich auch gewundert. Tayson hat zu mir gesagt, dass er sie beschützen will. Und das Verblüffende ist, dass er es ernst gemeint hat. Sieht aus, als würde er mal erwachsen, täte ihm gut. Solange Neisa ihn auch will...“ Zoras sagte nichts weiter dazu. Sie hatten die Gruppe eingeholt und er beobachtete verstohlen Neisa und Tayson, die Hand in Hand daher spazierten, als wären sie seit Jahren ein Liebespaar. Er hoffte sehr für Karanas großen Kumpel, dass er zu seinem Wort stand und die kleine Heilerin wirklich beschützte. Sie hatte es nicht verdient, im Stich gelassen oder gar benutzt zu werden...

Und wenn du sie nicht beschützen kannst, Tayson, dann werde ich es tun. Und glaub ja nicht, dass ich sie dir dann noch einmal zurückgebe.
 

Der Weg nach Vialla war noch weit und führte durch karges, trockenes Land, das umrahmt war von den zerklüfteten Gebirgen des Hochlandes. Die Soldaten aus Anthurien gingen zügig voran und pausierten fast nie; sie mussten ja auch schnell in der Hauptstadt sein, zum Trödeln war gar keine Zeit. Einige der Kameraden waren das weite, schnelle gehen nicht gewohnt und waren bald erschöpft; irgendwann nahm Tayson Neisa auf den Rücken und trug sie. Simu trug Eneela, obwohl sie protestiert hatte und sich augenscheinlich unwürdig fühlte, so getragen zu werden. Aber sie hatte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen können und ihre Füße waren geschwollen und voller Blasen, wie der blonde Mann festgestellt hatte nach einer flüchtigen Untersuchung. So konnte sie doch nicht weiter gehen. Ihm taten selbst die Füße weh; er war zwar in der Vergangenheit oft sehr weit gereist, viel weiter als jetzt, aber dafür nicht annähernd so schnell, weil er nie in Eile gewesen war. Bei den Gedanken an seine vielen Reisen dachte er an Dasan Sagal und fragte sich, ob der alte Krüppel wohl auch in Vialla war.

„Herr, bitte lasst mich selbst gehen.“, flehte Eneela auf seinem Rücken, „I-ich bin es nicht wert, so behandelt zu werden! Bitte, ich werde es schaffen. Ich belaste Euch nur und dann seid Ihr meinetwegen erschöpft...“

„Sei still.“, sagte Simu ruhig zu ihr, „Ich trage dich und basta. Wenn du nicht so protestiertest, wäre es für mich auch weniger anstrengend.“

„Aber i-ich bin doch viel zu schwer für den weiten Weg...“ Simu schnaufte.

„Na, hör mal, sehe ich etwa so schwach aus?“, konterte er mit dem Wissen, dass sie sich jetzt elend fühlen würde, weil er ihr signalisierte, dass sie ihn beleidigt hätte; er war nicht wirklich beleidigt, aber verdammt, irgendwie musste man ihr dieses Gehabe doch mal abgewöhnen! „Hör endlich auf, mich Herr zu nennen, nenne mich Simu! Ich bin doch kein Sklaventreiber!“

„D-daran... muss ich mich aber erst gewöhnen!“, keuchte sie und klammerte sich unmerklich fester an seinen Nacken, und er musste kichern.

„Ja, ja. Bis wir in Vialla sind, kannst du es.“

Sie waren schon mehrere Tage mit der Armee unterwegs. Vor ihnen lag die kleine Kreisstadt Nalsul inmitten des Hochlandes. Zu ihrer Linken ragte die Gebirgskette Emeth in den Himmel hinauf wie eine hohe, ewige Meilen lange Wand, die das Tal begrenzte, das sie durchschritten. Auf der Rechten lagen die Unguren wie eine beinahe genauso lange, hohe Wand; auf Höhe von Nalsul war eine Lücke zwischen den Unguren und den Bergen von Kayed, die südlich davon lagen, der einzige Durchgang in den Westen von dieser Region aus. Simu war hier schon öfter gereist in der Hoffnung, etwas über seine Eltern zu erfahren, aber wie überall anders war er auch hier erfolglos gewesen. Als sie jetzt auf Nalsul und die dahinter liegende, abschüssige Ebene zuhielten, erkannte Simu im Westen Rauch aufsteigen, dort, wo der Durchgang war.

„Seht!“, rief der Heerführer vorne schon und gab das Signal zum Halten, und die versammelte Mannschaft starrte nach Westen auf die Rauchschwaden, die bedrohlich über die Unguren hinweg nach Nordosten schwebten. „Was ist das denn dort im Westen?!“

„Oh nein, brennt Thalurien immer noch?!“, japste Asta, und Zoras schnaubte.

„Zumindest nicht durch Arlons Trottel aus Senjo, die sind längst mit eingezogenen Schwänzen zurück nach Kamien gekehrt. Wenn jemand angegriffen hat im Westen, war es jemand anderes.“ Alle starrten ihn an und Simu keuchte, als er Neisa im Hintergrund erbleichen sah. Er wollte sie gerade fragen, was ihr so einen Schrecken eingejagt hatte oder ob sie wüsste, was das zu bedeuten hätte, da hörte er sie bereits selbst mit der erschütternden Bedrohlichkeit eines Erdbebens direkt auf sie zukommen – die Trommeln aus Ela-Ri, die den Tod und Verderben ankündigten.
 


 

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Öh ja... Einer von Zoras' vielen folgenden WTF-Momenten XD

Das Bündnis der Sieben

Das war ein schlechter Tag. Karana war davon überzeugt, dass es ein schlechter Tag war; es war einfach alles, was ihn wurmte, auf einmal da. Tayson trug seine kleine Schwester auf dem Rücken, was ihm nicht passte, er musste mit Zoras Derran zusammen durch die Pampa rennen, sie waren jetzt mit so vielen Menschen und vor allem so wenigen Pausen unterwegs, dass er seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr dazu gekommen war, Iana zu lieben, und jetzt kam auch noch das Trommeln aus dem Westen. Es war nahe, viel zu nahe. Als er die Ebene hinab starrte, erkannte er schon die Banner des Ostreiches hinter den Felsen auftauchen; mit ihnen kamen die drohenden Trommelschläge näher.

„Wieso kommen die aus dem Westen?!“, fragte Tayson neben ihm, der Neisa jetzt von seinem Rücken rutschen ließ, „Ich meine, heißen sie nicht Ostreich?“ Karana würdigte weder ihn noch Neisa eines Blickes, er konnte ihren Anblick einfach gerade nicht ertragen. Mit seiner Schwester hatte er kein einziges Wort mehr gesprochen seit dem Tag, an dem sie sich dem Bataillon aus Anthurien angeschlossen hatten. Und er hatte auch nicht vor, es zu tun, bis sie ihm die Erklärung und eine demütige Entschuldigung gab für das, was auch immer sie mit Zoras Derran gemacht hatte. Er war Schwarzmagier, kein Zuyyaner, er konnte Neisa nicht hypnotisieren oder ihren Willen lenken, es musste also Neisas Schuld sein, dass sie sich gegen ihren Bruder gewendet hatte, da war Karana inzwischen sicher. Und diesen erbärmlichen Verrat würde er ihr ganz sicher nicht vergeben, es sei denn, sie kroch ihm zu Füßen und flehte ihn an... der Gedanke gefiel ihm, aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber zu sinnieren, wie er seine Schwester bestrafen könnte.

„Woher soll ich das wissen, Tayson?“, fragte er so grantig zurück, „Bin ich Hellseher?“

„Du bist der Zauberer!“, schnaubte sein Freund und Karana trat nach ihm.

„Schamane! Nicht Zauberer!“

„Das sind die Trommeln, die ich schon in Kamien gehört habe.“, hörte er dann Zoras irgendwo sagen – offenbar sprach der verhasste kleine Mann mit Simu, der neben ihm stand und ihn jetzt erschrocken ansah.

„Sie waren selbst in Kamien?!“

„Ich glaube, sie sind von der südlichen Küste gekommen. Als ich in Kamien aufbrach, habe ich sie weit entfernt gehört, sie müssen durch Thalurien gekommen sein, vielleicht wollten sie sich so an Vialla vorbei schleichen, um es dann von allen Seiten einzukreisen.“

„Seit wann kannst du denn so strategisch denken?“, lachte Tayson, Karana ignorierte ihn und erwiderte stattdessen den kaltherzigen Blick von Zoras, der sich jetzt zu ihnen umwandte und ihn und Tayson argwöhnisch musterte.

„Würde ich eine Stadt wie Vialla zu Fall bringen wollen und hätte eine Armada von genügend Größe und Stärke, würde ich es zumindest so probieren.“, gab der Kleinere zurück und Karana zischte.

„Ach ja, mit Welt vernichten und so kennst du dich ja aus. Hast wohl genug Pläne geschmiedet in deinem Kuhkaff, was, Derran?“

„Karana!“, stöhnte Simu vor ihm erzürnt, „Kannst du diese Scheiße jetzt mal lassen?!“ Karana brummte missgelaunt; und vielleicht lag es ja doch an Zoras, egal, mit wem er sprach, plötzlich waren alle auf seiner Seite und wendeten sich von ihm, Karana, ab. Sogar Simu, sein eigener Bruder...

„Was immer sie wollen und wie immer sie hierher kommen, sie werden uns vernichten!“, keuchte der Heerführer aus Anthurien in dem Moment, ehe er seinen Männern befahl, eine verteidigende Aufstellung anzunehmen. Die Gruppe aus Yiara stand daneben, während die Soldaten sich formierten und eilig bewaffneten. Das waren gute, trainierte Männer, sie wussten, wie man kämpfte. Karana hatte einen Moment ein gutes Gefühl, als er den Kriegern zusah – bis hinter den Felsen zwischen den Unguren und Kayed die Männer aus dem Ostreich auftauchten, der Mann mit dem Banner und die mit den Trommeln vorweg.

Es war das erste Mal, dass Karana sie wirklich leibhaftig sah. Die Krieger aus dem Ostreich hatten den Ruf, furchteinflößende Bestien zu sein; und sie waren es wirklich, stellte der junge Magier bestürzt fest, als er immer mehr und mehr und noch mehr Krieger zwischen den Felsen hervor kommen sah, die sich verteilten und ihnen gegenüber eine gigantisch breite Angriffslinie bildeten. Es kamen so viele Männer daher, dass Karana aufhören musste, zu zählen – wie viele waren das bitte? Das hörte gar nicht mehr auf, immer, wenn er dachte, jetzt wäre der letzte Trupp da, kamen doch noch welche dazu. Die Armada, die sich ihnen jetzt gegenüber stellte, offenbar nicht begeistert darüber, hier mitten in der Wildnis auf Widerstand zu treffen, war riesig. Karana fragte sich, ob diese Armada auch die Küste Dobanjans eingenommen hatte... ob es so war, wie Zoras gesagt hatte. Waren sie durch Thalurien gekommen? Er fragte sich, ob der alte Sagal noch lebte, dessen Netzwerk aus Telepathen doch eigentlich so dicht war, dass niemand ungehindert in die Provinz kam, wenn er böse Absichten hatte. Wenn Sagal beim Angriff der Bauern aus Kamien gestorben war, war es kein Wunder, dass die Leute aus Ela-Ri so leicht durch die Provinz gekommen waren... oder war er am Leben gewesen und sie hatten die Sagals dennoch ohne Probleme überrumpeln können? Die Fragen und die dröhnenden Trommelschläge bereiteten dem Mann Kopfschmerzen und er stöhnte.

„Weg von hier.“, hörte er dann den Heerführer vorne sagen, und er sah kurz in die Richtung der Gruppe. „Wir können euch Kinder jetzt nicht beschützen, verschwindet von hier. Ich habe nicht ahnen können, dass hier schon Soldaten auftauchen... wie kann das sein?!“

„Wir beschützen uns schon selbst.“, erklärte Tayson tapfer und zog von seinem Gürtel das verrostete Schwert, das er einem Bauern aus Kamien abgenommen hatte, „Wenn wir jetzt wegrennen, erschießen sie uns sicher, das hat jetzt keinen Sinn mehr.“

„Tod und Schatten...“, wisperte Neisa, die sich hinter ihm an seinen Rücken kauerte und vor Angst erbleicht war, wie ihr Bruder feststellte, als er sie flüchtig musterte. Er hatte kein Mitleid mit ihr. Ihre Schuld war es, dass sie jetzt hier waren. Wäre sie nicht weggerannt, wären sie in Yiara in Sicherheit. Karana ertappte sich dabei, sich zu wünschen, die Krieger würden seine Schwester töten. Dann verfluchte er sich für die Gedanken und fragte sich, was in ihn gefahren war. Egal, was sie getan hatte, sie war seine Schwester! Er liebte sie aus ganzem Herzen und wollte nicht, dass ihr ein Leid geschah... dann verfluchte er sie wieder innerlich, weil sie so töricht gewesen war, hierher zu laufen. Sie hätte in Yiara bleiben sollen...

Jetzt waren all diese Wünsche zu spät.

Ryanne trat neben Karana und schien sich zu freuen; aus irgendeinem Grund grinste sie ihn schelmisch an.

„Da hast du den Salat, Karana. Jetzt müssen die Sieben die Welt retten. Hast du eine Waffe?“

„Sehe ich so aus?“, brummte er, „Ich habe meine Magie, mehr nicht. Was meinst du, Seherin? Sind sie schwere Gegner?“ Er musterte die sich noch immer sammelnden und formierenden gegnerischen Krieger. Sie wirkten wie aufrecht gehende Bären, sie waren groß, kräftig und in Kleider gehüllt, die sie tatsächlich mehr wie wilde Bestien als wie Menschen aussehen ließen. Sie trugen Speere, Armbrüste oder lange, breite Schwerter, die sie trotz ihrer Größe bequem in einer Hand trugen, obwohl es unter Garantie Zweihänder waren. Die Speere, die sie trugen, waren etwa genauso furchteinflößend wie die seltsame, monströse Waffe, die Zoras seit neuestem mit sich trug. Karana fragte sich, woher der Zwerg die haben mochte.

„Ja, das sind sie.“, grinste Ryanne und in ihre Augen schlich sich der Ausdruck, den sie oft annahmen, wenn sie wichtige Dinge erzählte. Das Grinsen in ihrem Gesicht war diabolisch. „Sie sind Zauberer, zumindest viele von ihnen. Das hier ist nur ein kleiner Arm der großen Armee, der König ist nicht dabei. Dort hinten auf dem Streitwagen ist der Heerführer. Er wird das Kommando geben, uns alle zu töten. Aber passt auf, wenn der Kommandeur fällt, werden die Krieger trotzdem weiter kämpfen. Sie werden nicht aufgeben, bis entweder wir oder sie tot sind. Ela-Ri-Krieger geben nicht auf und fliehen nicht. Diese Männer werden schon als Kinder zu dem Gedanken hin erzogen, dass es die größte Ehre für einen Mann ist, in einem blutigen Schlachtfeld zu sterben, dass es ehrenhafter für ihn und seine Familie ist als zu überleben mit der Schande, aufgegeben zu haben. Ela-Ri-Krieger knien vor niemandem, lieber sterben sie als sich zu unterwerfen.“

„Dann haben sie eine Menge mit mir gemeinsam.“, schnarrte Karana auf diese Worte und schob sie zur Seite, „Dann sollen sie kommen. Wenn sie erwarten, dass ich vor ihnen krieche und mich unterwerfe, können sie das vergessen.“ Er drehte sich zu Yarek um, der gerade eine weitere Kippe weg schnippte. „Yarek! Du bist doch hier, um uns zu schützen, oder nicht? Dann schnapp die Mädchen und passe auf sie auf. Wenn meiner Schwester, Eneela oder Asta etwas geschieht, bist du tot, wenn dich nicht vorher die Krieger aus dem Osten ermorden.“

„Ich habe keine Angst!“, keuchte Neisa hinter Taysons Rücken und Karana fuhr sie wutentbrannt an:

„Dann habe welche, du törichte Schlampe! Fürchte dich, verdammt, Neisa, diese Männer wollen unseren Tod! Sie werden keine Gnade haben, wenn du furchtlos hier stehen bleibst, sie werden dich auslachen für deine Dummheit und dir den Kopf abschlagen! Und du solltest dir wünschen, dass sie das tun, statt dich gefangen zu nehmen und dich zu benutzen für ihre widerwärtigen Spielchen! Fürchte dich, Neisa! Du solltest es tun, und wenn du es nicht tust, bist du dumm!“ Neisa starrte ihn aus riesig geweiteten Augen an und er fletschte wütend seine spitzen Zähne in ihre Richtung, sodass sie einen Schritt zurück taumelte. Tayson wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Verblüffenderweise war es Zoras, der sprach; einerseits hätte Karana ihn am liebsten erschlagen, andererseits war er dem Idioten zum ersten Mal in seinem Leben dankbar.

„Hör auf deinen verblendeten Bruder, Neisa!“, brummte er, „Du bist uns hier garantiert keine Hilfe, sondern führst nur herbei, dass sich irgendwer am Ende für dich opfern muss, um dich dummes Mädchen zu beschützen. Wenn du niemanden durch deine Torheit umbringen willst, verschwinde!“ Karana starrte ihn kurz an, Zoras wandte sich aber schon wieder ab, während Tayson Neisa zurück schob.

„Geh, bitte.“, sagte er leise, „Ich passe auch auf Karana auf, damit ihm niemand was tut.“ Neisa zitterte, jetzt gehorchte sie aber widerstandslos und versammelte sich hinter Yarek mit Eneela, Asta und Ryanne, die kicherte.

„Ich kann Barrieren erstellen, die schützen uns vielleicht zeitweise.“, erklärte sie, „Also keine Angst.“

Das Brüllen und die Schlachtrufe der feindlichen Krieger lenkten Karanas Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Er sah Yarek sein ellenlanges Schwert aus der Scheide ziehen, Simu hatte nicht mehr als sein kleines Fleischermesser, das er zur Sicherheit immer mit auf seine vielen Reisen genommen hatte; ob ihm das wohl im Kampf gegen diese Barbaren nützen würde?

„Das ist doch falsch so.“, brummte der Blonde dabei, „Es hätte mir gereicht, ihnen in Vialla zu begegnen, wo sie ja wohl unumstößlich hin gelangen werden, denn dort wartet die Armee des Königs. Dass sie jetzt hinten herum kommen, zufällig auf die Verstärkung aus dem Norden treffen und dadurch beide Seiten aufhalten, gefällt ihnen sicher nicht, und jetzt sterben wir alle. Wenn nicht irgendein Wunder geschieht.“

„Jetzt mal nicht so pessimistisch!“, schnappte Karana, schüttelte seine Hände aus und sah seinen blonden Bruder an, „Wer sagt, dass wir sterben? Die Geister reden zwar von Tod, aber ich denke, sie meinen den der Gegner.“

„Selbst, wenn du sie nicht gezählt hast, wird dir aufgefallen sein, dass sie vermutlich doppelt oder dreimal so viele sind wie wir. Oder noch mehr. Es wäre irgendwie gegen die Logik, wenn wir sie schlagen könnten!“

„Jetzt mach dir mal nicht in die Hose, bevor sie angefangen haben!“, rief Tayson schon, in dem Moment ertönte knapp neben ihnen ein Surren und dann ein Schrei, als einer der Männer aus Anthurien plötzlich von einem heran sausenden Pfeil durchbohrt und durch die Wucht des Treffers von den Beinen gerissen wurde. Keuchend fuhren Karana, Simu und Tayson wieder herum und sahen den Mann aus Ela-Ri, der in der ersten Reihe stand und seine Armbrust gerade wieder senkte, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Er sagte irgendetwas zu dem Krieger neben sich und der feixte.

„Dieser Bastard-...!“, schnappte Karana schon und riss bereits die Hände empor, doch Yarek war es, der ihn aufhielt, einen Arm vor seine Nase haltend.

„Noch nicht. Die drohen uns und gucken, ob wir freiwillig aufgeben. Und das zu entscheiden ist nicht deine Aufgabe, sondern die des Heerführers.“

„Verdammt, nein, wir geben nicht auf!“, brüllte Karana ungehalten zu den Gegnern herüber, Yareks Worte ignorierend, und der Rothaarige seufzte.

„Du solltest lernen, dich an Befehle zu halten, wenn du das hier überleben willst.“ Doch der Führer des Bataillons hob seinen Arm mit dem Schwert.

„Ob wir Vialla von hier aus verteidigen oder von hinter den Mauern ist einerlei, Männer!“, rief er dabei laut und deutlich, „Tötet sie! Lasst keinen am Leben von diesen Barbaren und Lästerungen des Lebens!“ Er erntete zustimmendes Brüllen der Krieger und Karana schnaubte zufrieden. So war es recht, er würde ganz sicher nicht den Schwanz einkneifen, nur, weil die anderen mehr waren. Er war der Sohn des Herrn der Geister, und diese Erde war seine Mutter, seine Heimat; die Geister würden den Eindringlingen ihren Dienst versagen, aber ihm würden sie gehorchen. Er spürte das nervöse Kribbeln in seinem Inneren, als er auf die Gegner stierte, die sich zum Angriff rüsteten und ihre Waffen scheppernd zogen. Die Trommeln wurden wieder lauter und die Männer stampften mit den Füßen. „Tod und Schatten!“, brüllte der Heerführer vorne, und seine Soldaten stimmten ihm zu, wiederholten den Schlachtruf und rissen ebenfalls ihre Waffen empor. Karana linste zur Seite, als neben ihm Bruder Hund und Iana auftauchten. Die junge Frau hatte ihr Kurzschwert ergriffen und machte einen desinteressierten Eindruck; aber er konnte genau spüren, dass sie genauso Angst hatte wie die anderen Anwesenden.

„Du willst dich nicht von Yarek und Ryannes Barriere schützen lassen?“, fragte er sie, ohne sie anzusehen, und er hörte sie zischen.

„Sehe ich aus wie ein Amateur? Ich kann mich wehren.“

„Bei allem Respekt, meine Liebe, es ist ein Unterschied, sich jahrelang gegen wilde Tiere oder Straßenräuber zu wehren oder gegen seine ganze Armada gut ausgebildeter, blutrünstiger Krieger. Wenn ich dich nicht beschützen kann, fallen sie über dich her und vergewaltigen dich und fressen dich dann auf, oder so.“ Er meinte seine Worte ernst; als er sie doch ansah, zeigte sie ein herzloses Grinsen, dabei ihr Kurzschwert fest packend.

„Mein Vater hat selbst die Zuyyaner überlebt, die seine Heimat angegriffen haben, als er jung war. Sein Geist ist mit mir in diesem Schwert, er wird mir helfen. Keine Angst, Karana... du musst mich nicht beschützen. Ich hoffe, dich vergewaltigen sie nicht, wenn sie dich schnappen. Wäre ein Jammer um deinen hübschen Hintern.“ Er musste ein Lachen unterdrücken und wandte sich wieder nach vorne.

„Tod und Schatten, Iana.“, sagte er nur zu ihr, „Wenn wir hier fertig sind, verschaffe ich dir einen Orgasmus, versprochen.“

Er hörte nicht mehr, ob sie etwas erwiderte, denn in dem Augenblick stürmten die Gegner bereits brüllend auf sie zu und der Heerführer riss seinen Schwertarm wieder herab.

„Tod und Schatten!“, brüllte er noch einmal, ehe sich die kleinere Armee aus Anthurien ebenfalls ins Geschehen stürzte.
 

Eneela Kaniy fragte sich mit weit aufgerissenen Augen und dem blanken Entsetzen auf ihrer Seele, wie sie hierher geraten war. War sie nicht dereinst, als der Sommer noch quasi im Land gewesen war, von Ghia geflohen, um ihrem erbärmlichen Leben in ständiger Panik ein Ende zu bereiten? Hatte sie nicht das Herz voller Hoffnung gehabt, ihren Vater zu finden und mit ihm ein vielleicht sorgenfreies Leben zu führen, irgendwo in einem friedlichen Dorf auf Tharr? Auf der Ghia hatten die älteren Lianerfrauen gesagt, Tharr wäre das Paradies. Ursprünglich stammte ihr Volk von Tharr... der Sklavenkönig Scharan war es gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass man sie nach Ghia gejagt und dort in die Sklaverei getrieben hatte. Er war es gewesen, der die Droge erfunden hatte, die einen Lianer daran hinderte, seine Waffen zu ziehen... seine mächtigen Lians zu beschwören, die elementaren Bestien, die nur von Lianern beschworen werden konnten und nur ihnen gehorchten. Ohne die Lians waren sie in den allermeisten Fällen wehrlos, kaum ein Lianer konnte gut mit Metallwaffen umgehen, und selbst wenn, sie waren einfach körperlich unterlegen, weil sie zierlicher und demzufolge auch schwächer waren als die Menschen oder Schamanen. Die Macht der Lians kam den mächtigen Zaubern der Schamanen etwa gleich, und dank Scharans Droge war dem Volk der Beschwörer ihre einzige Waffe geraubt worden. Und die Menschen hatten es begrüßt, sie loszuwerden, denn viele fürchteten sich vor den Lianern und hielten sie für Gespenster, weil sie so bleich waren.

Die Menschen waren töricht... und Tharr war nicht das Paradies, von dem die Alten erzählt hatten.

Eneela ballte verkrampft und am ganzen Körper bebend die Fäuste. Ihre hellblauen Augen hefteten sich mit steigender Panik auf das Szenario vor ihr, als die beiden Fronten aufeinander prallten; irgendwo darunter mussten auch Simu, Karana, seine schwarzhaarige Frau, der Zwerg namens Zoras und Tayson sein. Sie konnte sie nicht mehr sehen in dem Getümmel, aber das Brüllen der sich schlachtenden Männer war bis hierher zu hören und hallte von den Felswänden hinter ihnen wider. Da rollte ein Kopf, hier wurde ein Krieger zu Boden gestoßen und niedergetrampelt, Mutter Erdes Haut war schon besudelt vom Blut der Menschen, die starben. Es krachte aus dem Himmel, weil irgendjemand einen Blitz herab sausen ließ, mitten in die Linie der Angreifer aus dem Ostreich. Die Erde erzitterte unter Eneelas Füßen, als irgendjemand anderes eine gewaltige Mauer aus Feuer zwischen entstehen ließ und ein Schreien ging durch die Krieger, als viele entweder brennend davon rannten oder den magischen Flammen zum Opfer fielen.

Wo war das Paradies? Das war das Reich des Himmelsdonners... das Reich, in dem Vater Himmel seinen Zorn aufbewahrte und ihn wahllos auf jene herab ließ, die nichts Besseres verdient hatten. Eneela hörte die Windgeister in der Luft auf eine bizarre, bösartige Weise heulen und ein Schauer lief ihr über den Rücken bei dem Geräusch. Sie würden sie alle töten!

„Wir werden sterben...“, wisperte sie atemlos und war verblüfft, dass sie ihre eigene Stimme bei dem Getöse und dem wütenden Donnern des Himmels überhaupt hörte. Unmerklich taumelte sie rückwärts, bis sie gegen die Felswand stieß, und Neisa drehte apathisch den Kopf zu ihr um. Asta kauerte weinend am Boden im trockenen Gras und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Hörst du den Wind?“, fragte Neisa sie mit einem bizarren Lächeln, das Eneelas Furcht nur noch vergrößerte. „Sie rufen nach uns. Ich kann sie hören... sie sprechen von Tod und vom Blut, das die Haut der Erde tränken wird.“

„Wir werden sterben!“, keuchte Eneela daraufhin noch einmal, dieses Mal panischer, und sie drückte sie zitternd gegen die Felswand, als würde das irgendetwas nützen. Jetzt fuhr Yarek zu ihnen herum, der neben der Seherin vor den Mädchen stand.

„Sprich nicht das aus, was du fürchtest!“, blaffte er sie an, „Weißt du dummes Mädchen nicht, dass du deiner Furcht keinen Namen geben darfst, wenn du nicht willst, dass die Geister dich erhören und sie wahr werden lassen?! Verdammt, was habt ihr denn hier gelernt?!“ Eneela erbleichte – sofern das für eine Lianerin wie sie überhaupt möglich war – und ihr Blick galt nicht Yarek, sondern dem gigantischen, grellen Feuerball, der plötzlich aus der Schlacht heraus direkt zu ihnen herüber kam. Es ging zu schnell, als dass sie viel hätte registrieren können. Sie hörte Karana irgendwo aus voller Kehle nach seiner Schwester schreien, sie hörte Yarek irgendetwas fluchen in seinem eigenartigen Dialekt, das sie nicht verstand, und die Seherin keuchte; Eneela fühlte sich zurück nach Ghia versetzt, zurück an jenen grauenhaften Tag, an dem ihre Mutter gestorben war. Sie sah im Feuerball die grinsende Fratze des Dämons, des Sklavenkönigs, und sie sah seine bestialischen grünen Augen, die sie anstarrten wie ein wertvolles Stück Fleisch, und dennoch so voller Abscheu und Hass, dass sie das Gefühl bekam, er könnte sie mit seinem Blick töten.

„Haltet sie fest! Tötet die Schlampe!“, hörte sie noch immer seine schnarrende Stimme, und sie sah das Feuer, das auf sie zu kam, mit derselben Tödlichkeit, derselben Geschwindigkeit – und wie damals riss sie instinktiv schreiend die Arme empor vor ihr Gesicht, die blinde Panik in den Augen und die Gewissheit im Kopf, sie würde sterben.

Und sie starb wieder nicht. Sie hörte das laute Zischen direkt neben ihren Ohren, dem ein grollender Donner aus dem Himmel folgte; und als Eneela glaubte, sie stünde mitten im Feuer, öffnete sie verwirrt die Augen und war stattdessen umgeben von Wasser. Wie ein schützender Wall hatte es sich um sie gelegt und sie bebte vor Panik, als sie auf ihre Hände sah, aus denen das Wasser gekommen war; ganz einfach so. Genau wie damals.

„Yolei...“, stammelte die Beschwörerin und strauchelte, als sie das wohlige Gefühl wiedererkannte, das sie schon einmal gespürt hatte, „Bestie des Wassers... du bist gekommen, obwohl ich dich gar nicht gerufen habe...“ Und sie zitterte, als der Feuerball vom Wasser gelöscht worden war, ehe sie die Hände reflexartig in den Himmel hob, damit sich die Wasserwand ebenfalls in die Luft erhob, wo sie sich mit einem Plätschern in die Gestalt eines riesigen Fisches verwandelte.

„Iih, ein Fisch!“, schrie Ryanne irgendwo, und Eneela keuchte und zitterte, die Arme gen Himmel erhoben, als trüge sie das Gewicht der beschworenen Wasserbestie auf ihren Händen. Ihre Knie waren so weich und sie drohten, nachzugeben...

„Du kannst Lians beschwören?“, fragte Yarek ebenfalls verblüfft und hatte keine Zeit, sich weiter zu wundern, denn in diesem Moment bebte die Erde in einer ungeahnten Heftigkeit und warf sie alle beinahe von den Beinen.

„Yolei!“, keuchte Eneela und hoffte, sie würde nicht sterben, „Kämpfe! Kämpfe... da vorne! Du... du musst Simu und die anderen beschützen... bitte!“ Der Fisch antwortete nicht, aber er bewegte sich und flog dann mit verblüffender Geschwindigkeit durch die Luft direkt auf die Schlacht zu. Die Lianerin knickte jetzt doch ein und stürzte hustend zu Boden, aber die anderen waren zu verblüfft, um ihr aufzuhelfen oder sich um sie zu bemühen. Nur Ryanne schien sich wieder gefangen zu haben, denn sie meckerte nicht mehr über den Fisch.

„Da siehst du es, Yarek. Das Mädchen, das beschwören konnte, selbst dann, als es unter Scharans Droge stand. Aber musste es ausgerechnet ein Fisch sein!“ Eneela konnte ihr nicht mehr zuhören. In ihrem Kopf hörte sie nur das Rauschen von Blut und Wasser... und sie spürte das Kribbeln in ihren Händen noch, mit denen sie zum zweiten Mal die Lian des Wassers beschworen hatte.
 

Karana hatte keine Zeit, sich zu wundern, wohin der Feuerball verschwunden war; er war davon überzeugt gewesen, dass der Zauber der Gegner Neisa und die anderen töten würde, doch jetzt sahen sie alle lebendig aus, abgesehen von Eneela vielleicht, die am Boden lag. Und nachdem das Feuer verschwunden war, war aus dem Nichts eine Welle kalten Wassers aus dem Himmel über das Schlachtfeld geschwappt, als hätte sich über ihnen ein Ozean befunden, in dessen Grund plötzlich ein Loch aufgegangen war, um das Wasser auf die Welt darunter herab stürzen zu lassen. Mit einem Keuchen sprang er zur Seite und suchte instinktiv nach Iana, als die tosenden Wassermassen auf die Front der Ela-Ri-Kämpfer herunter brach und sie unter Brüllen und Grölen davon spülte. Verblüffenderweise trafen die Wogen wirklich nur die Gegner, als wüsste das Wasser genau, wer der Feind war... und so schnell es gekommen war verschwand es auch wieder, die Welle versiegte im jetzt schlammigen Boden.

„Was zum Geier war denn das?“, fragte Tayson, der sich aufrappelte und zu seinem Kumpel herüber kam, in seiner Hand das rostige Schwert, das jetzt nicht nur von Rost, sondern auch vom Blut der Gegner rot schimmerte. „W-wo kam das Wasser her?!“

„Ich habe keine Ahnung!“, empörte Karana sich, „Ich war es nicht, ich bin Windmagier, Wasser liegt mir nicht so! Vielleicht war es Kurzhöschen... aber eigentlich wirft der nur mit Blitzen, soweit ich weiß!“ Sie hatten keine Zeit, weiter darüber zu diskutieren; die Welle hatte nur einen Teil der Gegner niedergeschmettert oder davon gespült, und die, die übrig waren, gingen jetzt wieder zum Angriff über. Tayson sprang japsend zur Seite, als ein Beil auf ihn zugeflogen kam, und entrüstet stürzte er sich, sein rostiges Schwert voran, auf den Krieger, der ihn jetzt mit seiner Lanze angriff. Karana zischte. Wo waren Simu und Iana? Er hatte den Überblick verloren und wusste nicht mal, ob von den Männern aus Anthurien überhaupt noch welche übrig waren; es kam ihm vor, als wären nur noch die bärenartigen, großen Krieger aus dem Osten um ihn herum. Groß waren sie wirklich, die meisten überragten selbst Tayson, und der war schon ziemlich groß. Karana, der ein gutes Stück kleiner als sein Freund war (wenigstens dennoch ein großes Stück größer als Zoras Derran), kam sich gegen die schwer bewaffneten Soldaten mickrig vor. Und wenn sie nur groß gewesen wären, wäre es auch nicht so wild... das Problem war, dass die meisten von ihnen genau wie er Magier waren. Das war anders, als zu versuchen, die wilden Bauern aus Senjo zu überleben. Die Bauern aus Senjo waren fehlgeleitete Irre. Das hier waren richtige Krieger, Männer, die bereit waren, andere zu töten, die selbst sterben würden für die Ausführung ihres Befehls.

„Aber dieser Himmel über uns und diese Erde zu unseren Füßen, die wir mit dem Blut unwürdiger Kreaturen verseuchen, sind nicht euer Himmel und eure Erde, Männer aus dem Osten!“, knurrte der Schamane und riss die Hände nach oben, als er im Getümmel plötzlich den Mann entdeckte, den er schon aus der Ferne als den Anführer erkannt hatte. Sein Streitwagen musste bereits kaputt sein, er war jedenfalls zu Fuß und trug einen mächtigen, verzierten Speer. Man sagte, die Männer im Osten wären Barbaren, die keine Regeln und keine Gesetze hatten, aber Karana war anderer Meinung, jetzt, wo er sie zum ersten Mal sah. Sie schlugen nicht wahllos um sich, sie wussten, was sie taten. Und der Heerführer wusste es auch, als er den Kopf drehte und Karanas starren Blick fing. Die Ostländler sprachen eine andere Sprache; der junge Mann war aber sicher, dass der Heerführer ihn trotz des Donners, trotz des Brüllens der sterbenden und kämpfenden Männer um sie herum und trotz der anderen Muttersprache verstanden hatte.

Dieser Himmel und diese Erde hier sind nicht die euren. Und wir werden kämpfen, um sie zu verteidigen.

„Komm, wenn du dich traust!“, schnarrte Karana und streckte die Hände nach vorne, „Ich habe keine Angst vor dir! Gleich wirst du nur noch ein Schatten sein, und ich wünsche mir für dich, dass deine überlebenden Kameraden Lieder über dich singen in Ela-Ri... Lieder über die Tapferkeit des Heerführers, der es gewagt hat, sich mit den einheimischen Windgeistern von Kisara anzulegen!“

Der Mann kam. Er war schneller da, als Karana geahnt hätte, und der Jüngere hechtete instinktiv zur Seite, als der verzierte, riesige Speer auf ihn zu geflogen kam und ihm den Brustkorb zerschmettert hätte, wäre er nicht ausgewichen. Jetzt war der Heerführer seinen Speer los, aber er riss die bloßen Hände herum und schleuderte Karana eine Wand aus glühendem Feuer entgegen. Mit einem Schnauben und einer Bewegung seiner Arme rief der junge Mann seinen Windzauber und konnte damit den Zauber gerade noch abblocken; aber er spürte die Macht seines Gegners deutlich, als beide Zauber aufeinanderstießen und mit einem ohrenbetäubenden Tosen explodierten. Das Feuer war mächtig... es war mächtiger als sein Wind, der Mann hatte sich vermutlich nicht richtig angestrengt, weil er nicht daran glaubte, einen mageren jungen Kerl wie Karana wirklich fürchten zu müssen. Die Explosion warf den Jüngeren von den Beinen und keuchend überschlug er sich am Boden, während er spürte, wie sein Knie darauf aus der Kante eines am Boden liegenden Schwertes landete und die Klinge ihm schmerzhaft ins Fleisch schnitt. Er bekam keine Chance, den Schmerz großartig wahrzunehmen oder gar zu beklagen, denn er hatte sich noch nicht einmal aufgerappelt, da flog ihm schon der nächste Feuerball entgegen. Er rollte sich rasch zur Seite und entkam der Magie ein zweites Mal, jetzt beeilte er sich mehr, auf die Beine zu kommen. Sein Gegner brüllte ihm irgendetwas entgegen auf seiner grauenhaft klingenden Sprache. Karana verstand ihn, obwohl er die Sprache nie zuvor gehört hatte. Er musste ihm nur ins Gesicht sehen und konnte die Absichten und Gedanken des Mannes genau erkennen.

„Du denkst, ich will dich beleidigen mit meiner jämmerlichen Existenz, wenn ich dich erst herausfordere und dann nicht wie ein Mann kämpfe, was?“, sprach der Schamane es aus und grinste, ehe er sich bückte und das Schwert aufhob, das sein Knie malträtiert hatte. „Na ja, selbst Schuld, wenn du mir keine Gelegenheit gibst, mich richtig zu wehren, du Penner.“ Der Heerführer schnaufte, offenbar irritiert davon, dass sein Gegner plötzlich mitten im Kampf trotz der Ausweglosigkeit grinste. Und während er die Arme wieder nach vorne riss und einen weiteren, mächtigen Feuerzauber auf Karana zu schleudern, hechtete der Junge wieder zur Seite, stieß mit einem geschickt eingesetzten Windzauber die Feuerwand in eine andere Richtung und sprang daran vorbei, frontal auf seinen Kontrahenten zu. Mit einem Schwung seines Arms riss er dem älteren Mann eine unschöne, lange Wunde mit dem Schwert über die Brust. Der Krieger brüllte und schlug nach Karana, der wieder auf der Erde landete, das Schwert fallen ließ und stattdessen seinerseits die Hände gen Himmel riss. „Wie gesagt... die Geister dieses Landes werden euch nicht einfach so ziehen lassen!“, brüllte er, und das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Ein krachender Donnerschlag aus dem dunkel bezogenen Himmel über ihnen ließ seinen Gegner unmerklich zucken. Karana genoss den Donner... er gab ihm die Macht, nach der er gesucht hatte, er spürte das Vibrieren seines ganzen Körpers unter dem Grollen des zornigen Himmels, als er wie ein Irrer lachend den Kopf in den Nacken warf, berauscht von der Macht der Magie, der Macht der Geisterwinde, die in seinem Körper floss wie das Blut in seinen Adern. Sein eigener Geist verschmolz zu einer Einheit mit den mächtigen Söhnen des Vater Himmel, als sich zwischen seinen Händen der Wirbelwind aus purem Zauber bildete, der immer größer und gewaltiger wurde, dessen Dröhnen bald das Donnern übertönte.

„So ist es gut!“, brüllte Karana gegen den Wirbelsturm an, den er gerufen hatte und in seinen Händen hielt, „Das ist der Zorn des Vater Himmel, der Zorn der Windgeister! Sieh, Mann aus dem Osten! Sieh und fürchte dich... du hast dich wacker geschlagen!“ Mit diesen Worten schleuderte er die geballte Gewalt der Natur auf die Krieger des Ostens, allen voran auf den Anführer, der direkt vor ihm stand. Das Letzte, was Karana von dem Mann sah, war sein entgeisterter, starrer Blick, mit dem er ihn und den Wirbelsturm musterte, der auf ihn zu donnerte.

Der Anblick seiner Furcht versetzte Karana in eine ungeahnt heftige Euphorie, und er fing an, schallend zu lachen. Er konnte gar nicht aufhören zu lachen und riss bereits in seinem euphorischen Rausch die Arme wieder empor, als der Triumph ihn fast mehr betörte als die Gedanken daran, mit Saidah das Bett zu teilen. Er war Puran Lyras Sohn, er war ein wahrer Herr der Geister! Die Geisterwinde gehorchten seinem Willen, sie fürchteten ihn... selbst die führenden Krieger des grausamen Ostreiches fürchteten ihn. Er sah ohne wirklich hinzusehen die blinde Panik in ihren Augen, als der Wirbelsturm durch das Schlachtfeld bretterte und die Männer zermalmte, als wären sie trockenes Brot. Und nur ihre Krümel flogen mit dem wirbelnden, tosenden Wind auf und davon... oh ja, er war gut. Er war es würdig, wie sein Vater dem Rat der Geisterjäger beizutreten, der Versammlung der besten Schwarzmagier des Zentrums! Das Gefühl der Macht erregte ihn so wie der Gedanke, bald wie seine geliebte Saidah diesem Rat anzugehören... und nächstes Mal, wenn er sie nahm, würde er nicht der unerfahrene kleine Junge sein, der sich führen ließ, sondern er würde ihr seine Macht demonstrieren und sie würde unter ihm stöhnen, er sollte niemals aufhören...

Seine Träume platzten jäh mit einem grellen, blendenden Schmerz, der seine Schulter durchbohrte, und keuchend fuhr Karana herum und blinzelte verwirrt, als in seiner linken Schulter plötzlich ein Speer steckte. Als nächstes sah er den Heerführer aus Ela-Ri, der irgendwie seinen Windzauber umgangen haben musste. In seiner Hand lag der Schaft des Speeres, aber der Teil, den er hielt, war von dem in Karanas Schulter abgebrochen worden. Als drittes erst erkannte der junge Mann Iana, die dem Heerführer in derartiger Geschwindigkeit ihr Kurzschwert bis zum Anschlag in die Kehle bohrte, sodass der Mann gurgelnd Blut hustete und seinen halben Speer fallen ließ. Sobald die Frau das Kurzschwert aus seinem Hals riss und der Kerl blutüberströmt zu Boden stürzte, hörte Karana ihn krächzen; was er sagte, verstand er zwar durch seinen Geist, aber erschließen tat es sich ihm nicht.

„Die Schattenfrau... tötet die verdammte Schattenfrau, sie ist ein Geist.“

Karana keuchte und strauchelte, ehe er auf die schmerzenden Knie fiel und erst jetzt wirklich den grauenhaften Schmerz in seiner Schulter wahrnahm, der ihn lähmte. Iana kam zu ihm und fasste unsicher nach dem abgebrochenen Speer in seiner Schulter.

„Du Vollidiot!“, tadelte sie ihn wütend, „Warum, zum Geier, stehst du auf dem Feld und lachst, während du jedem Gegner deinen ganzen Körper auf dem Silbertablett servierst?! Der Kerl hätte dein Herz getroffen, wenn ich dir nicht schon wieder das Leben gerettet hätte, du absolut verblödeter Hornochse! Was bildest du dir eigentlich ein, dass du unsterblich seist oder so?!“ Karana keuchte und bemühte sich, die Schmerzen zu bekämpfen, die sich in seinem ganzen Körper ausbreiteten. Die Macht war verschwunden, ebenso die Euphorie; stattdessen machte sich in ihm plötzlich eine erschütternde Erkenntnis breit, die er bis dahin nicht gespürt hatte.

Er war, verdammt noch mal, wahnsinnig.

Die Gedanken waren beschämend und schmerzten mehr als die tiefe Wunde. Aber was war es sonst, wenn nicht Wahnsinn, der ihn immer wieder einnahm und ritt, wenn diese Momente kamen, von denen er schon vor Tagen zu Iana gesprochen hatte? Wahnsinn war eine Krankheit des Geistes... und gegen solche Krankheiten konnte man meistens nichts tun. Zumindest würden seine Mutter und seine Schwester als Heiler es nicht können... was sollte er tun? Er wollte das doch gar nicht... jetzt, wo Iana ihn gefragt hatte, wunderte er sich auch darüber, was eigentlich in ihn gefahren war... wie hatte er so von sich selbst überzeugt sein können? Wie hatte er glauben können, jemand, der sich nicht einmal selbst unter Kontrolle hatte, könnte Geisterjäger werden? Das war abstrus... wie hatte er glauben können, Saidah würde so zu ihm aufsehen? Das würde sie nie tun... die Erkenntnis schmerzte.

„Vergib mir...“, war alles, was er heiser keuchend heraus brachte, und er zitterte, was die Schmerzen der Wunde verschlimmerte. Iana packte ihn unsanft und riss ihn auf die Beine.

„Verschwinde hier, so kannst du sowieso nicht weitermachen!“, rief sie, „Es sind zu viele, wir werden alle krepieren, wenn wir nicht weglaufen oder Hilfe kommt!“ Karana stöhnte und tastete nach dem Speer in seiner Schulter; er wagte nicht, ihn selbst herauszuziehen, wenn es jemand machte, der keine Ahnung hatte, verschlimmerte er es vielleicht nur...

„Woher soll Hilfe kommen, hier mitten in der Pampa des Hochlandes?“ Er sah verzweifelt auf die immer noch übermächtige Armee des Ostreiches. Zum Glück stand er mit Iana abseits, sodass sie offenbar übersehen oder ignoriert wurden. Die Frau hob ihren Dolch, während sie Karanas Arm losließ und wieder vor ihn in Richtung des Schlachtfeldes trat, das der Wirbelwind ziemlich verwüstet hatte.

„Vielleicht helfen uns die Geister von Himmel und Erde... wenn sie nicht durch den Mund eines irren Schamanen sprechen, der gerade seine Ich-habe-den-Verstand-verloren-Hurra!-Momente hat.“ Karana war durch ihre Worte beschämt und errötete, versuchte aber verbissen, es sich nicht anmerken zu lassen. Aber sie hatte ja recht... ein Widerspruch wäre eine Lüge gewesen.

Und ihre Worte bewahrheiteten sich einen Augenblick später, als hätten die Geister nur darauf gewartet, dass Iana ihre Hoffnung auf Hilfe aussprach. Mit einem Mal regnete es brennende Steine vom Himmel; aber sie kamen aus dem Osten, vom Felsgrat hinter ihnen, und sie stürzten in die Menge der angreifenden Ela-Ri-Männer, worauf das gesamte Szenario für einen Moment einfror. Iana keuchte und fuhr synchron mit Karana herum nach Osten, um zu sehen, was hier passierte; dann japste der Schamane und zeigte auf den Grat.

„D-die Geister haben auf dich gehört, Frau! Du... bist mächtiger als jeder Schamane, den ich je gekannt habe, nicht einmal auf meinen Vater haben sie so schnell reagiert!“ Ungläubig starrte er hinauf auf die Gestalten, die auf dem Grat und dem nördlich davon liegenden Steilpass zu erkennen waren. Es waren eindeutig Menschen; und auf den Bannern, die im Wind wehten, prangte das Emblem des kleinen Königreiches Intario.
 

„Was für ein Chaos!“, versetzte der König von Intario, „Du hattest recht, sie sind tatsächlich schon hier!“ Dann blickte er zur Seite und die junge Frau ließ sich keine Gefühlsregung anmerken.

„Natürlich sind sie hier. Das habe ich Euch gesagt, Majestät. Deswegen solltet Ihr ja einen Fußtrupp quer feldein über die Berge bringen, während die Hauptarmee zu Pferd weiter nach Vialla zieht. Hier sind wir schneller, und zu spät sind wir dennoch. Habt Ihr an meinen Worten gezweifelt, Herr?“

„Nein...“, sagte der Monarch dumpf und starrte hinab auf das Schlachtfeld zu den Füßen des Gebirges. „Ich habe es nur... nun ja... für unüblich gehalten.“

„Ist es nicht auch unüblich, dass eine Frau neben Euch in den Krieg reitet?“ Er sagte nichts und sie war sicher, dass er nicht nur ihr Geschlecht unüblich fand, sondern vermutlich viel mehr ihre Abstammung, ihre Haarfarbe oder ihre Augen. Daraus hatte der Herrscher des kleinen Landes im Nordosten des Zentrums kein Geheimnis gemacht an dem Tag, an dem sie vor ihn getreten war in seinem Palast, an dem Tag, an dem sie gesagt hatte, er müsste nach Kisara reisen und seine Streitmacht mitnehmen. Sie hatte es in der Reikyu gesehen... als Zuyyanerin hatte man es schwer, die Menschen zu beeindrucken. Sie glaubten einem nur, wenn man sie Furcht lehrte... die junge Frau verübelte ihnen ihre Furcht vor den Zuyyanern nicht. Sie hatten sie vermutlich verdient für die Torheit, anzunehmen, sie könnten Tharr erobern. Grundsätzlich waren die Menschen des Imperiums der Meinung, sie könnten alles erobern und alles zu einem Teil des Imperiums machen, am besten ganz Khad-Arza. Genau genommen dachte das der Imperator; und er zwang sein Volk, genauso zu denken.

Jetzt war der Imperator weit weg. Sie waren hier... und sie konnte sie sehen, unten auf dem verwüsteten Grasland. Die anderen, nach denen sie gesucht hatte.

„Tod und Schatten, Majestät.“, sagte sie mit einem kalten Lächeln, ohne den König eines Blickes zu würdigen, und der Mann hob sein Schwert. Er war noch ein junger Kerl und hatte keine Erfahrung mit Krieg... sie verübelte ihm nicht, ihn erst darauf hinweisen zu müssen, dass er sich mal bewegen sollte, um den Verbündeten aus Kisara zur Hilfe zu kommen.

„Katapulte!“, rief er energisch, „Schnappt sie euch, Männer, und lasst keinen der Barbaren aus dem Osten am Leben! Tod und Schatten!“ Die Krieger erwiderten seinen Schlachtruf mit tosendem Gebrüll, und die junge Frau lächelte noch immer, als sie wortlos mit einer Hand ihre eigene Waffe in ihrer Handfläche erscheinen ließ. Die bläulich schimmernde Seelenkugel machte nicht den Eindruck, als wäre sie mächtig; dabei war sie in Wahrheit die mächtigste und gefährlichste Waffe, die ein Zuyyaner besaß.

„Ich bin hinter Euch, Herr. Und noch bevor die Sonne untergeht, werden ihre Köpfe rollen.“
 

Es ging schnell. Iana war fassungslos über das, was sie sah, als den Steilpass herab die ganze Armee Männer kam, die Waffen erhoben, und ihnen gegen die Ostländler zur Hilfe eilte. Auf dem Grat waren einige Krieger zurückgeblieben, sie schossen brennende Steine und andere Wurfgeschosse mit mächtigen Artilleriegeschützen auf das Schlachtfeld, waren dabei aber offenbar treffsicher genug, um nur die Gegner zu erwischen. Wie die ominöse Flutwelle zuvor strömten die Menschen aus den Bergen über das Feld; mit ihnen gemeinsam waren die übrigen Krieger aus Anthurien jetzt in der Überzahl. Sie zeigten keine Gnade und keiner der in Felle gehüllten, brutalen Riesen aus Ela-Ri überlebte die Schlacht, die plötzlich so schnell vorbei war, dass Iana keine Zeit mehr hatte, von Karanas Seite zu weichen. Und als es vorüber war, herrschte eine trostlose Stille über dem zerfetzten Hochland.

Neisa kam zusammen mit dem rosahaarigen Mädchen, der zitternden Lianerin, Yarek und Ryanne zu ihnen. Sie umarmte von hinten Karanas Hals und drückte sich seufzend gegen seinen Rücken, wobei er schmerzhaft zischte.

„Es ist vorüber, dem Himmel sei Dank.“, wisperte sie, und ihr Bruder befreite sich sanft aus ihrer Umarmung.

„Lass das!“, entrüstete er sich, „Verdammt, ich habe einen halben Speer in der Schulter, du bringst mich um, Neisa!“

„Was hast du denn angestellt?“, schnaubte Yarek und musterte ihn, „Nächstes Mal passt wohl besser du auf die Frauen auf statt mir.“

„Halt die Klappe, Mann... halt bitte einfach die Klappe, es ist erniedrigend genug.“ Iana tätschelte ihm seufzend den Kopf.

„Das hast du auch verdient, du Vollidiot.“ Aber sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er wie ein schmollendes Kind die Unterlippe vorschob.

„Karana!“ Sie alle sahen auf, als Simu zusammen mit Tayson und gefolgt von dem kleinen Typen mit der Monsterwaffe auch zu ihnen stieß. Karanas schwarzhaariger Freund ließ sein Schwert fallen und eilte zu Neisa herüber, um sie ziemlich leidenschaftlich in die Arme zu schließen. Iana war froh, dass Karana offenbar zu sehr mit seinen Schmerzen und seiner Erniedrigung beschäftigt war, um das großartig zu bemerken, denn die unreife Diskussion darüber, an wessen Hals Neisa sich nun hängte, konnte sie sich gerade sparen. Die anderen schienen das auch nicht weiter zu beachten, denn jetzt kehrten auch der Rest der Männer aus Anthurien und die Neuankömmlinge zu ihnen zurück. Die Soldaten aus Kisara waren stark reduziert worden, die Neuen hatten den Rest des Kampfes dank ihres Überraschungseffektes vermutlich unbeschadet überstanden. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte die Schwarzhaarige eine junge Frau, die an der Seite des Heerführers der Neuankömmlinge ging; unverkennbar eine Zuyyanerin, denn Iana war sich sicher, dass es, auch wenn es offenbar möglich war, Haare rosa zu färben, immer noch unmöglich war, sie grün zu machen. Und diese Frau hatte eindeutig grasgrüne Haare. Und ihre Augen waren von einem tiefen Rot; solche Augen konnten wirklich nur Zuyyaner haben.

„Ihr seid aus Intario gekommen...“, hörte Iana dann ihren Liebhaber sagen und sah zu ihm herüber, während er nervös an der Wunde in seiner Schulter kratzte und offenbar mit sich rang, um nicht einfach den Speer heraus zu reißen. Auch wenn sie fand, er hätte die kleine Demütigung jetzt mal verdient, tat er ihr langsam beinahe leid. Es musste wirklich fürchterlich wehtun. „Himmel, wärt Ihr nicht gekommen, Herr, wären wir wohl zu Grunde gegangen.“

„Keine Sorge, deswegen sind wir ja da.“, erklärte der Mann aus Intario und schien erleichtert, „Der König von Kisara schickte einen Hilferuf nach Rilas, in unsere Hauptstadt, und bat uns um Unterstützung im Kampf gegen die Barbaren.“

„Und das ist Eure Armee?“, fragte Yarek trocken und steckte sich gleich wieder eine Zigarette an, worauf Karana schnaubte; was er bereute, er verzog darauf schmerzhaft das Gesicht.

„Du Penner, du sprichst mit dem König! Etwas Respekt bitte!“

„Vergebt mir, Eure Hoheit.“, sagte Yarek unbeirrt, „Ich meine nur, ist das alles?“

„Nein, nein, wir haben noch viel mehr, die anderen gehen aber um die Berge herum und sind zu Pferd.“ Der König, der in Ianas Augen überhaupt nicht königlich wirkte, wies mit der Hand auf die Zuyyanerin neben sich. „Eigentlich habt ihr es ihr zu verdanken. Es war ihre Idee, die Streitmacht aufzuteilen. Insgesamt besitzt die Armee von Intario eine Kraft von dreitausend Speeren. Wir sind nur ein kleines Land, das ist dann leider alles. Aber es sind tapfere Männer und sie werden für das Zentralreich kämpfen.“ Iana amüsierte es, dass der König sich allen Ernstes vor Yarek rechtfertigte; er als König müsste sich doch eigentlich vor niemandem rechtfertigen müssen... sie kam nicht dazu, weiter zu denken, denn die Aufmerksamkeit lag jetzt auf der Zuyyanerin.

„Das klingt mir schon mehr nach einer Armee.“, sagte Yarek und klang wie ein Kritiker, „Aber viel wichtiger für mich persönlich ist ja tatsächlich Eure Begleiterin... unsere siebte Mitstreiterin, wie ich annahm und wie die redefreudige Seherin mir bestätigt hat.“ Die Schwarzhaarige weitete verblüfft die Augen, während auch die anderen jetzt alle die Begleiterin des Königs ansahen.

„Das ist richtig.“, behauptete diese dann; und sie wies sich gleich noch mal als Zuyyanerin aus, weil sie nicht die Spur einer Emotion auf ihrem Gesicht erkennbar werden ließ, während ihre roten Augen sich erst auf Yarek und dann auf Karana hefteten. „Mein Name ist Thira Jamali von Okothahp, Erbin und letzte Verbliebene des Nordclans. Ich bin gekommen, um mich den sechs anderen anzuschließen... damit sind die Sieben vereint, wie die Legende es prophezeit hat.“ Iana runzelte die Stirn; die hatte aber einen langen Namen mit vielen Zusätzen. Sie musste einen wahnsinnig hohen Stand haben in ihrem Volk... das führte sie zum ersten Mal zu der Frage, was so eine Person dann auf Tharr verloren hatte. Aber wenn die Frau sich ihnen anschloss, hätten sie vielleicht noch genug Gelegenheit, das herauszufinden.

„Die Legende?“ Der König von Intario kratzte sich reichlich unköniglich am Kopf und wirkte konfus, „Was für eine Legende?“

„Wenn Ihr es wünscht, Majestät, erzähle ich es Euch, wenn wir in Vialla sind...“, grinste Ryanne und schenkte dem armen Kerl sowohl einen eindeutigen Blick als auch einen tiefen Einblick in ihr Dekolletee, wenn man das noch so nennen konnte, und Iana verkniff sich ein Lachen, als der Herrscher von Intario errötete und nicht wirklich abgeneigt schien, ihrer doch sehr offensiven Einladung zu folgen. Yarek war es, der die vorlaute Seherin zurück zog.

„Lass das, Ryanne, das ist ja absolut erbärmlich. Elende Nymphomanin. Vielleicht wäre es in der Tat ganz gut, die ganze Legende mal vor allen, die es scheren könnte, vorzutragen, ohne dass du dabei irgendwelche erotischen Tanzeinlagen hinzuziehst.“ Simu lachte leise auf diese Worte.

„Ja, das wäre wirklich eine Erleichterung. Aber vielleicht sollte Neisa, wenn sie damit fertig ist, Tayson zu Tode zu umarmen, endlich mal diesen albernen Speer aus Karanas Fleisch ziehen.“ Das gesagt wendete der Blonde sich an Thira Jamali und neigte vor ihr höflich den Kopf. „Wie gut, dass du selbst zu uns gefunden hast... ich glaube, das erleichtert vieles. Mein Name ist Simu, freut mich.“ Iana beobachtete, wie die Grünhaarige den jungen Mann eine lange Weile stillschweigend musterte, als müsste sie scharf darüber nachdenken, was sie sagen sollte. Als sie sprach, klang sie jedoch nicht so, als hätte sie je vorgehabt, etwas anderes zu sagen.

„Ich nenne es ein glückliches Schicksal, dass wir uns auf diese Weise hier begegnen... Simu. Die Mächte der Schöpfung schicken uns auf seltsame Wege.“ So sprach sie, neigte ebenfalls sehr höflich den Kopf und wandte sich dann an den Monarchen neben sich, der noch immer ziemlich interessiert Ryanne ansah. „Majestät? Wir sollten aufbrechen nach Vialla, mit Eurer Erlaubnis.“

Iana beachtete nicht weiter, wie der König, der Heerführer aus Anthurien und die anderen sich unterhielten, wie sie am besten schnell nach Vialla kämen. Ihre Augen ruhten auf Simu, der die Zuyyanerin verblüfft anstarrte und ihre Worte offenbar irritierend fand. Sie konnte sich auch selbst nicht erklären, was es war, aber sie war auch der Meinung, dass die Worte mehr bedeutet haben mussten, als man ihnen angehört hatte.

„Was ist?“, fragte sie Karanas Bruder so leise, und der drehte den Kopf zu ihr, während das grünhaarige Mädchen sie beide nicht mehr beachtete und mit dem König sprach.

„Nichts...“, murmelte der Blonde auf Ianas Frage dumpf, „Es... ich dachte nur kurz... ach, vergiss es. Vergib mir, es ist nichts.“ So sprach er, zeigte ihr ein entschuldigendes Lächeln und kehrte ihr dann den Rücken.
 


 

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Ein verpeilter König mehr XD Im Endeffekt ist es gar nicht so irrelevant, dass er verpeielt ist XD Und, Thira :D Die... nicht viel zu tun hat in Buch eins XD

Die Federn des Kondors

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Zeit des Königs

Der Tag war gekommen. Simu spürte es instinktiv von dem Moment an, in dem er die Augen aufschlug, und das Gefühl verfolgte ihn, während er aufstand, sich kurz wusch, anzog und dann das Zimmer verließ, das der König ihm zur Verfügung gestellt hatte. Dass sie im Palast Zimmer bekommen hatten war eine außergewöhnliche Ehre; vermutlich verdankten sie es entweder dem Umstand, zu den Sieben zu gehören, oder dem, dass Puran Lyra noch immer des Königs allerliebster Liebling war, wie es im Volksmund hieß; was allerlei unschöne und anzügliche Gerüchte mit sich gebracht hatte, die Simu immer gegenüber jedem, der ihn danach gefragt hatte, empört verneint hatte. Der König von Kisara faszinierte sich eben für alles, was mit Magiern zu tun hatte, im Gegensatz zu seinem Vater und Vorgänger, wie der blonde Mann aus dem Geschichtsunterricht wusste, und Puran war eben damals, als er als gerade eben erwachsener Mann mit seinen Eltern und den anderen Geisterjägern an den Hof gekommen war, um das Land gegen die Zuyyaner zu verteidigen, der erste Schamane gewesen, mit dem der König wirklich Kontakt gehabt hatte. Simu war felsenfest überzeugt, dass das alles war, was den König und seinen Vater verband, obwohl er sich eingestehen musste, dass der kleine Herrscher wirklich ziemlich fasziniert von seinem viel jüngeren und größeren treuesten Gefolgsmann zu sein schien. Aber es war nicht von Belang, was Simu darüber dachte; was sich irgendwer im ganzen Reich anmaßte, darüber zu denken.

Er wunderte sich ein weiteres Mal über seine angeborenen, ausgeprägten Instinkte für Dinge, die geschahen, als er im Morgengrauen durch die Korridore des Palastes eilte. Es war schon viel los, das Rüsten und Schützen der Mauer hatte die ganze Nacht angedauert. Warum hatte er solche Instinkte als normaler Mensch? Sein Vater hatte sich auch schon als Simu ein Kind war immer darüber gewundert, dass der blonde Adoptivsohn dem leiblichen Sohn Karana, der ein richtiger Magier war, in Sachen Instinkte für Gefahren in nichts nachzustehen schien. Karana hatte das heimlich sehr gewurmt, wie Simu wusste, denn wenn der kleine Prinz Lyra etwas gehasst hatte, dann war es Konkurrenz um seine Stellung gewesen. Simu hatte nie angenommen, ernsthaft eine Konkurrenz zu sein, er hatte es auch nie sein wollen. Um seinen Bruder nicht unnötig zu erzürnen, hatte er seine Instinkte oft vertuscht oder so getan, als wüsste er nichts, damit Karana sich besser vorkam; auf Dauer war es sehr viel einfacher und gesünder, ihm zu geben, was er verlangte, solange man es mit der eigenen Moral vereinbaren konnte. Und Simu hatte kein Problem damit gehabt, so zu tun, als wäre Karana der einzige von ihnen, der genau wusste, was passieren würde. Jetzt konnte er es aber nicht unterdrücken, dazu waren die Dinge zu wichtig und schwerwiegend geworden. Der Krieg war gekommen... und die Existenz der Sieben sollte vielleicht darüber entscheiden, wer ihn überlebte und wer nicht.

Schaudernd erreichte der junge Mann einen der kleinen Hinterhöfe des Palastes, der nach Osten zeigte; er fragte sich, ob seine ominösen Instinkte ihn hergeführt hatten, denn er konnte sich nicht erinnern, den Weg hierher eingeschlagen zu haben. Als er hinaus trat in die eisige Luft, wurde der graugrüne Himmel in Brand gesetzt von der aufgehenden Wintersonne, die sich über den Rand der Welt schob. Gegen das gefährliche Licht blinzelnd erkannte Simu eine einzelne Person auf dem Hof stehen und nach Osten starren; erst beim zweiten Hinsehen merkte er, dass es Thira Jamali war, das grünhaarige Zuyyanermädchen, das aus Intario gekommen war. Sie hatte bisher kaum mit jemandem ein Wort gesprochen und war meistens allein; dass er sie jetzt hier antraf, passte ihm aber ganz gut. Es gab da noch Dinge, die er sie fragen wollte, solange er noch dazu kam.

„Thira?“

Sie schien nicht überrascht, dass er kam, denn sie rührte sich nicht, als er neben sie trat, und schenkte ihm erst dann einen kurzen Blick, als er sie von der Seite anblickte. Ihre roten Augen leuchteten bedrohlich mit dem Sonnenlicht, das auf sie fiel.

„Du spürst es.“, sagte sie monoton und er wunderte sich auch nicht darüber, dass sie das wusste; sie war Zuyyanerin. Zuyyaner wussten immerzu unmögliche Dinge. Etwa wie Sagal, fiel ihm ein, der wäre als Zuyyaner sicher sehr tauglich geworden, wo er doch selbst als Tharraner schon immer viel mehr wusste als gesund für ihn war. „Du spürst... dass der Tag des Blutes gekommen ist. Wenn die Sonne aufgeht... kommen die Trommeln. Das hier ist vielleicht die letzte Gelegenheit, die wir haben, um in Ruhe zu sprechen.“ Er nickte.

„Warum stehst du hier?“, fragte er sie. Sie zeigte ein seltsames Lächeln.

„Ich sehe in die aufgehende Sonne und beziehe die Kraft der Kälte aus dem Morgennebel. Meine Familie... war ein Clan von Eismagiern, Eis ist mein Element. Ich bete... zu Katari, dass er die beschützen soll, die wichtig sind.“ Simu lachte bitter.

„Wenn er schon dabei ist, soll er bitte auch die 'Unwichtigen' beschützen, wir wollen mal keine Auslese betreiben hier. Tayson zum Beispiel, er ist keiner der Sieben, aber er ist ein tapferer Kerl, hinter seiner Dummheit hat er ein gutes Herz. Ich würde es bedauern, wenn ihm etwas zustieße...“ Als erwachsener Mann konnte Tayson sich natürlich nicht davor drücken, der Armee beizustehen; was er auch nicht vorgehabt hatte. Wenn er doch mit tapferen Heldentaten Neisa beeindrucken konnte... Simu empfand es nicht als heldenhaft, eine Schlacht zu schlagen. Aber er wollte ja auch niemanden beeindrucken...

Er seufzte und kam dann zu dem Punkt, der ihm seit Nächten durch den Kopf spukte, seit er Thira zum ersten Mal angesprochen hatte. Vielleicht würden sie sterben... und dann nie wieder dazu kommen, das zu besprechen.

„Du hast gesagt, es wäre glückliches Schicksal, dass wir uns auf diese Weise begegnen. Damals... hast du nur dich und mich gemeint, nicht die anderen. Warum hast du speziell... von mir gewusst?“

„Weil ich es... in der Reikyu gesehen habe.“, antwortete sie und hob ihre Hand, in der die schimmernde Kugel aus dem Nichts auftauchte und über ihrer Hand schwebte. Sie wich ihm aus... Simu brummte.

„Du weißt... etwas über mich, das ich nicht weiß. Du bist Zuyyanerin; du weißt, dass... ich oder meine Eltern vermutlich von Zuyyanern verfolgt wurden, ehe ich zu Lyras kam. Was ist es, das du weißt, Thira? Ich bitte dich, sag es mir. Und wenn es der einzige Gefallen ist, den du mir je erweisen wirst, so wäre ich dir schon sehr dankbar.“

„Du bist ein guter Redner.“, sagte sie, „Du bist eben der Sohn eines Politikers. Oder Ziehsohn, verzeih mir.“

„Das ist nicht die Antwort auf meine Frage, Thira. Warum weichst du aus und sagst nicht einfach, was du weißt?“

„Weil es nicht meine Aufgabe ist, dir das zu sagen. Chenoa weiß es. Chenoa wird es dir sagen, wenn sie zurück ist; wenn die Zeit dazu bleibt. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht viel... alles, was ich dir mit Sicherheit sagen kann ist, dass deine Eltern schon lange nicht mehr leben.“ Er seufzte. Das hatte er schon mit größter Sicherheit geahnt, eigentlich war es nichts neues.

„War der Mann, der mich zu Lyras gebracht hat, als ich ein Baby war, mein Vater? Meine Mutter hat gesagt, er wäre sehr hektisch gewesen, aber sie hat auch gesagt, ich sähe ihm ähnlich.“

„Dann wird er es wohl gewesen sein.“, sagte die Zuyyanerin, ohne wirklich eine Antwort zu geben, „In dem Jahr, in dem du hierher kamst, konnte ich gerade mal laufen, ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich kann dir nur raten, bleib am Leben und frag Chenoa. Sie ist die Weise Frau... sie wird es wissen.“ Simu kam nicht dazu, sich über ihre Diskretion zu ärgern, denn er hörte Schritte hinter sich, und als er sich umdrehte, tauchten die übrigen Kameraden bei ihnen auf, allen voran Yarek.

„Da seid ihr ja.“, sagte der Söldner dunkel, „Wunderbar. Wie ich mir habe sagen lassen, geht es los; ich verlange, dass ihr am Leben bleibt.“

„Scherzkeks.“, stöhnte Iana, die sich die schwarzen Haare zusammenband, und Karana brummte.

„Wo steckt eigentlich Zoras?! Den habe ich seit Wochen nicht gesehen! Eigentlich nicht, seit Saidah und Chenoa verschwunden sind...“ Simu blinzelte; jetzt, wo er es erwähnte, der Kampfzwerg war tatsächlich wie vom Erdboden verschluckt gewesen... Ryanne hatte darauf eine Antwort.

„Er ist in den Schatten gegangen... das ist sein Schicksal. Er ist... letzten Endes der Seelenfänger.“ Simu runzelte die Stirn und Karana starrte die Seherin verblüfft an. Sie hatte sich über ihre wenige Kleidung einen Poncho geworfen, sodass sie ausnahmsweise mal angezogen wirkte; sie als Telepathin würde zusammen mit Sagal und anderen ihrer Art eine Schutzbarriere um die Stadt errichten, sodass sie nicht selbst am Kampf beteiligt sein würde, deswegen brauchte sie sich nicht wirklich zu rüsten; wenn jemand die Barriere brechen sollte, könnte sie sich weg teleportieren.

„Er ist weggegangen?!“, fauchte Karana, „Ich denke, er ist einer von uns! Wieso lässt er uns dann im Stich, wenn es wichtig wird?! Dieser Halunke, ich drehe ihm den Hals um!“

„Halt die Backen, Karana!“, stöhnte Yarek, „Ich glaube, es ist schon richtig so, dass er weg ist... Ryanne hat gesagt, er kommt zurück. Warte ab.“ Er ließ Karana meckern und zeigte auf Neisa. „Du bist Heilerin; du tust dich mit den anderen Heilern hier zusammen und ihr teilt euch auf, um euch um Verletzte zu kümmern, dazu seid ihr ja da. Und egal, was mit Tayson passiert, du hast auf dem Schlachtfeld nichts verloren, klar, Neisa?“ Die kleine Heilerin senkte erbleichend den Kopf. Simu musterte sie besorgt, um festzustellen, dass sie ungesund und mager aussah; ob das an der Sorge lag? „Das Mädchen mit den rosa Haaren habe ich schon weggeschickt, die Bewohner der Stadt bringen sich in den Katakomben in Sicherheit, sie soll mit ihnen gehen. Tayson besteht darauf, mit in den Kampf zu ziehen, bitte sehr. Alle anderen tun, was sie tun müssen; Thira, Simu, Karana, Iana und Eneela. Und ich natürlich.“

„Jawohl, General.“, schnaufte Karana verächtlich und Simu sah auf Eneela, die apathisch in die Sonne starrte und am ganzen Leibe zitterte.

„Eneela zieht ins Schlachtfeld?“, wagte er, Yarek zu fragen, „Ist das dein Ernst?“

„Sie beschwört Lians. Das ist nützlich genug. Hast du vergessen, dass sie letztes Mal auf dem Hochland Yolei beschworen hat, die Lian des Wassers?“ Simu zog eine Braue hoch; er erinnerte sich an eine plötzliche Flutwelle... war das eine Lian gewesen?

„Aber das macht sie nicht zur Kriegerin.“, behauptete er ernst, „Ich glaube nicht, dass sie eine Hilfe sein wird. Oder sorge wenigstens dafür, dass sie hinten zur Verteidigung der Mauer bleibt. Für den Fall, dass jemand durch die Reihen kommt, meine ich.“

„Keine Sorge...“, wisperte die Lianerin da und alle sahen sie ungläubig an, als sie ein bizarres, totes Lächeln zeigte. Ihr Gesicht wirkte plötzlich noch bleicher als sonst; Simu sorgte sich ernsthaft um sie. Verdammt, sie konnten dieses Mädchen doch nicht in die Schlacht schicken... „Ich habe keine Angst.“, erklärte Eneela da, „Ich werde... nicht länger in einem Käfig leben und nichts tun können. Ich will etwas tun... und ich will... dass Scharan auf der Ghia hinauf zum Mond Tharr schaut und sieht... dass ich nicht verreckt bin. Ich will, dass er mich sieht und weiß... dass er Angst haben muss... wie ich Angst vor ihm gehabt habe!“ Mit Unglauben beobachtete der Blonde die Nuance in ihrem Blick, die plötzlich auftauchte; eine Nuance der Abscheu und des Widerwillens mit einer gleichzeitigen Entschlossenheit, wie er sie noch nie bei Eneela gesehen hatte. „Ich fürchte... mich nicht!“, wiederholte sie fest und ballte dabei die Fäuste. Simu widersprach ihr nicht... es war ihre Entscheidung. Aber so ganz traute er ihrem plötzlichen Selbstbewusstsein nicht über den Weg... er würde wohl ein Auge auf sie haben müssen, wenn sie kämpften.

Das Geräusch, das ihr Gespräch unterbrach, hatten sie alle schon einmal gehört; es war das Geräusch des Todes. In der Ferne erklang das Trommeln der Armada. Als die Kameraden die Luft anhielten und ganz still waren, spürten sie das Vibrieren der Erde unter dem Stampfen der Krieger, die jetzt marschierten. Im selben Moment hörten sie in der Stadt den schallenden Gong, der den Alarm auslöste und die vereinten Armeen von Kisara, Intario und auch Senjo, dessen Streitmacht einige Tage zuvor eingetroffen war, zur Bereitschaft aufrief. Das Geräusch fuhr ihnen durch Mark und Bein und Simu schloss bebend die Augen, während er sich plötzlich wünschte, wie die Schamanen mit den Geistern sprechen zu können.

Auch, wenn ich kein Schamane bin... wenn ihr meine Worte hört, Geister von Himmel und Erde... beschützt dieses Land, das ihr selbst geschaffen habt... lasst nicht zu, dass die Barbaren es zerstören.

„Auf denn.“, sagte Yarek und steckte sich in aller Ruhe eine Zigarette an, ehe er in die Runde seiner Schützlinge, Tayson und Ryanne blickte, „Tod und Schatten, Freunde. Und wehe, ihr krepiert. Chenoa würde mir die Haut abziehen...“
 

Senator Lyra sah den König des Ostreiches zum ersten Mal, als er umgeben von einer schwer bewaffneten Leibgarde mit seinem Streitwagen vorrückte, um ein paar Worte mit dem Herrscher von Kisara zu wechseln. Der Mann war vermutlich der größte auf der Welt lebende Mann; auf seinem Streitwagen war er so hoch wie eine Hütte, hatte der Herr der Geister das Gefühl, und er sah den König, der neben ihm auf seinem Ross saß, verblüfft die Augen weiten beim Anblick dieses gewaltig großen, verzierten Mannes. Er war geschmückt mit goldenen Ketten, Ohr- und Nasenringen sowie mit einem pompösen Kopfschmuck aus Knochen und Federn. Um seine Schultern lag ein Bärenfell, dessen zottiges, schwarzes Haar im eisigen Wind wehte, als der Kerl umgeben von seiner Garde, die kaum weniger furchteinflößend wirkte als er selbst, vortrat zur vordersten Front seiner Widersacher aus dem Zentrum. Er trug einen goldenen Brustpanzer, der abermals mit lauter überflüssigem Kram geschmückt war, sein Unterkörper wurde von der Vorderseite des Streitwagens und den Wachen davor verdeckt, aber vermutlich trug er auch dort lauter Klimbim. Puran Lyra unterdrückte ein Schnauben; er konnte sich einreden, dass all die glorreiche Aufmachung etwas überzogen und albern war, aber der Kerl war dennoch garantiert nicht als Gegner zu unterschätzen. Nicht, weil er so gigantisch groß war – es war sein Geist, der so eine furchteinflößende Aura verströmte. Der Herr der Geister sah dem König von Ela-Ri nur einen Moment in das mit Asche bemalte oder vielleicht sogar tätowierte Gesicht, in seine schwarzen Augen, die absolut seelenlos auf den Gegnern ruhten, und schon ein kurzer Moment, ein kurzer Blick in seinen Geist reichte, um den Mann unwillkürlich schaudern zu lassen.

Die Seherin hatte nicht gelogen. Das da war ein Mann von monströser Zauberkraft... seine Macht war so groß, dass er das Gefühl hatte, sie sehen oder sogar riechen zu können. Unruhig ballte er seine Hände zu Fäusten und verfluchte sich selbst, als er spürte, wie seine linke Hand unkontrolliert zu zittern begann. Verdammt noch mal, mussten diese Zuckungen gerade jetzt auftauchen... er schnappte nach Luft und versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen, während er auf sich die Blicke seiner vier Kollegen spürte, die neben ihm in der vordersten Reihe standen.

„Er beherrscht einen furchtbaren Zauber...“, murmelte Saja Shai irgendwo und der Herr der Geister versuchte irgendwie, alles aus seinem Geist auszublenden bis auf das, was vor ihm lag, worauf er sich konzentrieren sollte. „Ich kann nicht sagen, was es ist, aber es wirkt furchteinflößend...“

„Windmagier.“, hörte Puran dann Henac Emo dazu sagen, „Er ist Windmagier, genau wie unser Häuptling Zitterhand. - Hey, Puran, deine Hand gehorcht dir ja mal wieder im passendsten Moment nicht. Ich gebe dir die Schuld, wenn der Arschsack da mich umlegt...“

„Halt den Mund.“, sagte Tare Kohdar, „Ich lache dich aus, wenn der Typ dich umlegt, Emo. Zeig etwas Rückgrat.“ Puran Lyra schnappte nur bebend nach Luft und versuchte mit aller Macht, die er entbehren konnte, seine zitternde linke Hand zu bändigen; in dem Moment hob der grimmige König von Ela-Ri eine Hand und gab wortlos den Befehl zum Anhalten. Der Streitwagen und die Wächter hielten an und standen jetzt in Hörweite der Verteidiger. Der König von Kisara auf seinem Pferd rührte sich nicht vom Fleck, als wäre er versteinert.

„Mal sehen, was er zu sagen hat.“, amüsierte Henac Emo sich, „Vielleicht dasselbe wie die Zuyyaner damals. Vielleicht wollen sie, dass Kisara ihre Kolonie wird, haha. Das hat schon letztes Mal nicht gezogen, wobei glaube ich niemand von uns so imposant Nein sagen wird wie es Tabari seinerzeit getan hat...“ Tabari. Puran schloss keuchend die Augen, als der Name seines verstorbenen Vaters fiel, und er bat ihn im Inneren, ihm seinen Mut und seine Macht zu leihen... und wenn es nur für diesen Tag war. Er war froh, dass er Saidah weggeschickt hatte... und daran, dass seine Söhne irgendwo in den Reihen hinter ihm standen und ihnen dieselbe Gefahr drohte wie ihm, wollte er gar nicht erst denken.

Mein Vater, Herr der Geister und Großmeister des Windes... ich bitte dich mit allem, was ich habe... wache mit deinem Schwert über meine Kinder und meine Frau, wo immer sie jetzt sein mag. Sag ihnen... dass ich nur lebe, um sie beschützen zu können... denn alles andere ist Schall und Rauch.

Er kam nicht dazu, weiter zu denken oder sich auf den Wind zu konzentrieren, der ihnen mit unnatürlicher Kälte und Schärfe in die Gesichter blies. Das fahle Licht der Sonne, die aufgegangen war und nach Süden zog, wärmte nicht wirklich; es war ein kaltes, tödliches Licht, das nicht von Hoffnung, sondern von Verderben sprach.

„Der König wird Euer Schicksal besiegeln...“

Hinter dem Streitwagen trat ein weniger pompös angezogener Mann hervor; als der König von Ela-Ri in seiner schnarrenden, kehligen Sprache zu reden begann, dolmetschte der Mann, der vorgetreten war.

„Seine Gnaden, der Herrscher des Ostreiches, des Reiches der Blutsonne und der Führer der größten, je auf Tharr gewesenen Streitmacht, sagt, der König von Kisara ist tapfer, dass er es wagt, sich zu stellen. Er sagt, er bewundert diese Tapferkeit und die der Männer, die ihm folgen. Aber euer Heer ist klein und die Menschen sind schwach; schwächer als die, die mit ihm aus dem Osten gekommen sind. Er sagt, der König von Kisara kann seine Waffen niederlegen. Wenn er sich ergibt und vor dem allmächtigen Herrn des Ostreiches niederkniet, wenn er seine Herrschaft über Kisara anerkennt, wird er verschont werden, ebenso alle Männer, Frauen und Kinder dieses Landes. Er wird Verwalter und Heerführer des Landes Kisara sein können, aber dienen wird er dem einzig wahren, dem Allmächtigen, der die Geister von Himmel und Erde an seine Füße zwingen kann.“ Da verstummte der Dolmetscher und der König von Kisara schnappte brummend nach Luft.

„Sag deinem Herrn, dass wir solche Worte schon einmal so ähnlich hörten vor Jahren! Damals waren es die Zuyyaner, die das sagten! Und sag deinem Herrn, dass wir weder eine zuyyanische Kolonie, noch eine Provinz von Ela-Ri werden! Wir sind ein vereintes Reich vieler, freier Länder! Die Männer, die ihr seht, kämpfen nicht für mich, sondern für ihr Heimatland und für die Freiheit! Und wenn es sein muss, tun wir das bis zum bitteren Ende, denn solange auch nur ein Sohn des Reiches hier steht und es verteidigt, hat dieses Reich ein Recht auf Freiheit.“ Die obersten Generäle und Führer, die ihn gehört hatten, brüllten zustimmend und stampften mit den Speeren und Lanzen auf, die sie trugen. Der Dolmetscher schien nicht geneigt, die Worte zu übersetzen, er fuhr stattdessen fort.

„Seine Gnaden sagt auch, dass wenn ihr das Angebot ablehnt, ihr alle einen grausamen Tod sterben werdet, dass es keine Gnade geben wird und der Schatten über euer 'freies Land' fallen wird, von diesem Tage an bis in alle Ewigkeit. Kein Mann, keine Frau und kein Kind wird verschont werden, nicht mal ein Hund. Überlegt euch das gut, Männer von Kisara... vielleicht ist es die letzte Entscheidung, die ihr trefft.“ Der Monarch schnaubte erneut und verschränkte die Arme.

„Ich sage, ich sehe nicht ein, vor einem Mann zu knien, der ja selbst, wenn ich stehe, schon viel größer ist als ich! Solange ich hier König bin, kniet niemand vor einem Heer aus Schattenkriegern! Und wenn meine Zeit kommt, wenn ich falle, dann wird es einen neuen König geben, der genauso wenig knien wird wie ich. Was immer mit mir geschieht, ich habe dafür gesorgt, dass Kisara ein freies Land bleiben wird... dass das Zentralreich ein freies Reich bleiben wird! Lieber sterben wir alle als Männer, die aus freiem Willen kämpfen, als dass wir Sklaven eines... eines Verrückten werden, der sich so bescheuert aufmacht und denkt, er würde mich beeindrucken können, hah!“ Seine letzten Worte ließen durch manche Reihen ein Glucksen fahren. Puran Lyra hatte die Augen geschlossen, spürte aber ganz genau den fassungslosen Blick des Dolmetschers, dem es nicht zu gefallen schien, was er hörte. „Sag es ihm, Übersetzer!“, fuhr der König ihn dann an und der Senator hörte das Klirren, als der König sein Schwert zog als deutlichste Geste dafür, dass er sich niemals ergeben würde, bis ihm jemand den Kopf abschlüge. Hinter ihnen hielten die Männer die Waffen ebenfalls bereit. Nach einer weiteren Aufforderung übersetzte der Dolmetscher kleinlaut die Worte des Königs. Der Herrscher von Ela-Ri gab ein Brüllen von sich, das tief und erschütternd war wie das Brüllen einer gigantischen Bestie; es klang mehr animalisch als menschlich, und in dem Moment, in dem Senator Lyra die Augen wieder öffnete, sah er gerade noch den Speer, den der animalische Herrscher seinem Dolmetscher durch den Brustkorb jagte, mit einer so gewaltigen Kraft im Arm, dass die Waffe fast bis zur Hälfte des Schaftes wieder aus dem Körper hervor trat. Der Übersetzer röchelte und brach in sich zusammen, während der König brüllend seinen Speer wieder hob und ihn schüttelte.

„Das ist aber unklug.“, kommentierte Henac Emo das, „Warum tötet dieser Vollidiot seinen eigenen Mann?!“

„Offenbar ist er der Meinung, dass er so viele Männer hat, dass ihm einer weniger nicht schadet.“, behauptete Neron Shai, und Emo grunzte.

Ich glaube ja eher, er ist Choleriker oder hat Minderwertigkeitskomplexe. Und das bei der Größe, ich will nicht wissen, wie groß sein Schwanz ist.“

„Ach, Emo, warum redest du denn immer nur von Schwänzen?!“, entrüstete sich Neron darauf, „Elende Schwuchtel.“

„Vielleicht hat er ja auch gar keinen, und das bei der Größe.“, feixte Saja, an ihrem Mann vorbei sehend, und Emo schnaubte.

„Gut, also, dann könnte ich sogar verstehen, dass er Minderwertigkeitskomplexe hat.“

„Formiert euch, Männer!“, brüllte der König in dem Moment, „Der Tag ist gekommen! Zeigt keine Gnade, denn sie werden auch keine mit euch haben! Wir werden hier stehen und die Brandung kommen lassen! Männer von Kisara, Männer von Senjo und Intario! Zeigt keine Furcht... im Schatten, denn er wird unweigerlich kommen! Und ich sage, wir werden ihn zerschlagen!“ Mit einem Brüllen riss er sein Schwert in die Luft, während der Streitwagen und die Garde des wütenden Königs von Ela-Ri zurück zu seiner Armada kehrten, wo er seine Krieger ebenfalls in Position brachte und ihnen den unbarmherzigen Angriff und die Vernichtung allen Lebens befahl, wie es aussah. Die Trommeln erklangen und das Beben der Erde wurde so stark, dass Puran kurz um sein Gleichgewicht kämpfte, als die Männer aus dem Ostreich sich brüllend nach Norden stürzten, auf die Armee zu, die dort wartete. Die Soldaten johlten, als des Königs Schwert in der blutigen Morgensonne blitzte. „Tod und Schatten!“, brüllte er, und die Männer erwiderten mit einer Intensität den Schlachtruf, dass der Herr der Geister einen Schauer über seinen Rücken fahren spürte.

„Hurra, es geht los!“, kicherte Henac Emo, der aus seinem Gürtel ein Schwert zog, „Und wer übernimmt den großkotzigen König?“

„Unterschätzt sie nicht.“, warnte Tare Kohdar und schüttelte seine Hände, „Sie sind größten Teils Schamanen wie wir, sie sind gefährlich. Tod und Schatten, Kollegen. - Puran... sag irgendwas, du bist der Ratsvorsteher!“ Puran stöhnte. Mit einer Handbewegung und einem kurzen Blitzen aus dem Himmel ließ er in seiner rechten Hand seine Waffe erscheinen, ein Schwert, das aus der puren, geformten Macht der Himmelsgeister bestand. Es war lange her, dass er seine mächtigste Waffe hatte einsetzen müssen... er hatte sich gewünscht, es nie wieder tun zu müssen.

„Ihr wisst, ich habe geschworen, nie wieder einen Menschen zu töten.“, sagte er dumpf, während die Armada auf sie zu rollte, „Ich kann nicht mehr tun als sie kampfunfähig zu machen. Den Rest muss jemand anderes übernehmen.“ Er erntete Schweigen seiner Kollegen, und ehe Emo irgendeinen dummen Kommentar abwerfen konnte, drehte der Herr der Geister seinen Kopf und sah die vier Kollegen einen Moment an; auf sein Gesicht schlich ein kurzes Grinsen. „Aber ich denke, ihnen Arme und Beine abzuschlagen bringt sie nicht um und ist trotzdem effektiv genug. Und wenn sie dann, ihrer Gliedmaßen beraubt, auf der Erde kriechen und um den Tod betteln... seid doch so gütig und gewährt ihn ihnen... den armen, geistlosen Maden.“ Mit einem Luftholen riss er sein Geisterschwert in die Luft, als aus dem Himmel ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte. „Tod und Schatten, Männer!“
 

Karana war nervös. Und es war nicht die Schlacht, die ihn nervös machte, nicht die Gewissheit, dass er an diesem Ort ganz plötzlich den Tod finden könnte; und wenn nicht er, dann sein Bruder, sein Mädchen, sein Freund Tayson oder sein Vater. Seine Instinkte sprachen zwar von Tod, aber er war sich sicher, dass sie nicht von seinem eigenen sprachen. Und solange er lebte, würde er schon nicht zulassen, dass den anderen etwas zustieß. Und dennoch loderte in ihm eine seltsame Unruhe, die er nicht kannte und die ihn nervös machte.

„...und wenn das Reich fällt, werden sie knien.“

Der junge Mann keuchte und hechtete im letzten Moment instinktiv zur Seite, als er durch seine Vision voller Tod und Macht hindurch den Speer sah, der auf ihn zu geflogen kam und der ihn skalpiert hätte, hätte er sich nicht bewegt. Die Nervosität tief in seinem Inneren mischte sich mit dem betörenden Gefühl der Macht, als er sein klares Denken langsam zurückgewann; und Macht gab ihm die Kraft zum Angreifen. Ohne große Probleme beschwor er in seiner Hand ein Windmesser, das er nach seinem Gegner schleuderte, der ihn mit dem Speer beworfen hatte; der Mann verlor seinen Kopf, ehe er Zeit bekommen hätte, darüber nachzudenken, ob er weglaufen oder kontern sollte.

„Maden!“, zischte Karana und spürte das angenehme, berauschende Kribbeln, das die Macht der Windgeister in seinem Körper verursachte, das ihn von Kopf bis Fuß beherrschte, als er das Schwert zurück an den Gürtel steckte, das er bekommen hatte, um stattdessen beide leeren Hände keuchend dem Himmel entgegen zu strecken. Er hörte das Donnern aus dem Himmel, das das Brüllen der Schlacht übertönte, und in seinen Augen blendete der gleißende Blitz, der aus den wenigen Wolken zuckte.

„Sieh mich an... Vater Himmel!“, keuchte Karana und weitete in seiner Ekstase die Augen, als die Macht durch seinen Körper rauschte und er sich fühlte wie auf dem Hochland – er erinnerte sich irgendwo in seinem Hinterkopf an den dämlichen Speer, der in seiner Schulter gewesen war, und fühlte noch immer den dumpfen Schmerz. Dieses Mal würde er sich nicht der Euphorie verschreiben, sondern Herr über seinen eigenen Geist sein, so, wie Saidah es ihn einst gelehrt hatte. „Saidah!“, schnappte er den Namen seiner Flamme, „Sieh mich an im Geiste, wo immer du jetzt sein magst! Sieh... mich an und du wirst sehen, dass ich es bin, der die Geister von Himmel und Erde beherrscht! Sei... stolz auf mich, Saidah!“ Und mit einem Beben zu seinen Füßen und dem erneuten, lauten Krachen aus dem Himmel riss er seine Hände wieder herab, um die Geisterwinde auf die Erde herunter zu ziehen und sie Tod und Verderben über jene bringen zu lassen, die es wagten, dieses Land für sich zu beanspruchen, das ihnen nicht zustand. Mit einer ungeheuerlichen Kraft fegte der Sturm aus dem Himmel gen Süden über die Reihen der Angreifer, zerfetzte sie wie ein gigantisches Fleischermesser und schleuderte ihre Stücke zurück in den Himmel, als wären sie Fleischopfer. Und Karana zitterte, die Hände noch immer von sich gestreckt, während er die Augen schloss und sich bei Mutter Erde für das Blut entschuldigte, das er auf ihrer Haut vergießen musste. „Ehre die Lebensgeister der tapferen Maden.“, kicherte er dabei, „Damit sie nicht zu Dämonen werden und wieder und wieder zu uns zurückkehren, um uns zu tyrannisieren.“

Auf seine Worte folgte eine Weile der eigentümlichen, angenehmen Ruhe, als es plötzlich vorbei war.
 

Die erste Welle war schnell dahin; Karanas Vater hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern, als der Zorn des Himmels über die Angreifer fegte und sie vor den Augen der Verteidiger aus dem Zentrum in Stücke riss.

„Wie diabolisch!“, keuchte der König irgendwo, der inzwischen zu Fuß war, weil sein Pferd beim ersten Angriff getötet worden war. „W-was war denn das für ein Zauber?!“ Puran Lyra keuchte und weigerte sich, in der Masse der Krieger irgendwo nach Karana zu suchen; wenn er genau wüsste, wo sein Sohn war, würde er sich nur noch mehr um ihn sorgen. Es war gut, wenn er ihn nicht beachtete.

„Das war es doch wohl aber nicht!“, schnaufte der Heerführer von Kisara irgendwo hinter dem König, „Majestät, seid auf der Hut! Das war nur die erste Angriffswelle, und ich fürchte, es waren auch die Schwächsten von ihnen, die der protzige Monarch wohl so zum Test zuerst geschickt hat. Jetzt weiß er, dass wir keine Amateure sind, und schickt als nächstes Schlimmeres.“ Er brüllte zurück in die Reihen der Soldaten: „Formiert euch, Himmel noch mal! Das war nicht alles!“ Tatsächlich beobachtete der Herr der Geister jetzt, wie aus dem Süden eine zweite Welle heran marschierte. Sie waren nicht wie Bären gekleidet, aber dennoch genauso groß, und sie trugen blitzblank polierte, goldene Rüstungen, in denen sich das gleißende Licht der Vormittagssonne spiegelte, dass es die Verteidiger blendete. Keuchend hob der Mann eine Hand vor seine Augen, was aber nur wenig brachte – und sie waren verdammt schnell. Sie leuchteten nicht nur grell wie ein Blitz, sie waren einer, als sie von einem Moment auf den anderen plötzlich direkt vor ihnen waren; einen Augenblick später flogen schon die gleißenden, blendenden Lichter der Gegner durch die Reihen der Krieger.

„Achtung!“, hörte er dann Tare Kohdar irgendwo hinter sich, im nächsten Moment sah er rechts eine Wand aus Feuer erscheinen, die die blendenden Goldmänner in Rüstung niederzwang, die versuchten, hindurch zu rennen.

Diese Arschlöcher, war alles, was dem Herrn der Geister ungestüm durch den Kopf fuhr, als er herum wirbelte und mehr zufällig gegen das blendende Sonnenlicht einen der Krieger erwischte, dem er die Beine zerschnitt, worauf er zu Boden stürzte und sodann von seinen Kollegen niedergetrampelt wurde, Diese absoluten Arschlöcher, sie sehen nicht nur albern aus, sie wissen ganz genau ihre Vorteile einzusetzen... solange sie im Süden stehen, haben wir die verdammte Sonne im Gesicht. Wenn das so weiter geht, sind wir erblindet von diesem Licht, ehe die Sonne untergeht!

Er keuchte und schloss die Augen, um sie gegen das grelle Licht zu schützen, das nicht nur ihn selbst, sondern die ganze Armee behinderte. Die Ostmänner mit der Sonne im Rücken hatten es dadurch plötzlich leicht, anzugreifen und die Reihen der Verteidiger plötzlich mit ungeahnter Effektivität zu säubern. Puran war Schamane, er konnte auch mit inneren Augen sehen und so auch mit geschlossenen Augen weitermachen; aber abgesehen von seinen Kollegen und vielleicht Karana war er da auch der einzige, der diesen Vorteil hatte.

Mutter Erde... verschlingen solltest du sie. Ausgefuchste Mistkerle...

Er hörte um sich herum das Krachen des fast unbewölkten Himmel, das Zischen von Feuerzaubern und das Rauschen einer Flutwelle, die irgendjemand heraufbeschworen hatte, vermutlich Saja Shai, und mit einem weiteren Keuchen fuhr der Senator wieder herum, brachte mit seiner Waffe noch einen Mann zu Fall und ärgerte sich über die unnötigen Umstände.

„Nur Ärger hat man!“, murrte er, während er sich nach allen Seiten umsah, die Augen schwerfällig wieder öffnend, und sich dann nach Westen durchzuschlagen versuchte.

„Diese Mistkerle!“, hörte er Neron Shai irgendwo fluchen, „Ich kann, verdammt noch mal, nicht arbeiten so! Nächstes Mal nehme ich mir einen Hut mit!“ Ein Dröhnen aus der Erde und ein folgendes, mächtiges Beben warf die meisten beteiligten beider Fronten von den Beinen, ehe unter ihren Füßen ein Erdspalt aufging, in den viele Kämpfer schreiend stürzten. Fluchend hechtete Puran Lyra zur Seite und riss einen Soldaten aus Intario noch am Kragen zurück, der beinahe in den Spalt gestürzt wäre.

„Pass auf deine Füße auf, junger Mann!“, meckerte er und fuhr nach Westen herum, ehe er brüllte: „Emo! Du elender Saftsack, beweg deinen Arsch hierher, und zwar plötzlich!“ Schneller als gedacht war besagter Emo neben ihm, und der Herr der Geister keuchte erschrocken, als er die süffisante Stimme seines verhassten Kollegen auf einmal neben sich hörte.

„Jawohl, Häuptling Zitterhand? Ganz neue Töne hier, du verlangst nach mir, Puran? Du musst es aber nötig haben.“ Puran spuckte ihm vor die Füße und kniff die Lippen zusammen.

„Ich hasse es, dich für irgendetwas zu brauchen! Aber du... bist hier der Schattenmagier. Also beweg deinen Arsch und mach die Sonne aus. Jetzt!“

„Wenn du mich lieb bittest, vielleicht...“, grinste der Schwarzhaarige, und Puran zischte und hielt ihm grimmig sein Schwert an die Kehle.

„Wenn du erwartet hast, dass ich dir dafür einen blase oder so, vergiss es. Du tust besser, was ich sage, mein Zorn ist fürchterlich, und erst recht, wenn meine verfluchte Scheißhand so zittert, weil das meine Laune grundsätzlich verschlechtert!“

„Schade, hätte ja klappen können.“, kicherte Emo, „Dich vor mir knien zu sehen hätte ich echt begrüßt... wobei ich Angst hätte, dich an meine Eier zu lassen, du bist so gehässig...“

Mach sie aus, verfluchter Bastard!“, fuhr der Herr der Geister ihn an, und er war heilfroh um seine eigenen Nerven, dass der Mistkerl endlich gehorchte, mit dem Schwachsinn aufhörte und die Arme gen Himmel streckte.

„Natürlich, Häuptling, dein Wunsch ist mir Befehl. Und du sagst, dein Großvater Kelar wäre der Tyrann gewesen.“
 

Es wurde dunkel. Iana keuchte und sprang zurück, womit sie dem Beil eines Kerls auswich, der sie angegriffen hatte, ehe sie erschrocken zum Himmel starrte, als plötzlich Schatten über die Ebene fiel und die blendende Sonne verdeckte. Im Nu war es dämmrig im ganzen Land bis hin zum Horizont, und die junge Frau fragte sich fassungslos, ob das jetzt gut oder schlecht war; das fragte sie sich überdies bei jedem Zauber, den sie so am Rande mitbekam, weil sie nie einschätzen konnte, ob es ein Zauber der Feinde war oder ob Karana, sein Vater oder dessen Kollegen ihn gerufen hatten. Das blendende Leuchten der golden gerüsteten Soldaten verblasste im Schatten und machte den Effekt ihrer Rüstung wirkungslos; wer immer hier den Himmel verdunkelte, es kam ihnen zu gute. Iana trödelte nicht lange damit, sich darüber zu freuen, denn nur, weil sie nicht mehr blendeten, waren diese Männer nicht kraftlos geworden. Der, der sie angegriffen hatte, stürzte sich wieder auf sie zu und brüllte, worauf sie abermals zur Seite auswich und mit ihrem wertvollen Kurzschwert nach ihm schlug. Sie verfehlte die Stelle unter seinem Arm, die, wie sie schnell erkannt hatte trotz des Lichtes, eine der Schwachstellen der harten Rüstung war und an der sie ihn leicht verletzen konnte. Stattdessen gab es ein klirrendes Geräusch, als ihr Schwert die Rüstung traf. Iana schnappte fluchend nach Luft und duckte sich unter dem Beil weg, das der Mann in ihre Richtung schwenkte, aber überraschend riss er jetzt eine seiner Hände vom Griff seiner Waffe und schleuderte seiner Gegnerin einen messerscharfen Eiszapfen entgegen, den er aus dem Nichts entstehen gelassen hatte.

„Verdammte Zauberer!“, keuchte die Schwarzhaarige und zischte, als sie sich instinktiv zur Seite warf und der Eiszapfen so nur ihre Schulter streifte. Der Schmerz war auch dabei schon unangenehm genug und sie ohrfeigte sich innerlich, das nicht vorher geahnt zu haben. Irgendwo in der Ferne des Südens hörte sie durch das Schreien der Kämpfer und das Röcheln der Sterbenden hindurch das Geräusch eines Horns, das vermutlich eine weitere Welle des Angriffs ankündigte. Sie fuhr herum und sah eine gigantische Welle von neuen Kriegern über die Ebene zu ihnen kommen; sie trugen keine goldenen Rüstungen, dafür aber Armbrüste von solch furchteinflößender Größe und Schlagkraft, dass die ersten Pfeile schon durch die Köpfe von Männern schossen und sie niederstreckten, als die Schützen noch so weit entfernt waren, dass man nicht mal ihre Gesichter erkennen konnte. Was für barbarische Waffen hatten diese Männer? Direkt neben ihr flog aus dem Nichts mit unglaublicher Geschwindigkeit ein Pfeil durch die Luft und schleuderte einen Soldaten knapp hinter ihr mitten im Rennen zurück und zu Boden, wo er röchelnd der Schusswunde in seiner Brust erlag. Die Frau japste und wirbelte abermals herum, weil der Goldmann, der sie immer noch bekämpfte, jetzt wieder mit seinem Beil auf sie zu kam; im letzten Moment konnte sie den Angriff mit ihrer eigenen Waffe blocken, aber die Wucht des Schlages schmetterte sie auf den Erdboden und das Kurzschwert fiel ihr aus der Hand. Abermals fluchend versuchte sie, sich aufzurappeln, aber das nächste, was sie spürte, war der beißende, kalte Schmerz eines weiteres Eiszapfens, der sich in ihren Oberschenkel bohrte und sie an den Boden nagelte. Sie kippte zurück und starrte mit weit aufgerissenen blauen Augen auf den brüllenden Gegner, der, des Sieges bereits sicher, sein Beil wieder schwang und sich auf sie stürzte.

„Warum, zum Geier, kann ich jetzt nicht eine Lian beschwören?!“, schrie sie in ihrer Hysterie, „Verdammt noch mal!“ Sie riss keuchend ihre Arme zur Seite und versuchte, an ihr Schwert zu kommen, aber es lag zu weit weg – das nächste, was sie mitbekam, war das erneute Brüllen des Gegners, das sich aber verändert hatte; einen Moment später fiel der Mann direkt auf sie drauf und begrub sie unter seinem Gewicht. Das Beil fiel zu Boden und verfehlte um ein Haar Ianas Brustkorb. Verblüfft blieb sie liegen, während der Schmerz ihr Bein betäubte und sie fassungslos erkannte, dass der Typ tot war – auf seinem Rücken klaffte eine beeindruckende Fleischwunde trotz der Rüstung. Das Blut lief an seinem Körper herab und auf die Frau, und japsend versuchte sie, ihn wegzuschieben, bis das Gewicht auf ihr plötzlich verschwunden war. Als nächstes sah sie Karanas Gesicht.

„Dumme Frau.“, schalt er sie, „Was lässt du dich da an die Erde nageln? Wurde ja auch Zeit, dass ich dir auch mal das Leben rette, was wäre ich sonst für ein Mann?“ Sie räusperte sich, als er mit einer simplen Handbewegung einen Windzauber auf die Erde unter ihrem Bein schleuderte; der Boden brach darauf auf und sie konnte ihr von Eis durchbohrtes Bein wieder bewegen; auch, wenn es grauenhaft wehtat, sobald sie es wagte. Keuchend schnappte sie ihr Schwert und ließ sich von Karana auf die Beine helfen. Sie kam nicht dazu, sich zu bedanken, stattdessen schrie sie auf und zeigte hinter ihn; als der Schamane instinktiv ihre Schulter packte und sie beide zur Seite riss, ging einer der todbringenden Pfeile haarscharf an ihren Köpfen vorbei. „Verdammt, nervt doch jemanden anderes!“, brüllte Karana darauf erzürnt, fuhr herum und warf einen weiteren Windzauber nach dem Kerl, der sie angegriffen hatte; und Iana war verblüfft, als sie vor sich plötzlich einen Krieger sah, der sich in seinem pompösen Auftreten, seinem Schmuck und seinem herrischen Blick sehr von den anderen unterschied. In seiner Hand trug er einen Speer, der mit den Schädeln kleiner Nagetiere, Federn und Knochen verziert war. Seine Augen wirkten trübe und milchig, kurz fragte Iana sich, ob er blind wäre – das war unmöglich, ein blinder Mann konnte nicht an so einer Schlacht teilnehmen... das war ausgeschlossen.

„W-was ist denn das für einer?“, hörte sie sich fragen, ehe sie sich zurückhalten konnte, und Karana schob sie hinter sich; verblüfft stellte sie fest, dass er zitterte.

„Das ist der Bruder des Königs. Er ist ihr Seher, obwohl er blind ist, und er befiehlt den Himmelsgeistern. Das ist kein Gegner für dich, Iana... verschwinde, und tu es schnell.“

„Woher weißt du das alles?“, fragte sie verblüfft.

„Ich sehe in seinen Geist... das ist nicht schwer, vergiss nicht, dass ich der Sohn des Herrn der Geister bin.“ Sie schauderte und starrte den Mann vor ihnen fassungslos an; obwohl er offenbar allen ernstes blind war, hatte sie das Gefühl, er sähe sie genau an mit seinen trüben Augen, und es fühlte sich an, als durchbohrte er mit seinem Blick ihren Körper auf noch brutalere Art als der Eiszapfen... nein, er durchbohrte sogar ihren Geist. Ein Schauer durchfuhr sie und sie wäre beinahe gestolpert und hingefallen, als Karana sie plötzlich in einem ungeahnten Beschützerinstinkt weiter rückwärts schubste und sie anbrüllte, sie sollte verschwunden. Er verblüffte sie mit seiner plötzlichen heroischen Ader; wo war denn seine sonstige Überlegenheit und seine Arroganz geblieben?

Er ist der Sohn des Herrn der Geister! Er hat es selbst oft genug gesagt... er wird ja wohl nicht glauben, dass dieser blinde Fatzke ihm gefährlich werden kann?

Das wäre in der Tat ein unnatürlicher Sinneswandel; die Bewegung des Gegners und sein urplötzlicher Angriff beendeten ihre verblüfften Gedanken. Wie ein Raubvogel sich vom Himmel stürzte stieß er hervor mit seinem rasselnden Speer und Karana sprang zurück, stieß dabei gegen die Frau und blockte den Angriff mit dem Schwert, das er trug – oder versuchte es, denn mit einem unschönen Geräusch brach der Stahl seiner Klinge ob der Macht des Zauberspeers. Karana keuchte und Iana stürzte benommen von den Schmerzen in ihren Beinen wieder zur Erde.

„Bist du noch nicht weg?!“, schrie ihr Liebhaber sie an, und als er für einen Moment zurück zu ihr sah, erkannte sie in seinen grünen Augen etwas, das sie noch nie bei ihm bemerkt hatte; blinde Panik. Und nicht etwa Angst um seine eigene Haut... sondern Angst um sie. Sie konnte sich nicht erklären, was es war, das ihr diese Gewissheit gab, aber in dem Moment war es, dass ihr klar wurde, dass er allen Ernstes Panik hatte, ihr würde etwas zustoßen. „Hau endlich ab!“, fuhr er sie an, „Verdammtes Weibsbild, er wird dich töten, wenn du nicht läufst!“

Selbst, wenn sie hätte laufen wollen, ihr Bein hätte ihr den Dienst versagt. Sie schaffte es gerade noch, sich wieder aufzurappeln, als der komische Vogel erneut angriff und Karana mit einem Windzauber gerade noch verhindern konnte, dass der Speer ihn erwischte, aber er stolperte zu Boden und schnappte nach Luft. Die Schwarzhaarige packte ihr Kurzschwert und hechtete so gut sie konnte zurück zu ihm, um einen weiteren Speerstoß ihrerseits mit ihrer Waffe abzuwehren. In der Erwartung, auch es würde bersten unter dem Schlag, war sie erstaunt, als ihre Waffe dem Speer standhielt. Der komische Zauberer sagte etwas auf seiner kehligen Sprache und wirkte gleichzeitig plötzlich furchtsam und doch wild entschlossen; was immer er gesagt haben mochte, irgendetwas schien ihn sehr zu faszinieren oder zu entsetzen... Iana fragte sich, ob es an dem Schwert lag.

„Vergiss es, Vollidiot.“, keuchte Iana in Karanas Richtung, der plötzlich erbleichte, „Ich lasse dich hier nicht verrecken, das würde irgendwie alle anderen Male, die ich dich gerettet habe, umsonst machen... und ich verschwende ungern meine Zeit.“

„Sag mir, dass du mich liebst!“, verlangte er plötzlich und sie hätte fast laut aufgelacht, so sehr erstaunten sie seine komischen Worte. Während sie mit ihrem Schwert den Gegner zurückstieß, rappelte Karana sich auf die Beine und riss die Hände gen Himmel.

Wie bitte?“, schnaubte sie dann, „Wie du willst, ich liebe dich!“

„Verdammt!“, jammerte er, „Ich habe keinen Bock auf diese Scheiße, ich will mich jetzt mit dir vereinen!“ Sie errötete perplex, dachte aber nicht weiter daran und fragte sich, was der Quatsch sollte; wieso wollte er mitten in einer Schlacht plötzlich mit ihr schlafen? War das normal bei ihm...?

Sie kam nicht dazu, weiter zu denken. Das nächste, was sie spürte, war ein wahnsinniger Druck auf ihrem Kopf, der sich anfühlte, als fiele der Himmel gerade auf sie hinab; keuchend gab sie dem schmerzenden Druck nach und stürzte zu Boden, während sie japsend ihre Waffe umklammerte und die Stimme des blinden Typen hörte, sowie Karana, der irgendwo neben ihr nach Luft schnappte und dann ebenfalls wieder zu Boden geschleudert wurde. Vor ihren inneren Augen sah sie plötzlich das Meer... und sie spürte das Zittern der Erde unter sich, auf der sie lag, ehe der Druck auf ihrem Kopf mit einem Krachen zu explodieren schien und es ihr vor den Augen erst weiß, dann pechschwarz werden ließ.
 

Eine eigenartige Warnung der Geister ließ Senator Lyra den Kopf herum reißen, obwohl er sich nicht erklären konnte, was es war; mit einem Mal schmerzte sein Kopf und die Geister des Himmels zischten ihm Worte von Verdammnis zu, die er nicht einordnen konnte. Natürlich sprachen sie davon, sie waren in einem verdammten Krieg! Der Mann bereute den flüchtigen Moment der Unachtsamkeit, als er einen Moment später einen weiteren Kerl auf sich zu kommen sah und mehr durch Glück als durch Verstand den Arm hinauf riss, den dann der heran sausende Pfeil traf, der ihn sonst locker skalpiert hätte. Er keuchte und hechtete zurück, beunruhigt über die eigentümliche Warnung; die Geister waren zwar sadistische Kreaturen, denen es Spaß machte, die Lebenden zu verwirren, aber sie logen nie. Irgendetwas war passiert, das spürte er... aber was es war, konnte er nicht sagen. Sein Gegner stürzte sich auf ihn und brachte ihn zum Stolpern, und als der Mann zu Boden fiel, schlug er dem Angreifer mit seinem blitzenden Geisterschwert gegen die Beine, ehe er sich zur Seite rollte und so gerade noch dem jetzt stürzenden Kerl auswich, der mit zerschnittenen Beinen keine Gefahr mehr war.

Eine weitere Warnung erreichte seine Seele, aber dieses mal war es eine, die er schon kannte.

Der König von Ela-Ri wird Euer Schicksal besiegeln... sieh nach Osten in die Schatten, Puran Lyra.“ Sich rasch wieder aufrappelnd wendete er sich keuchend nach Osten, wie ihm geheißen worden war; er war nicht überrascht, dort in der Ferne den gewaltigen Herrscher des Schattenlandes zu sehen, der im selben Moment vermutlich die gleiche Eingebung gehabt hatte wie er selbst, denn er sah jetzt zu ihm herüber, heraus ragend aus der blutigen Menge der sich bis zum Tod bekämpfenden Männer. Keuchend umklammerte Senator Lyra sein Schwert, während er mit seiner nervös zitternden linken Hand den Pfeil aus seinem Oberarm zerrte, der eine schmerzende, aber ungefährliche Wunde hinterließ.

„Ich verfluche dich, Bestienkönig.“, sagte er langsam zu sich und heftete seinen starren Blick auf den gigantischen Kerl; er selbst war ein großer Mann. Aber der überragte ihn um sicher zwei Köpfe, wenn nicht mehr. Und er schien in der ganzen Schlacht kaum einen einzigen Kratzer davongetragen zu haben. Puran spürte die Macht seines Geistes über die weite Entfernung hinweg und fragte sich, während er zornig versuchte, seine linke Hand zu bändigen, die ihren eigenen Geist zu haben schien und deren Zittern immer heftiger wurde, was der König dort wohl in seiner Seele sah, wenn er ihn ansah. Einen würdigen Gegner oder doch eher leichte Beute? Er mochte der Vorsteher des obersten Rates sein, aber vor dem Antlitz dieses Monstrums fühlte er sich plötzlich wie ein kleiner Junge in Erwartung einer Tracht Prügel von seiner zornigen Mutter.

Nur, dass seine Mutter ihn eigentlich nie verprügelt hatte...

Der Gegner lächelte ein bizarres Lächeln – und als er sich bewegte, packte der Kleinere schon seine Waffe fester, aber der Riese wandte sich nach Norden und von ihm ab.

„Was denn, und jetzt kehrst du mir den Rücken, nachdem du so herausfordernd geguckt hast? Feige Schlange...“, brummte der Herr der Geister, ehe er ebenfalls nach Norden sah und erkannte, was die Aufmerksamkeit des Giganten von ihm abgelenkt hatte. Vor ihm stand jetzt der kleine König von Kisara, der gegen den anderen Herrscher wie ein Zwerg wirkte. Tapfer Schwert und Schild erhoben stellte er sich dem übermächtigen Kerl und zeigte keine Furcht, obwohl er sicher welche haben musste; der Gegner war ein Magier, und er war letztendlich nur ein einfacher Mensch.

„Nur, weil ich kleiner bin als du, heißt das nicht, ich würde kneifen! Du beanspruchst mein Land, mein Reich – und ich werde es verteidigen, wie es meine Pflicht als König verlangt! Du... bist mein Gegner, du riesiger Hornochse!“

In diesem Moment war es, dass Puran Lyra die Warnungen von Tod und Verderben erst richtig begriff. Und in diesem Moment war es, dass er sich wünschte, er könnte sich teleportieren wie die Telepathen. Er war nicht schnell genug...

Mit einem hysterischen Keuchen hechtete er los in die Richtung der beiden Monarchen, stieß irgendwo Tare Kohdar zur Seite, der ihm in den Weg kam, und stach irgendeinen zufällig auserwählten Gegner nieder, vor seinen Augen nur das Bild der beiden Könige, der eine sicher doppelt so groß wie der andere.

Nein! Verdammt, lasst mich durch! Aus dem Weg, ihr Missgeburten!“, schrie er panisch, während er rannte und hinter sich Tare Kohdar irgendetwas rufen hörte, was er nicht verstand. Aus dem Himmel krachte es und er spürte das Zittern seiner linken Hand, als er sie in seiner Panik hinauf riss. Er wusste schon in dem Moment, in dem er darin einen Windwirbel aus bebender, geistiger Macht entstehen ließ und ihn in aller Verzweiflung nach dem großen Monsterkönig schleuderte, dass er versagen würde – er stolperte, als einer der Ela-Ri-Krieger sich seitlings auf ihn warf und ihm mit seinem blutigen Schwert ins Bein stach. Seine zitternde, verfluchte Hand hatte mit dem Zauber den Bestienherrscher nicht getroffen, der fuhr nur in dem Moment herum, in dem Puran Lyra keuchend mit dem Schwert im Bein zu Boden stürzte; der Mann, der ihn angegriffen hatte, wurde von irgendjemandem anderes getötet und zu Boden geschleudert.

Hustend riss der Senator die Waffe aus seinem schmerzenden Bein und rappelte sich heftig nach Luft schnappend auf – er spürte die Blicke aus den schattigen Augen des gegnerischen Königs auf sich, der jetzt einen mächtigen Schritt auf ihn zu trat; wenigstens hatte er seine Aufmerksamkeit von dem kleinen König ablenken können...

„Er wird Euer Schicksal besiegeln... ich habe nicht gesagt, dass Ihr sterben müsst, Senator Lyra.“

In dem Augenblick packte der große Kerl ihn am Kragen und riss ihn ein Stück empor, bis er sein Gesicht so dicht vor Purans senkte, dass der Herr der Geister seinen Gestank nach Blut, Tod und Schweiß riechen konnte; und den Gestank seiner verfaulten Seele, die nichts kannte außer Schatten und Machtgier. Die Seele eines Monsters...

Er fragte sich, wie er bitte sehr nicht sterben sollte – dieser Moment war doch wie zum Sterben gemacht. Er konnte sich nicht bewegen in dem grausamen Griff des Kerls, der ihn anstarrte und direkt in seine Seele sah... in die einzige Furcht, die er in diesem Moment verspürte, die nicht die Furcht vor dem Tod war.

Wenn er unseren König zu Fall bringt, sind wir erledigt.

„Nimm mich!“, keuchte er dem Gegner entgegen und war sich sicher, dass die Geister ihm seine Worte übersetzen würden. „Töte mich, Unhold. Bin ich es nicht, den du fürchtest...? Wir sind beide Windmagier und du bist ein Herr der Geister, genau wie ich. Also, worauf wartest du noch?“ Der Mann sprach. Puran konnte kein Wort von dem verstehen, was er sagte, und er beneidete seinen Sohn und seine verstorbene Mutter für ihre angeborene Sprachbegabung, die er selbst nie besessen hatte. Und die Geister verrieten ihn in dem Moment, in dem der große König ihn mit einem gewaltigen Schlag zurück zur Erde stieß, in einer Heftigkeit, dass Puran Lyra irgendeine seiner Rippen brechen spürte und vor Schmerz aufschrie. Dann sprach der Mann erneut – und plötzlich benutzte er, wenn auch in starkem Akzent, die Worte der Einheitssprache.

„Lang... lebe der König, Puran Lyra.“

Zu spät sah Senator Lyra geblendet von den grauenhaften Schmerzen seiner gebrochenen Rippe seinen eigenen König, der den Großen von der Seite angriff und mit seinem Schwert tief in dessen Oberschenkel schlug, worauf die einzige, klaffende Wunde auf dem Körper des Riesen entstand. Den König von Ela-Ri bedurfte es nur einer Handbewegung, um seinen kleineren Gegner von sich weg zu Boden zu schleudern, und einer zweiten, um seinen blutigen Speer herum zu reißen und den kleinen Monarchen damit aufzuspießen wie ein Stück Fleisch.
 

In dem Moment war es, dass der Himmel über dem Reich zusammenfiel. Es gab ein markerschütterndes Beben und das Tosen eines mächtigen Donnerschlags, während plötzlich wahnsinniger Lärm und erneutes Schlachten von Südwesten her ertönte. Puran Lyra hörte den Lärm nicht. Er wusste nicht, wie er es, angeschlagen wie er war, geschafft hatte, auf die Beine zu kommen. Er wusste nur, dass er plötzlich wieder stand, dass er mit einem lauten Schrei sein Geisterschwert herum riss und sich auf den König von Ela-Ri stürzte. Das Schwert zog eine tiefe Schnittwunde quer über das tätowierte Gesicht des Kerls, der darauf brüllend zurück fuhr und seinen Speer zurück riss. Dann strauchelte Senator Lyra und die betäubenden Schmerzen kehrten zurück, die ihm jeden Atemzug zur Folter machten. Er stürzte keuchend auf den mit Blut besudelten Erdboden, während der große König über ihm in den Himmel hinauf ragte wie ein gigantischer Felsen. Sich das blutüberströmte Gesicht haltend stierte er voll von Hass, Rachedurst und erfüllt von seiner bösen, schattigen Macht auf seinen Kontrahenten hinab – dann fuhr er plötzlich herum nach Südwesten und schien entsetzt über das, was er dort sah. Mit einem wütenden Brüllen zog er sich zurück nach Südosten und Puran beobachtete fassungslos und halb ohnmächtig, wie die feindlichen Krieger ihrem Herrscher folgten und sich ebenfalls zurückzogen.

„Sie geben auf, hahaha!“, hörte er irgendwo Neron Shai jubeln, „Feiglinge, Verlierer! - So ein Glück, sind das die Leute aus Alymja?! Purans Cousine war offenbar fleißig... die kamen gerade zur richtigen Zeit!“

Der Herr der Geister hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Keuchend versuchte er, sich aufzurappeln, strauchelte aber sofort wieder und gab es auf, um dann auf allen Vieren und mit dem Gefühl, jeder Zeit an den Schmerzen zu verrecken, in Richtung des kleinen Königs krabbelnd, der am Boden lag. Er röchelte und zuckte; der gigantische Speer des Monsters musste seine Lunge verletzt haben, und als der Senator seinen Vorgesetzten erreichte, spuckte dieser Blut, während seine Hand unruhig umher irrte.

„S-Senator... Ihr seid... ja noch... am Leben. So ein... Glück!“

„Um Himmels Willen!“, jammerte Puran und presste seine eigene Hand auf seine übelst schmerzende Brust, ehe er das Geisterschwert verschwinden ließ. „S-sie sind weg! Majestät, sie sind weg! Jemand wird einen Heiler rufen...“

„Das... ist wohl überflüssig... haha...“, machte der König und röchelte erneut; Senator Lyra schrie. Verdammt, das durfte doch nicht wahr sein! Jetzt kamen auch andere zu dem tragischen Szenario. Neben ihm tauchten Henac Emo und Tare Kohdar auf, ihm gegenüber fiel der General aus Kisara neben dem König auf die Knie.

„Majestät!“, schrie er dabei, „Um Himmels Willen! - Einen Heiler!“

„Lasst... General.“, stöhnte der König, „Meine Zeit ist gekommen. Hat das nicht die Seherin... gesagt? Die Zeit... des Königs.“

„Aber was sollen wir denn ohne König?!“, rief Tare Kohdar bestürzt, und Puran Lyra schnappte fassungslos nach Luft.

„Es wird... doch einen geben.“, keuchte der Monarch, „Ich habe eine... Verfügung hinterlassen. Ich hatte... keine Nachkommen oder Verwandte... ich habe... also eine schwere Entscheidung treffen... m-müssen.“ Er hustete und bebte am ganzen Körper, und unruhig tastete seine Hand über den harten Erdboden, bis er Senator Lyras Knie erreichte und sich daran festhielt. „Gebt mir... Eure Hand, Senator...“, keuchte er, „Bitte... ein letztes Mal. Ihr wart... mir immer ein treu ergebener... höflicher Untertan. Obwohl Ihr... so viel Macht habt... h-habt Ihr Euch trotzdem dem Befehl eines viel schwächeren... Mannes verschrieben. Tut mir... den Gefallen... es ist das letzte Mal, dass ich etwas von Euch... verlange. Aber es... w-war die einzig richtige Entscheidung...“ Puran keuchte und nahm gehorsam die Hand des sterbenden Mannes.

„Himmel, Majestät!“, jammerte er aufgelöst, „Redet doch nicht so, natürlich gebe ich Euch meine Hand! Ich gebe alles, wenn Ihr am Leben bleibt!“ Er war im Stillen froh, dass Henac Emo ausnahmsweise mal seine Schnauze hielt. Der König lächelte verzerrt von Todesqualen, die er erleiden musste durch den Schmerz.

„Nein... das meine... ich nicht. Ihr... seid der Einzige... der diesem König... den Garaus machen kann. Ihr seid der... H-Herr der Geister. Nur Ihr könnt das... beenden... deswegen seid Ihr der einzige... der... meine... Nachfolge übernehmen kann. Das ist... der letzte Befehl, den ich... Euch gebe... Senator... nein... mein König.“

Die letzten Worte, die der kleine König von Kisara sprach, sprach er andächtig und voll von der tiefsten Bewunderung, mit der er sein halbes Leben lang zu Puran Lyra hinauf gesehen hatte, solange er ihn kannte. Als er die Augen schloss und zu zucken aufhörte, waren die Männer um ihn herum ganz still. Puran war nicht fähig, zu atmen oder gar zu begreifen, was der Mann, dem er immer gedient hatte, da gerade gesagt hatte. Er hielt noch immer seine Hand und war benommen von den Schmerzen seiner Wunden; das nächste, das er mitbekam, war der fassungslose Blick des Generals, der ihm gegenüber hockte.

„Ein... ein Magier als König!“, japste er, „Das... das ist unverantwortlich. Das... gab es noch nie. Das ist doch gar nicht zulässig!“

„Es war der letzte Befehl deines Königs, Hornochse.“, schnarrte Emo irgendwo, doch an Puran gingen alle Worte vorbei. „Willst du dich dem widersetzen? Hüte besser deine Zunge, bevor Puran sie dir abschneidet...“ Die Männer begannen zu reden und nach und nach versammelte sich die ganze Armee um sie herum. Senator Lyra konnte nicht sprechen. Er konnte nur da sitzen, sich wundern, warum er noch immer bei Bewusstsein war, und fassungslos auf den im Tode lächelnden König herab blicken, dessen erkaltende Hand er immer noch in seiner hielt. Und er fragte sich... wie sehr konnte ein Mensch von einem anderen begeistert sein, dass er sein ganzes Werk, sein ganzes Hab und Gut ihm allein anvertraute?

Die Erkenntnis des Verlustes des gutmütigen kleinen Mannes schmerzte ihn heftiger als die im Kampf erhaltenen Wunden. Und es tat ihm leid, ihm niemals wirklich gesagt zu haben, wie sehr auch er seinen König immer bewundert hatte... der Schmerz war so heftig, dass er nicht an sich halten konnte und zu weinen begann.
 


 


 

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Lang lebe König Puran. XD

Verantwortung

Die Armee aus Alymja hatte einen weiten Weg hinter sich. Alona hatte getan, was ihr Cousin verlangt hatte, und hatte anschließend die, die aufgebrochen waren mit Schiffen vom Nordreich aus, begleitet nach Vialla, gemeinsam mit der Frau ihres Cousins. Als sie die vor den südlichen Küsten von Senjo und Kisara ankernden Schiffe zerschlagen hatten, waren die Krieger aus dem Nordreich nach ihrer Reise um den halben Planeten an Land marschiert, um von der Küste aus nach Vialla zu gelangen. Als sie das Schlachtfeld im Süden der Stadtmauern erreicht hatten, waren schon alle voll dabei gewesen, aber der Überraschungseffekt hatte letztendlich gesiegt. Die Ela-Ri-Krieger hatten sich zurückgezogen – fürs erste. Aufgegeben hatten sie sicher noch nicht. Und obwohl Vialla für den Tag gerettet war, gab es schlimme Kunde, als die Telepathin gemeinsam mit den anderen Telepathen aus Alymja und Leyya an ihrer Seite zu den Führern der Verteidiger stieß. Der junge König von Intario war es, der ihnen berichtete.

„Der König ist tot?!“, keuchte Alona fassungslos und die anderen Telepathen sahen sich bestürzt an, und der Herrscher von Intario senkte verwirrt und bekümmert den Kopf.

„Der König aus dem Osten hat ihn erschlagen. Ich war noch nicht dort, ich kam nicht durch, die ganze Armee steht jetzt da herum; es ist ein Jammer, er war ein so guter Mann.“ Alona sah, wie Leyya neben ihr erbleichte und schluchzend die Hände vor den Mund schlug.

„D-der König... w-wie lange kennen wir diesen Mann? Und jetzt soll er plötzlich... oh nein... wie schrecklich!“

„Was noch schlimmer ist, wohin denn ohne König?“, fragte der Telepath neben Alona; der Mann, der einst in Kisara gelebt hatte, der ihr Draht zum König von Alymja gewesen war. „Ich meine, er hatte doch nie eine Frau?“

„Es gibt einen, es heißt, er hat sich einen ausgesucht, der ihm folgen soll.“, meinte der Herrscher von Intario, „Es gibt schriftliche Verfügungen im Palast über den Verbleib im Fall seines Todes... davon hat er gestern noch zu mir und dem Herrn aus Senjo gesprochen. Die Minister haben die Dokumente beglaubigt, das heißt, der neue König ist schon fest.“ Alona Lyra runzelte nachdenklich die Stirn und wusste nicht recht, ob sie es instinktiv ahnte oder sich nur einbildete, Gespenster zu sehen.

„Sagt mir seinen Namen, Majestät.“
 

„Puran!“

Leyyas gellender Schrei der Erleichterung durchfuhr die Männer im Palast durch und durch, als die kleine Heilerin gefolgt von vielen anderen ebenfalls in den Palast rannte. In der Halle am Eingang war großes Tohuwabohu, aber alles, was ihr in dem Moment wichtig war, war ihr Mann, der, mühsam auf den alten Kohdar gestützt, jetzt apathisch den Kopf drehte. Er war am Leben! Wie lange hatte sie sich gefürchtet und im Schlaf geweint auf der langen Reise mit dem Schiff zur Küste, wie lange hatte sie sich gesorgt? Er sah schlimm aus... aber er war am Leben! Und sie war Heilerin, sie würde ihn schon wieder flicken. In Anbetracht seiner offenbar schweren Verletzungen unterließ sie es, ihm stürmisch um den Hals zu fallen, als sie ihn erreichte. Stattdessen brach sie vor Freude über seine Existenz in Tränen aus und fasste vorsichtig nach seiner schmutzigen Wange.

„Du lebst...“, wisperte sie aufgelöst, „I-ich hatte solche Angst! Ich habe... ich habe das alles gehört, d-das... das geht nicht in meinen Kopf! Der König... ist...?“

„Dein Mann ist jetzt König.“, erklärte Henac Emo ihr, der wie immer süffisant grinste und allem Anschein nach rundum zufrieden war, „Ist das nicht witzig? Oh, verzeiht mir, meine Königin, meine ich natürlich.“

„Halt den Rand...“, stöhnte Puran und drohte trotz Kohdars Stütze zusammenzubrechen, „Ich... kann das jetzt nicht. Nein, falsch, ich kann das überhaupt gar nicht, weder jetzt noch zu einer anderen Zeit. Das ist nicht mein Metier, das funktioniert nicht. Ich bin Senator... ich bin kein König.“

„Der alte König hat es aber so gesagt.“, beharrte Emo, „Warte, bis die Minister die Papiere bringen, du bekommst sicher schriftliche Zeugnisse darüber. Aber vielleicht sollte deine Königin dich erst mal wieder zusammenbauen, bevor du in Ohnmacht fällst.“ Puran warf Leyya einen verstörten Blick aus geröteten, apathischen Augen zu. Sie erkannte darin seinen Schmerz und die Trauer über den Verlust; sie wusste, dass ihr Mann den König sehr geschätzt hatte. Bedrückt senkte sie den Kopf, als er zu ihr sprach; sie fühlte sich schuldig, weil sie so erleichtert war, dass es nicht er war, der gestorben war... was war sie für eine garstige Person?

„Bitte lass mich allein, Leyya. Ich würde... jetzt mit dir schimpfen, was du hier verloren hast... du solltest in Yiara sein. Aber ich habe... einfach keine Kraft dafür. Lass dir vom König ein Zimmer... ach... verdammt. Nimm dir ein Zimmer, irgendeins, und bleib da, bis ich mich beruhigt habe.“ Sie schauderte. Er war verwirrt... sie war es auch. War er jetzt allen Ernstes König von Kisara? War sie jetzt Königin? Das erschien alles so unrealistisch... das konnte doch nicht sein.

„Tu besser, was er sagt.“, murmelte Alona hinter ihr und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Er wird sich beruhigen. Wir müssen... uns alle erst mal beruhigen. - Geh... du weißt ja, wie du zu den Korridoren kommst, du warst oft genug hier.“

„Was ist mit dir?“, fragte die kleine Heilerin bedrückt, „Was... tust du?“

„Keine Ahnung. Abwarten.“
 

Yarek war genervt. Das war er oft, aber jetzt war er es besonders, als Tayson keuchend gemeinsam mit Simu zurück in den Hof des Palastes kehrte, während Eneela, Thira Jamali und die Seherin hinter ihm standen und Neisa am Boden kauerte, den großen, zottigen Hund umarmte und herzerweichend heulte.

„Und?!“, fragte der Rothaarige die beiden Männer, die nur apathisch die Köpfe schüttelten.

„Nirgends. Wir haben das gesamte Schlachtfeld abgesucht, aber Karana und Iana sind einfach nirgends zu finden. Verdammt, das kann nicht sein! Sie müssen doch irgendwo sein!“, schimpfte Tayson, und Neisa schrie panisch und vergrub heulend das Gesicht in dem Fell des Hundes, der nur jaulte.

„Karana!“, schrie sie aus vollem Hals, wobei sich ihre Stimme überschlug, „Ich will zu Karana! Ich will das alles nicht, ich will zu meinem Bruder... ich drehe durch hier! Ich halte das nicht mehr aus! Verdammt, die Leute behaupten, mein Vater wäre König! Ich will Karana...“ Und sie heulte und schluchzte und kriegte sich gar nicht mehr ein. Tayson setzte sich zu ihr und nahm sie tröstend in den Arm, aber sie umklammerte nur Karanas Hund und heulte noch lauter. Yarek musterte Simu, der am ganzen Körper zitterte. Sie alle hatten mehr oder minder schwere Blessuren davongetragen, aber alle waren soweit wohlauf, dass sie gehen konnten.

„Das Schlachtfeld ist voller Blut und Leichen.“, murmelte der blonde Bruder von Neisa und senkte den Kopf, „Wir... haben wirklich jede einzelne, verdammte Leiche angeguckt. Wir haben nach Körperteilen gesucht oder nach Waffen, die darauf hinweisen könnten... Karana und Iana sind wie vom Erdboden verschluckt. Seherin, sag doch was! Weißt du denn nicht, wo sie sind?“

„Was?“, machte Ryanne und hob verblüfft den Kopf – nur ein Blick in ihr absolut konfuses Gesicht genügte Yarek, um zu wissen, dass sie offenbar ihr Gedächtnis verloren hatte. Dabei hatte sie erzählt, sie würde nicht vergessen, wenn er bei ihr war. Lügnerin. „Häh, wer seid ihr, zum Geier?“

„Verdammte Scheiße!“, fuhr Simu sie an, „Wir haben gerade keine Nerven dafür!“ Yarek zog eine Braue hoch beim unverhofften Zorn des kleineren Mannes vor ihm. „Mein Bruder ist verschwunden und vielleicht tot! Der König ist tot und irgendjemand erzählt, mein Vater sollte sein Nachfolger werden! Ich kann deine Spielchen gerade nicht ertragen, du verdammte, unfähige Frau! Ich drehe am Rad!“ Sich wütend die blonden, schmutzigen Haare raufend stakste er durch die anderen hindurch, um sich auf Neisas andere Seite zu setzen und sie ebenfalls zu trösten zu versuchen. Doch das blonde Heilermädchen schenkte weder ihm noch Tayson Beachtung, der einzige, an den sie sich anschmiegte, war der große Hund, der das mit sich machen ließ und stumm nach Osten sah. Yarek seufzte. Es lief doch einfach alles schief. Was für ein grausamer Tag...

„Gut.“, sagte er, kehrte seinen Schützlingen den Rücken und steckte sich eine Zigarette an, „Dann warten wir, bis die dumme Seherin wieder weiß, wer wir sind.“

Oh, wie er es hasste, nicht voran zu kommen. Er verfluchte abermals Chenoa, diese verdammte Frau, die ihn zu dem gemacht hatte, was er war... Chenoa war Schuld an allem. Grundsätzlich. Sie verdiente es, verflucht zu werden...
 

Die Verfügung war eindeutig. Puran hatte sich schwerfällig von seinem Kollegen Kohdar gelöst, um zu versuchen, einigermaßen gerade zu stehen, was ob der gebrochenen Rippe absolut unmöglich war, wenn er noch einen Moment lang sein Bewusstsein behalten wollte. Der Schmerz ließ ihn schillernde Farben vor seinen Augen tanzen sehen, und die Minister, die die Papiere in die Halle gebracht hatten, leuchteten grün, rosa und blau zugleich, während das Pergament mit der Verfügung ein blendendes Weiß hatte. Die grellen Farben schmerzten und er wünschte sich Schatten... er wartete sehnsüchtig auf den Moment, in dem er sich der nahenden Ohnmacht hingeben konnte, die er schon viel zu lange in Schach hielt, seit der Kampf vorüber war. Was erwarteten diese Mistkerle von ihm, so lange hier stramm zu stehen? Er war müde, seine Brust schmerzte wie von Dämonen verflucht und sein verwundetes Bein ließ das Stehen auch unangenehm werden. Verdrossen fragte er sich, wie er die Treppe hinauf in sein Gemach kommen sollte... hey, er war jetzt König, er könnte sich von irgendwem tragen lassen. Wie entwürdigend...

„Kann der das einfach machen?“, fragte einer der anderen Senatoren um ihn herum, die alle gekommen waren, sowie die obersten Minister, Berater und der General, der auch nicht so begeistert von der Entscheidung des alten Königs zu sein schien. Puran spürte seine feindseligen, misstrauischen Blicke. „Ich meine, kann denn einfach irgendjemand zufällig ausgewähltes König sein?“

„Wenn der amtierende König das so hinterlegt hat, ja.“, behauptete der Notar mit dem Pergament, „Die Chance, dass er im Kampf fiele, war immerhin da, deswegen hat er ja seine Verfügung hinterlassen. Und wenn es nun eben Herr Lyra ist, dann ist er es. Daran besteht gar kein Zweifel, meine Herren. Sehen wir es so, egal, wer König wird, er hat immerzu Fürsprecher und Gegner. Das hätte jeder leibliche Sohn unseres verstorbenen Herrschers ebenso.“

„Aber ein Magier!“, brummte der General, „Noch nie war ein Schamane König von Kisara!“

„Aber in Janami gibt es das manchmal.“, sagte ein anderer Senator, „Die Schamanen sind fast genauso zahlreich vertreten in unserem Volk wie die Nichtmagier, es ist ihr gutes Recht.“

„Sind wir hier in Janami?!“, empörte sich der General, „Die in Janami sind ja auch barbarisch!“

„Hütet Eure Zunge in Gegenwart des Königs, mein Herr!“ Dann war es still und alle Blicke richteten sich auf Puran Lyra, der schwer keuchend mit seinem schwindenden Bewusstsein rang. Er merkte reichlich langsam, dass die Männer erwarteten, dass er etwas sagte.

„Können... wir das nicht... nachher klären? Ich bin... etwas müde, ehrlich gesagt... ich glaube nicht, dass... ich jetzt fähig bin, ernsthaft zu diskutieren, meine Herren...“

„Was ist denn nun?“, fragte der General, „Nehmt Ihr denn das an, was der König Euch hinterlassen hat?“

„Habe ich... eine Wahl, es abzulehnen? Davon hat bisher kein Mensch gesprochen.“

„Sicher habt Ihr die, Ihr könntet abdanken und dann wählen wir einen neuen König.“

„Das ist doch Unsinn!“, brummte ein Senator, „Das dauert doch viel zu lange! Wir sind im Krieg, morgen könnte es gleich weitergehen! Wir haben keine Zeit für große Debatten! Ich betrachte es als diplomatische Lösung, Senator Lyra sozusagen vorübergehend dieses Amt zu gewähren und eine endgültige Entscheidung hat der gute Mann dann zu treffen, wenn Ruhe einkehrt, falls wir Ela-Ri überleben. Davon abgesehen, vielleicht macht er seine Sache doch gut, General!“

„Und was wird aus uns Nichtmagiern, wenn die Magier sich plötzlich überlegen fühlen, weil einer von ihnen König ist?“

„Fragen wir anders...“, stöhnte Puran und widerstand der Versuchung, nach seiner pochenden Brust zu fassen, „Was... war denn mit den Magiern... als der Vater des letzten Königs sie unterdrückte und ihnen keinerlei Rechte gewährte...? Die Nichtmagier sind... genauso ein Volk von Aufschneidern wie es die Schamanen auch sind... wir alle... sind Menschen und sind von Natur aus materiell veranlagt. Ich... kann jetzt wirklich nicht mehr, ich würde... wirklich lieber zuerst einen Kaffee trinken.“

„Gütiger Himmel, Ihr solltet keinen Kaffee trinken, sondern von den Heilern behandelt werden.“, machte der Notar, „Ich denke auch, dass es sinnvoller ist, wenn wir das später regeln, meine Herren.“ So sprach er und verneigte sich vor den Anwesenden, während die übrigen Männer zustimmend murmelten und einander zunickten.

„Gut.“, schnaufte der General, „Ich bin gespannt, was Ihr für glorreiche Pläne habt, Majestät, die uns in dieser Situation helfen können. Wir sprechen uns dann also, wenn Ihr wieder atmen könnt, und beeilt Euch besser mit dem Genesen.“ Puran stöhnte und drehte sich herum, um in all dem Dschungel aus Farben und Schmerzen den Weg zur Treppe zu finden. Er sah seine Cousine bei der Treppe stehen, nahm aber kaum Notiz von ihr und wunderte sich nicht über ihre Anwesenheit; selbst dann nicht, als er beinahe gestürzt wäre und sie seinen Arm packte, um ihn festzuhalten.

„Vollidiot.“, tadelte sie ihn, „Lass dir helfen, du verreckst doch auf dem Weg. Und dann müssen wir schon wieder einen neuen König suchen, das ist doch viel zu aktig. - Tare, Himmel, hilf mir doch mal.“ Senator Lyra, der jetzt irgendwie König war, schnappte nur nach Luft, als Kohdar wieder zurück kam und ihn abermals stützte.

„Meine Kinder...“, keuchte er irgendwann, während sie zu dritt irgendwie die Treppe hinauf humpelten, „Wo sind die Kinder, Tare? Sie sind doch wohlauf... oder? Was bin ich für ein schlechter Kerl, dass ich sie vergesse...“

„Du hast jetzt andere Sorgen.“, erwiderte Kohdar ernst, „Ich suche nach deinen Kindern, sobald du im Bett liegst. Leyya wird sich um deine Wunden kümmern, alter Freund.“

„Sie ist auch da...?“, stöhnte er und hatte schon wieder vergessen, dass er doch vorhin noch mit ihr gesprochen hatte, „Was hat sie hier verloren...?“

„Himmel, du fantasierst ja schon.“, seufzte Alona neben ihm, „Jetzt halt einfach den Mund und mach ihn erst wieder auf, wenn du wieder heil bist.“ Mit etwas Mühe gelangten sie hinauf in den Korridor und zu dem Zimmer, das der alte König seinem treuesten Untergebenen überlassen hatte, wo sie der Einfachheit halber pausierten, statt irgendwen zu fragen, ob der neue König jetzt auch ein neues Zimmer bräuchte; dafür war keine Zeit.

Das Bett war angenehm, und plötzlich nicht mehr stehen oder gehen zu müssen war erleichternd, und der Mann raufte sich keuchend vor Schmerzen die braunen Haare, als er voll angezogen auf dem Bett lag und seine Cousine so gütig war, ihm wenigstens die Schuhe auszuziehen.

„Ich bringe dir deine Frau.“, seufzte sie dabei, „Dann soll sie dich ausziehen, ich mache dabei nur alle Wunden schlimmer. - Tare. Komm, gehen wir. Es gibt sicher genug, das zu tun ist.“ Tare Kohdar räusperte sich ebenfalls und murmelte etwas von Gute Besserung, ehe die zwei sich entfernten und die Tür ins Schloss fiel. Und endlich kam die lang ersehnte, erlösende Ohnmacht, die seine Schmerzen verjagte.
 

Vialla war kaum beschädigt worden in der Schlacht. Asta war verblüfft, als sie gemeinsam mit vielen anderen Zivilisten die Katakomben unter dem Schloss verlassen hatte, in denen sie sich in Sicherheit gebracht hatten, und die Stadt so aussah wie immer. Rauch zog über den schattigen Himmel und eine ungewöhnliche, trostlose Stille war eingetreten. Asta hatte gehört, der König wäre ums Leben gekommen; das war keine gute Nachricht, nahm sie an. Aber sich mit Fragen zu beschäftigen, was jetzt geschehen sollte, stand ihr nicht zu; sie hätte es ohnehin nicht sagen können. Umgeben von Menschen jeden Alters, überwiegend aber Kindern, Frauen und Alten, hielt sie auf der Hauptstraße an und ließ die anderen in alle Richtungen davon ziehen zu ihren Häusern. Wohin sollte sie? Zurück in den Palast, wo sie gelebt hatte, weil sie zufällig mit den Sieben zusammen angekommen war? Oder sollte sie Vialla verlassen und irgendwo weit weg von hier ihr Glück suchen...? Irgendwie hatte sie nicht das Gefühl, dass das Glück ihr je hold werden würde... sie war und blieb eben eine hässliche Bohnenstange. Und es gab niemanden auf der Welt, den sie interessierte. Kurz fragte sie sich, ob ihr Vater und ihr Bruder wohl noch lebten. Vielleicht hatte sie einmal Glück und die beiden waren erschlagen worden, als Ela-Ri Ostsenjo überrannt hatte, wie Zoras erzählt hatte.

Zoras... sie fragte sich, wie es ihm ging. Er war ihr immer unheimlich gewesen, aber gleichzeitig war er der einzige Mann in ganz Holia, der jemals freundlich zu ihr gewesen war. Wenn auch auf seine eigene, merkwürdige Art, das war mehr, als sie verlangen konnte. Sie hoffte, er war wohlauf...

„Ich werd verrückt... Asta?!“

Sie fuhr herum beim Klang der vertrauten Stimme – und traute ihren Augen nicht, denn plötzlich stand Zoras vor ihr und starrte sie verblüfft an. Moment – nein, beim näheren Hinsehen erkannte die junge Frau, dass es gar nicht Zoras war, sondern sein Vater, und neben ihm war auch die hübsche Pakuna, Zoras' Mutter.

„Ram... Derran und Pakuna!“, machte sie erschrocken und wunderte sich – wie waren die denn hierher gekommen? „I-ich – na, sowas...!“

„Was für ein seltsamer Tag!“, japste Pakuna, und sie tat etwas Verblüffendes, als sie Asta einfach umarmte. „Was für ein Glück, zu sehen, dass du lebst, arme, kleine Asta... dein Vater war fuchsteufelswild, als er merkte, dass du weg bist...“ Asta war so erstaunt über all das, dass sie nicht sprechen konnte.

„A-aber – wieso...?“

„Wir haben Holia den Rücken gekehrt und sind nach langer Reise hier gelandet.“, erklärte die hübsche Frau mit den schwarzen Haaren strahlend, während ihr Mann brummte. „Ela-Ri hat angegriffen... wir haben es von weitem gesehen, als wir im Westen in die Stadt gekommen sind... wir haben erst überlegt, nach Norden wegzurennen, aber dann haben wir gedacht, dass es nirgendwo sicherer ist als in Vialla... und Arlon wird hier sicher nicht herkommen.“

„Mein Vater...“, stammelte Asta, und sie fing einen müden Blick von Ram Derran, „Er lebt noch?“

„Keine Ahnung.“, behauptete der Schamane und verschränkte trotzig wie ein Kind die Arme, „Ist mir auch einerlei, was mit dem ist.“

„Zoras hat gesagt, Ela-Ri wäre nach Kamien gekommen... wenn ihr durch Thalurien gekommen seid, wie seid ihr ihnen entkommen? Dem Zweig, den... sie im Hochland geschlagen haben...“ Sie erinnerte sich schaudernd an die Schlacht; weiter kam sie nicht, denn Pakuna starrte sie an.

„Zoras!“, japste sie, „Zoras ist bei dir? Wir haben Holia in aller Eile verlassen und... wussten nicht, wo er ist... wie geht es ihm?“

„Ela-Ri hat Kamien geplättet?“, fand Ram fiel spannender, und er zog die Brauen hoch, „Das ist übel...“ Asta wurde unterbrochen, als sie Pakuna gerade berichtete, was ihr alles widerfahren war und wo Zoras war, als plötzlich schon wieder jemand ihren Namen rief, dieses Mal aus der anderen Richtung. Dieses Mal kam verblüffenderweise Tayson den Hügel herab.

„Hier bist du!“, begrüßte der junge Mann sie verdutzt, „Und – ähm... warte, Kurzhöschens Eltern?!“

„Wer ist denn das wieder?“, fragte Ram Derran verdattert, und Tayson ließ Asta nicht erklären.

„Simu und ich haben beschlossen, dich zu suchen und zurück zum Palast zu bringen; oder hast du etwas Besseres, wo du bleiben kannst? Irgendwie fühlen wir uns verantwortlich und es läuft alles aus dem Ruder... Karana und Iana sind spurlos verschwunden, Neisa hat einen Nervenzusammenbruch und ihr Vater wird jetzt König von Kisara, ich meine... das ist die Härte.“

Wie bitte?“, keuchte Ram Derran und verlor vor Schreck seinen Speer aus der Hand, den er getragen hatte, „Neisas Vater?! Puran Lyra wird... was wird er?!“

„Äh, wollt ihr auch mitkommen...?“, wunderte Tayson sich, „Zoras ist zwar gerade weg, aber der kommt angeblich irgendwann wieder, also...?“

„Um Himmels Willen!“, keuchte Pakuna darauf und Asta wusste gar nicht, was sie mehr verblüffen sollte; dass Puran Lyra gerade König des Landes wurde oder dass sich allen Ernstes jemand um ihr Wohlergehen sorgte... sie konnte nicht weiter denken, denn Tayson griff ihre Hand und zog sie mit sich, und sie sah aus dem Augenwinkel, erfüllt von einer großen Verwirrung, dass Zoras' Eltern ihr unbeholfen folgten.
 

Die Nacht musste schon fortgeschritten sein. Puran hatte sich nicht mit der Frage aufgehalten, wie lange er wohl bewusstlos gewesen war; als er aufgewacht war, hatte seine Frau bei ihm am Bett gesessen. Seine Wunden waren entweder verschwunden oder soweit versorgt, dass sie ihn nicht mehr belästigten; selbst der Rippenbruch verursachte nur noch einen dumpfen, erträglichen Schmerz in seiner Brust, als er sich aufsetzte und endlich dazu kam, Leyya in die Arme zu schließen.

„Es passieren schlimme Dinge...“, murmelte er, während sie sich weinend an ihn drückte und mit ihren zierlichen Armen seinen Nacken umschlang. „Vergib mir, Leyya... dass ich dir dieses Theater nicht erspart habe.“

„Wie hättest du das tun sollen, mein Liebster?“, wisperte sie neben seinem Ohr und er spürte, wie sie in seiner Umarmung zitterte. „Ich bin ja so froh, dass du lebst... ich hatte wahnsinnige Angst um dich...“

„Dumme Frau...“, seufzte er, meinte den Tadel aber nicht wirklich ernst, als er das Gesicht zu ihrem Nacken drehte und sie sanft küsste, „Etwas mehr Vertrauen, Leyyachen... hältst du mich für so unfähig?“ Er wusste, dass sie errötete; es tat gut, sie bei sich zu haben. Es lenkte ihn von der Pflicht ab, die jetzt plötzlich auf ihm lastete, die er niemals gewollt oder erwartet hatte. Ihm fielen seine Kinder ein – ob Tare und seine Cousine sie gefunden hatten? Die Gedanken an das, was ihnen passiert sein könnte, verschaffte ihm Übelkeit; wie hatte er so verantwortungslos sein können, sie in die Schlacht ziehen zu lassen? Auch, wenn sie schon erwachsen waren... was war er für ein Vater, dass ihm nicht früher einfiel, nach ihnen zu sehen? Doch die Gedanken in seinem Geist waren so durcheinander und störend, dass er kaum Zeit hatte, wirklich an sie zu denken...

Er war König von Kisara. Er war jetzt so ziemlich das Letzte, was er jemals hatte werden wollen... wie hatte er nur in dieses Desaster geraten können? Er verfluchte sich dafür, hier gelandet zu sein. Er hätte lieber Jäger im Dorf werden sollen, ein einfacher Mann und Familienvater, keine hohe Persönlichkeit, die auch nur den Hauch eines Einflusses außerhalb ihrer Familie hatte. Aber die Geister hatten schon vor seiner Geburt seinen Weg bestimmt... und festgelegt, dass er nie so etwas sein würde. Er war ein Sohn des mächtigen, uralten Lyra-Clans, des Clans der mächtigsten Rufer und Geisterjäger... das Schicksal hatte nie vorgehabt, ihn normal sein zu lassen. Und irgendwann hatte er gelernt, dass es am gesündesten für alle Beteiligten war, wenn er sich seinem Schicksal trotz allen Missfallens fügte.

Und dennoch war es so angenehm, wenigstens für einen flüchtigen Moment dieses Schicksal, die Geister und alle Bestimmungen einfach hinter sich zu lassen, als seine Hände an Leyyas Rücken hinauf glitten und begannen, ihre Bluse hinten aufzuschnüren, wobei sie sich leise seufzend gegen ihn presste. Aber es war schwer, das zu verdrängen... darin war er noch nie gut gewesen, stellte er fest und war positiv erstaunt über sich selbst, dass sein Körper ihn ausnahmsweise Mal nicht im Stich ließ, als er seine kleine Frau auf unüblich zärtliche und ruhige Art liebte; wenn er nervös war, versagten seine männlichen Triebe sonst gerne mal... versagen tat nur seine linke Hand mal wieder, die wieder heftiger zitterte, als er keuchend im Bett lag und seine hübsche, kleine Frau über ihm tanzte, wie sie viel zu lange nicht mehr für ihn getanzt hatte. Leyya griff nach seiner Hand und küsste sie.

„Deine Hand gehorcht dir schon wieder nicht... sag doch was. Ich gebe... dir die Knollen, die das bändigen...“

„Erst, wenn die Ela-Ri-Krieger zurückkommen.“, stöhnte Puran und lehnte den Kopf zurück, ehe er seine bebende Hand ihrer entzog und ihren Bauch hinauf bis zu ihren kleinen, festen Brüsten strich. „Du weißt, die Knollen zu oft zu essen macht einen verrückt... nur im nächsten... Kampf wäre es wirklich... ah... von Vorteil...“ Er schnappte nach Luft, als sie den Finger auf seine Lippen legte. In ihren Augen stand das Feuer, das sie gerade teilten; das sie so oft schon geteilt hatten, immer wieder, und ihre Erregung zu sehen steigerte auch seine eigene.

„Sprich nicht mehr... ich weiß doch. Ich verfluche die Zuyyaner, die deine Hand so unheilbar geschändet haben damals... auch, wenn ich das Loch in deiner Hand habe heilen können, die Zuckungen bekomme selbst ich nicht weg.“

„Und zu mir sagst du, ich solle nicht sprechen!“, stöhnte er lauter und schloss zitternd die Augen. Seine Brust schmerzte dumpf, aber er spürte es kaum, weil es unterging in der Hitze der Vereinigung, als sie sich so leicht wie eine kleide Feder über ihm bewegte und ihn mit so geübten Berührungen stimulierte. Als der Höhepunkt kam, war es wie auf die andere Seite des Himmels zu gleiten, um dann wieder zurück auf den Boden zu kommen, wo die Schatten und alle Pflichten, die noch vor ihm lagen, mit einem mächtigen Hammerschlag plötzlich wieder da waren.
 

Auf dem Hinterhof war es eiskalt. Yarek machte die Kälte nichts mehr aus. Er hatte lange genug auf der Zuyya gelebt, dem Planeten, auf dem es keine Sonne und keine Wärme gab. Auf Zuyya war es kälter gewesen als hier... wie lange war er jetzt schon fort von dem blauen Mond? Er hatte Zuyya nie als seine Heimat betrachtet, solange er dort gewesen war, und er hatte sich gesagt, dass er nur dafür lebte, eines Tages wieder in seine wahre Heimat kehren zu können, befreit von seiner Vergangenheit und allem, was sie mit sich gebracht hatte, um als freier, einfacher Mann in Kuyala zu leben. Vielleicht würde er eine Frau und Kinder haben, und für niemanden außer für sie würde er jemals wieder Dinge tun. Und dennoch hingen seine Gedanken jetzt, wo er auf Tharr war, oft an Zuyya und bei Chenoa, dieser Wahnsinnigen, die alles wusste, alles sah und die an allem Schuld war. Genau genommen erinnerte er sich mehr an seine Jahre bei Chenoa als an die Zeit davor in Kuyala, dem trockenen Nachbarland von Fann, in dem es genauso wenig regnete. Er war, so vermutete er, knapp zehn Sommer alt gewesen, als die zuyyanischen Krieger ihn mit vielen anderen gefangen und nach Zuyya verschleppt hatten. Genau genommen hatte er kein Recht, auf Chenoa zu fluchen, denn wäre sie nicht gekommen, säße er jetzt im Kerker des Palastes von Ahrgul, wenn er nicht längst gestorben wäre. Sie war gekommen und hatte sein Leben grundlegend verändert... Yarek war sich nicht sicher, ob er sie dafür verehren oder verabscheuen sollte.

Auf dem Hof hockte Ryanne einfach so am Boden und kehrte ihm den Rücken. Er fragte sich, ob ihr nicht kalt war; immerhin stammte sie aus Fann und war im Gegensatz zu ihm sicher nicht durch einen Aufenthalt auf Zuyya abgehärtet. Aber die Seherin hatte ihn ja schon öfter überrascht, so sagte er sich, dass es nichts außergewöhnliches sein mochte. Er hatte den ganzen Palast nach ihr abgesucht, denn sie war vermutlich die Einzige, die sagen konnte, was mit Karana und Iana passiert war... und das interessierte ihn ziemlich. Er hatte bei Sonnenuntergang beobachtet, wie der General von Kisara dafür gesorgt hatte, dass die Leichen eingesammelt, aufgehäuft und verbrannt wurden. Man hatte den Feinden ebenfalls gestattet, ihre Toten zu holen und sie auf ihre Weise zu bestatten. Die Arbeit hatte bis tief in die Nacht gedauert und wenn Yarek jetzt nach Süden sah, sah er noch die Rauchschwaden des großen Feuers der Leichenverbrennung. Es hatten viele Männer beider Fronten den Tod gefunden... die Leiche des Königs hatte sie natürlich nicht auf den Haufen geworfen, er würde am folgenden Tag eine eigene, ehrenvolle Bestattung erhalten. Und nach langer Suche hatte der rothaarige Söldner die dämliche Seherin endlich gefunden. Der Morgen würde bald grauen und er hatte die ganze Nacht lang kein Auge zugetan. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass sie ihr Gedächtnis wiederfand, wenn er das vermochte. Er war nur ein einfacher Mensch, er war kein Magier und er hatte keine großartigen Mittel. Aber wenn er es nicht tat, wer würde es sonst tun?

Er räusperte sich und stellte sich neben die Frau, die am Boden hockte und wie ein kleines Kind mit dem Finger auf dem Steinboden herum malte. Er fragte sich, ob sie nicht nur das Gedächtnis, sondern auch den Verstand verloren hätte.

„Es war eine kluge Entscheidung.“, sagte sie prompt und er zog gelassen eine Zigarette aus seiner Manteltasche, um sie sich zwischen die Lippen zu klemmen.

„Wat?“, machte er und vergaß unabsichtlich, seinen Dialekt zu verbergen.

„Sie haben Puran Lyra zum König gemacht, meine ich. Das war eine kluge Entscheidung, er wird es gut machen.“

„Sagst du das, weil er gut aussieht?“, fragte er und ignorierte die Hochsprache dann; ihr Geburtsland lag neben seinem, sie sollte keine Probleme mit seinem Dialekt haben.

„Er ist der Herr der Geister. Und er hat die Macht, den König zu schlagen. Er wird ihn nicht töten, weil er sich selbst verboten hat, jemals wieder einen Menschen zu töten. Als Krieg war gegen Zuyya war Puran Lyra ein großer Krieger. Er hat viele Feinde geschlachtet... nur General Ayjtana hat er nie erwischt.“ Yarek zog die Brauen hoch. General Ayjtana? Den Namen hatte er von Chenoa schon einmal gehört... er musste ein großer General des zuyyanischen Imperiums gewesen sein, Chenoa hatte gesagt, er wäre ein guter Mann gewesen. Brummend steckte der Mann sich seine Kippe an und blies den Rauch in die eisige Nachtluft.

„Warum erzählst du mir das jetzt? Hast du dein Gedächtnis zurück, Ryanne? Wo sind Karana und Iana?“

„Noch sind sie am Leben.“, kicherte die Blonde und dass sie es nicht mal für nötig hielt, ihn beim Sprechen anzusehen, machte ihn wütend. Schnaubend trat er nach ihr und stieß sie damit um, ohne sie ernsthaft zu verletzen. Sie rappelte sich mit einem anzüglichen Grinsen wieder auf und schenkte ihm einen eigenartigen, diabolischen Blick aus ihren violetten Augen. „Hast du Angst um deine Schäfchen, großer Beschützer?“, raunte sie und kam ihm näher, bis sie direkt vor ihm stand und ihre schlanken, gebräunten Finger wie eine Spinne seine Brust hinab krabbelten. Er schlug ihre Hand weg.

„Es ist meine Aufgabe und du weißt das, Ryanne. Ich warne dich, verarsch mich nicht.“

„Weil du für Chenoa alles tun würdest, nicht wahr?“, grinste sie und er stellte widerwillig fest, dass ihre gesenkte Stimme ihn irgendwie erregte. Diese elende Nymphomanin... „Du denkst viel an sie, ich habe es gesehen. Man wird noch denken, du seist verliebt.“

„Chenoa ist vieles für mich gewesen.“, brummte er und sah keinen Grund, ihr die Wahrheit zu verschweigen, „Sie war meine Mutter, meine Schwester, Lehrerin und Liebhaberin, aber das, was ich tue, tue ich nicht für sie. Chenoa kann man nicht beeindrucken, sie ist eine Maschine. Zum letzten Mal, wo ist Karana?“ Er sah, wie Ryanne ernst wurde. Zischend nahm er seine Zigarette aus dem Mund und warf den letzten Stummel auf den Boden, wo er ihn austrat. Die Frau hob ihre Hand wieder und strich mit einem ausgestreckten Finger über seine Stirn, seine Nase, seine Lippen und hinab zu seinem Kinn, dabei machte sie den Eindruck, als wollte sie irgendwelche Geister in ihm beschwören. Das einzige, was sie mit ihrem diabolischen, apathischen Blick und ihrer Stimme beschwor, war die Flamme in seinen Lenden, und er fragte sich, was mit dieser Frau kaputt war.

„Ich sehe... Schatten.“, keuchte sie dann und ein Schauer durchfuhr ihn, „Viele Schatten... in Karanas Geist. Es ist der Schattengeist in ihm, den sie aufwecken... hast du seine Eckzähne gesehen? Er hat sie von ihm...“

„Weißt du denn, wo er ist?“, knurrte der Mann und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, sodass er gegen die Säule stieß, sie den Balkon über dem Hof abstützte. Ryanne machte eine einladende Bewegung mit ihrer Hüfte und er ärgerte sich darüber, dass sie so offenherzig mit ihren Reizen spielte. Chenoa war mit sowas zwar dezenter gewesen, aber sie hatte auch immer genau gewusst, was sie tun musste... das Verlangen in ihm, diese verdammte Esoterikerin jetzt an die Wand zu pressen und sie wie ein Mann zu nehmen, benebelte seinen Verstand, als sie sich plötzlich gegen seine Brust drückte und das Knie anzog, um es gegen seinen bereits harten Schritt zu drücken.

„Ich sehe Finsternis, die über Tharr fällt...“, wisperte sie stimmlos und er zog zischend die Luft ein, als er ihr in das apathische Gesicht starrte. „Wenn die Sonne zum dritten Mal den höchsten Stand erreicht hat, wird er kommen.“

Er hatte keine Lust mehr, sich darüber zu ärgern, dass die dumme Nuss ihm dauernd auswich und ihm seine Frage nicht beantworten wollte; vielleicht konnte sie es auch tatsächlich nicht. Mit einem Knurren packte er sie, drehte sich mit ihr herum und stieß sie gegen die Säule, um seine Hände unter ihre dürftige Kleidung zu schieben und sie ihr so weit vom Leibe zu zerren, bis sie nicht mehr im Weg waren. Vielleicht würde sie so gnädig sein, ihm zu antworten, wenn er ihr gab, was sie verlangte; und sich selbst den Gefallen tat, addierte er angewidert von seiner eigenen Erregung, als er sie ohne große Mühe an der Säule nahm und sie unter seinen Berührungen keuchte. Aber sie verschaffte ihm Erleichterung und es war etwas Gutes... es war eine ganze Weile her, dass er zum letzten Mal eine Frau genommen hatte; er fragte sich abermals, wie lange er schon von Zuyya fort war.
 

Die Geister waren nervös und Neisa war es mit ihnen. Sie war nur Heilerin und hörte nicht viel von den Stimmen der Windgeister... aber sie spürte die Unruhe in ihrem Inneren, die mehr eine Panik war, seit ihr Bruder verschwunden war. Tayson bemühte sich rührend um sie und sie war ihm dankbar... aber sie konnte sich nicht auf seine heilsame Wirkung und die Zärtlichkeiten konzentrieren, die er ihr vermittelte, weil zu viel anderes in ihrem Kopf herum spukte. Mit Asta waren plötzlich Zoras' Eltern aufgetaucht... im ersten Moment hatte sie seinen Vater für ihn selbst gehalten, und was sie viel mehr irritierte als das – Ram Derran war wirklich absolut eindeutig der Vater von Zoras, sein Sohn war wie eine Miniaturausgabe von ihm – war das Brennen in ihrem inneren, das sie verspürt hatte in dem Moment, in dem sie an Zoras gedacht hatte. Sie hatte es oft gespürt, seit sie in den letzten Monden des Öfteren mit ihm alleine gewesen war, und sie wusste instinktiv, dass es ein Brennen war, das sich für eine Frau nicht gehörte. Und schon gar nicht für ein Mädchen, das noch nicht geblutet hatte und keine richtige Frau war. Sie fürchtete sich vor ihren eigenen Gefühlen... sie waren falsch und sie verbrannten sie auf schmerzhafte, schlechte Weise. Und dennoch konnte sie den brennenden Schmerz nicht vergessen, während sie in Taysons Armen lag und er ihr tröstende Worte ins Ohr flüsterte, um sie zu beruhigen. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, zu sprechen.

„Brennst du... auch so, wenn du mich ansiehst, Tayson?“, keuchte sie tonlos und umklammerte die Decke, unter der sie gemeinsam in ihrem Bett lagen, natürlich komplett angezogen, weil sie noch ein Mädchen war. „Tut es weh?“ Tayson ließ sie abrupt los und hustete erschrocken.

„W-was?!“, japste er und sie sah in sein Gesicht; ihr Instinkt sagte ihr in der Dunkelheit, dass er beschämt errötete. „Also... ich meine... natürlich tut es weh, wenn ich, ähm... zu intensiv an dich denke...“

„Karana hat gesagt, du seist besessen von mir, weil du schon immer versucht hast, mich zu beeindrucken... an meiner Seite zu sein.“, stammelte sie, „Wie fühlt es... sich an? Wenn du mich ansiehst... oder wenn du wie jetzt... so mit mir liegst? Brennt es... nicht?“ Sie musste eindeutig selbst besessen sein... vielleicht verstand sie mehr, wenn er ihr antwortete. Tayson hustete nur erneut.

„Na ja, ich, ähm, beherrsche mich ja... ich meine... ich weiß ja, dass wir nicht... wie Mann und Frau... aber der Gedanke, es nicht zu können, ist schon... hart, irgendwie, ja. Ich bin geduldig, ehrlich.“ Sie blinzelte blöd.

„Ich finde, es ist wie Feuer... es verbrennt mich und... es raubt mir den Schlaf.“ Er schnappte nach Luft; sie kam nicht auf die Idee, dass er sie jetzt missverstand.

„Liebe Güte, Neisa! Ich, ähm, wusste nicht, dass du so denkst... ich... habe nicht geahnt, dass du auch... ich meine, du hast immer so getan, als könntest du mich nicht ausstehen...“ Sie fragte sich, was er da redete, ließ ihn aber und senkte errötend das Gesicht.

„Ich bin verrückt, ich weiß es.“, sagte sie dumpf, „Ich – weiß, dass das Feuer wehtut und mich verbrennt, ich fürchte doch den Blitz, der in die Erde einschlägt und die Flammentöchter zeugt... a-aber irgendwie kann ich nicht aufhören, daran zu denken, und irgendwie gehorcht mein Körper mir nicht, wenn ich zu lange-...“ Er unterbrach sie, indem er plötzlich ungestüm ihr Kinn packte und sie mit einer Leidenschaft küsste, die ihr den Atem verschlug. Erstarrt lag sie im Bett und spürte, wie er seine Lippen gegen ihre presste. Es fühlte sich angenehm an... er war kein schlechter Küsser, und der Gedanke ließ sie wieder erröten. Sanft drückte sie ihre Lippen auch gegen seine, um den Kuss zu erwidern, bis er sie losließ und schnaufte.

„Bitte sprich nicht weiter!“, keuchte er, „Bitte, Neisa, das... das macht mich verrückt, wenn du so redest! Wir werden warten und... eines Tages wird es soweit sein. Eines Tages werden die Geister dich zur Frau machen, bis dahin... bitte... sprich nie wieder davon. Sonst fällt mir meine Geduld einfach zu schwer...“ Sie starrte ihn perplex an und brauchte etwas, um ihn zu verstehen. Verhalten rückte sie ein Stück weg und entschuldigte sich bei ihm für ihre Unbesonnenheit; sie hätte besser nachdenken sollen. Dann lächelte sie verzerrt und kehrte ihm schweigend den Rücken, damit ihre Gedanken wieder zurück zu Karana kehrten, um den sie Angst hatte... und zurück zu dem Feuer, das ihr wehtat und das sie trotzdem begehrte.
 

Die schattigen Wolken klarten auf, als der Morgen kam. Zumindest die im Himmel; im Palast von Vialla herrschte noch genügend Schatten, als der Senat, die obersten Minister und die drei Könige von Senjo, Alymja und Intario sich mit dem Notar versammelten, um zu besprechen, was jetzt mit dem neuen König werden sollte. Senator Lyra hatte sich in aller Frühe etwas schwerfällig von seiner geliebten Frau verabschiedet, die dann aber mit ihm gemeinsam hinunter gegangen war, wo sie jetzt mit den Geisterjägern, Alona, Sagal, Chitra und allen, die sonst noch anwesend und in irgendeiner weise involviert waren, bleiben musste; Puran bedauerte es, nicht wenigstens einen seiner Kollegen mit in die Sitzung nehmen zu können, aber die Geisterjäger waren letzten Endes nicht zuständig für die Politik und hatten dort nichts verloren. Auf dem Weg von seinem Zimmer hinunter zum Thronsaal hatte der Mann die ungläubigen, teils verwirrten, teils verehrenden Blicke der Angestellten und sonstigen Menschen des Palastes gespürt und es behagte ihm gar nicht, von allen Seiten so begafft zu werden, als wäre er eine besonders schicke Jagdtrophäe. Aber im Moment wäre er lieber eine Jagdtrophäe gewesen als ein König, denn eine Trophäe konnte einfach sorgenfrei an der Wand hängen.

„Hals und Beinbruch, Majestät.“, feixte Neron Shai, als der Mann sich von seinen Gefolgsleuten verabschiedete, „Steh deinen Mann. Darf ich dich trotzdem noch Puran nennen?“ Tare Kohdar gab ihm einen Klaps auf den Kopf.

„Idiot.“, schnaubte er dabei. Dasan Sagal betrachtete Puran Lyra kurz eingehend mit seinen scharfen, blauen Augen, ehe er würdevoll den Kopf neigte.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren, Herr. Die Armee steht noch immer vor unseren Toren und die Zeichen stehen schlecht. Ihr solltet nur wissen, dass meine Wenigkeit hinter Euch stehen wird, egal, was geschieht. Ihr habt mein Vertrauen und meine Loyalität, mein König.“ Puran seufzte.

„Bitte hört doch mit diesen Anreden auf, das macht mich wahnsinnig. Ich gehe jetzt in einen Raum voller missmutiger Nichtmagier, die alle denken, ich würde jetzt die Macht an mich reißen und sie verurteilen wollen! Das ist wirklich keine schöne Sache...“ Er kratzte sich am Kopf und fuhr sich nervös durch die Haare, die zu glätten er ausnahmsweise Mal gar nicht erst versucht hatte; dafür war keine Zeit. Er sah sicher unseriös aus mit den Fransen auf seinem Kopf... und rasiert hatte er sich auch immer noch nicht, fiel ihm dabei auf, während er sich gestresst über das Kinn fuhr. Zu seiner einzigen Erleichterung machten seine Kollegen und Sagal auch keinen sonderlich herausgeputzten Eindruck.

Henac Emo sprach, und er konnte sich wie immer sein Grinsen nicht verkneifen.

„Ich weiß, du hörst nicht gern auf mich, Häuptling. Aber lass mich dir einen Rat geben, so als... treuer Untergebener, oder so. Drohe ihnen, Puran. Mach ihnen klar, dass du das Sagen hast, du bist jetzt König. Du trägst die Verantwortung und hast die Entscheidungsgewalt. Wenn sie dir dumm kommen... sag ihnen, dass du die Geister von Himmel und Erde auf sie hetzen wirst, denn das kannst du, und sie wissen das genau. Du bist viel zu weichherzig und willst, dass die Leute dich verehren, wie du bist, aber das werden diese Schlitzohren da nicht tun. Die warten... wie ausgehungerte Wölfe auf ein Zeichen deiner Schwäche, deiner Unentschlossenheit, um es gegen dich zu wenden. Also... zeig ihnen, dass du nicht unsicher bist.“ Der König schnaubte; das war das erste Mal, dass dieser Mann ihm etwas gesagt hatte, was definitiv wahr und vernünftig war... heute keine sexuellen Anspielungen?

„Aber ich bin doch unsicher.“, behauptete er dann verdrossen, „Soll ich lügen?“

„Ja!“, kicherte der Schwarzhaarige und linste ihn an, „Du bist doch von uns der Politiker! Politiker müssen lügen, um zu überleben, und Könige müssen es erst recht! Es geht ja nicht nur um deine Haut, es geht um den Stolz des ganzen Rates oder deiner Familie oder gar unseres ganzen Volkes. Gib nicht klein bei, Puran, das wäre unser Ende hier mit dem Einfluss, den wir auf die Regierung haben.“ Der Mann schauderte. Das war wohl wahr... verdammt noch mal, warum nur immer er?

„Sagal...“, murmelte er dann und sah kurz auf den Herrn des Clans, der sich auf seinen Gehstock stützte, „Sucht meine Kinder und die anderen der Sieben, wenn Ihr die Zeit findet. Der Krieg ist noch nicht vorüber und... wir werden sie vielleicht noch brauchen, auch, wenn es mir nicht passt.“

„Natürlich, Herr.“, machte der alte Telepath gehorsam und Puran war ihm dankbar für seine bloße Existenz. Sagal hatte Autorität. Sagal wäre wahrlich ein geeigneterer König als er...

Die Männer im Saal warteten bereits, als er herein kam, manche verneigten sich ehrfürchtig, andere standen regungslos da. Der Notar hatte die Papiere.

„Nun?“, fragte er darauf, „Ihr seht besser aus, Majestät.“ Der Herr der Geister brummte. An diese Anrede würde er sich nie gewöhnen... Autorität zeigen. Er musste tun, was Emo gesagt hatte, der Verräter hatte einfach recht. Er durfte nicht wie ein Häufchen Elend vor diesen Geiern stehen, die nur darauf warteten, dass er einknickte. Also straffte er sich räuspernd die Schultern und härtete seinen Blick.

„Ja, ein wenig. Meine Herren, ich denke, wir haben alle keine Zeit für Kaffeekränzchen. Vor den Toren stehen noch immer die Bastarde aus Ela-Ri. Sie sind mächtig und viele, aber wir haben sie gestern dazu gebracht, sich zurückzuziehen. Es ist nicht unmöglich, sie zu zerschlagen, deswegen sollten wir nicht den Kopf in den Sand stecken. Wir erwarten, dass die Unterstützung aus Janami jeden Tag eintreffen könnte, abgesehen von dem, was uns die zuyyanische Beraterin vor einiger Zeit über Tejal oder die Barbaren aus Ostfann berichtete. Der alte König würde so weiter machen, wie es geplant war, und ich bin geneigt, das demzufolge auch zu tun.“

„Das heißt, Ihr nehmt die Bürde an, die unser Herrscher Euch auferlegt hat mit seiner Verfügung?“, fragte einer der Senatoren nach, „Ihr werdet... seinen Posten einnehmen, Herr?“

„Ich habe mir die vergangene Nacht damit um die Ohren geschlagen, zu überlegen, was am sinnvollsten wäre. Ich bin nicht zu dem Zweck geboren worden, einmal ein Herrscher zu sein, abgesehen von dem über die Geisterwinde. Ich habe weder damit gerechnet, noch darauf gehofft, eine derartige Position zu erlangen und bin dementsprechend ratlos; aber letzten Endes bleibe ich Vorstand des Rates der Geisterjäger und damit Herr über die Geister von Vater Himmel und Mutter Erde. Sie folgen meinem Willen, wenn ich es verlange. Ich denke, unser verstorbener Herrscher wusste sehr genau, zu was... wir Geisterjäger fähig sind. Und der König von Ela-Ri ist vermutlich auf demselben Niveau wie ich es bin, was die Magie angeht, wenn er meine nicht gar übersteigt. Demzufolge... werde ich wohl der Einzige sein, der das beenden kann, was begonnen hat. Und allein dafür... werde ich tun, was der alte König in seinem letzten Atemzug von mir verlangt hat. Wie es weitergeht, sobald Ela-Ri geschlagen ist, sehen wir dann.“ Er machte eine Pause und sah in die verblüfften Gesichter der Männer vor sich. Dann seufzte er. „Aber ich kann das... nicht alleine tun, meine Herren, ich brauche die Unterstützung meines Volkes. Eure Unterstützung... und ich möchte Euch versichern, meine Herren... dass wir zusammen diesen Krieg beenden können. Das können wir nicht, wenn Zwiespalt herrscht im Volk.“ Er sah besonders den General an, der darauf errötend brummte.

„Das ist wahr gesprochen.“, sagte ein Senator nickend, „Ihr habt die Unterstützung des Senats, Majestät. Beendet diesen Krieg, und wir werden Euch Treue schwören.“

„Momentchen.“, korrigierte Puran ihn und warf ihm einen erbarmungslosen Blick zu, „Andersrum. Ihr beweist Loyalität und Königstreue, meine Herren, und dann werden wir, das vereinte Zentralreich mit allen Ländern, die beteiligt sind, Ela-Ri schlagen. Nicht ein Mann alleine kann diese Schlacht schlagen.“

„Und wenn wir Euch nicht loyal genug sind?“, fragte der General grimmig, „Was dann, Senator Lyra?“

„Dann, mein Guter, werden die Geister von Himmel und Erde Eure Torheit bemerken und Euch jagen, bis meine Würde befriedigt ist. Ist das angekommen?“ Er kam sich vor, als verriete er sich selbst, indem er solche Worte sprach... aber sie wirkten, Emo hatte nicht gelogen. Erschrocken weiteten die Anwesenden die Augen und neigten dann nahezu synchron ihre Köpfe, selbst der General. Puran Lyra rang sich dazu durch, fortzufahren, um seine Achtung vor sich selbst wieder etwas glatt zu bügeln. „Und ich würde sehr bedauern, die Geister auf meine eigenen Landsleute hetzen zu müssen, denn Ihr seid gute Männer. Und ich brauche... jeden einzelnen von euch, um das hier zu beenden. Der König repräsentiert letztlich sein Volk und sein Reich. Verratet Ihr mich... verratet ihr Kisara. Und die Geister dulden keinen Verrat.“

„Dann ist es besiegelt.“, sagte der Notar mit einer tiefen Verneigung, „Mein König; wir werden noch öfter die Ehre haben, denke ich. Ein guter Herrscher steht für sein Land ein und spricht für es... ich wünsche mir, dass auch Ihr zu Euren Worten steht, was Ihr bisher ja immer getan habt. Wenn Ihr im Namen von Kisara sprecht... dann stehen wir alle hinter Euch.“
 

Karana war verschwunden. Die Nachricht traf sowohl den neuen König als auch seine Frau wie ein Donnerschlag, als Sagal die anderen der Sieben, die Seherin und Yarek in die Halle gebracht hatte. Leyya machte den Eindruck, als würde sie in Ohnmacht fallen wollen, als der Telepath erzählte, dass Karana und sein Mädchen seit dem vergangenen Tag verschollen waren. Und Puran Lyra verfluchte die dummen Umstände, die es ihm jetzt nicht erlaubten, nach seinem Sohn zu suchen; es gab so vieles, um das er sich jetzt kümmern musste, sie waren mitten im Krieg und die Leute warteten darauf, dass er Befehle gab... warum musste so etwas passieren? So musste er Simu und die anderen jungen Leute suchen lassen; nicht einmal Sagal konnte er dafür entbehren, denn der Mann, der überall in der Welt Kontakte und Beziehungen hatte, war jetzt vermutlich sein wichtigster Anlaufpunkt in allem, was auf sie zukam. Die Armee musste neu formiert und gerüstet werden, sie brauchten mehr Waffen, jemand musste Botschaften nach Janami schicken und fragen, wo denn die versprochene Unterstützung blieb; Janami war immer ein Problemfall. Von allen großen, mächtigen Ländern des Zentralreiches waren Kisara und Janami immer die größten Konkurrenten um die Konzentration der Macht gewesen. Vialla war aus dem Grund die Reichshauptstadt des Zentrums, weil sie geografisch gesehen in der Mitte lag, während die Hauptstadt von Janami, Dan-morough, am äußersten nordöstlichen Zipfel des Kontinenten lag und somit nicht geeignet wäre für diese Ehre. Und dennoch hatte es immer Reibereien gegeben zwischen Kisara und Janami... Puran hoffte, die Unterstützung kam überhaupt.

Sie kam; als die Streitmacht von Janami aus dem Nordosten nach Vialla kam, war Karana bereits drei Tage verschwunden. Puran hatte jeden, den er entbehren konnte, nach dem Sohn suchen gelassen, aber nicht einmal Karanas treudoofer Hund Aar hatte sein Herrchen aufspüren können. Leyya war so panisch geworden mit jedem Moment, den ihr Kind länger weg war, dass sie kaum noch aß oder gar schlief, ihr Mann verfluchte die Geister abermals, weil er keine Zeit hatte, sich um seine arme Frau zu kümmern, deren Hysterie ihn nur noch mehr besorgte... er hatte doch genau wie sie Angst um Karana, immerhin war er ihr einziger leiblicher Sohn... Karana war der einzige männliche Nachkomme des Lyra-Clans. Wenn ihm etwas zugestoßen wäre... nein, er wollte gar nicht daran denken. Ohne einen Sohn von ihm war der ganze Clan so gut wie tot; und es war nicht so, als versuchten er und Leyya nicht schon seit Neisa keine Muttermilch mehr bekommen hatte, noch weitere Kinder zu bekommen... die Launen der Geister hatten ihnen nach der Geburt ihrer hübschen Tochter jeden weiteren Kindeskeim verwehrt, mal eben so einen neuen Sohn machen wäre also keine Alternative... davon abgesehen, dass kein neuer Sohn ihm Karana ersetzen könnte.

Karana war ein bockiges Kind gewesen. Er hatte seinen eigenen Kopf gehabt und hatte sich so oft mit seinem Vater überworfen, weil sie verschiedener Meinung gewesen waren... aber Puran hatte dem Kind seinen Trotz immer vergeben, weil er genau wusste, wie sehr er selbst als kleiner Junge seine Mutter erzürnt hatte, weil er genau wie Karana seinen eigenen Kopf gehabt hatte. Eine gesunde Portion Trotz hieß, man hätte einen starken, guten Geist. Und Karana hatte eine große, gefährliche Macht inne, das hatte der Vater schon gewusst, als sein Sohn noch nicht einmal hatte lesen oder schreiben können. Karana war ein Rufer und er besaß die Gaben des Sehens und des Hörens. Schon als Kind hatte er das Wetter bestimmen können und die Geister gerufen, auch, wenn er sie nicht zu bändigen oder gescheit einzusetzen wusste... er war noch kein richtiger Geisterjäger. Aber Saidah hatte ihn gelehrt, wie einst ihr Vater Karanas Vater gelehrt hatte, und Puran wusste, dass sein Sohn ihn eines Tages, wenn die Geister es bestimmten, in seinem Titel als Herrn der Geister ablösen würde, wenn er gut lernte und seine Macht zu kontrollieren wusste. Er sehnte sich nach diesem Tag, der unweigerlich kommen würde... der Tag, an dem Karana seinen eigenen Vater konfrontieren und schlagen müsste, um seinen Posten zu übernehmen. Er verstand jetzt, dass auch seine Mutter, die Königin des Geisterjägerrates und Frau des Herrn der Geister Tabari Lyra, unglaublich stolz auf ihn gewesen war an dem Tag, an dem er vor so vielen Jahren gegen sie hatte kämpfen müssen. Und nie war ihm ein Kampf schwerer gefallen als der gegen seine eigene Mutter, gegen die Frau, die er am allermeisten auf der ganzen Welt verehrt und geliebt hatte. Nalani war eine mächtige, unerschütterliche Magierin gewesen, und sie hatte es ihm schwerer als nötig gemacht, sie zu besiegen... und trotzdem hatte er es geschafft, genauso würde Karana ihn eines Tages zu Boden zwingen. Dazu war er geboren worden... dazu hatten die Geister ihn gemacht. Und auch, wenn Karanas seltsam vertraute, herrische Ader dem Vater so gar nicht in den Kram passte, so war er doch beim Anblick seines hübsch gewachsenen, mächtigen Sohnes so stolz auf ihn, wie ein Vater nur stolz auf seinen Erstgeborenen sein konnte... sein Verlust würde ihn schlimmer schmerzen als er jetzt Zeit hatte, zuzugeben, wenn er es wagte, darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn Karana etwas zugestoßen war.

Und in dem Moment, in dem Puran aufhörte, daran zu denken, tauchte Karana wieder auf – oder zumindest die Nachricht von seinem Verbleib.
 

Zum Tor von Vialla war aus dem Süden ein vereinzelter Botschafter von Ela-Ri gekommen. Er war geschmückt und verziert, wie es offenbar Sitte war unter den östlichen Barbaren, und auf dem Kopf trug er einen Schmuck aus Federn und getrockneten Beeren. Der Herr der Geister sah keinen Grund, den Kerl in die Stadt zu lassen, so ließ er sich von Sagal, den er kaum noch von seiner Seite weichen ließ, dem General und einem Sicherheitswachmann hinaus vor das Tor begleiten, um den Botschafter anzuhören. Der Winter war gekommen; die Sonne zeigte sich nur noch kurz über dem Horizont und die ungewöhnliche Kälte für diesen Breitengrad fegte den Männern von Süden her ins Gesicht, als der Botschafter in der Einheitssprache sprach.

„Seine Gnaden, der allmächtige Herrscher des Ostreiches, lässt mich verkünden, dass er dem neuen König, Puran Lyra, Sohn des Tabari Lyra und Herrn der Geister, Vorstand des obersten Rates, noch eine Chance gibt, sich zu ergeben. Ihr habt gesehen, wir sind viele und wir sind stark. Ihr seid wenige, glaubt nicht, dass der nächste Angriff in derselben, harmlosen Art wie der letzte sei.“ Sagal schnaubte missbilligend und Puran brummte.

„Das haben wir nicht angenommen. Wir ergeben uns immer noch nicht, sag das deinem Herrn. Oder schicke einen Sklaven, der es ihm sagt, damit nicht du, sondern der Sklave ermordet wird durch den Jähzorn dieses Barbaren.“ Der Botschafter hörte die Worte und verzog gequält das Gesicht.

„Seine Gnaden hat eine andere Nachricht für den König von Kisara.“, sagte der Bote kalt und am veränderten Klang seiner Stimme merkte der unfreiwillige König, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. „Wir haben Euren Sohn, Karana. Noch ist er am Leben... wenn Ihr aufgebt und Euch unterwerft, wird er leben und Ihr bekommt ihn zurück. Solltet Ihr, König von Kisara, aber unser Angebot ablehnen... so wird Euer Sohn sterben.“

Die Nachricht erntete eisernes Schweigen von den vier Männern aus Vialla. Puran wusste später nicht mehr, wie lange er starr auf dem gefrorenen Erdboden gestanden hatte; er wusste nicht, wann Sagal ihn unauffällig anstieß, um ihn wissen zu lassen, dass er etwas sagen sollte. In seinem Kopf wiederholte sich die Botschaft in einer Endlosschleife...

Wir haben Euren Sohn. Wenn Ihr nicht aufgebt, wird er sterben.

Er ballte verkrampft die Fäuste und die Panik, die in ihm aufstieg, verschaffte ihm eine ungeahnt heftige Übelkeit. Er kämpfte gegen den Würgereiz beim bloßen Gedanken an den Tod seines Sohnes... verdammt, er musste sich zusammenreißen! Er durfte nicht einknicken... vielleicht log der Mann. Vielleicht hatten sie Karana gar nicht... aber wo war er sonst? Und woher sonst kannten sie seinen Namen? Vielleicht war er schon längst tot... die Gedanken machten ihn wahnsinnig und er strauchelte, ehe ihm ein verzweifeltes Stöhnen entrann.

„Herr!“, zischte Sagal neben ihm, „Sprecht und sagt, was Ihr tun werdet.“ Puran Lyra konnte nicht sprechen, weil in seinem Kopf noch immer die Botschaft kursierte... als er endlich seine Sprache wiederfand, bohrte sich der skeptische Blick des Generals in seine Seite. Es war Tadel in seinen Augen und Senator Lyra wusste genau, womit er den verdiente.

Ihr habt gesagt, Ihr sprecht für Kisara. Und jetzt knickt Ihr ein, wenn es um Euer eigen Fleisch und Blut geht. Wo bleibt... da Kisara? Und Euch soll ich meine Loyalität schenken?

Das Antworten war dem Herrn der Geister nie schwerer gefallen als in diesem Moment. Das einzige, an das er sich tief in seinem Inneren klammern konnte, war das Vertrauen in die Geister. Sie würden Karana nicht verraten. Sie würden ihn beschützen... sie mussten es, er würde es ihnen befehlen. Bebend schloss er die Augen und holte tief Luft; als er ausatmete, stieß er alle Zweifel und alle Panik von seinem Geist, ehe er dem Boten scharf ins Gesicht blickte.

„Wir lehnen euer Angebot ab. Dann habe ich... eben keinen Sohn mehr. Ich kann einen neuen zeugen. Ich bin König des Landes Kisara. Und meine Kinder... sind alle im Volk. Sag deinem Herrn, er möge kommen, wenn der Tag anbricht! Wir werden warten, und wir werden euch zerschlagen, so sicher wie die Sonne mit jedem Morgen aufgeht... so sicher werdet ihr zu Grunde gehen an diesen Mauern. Und jetzt verschwinde, bevor mir die Hand ausrutscht und nicht dein Herr, sondern ich dir einen Speer durch den Rumpf jage.“

Sagal war starr, als der Bote umkehrte und davon rannte. Der General war zufrieden und Puran wusste, dass er sich die bedingungslose Treue des ganzen Hofstaates für einen hohen Preis erkauft hatte... und er kämpfte erneut gegen die aufkommende Übelkeit.
 


 


 

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lohl. XD

Das Zeichen des Seelenfängers

Zoras Derran war nicht sehr begabt im Schätzen von Entfernungen; er hätte nie geglaubt, dass der Weg nach Ostfann so weit sein könnte. Nachdem er mit dem Nebel im Morgengrauen die Reichshauptstadt allein verlassen hatte und nach Südosten aufgebrochen war, war er zunächst den schmalen, langen Flüssen des südlichen Hochlandes bis zum See von Rothor gefolgt, der in der Provinz Noheema lag. Er war bereits viele Tage unterwegs, als er das Sichelgebirge passiert und den Fluss Setin erreicht hatte, der ihn zum großen Strom Ankin führen würde. Der Ankin war ein mächtiger, reißender Fluss, dessen gewaltige Fluten die Länder Kisara und Janami voneinander trennten; weiter im Süden bildete derselbe Fluss die Grenze zwischen Kuyala und Westfann. Die unüblichen, starken Regenfälle im Südosten des Kontinenten in jenem Jahr hatten den Ankin und auch viele andere Flüsse über die Ufer treten und das Land überschwemmen lassen. Als Zoras nach Kuyala kam, erwartete ihn statt des trockenen Ödlands, das er aus Beschreibungen dieses Landes kannte, eine morastige, feuchte Ebene. Teilweise watete er durch knietiefes Wasser, weil der Boden, der sonst so viel Trockenheit gewohnt war und keine Überschwemmungen, nicht fähig war, die mächtigen Niederschläge aufzusaugen.

Er rastete selten, weil die Zeit drängte; ernähren tat er sich von kleinen Nagetieren oder Vögeln, die er zwischendurch erlegen konnte. Es waren nur spärliche Mahlzeiten und die große Eile, die ihn voran trieb, ließ ihn bald seine Erschöpfung und seinen Hunger spüren. In Kuyala gab es überdies nur wenig Beutetiere, es war kein besonders gutes Land; kaum besser als die ätzende Provinz Kamien, die er, so hoffte er, nie wieder sehen musste.

Zoras dachte an seine Eltern, als er den Ankin erreicht hatte und an seinen Ufern – oder vielmehr auf dem von Wasser verwüsteten Sumpfland – auf einem kleinen, morastigen Hügel Pause machte. Die Fluten hatten den aufgeblähten Kadaver einer Ziege an ihm vorbei getrieben, deren nicht sonderlich schmackhaftes, leicht fauliges Fleisch er jetzt aß; man verlor seine Ansprüche, wenn man auf Reisen war. Er hoffte nur, das Fleisch der Wasserleiche würde ihm nicht noch den Magen verderben, denn dafür hatte er jetzt wirklich keine Zeit. Zoras fragte sich, ob seine Eltern irgendwo in Sicherheit waren. Er hatte sich schon mehrmals gefragt, ob der Zweig der Ela-Ri-Streitmacht, der ins Hochland gekommen war, auf seinem Weg durch Kamien und Thalurien nicht zufällig auch zwei allein reisende Magier aufgegabelt und ermordet haben könnte. Doch wenn er die Windgeister danach fragte, gaben sie ihm keine Antwort... er konnte nur beten, dass seine Eltern irgendwo am Leben waren; selbst sein dämlicher Vater. Er hatte es schon vor vielen Jahren aufgegeben, ihn wie einen Vater zu verehren, denn Ram Derran war immerzu blind und unempfänglich für die zaghaften Versuche eines kleinen Jungen gewesen, seinen Vater stolz zu machen. Die Gleichgültigkeit, die Vater und Sohn füreinander empfanden, war mit den Jahren zu Abneigung herangewachsen, aber das gab Zoras keinen Grund, seinem Vater ernsthaft den Tod zu wünschen. Er nahm sich verdrossen vor, falls er das alles überleben sollte, falls er seinem Vater jemals wieder begegnen sollte, ihm ins Gesicht zu sagen, dass er ihn lieb hatte. Der Gedanke nagte an seinem männlichen Stolz... aber er konnte nicht leugnen, ihn irgendwo lieb zu haben. Es war sein Vater... auch, wenn Ram Derran oft erklärt hatte, ein nutzloses Kind würde er nicht seinen Sohn nennen, dass sie vom selben Fleisch und Blut waren, war unübersehbar. Zoras wusste, dass er seinem Vater sehr ähnelte... er hatte sein Gesicht, seine Augen, seinen Mund, selbst seine Hände. Es fühlte sich nicht schön an, eine Person zu verachten, die einem das Leben geschenkt hatte und der man doch so ähnlich sah. Und was auch immer sein Vater alles böses zu ihm gesagt hatte, egal, wie oft er ihn verprügelt oder getreten hatte, wie oft er ihn gedemütigt oder verleugnet hatte, er hatte ihn immer am Leben gelassen. Als Vater wäre es sein Recht gewesen, das unerwünschte Kind zu töten oder auszusetzen... vielleicht hatte er es um Pakunas Willen nicht getan. Es war egal...

Zoras seufzte, ehe er sich erhob, obwohl er müde war und gerne etwas geschlafen hätte. Dafür war keine Zeit... er musste weiter. Die Gedanken an seine Eltern verdrängten die Furcht, die in ihm wuchs vor dem, was kommen würde. Er hatte keine Ahnung, was ihn in Ostfann erwarten würde... Chenoa schien alles genau zu wissen, aber die Ehre, es ihm einfach zu sagen, hatte sie ihm natürlich nicht erwiesen. Diese verdammte Zuyyanerin. Wenn er ihr das nächste Mal begegnete, würde er ihr die Meinung sagen. Und dann würde er sie zu Boden stoßen und sie nehmen... Moment, was dachte er da? Schnaubend warf er den abgenagten Knochen der fauligen Ziegenkeule auf die Erde und spürte sein Gesicht erröten. Immer, wenn er an die komische Frau dachte, brannte das Verlangen in seinen Lenden wie in jener Nacht, die schon so lange her war, in der sie auf ihm gesessen und ihn in Brand gesteckt hatte, wie er es nie zuvor erlebt hatte... die Erregung widerte ihn selbst an und er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Offenbar wurde er jetzt doch so ein Schwerenöter wie alle Männer in Holia... und er war immer so stolz auf sich gewesen, dass er die Würde bewahrt hatte, sich nie an irgendeiner unschuldigen Frau vergangen zu haben, wie es sonst jeder getan hatte, abgesehen von seinem Vater. Die anderen Männer in Holia, vor allem die Jüngeren wie Loron und seine Schlägertypen, hatten ihn immer unmännlich genannt, dann hatten sie Gerüchte verbreitet, er wäre impotent, schwul oder hätte etwas mit seiner eigenen Mutter, weil er zu feige wäre, es bei einer anderen zu versuchen. Zoras hatte die Gerüchte kursieren lassen, es war ihm egal gewesen. Dort, wo seine Eltern aufgewachsen waren, in Dokahsan, hatte es als unehrenhaft gegolten, so mit Frauen umzugehen wie es in Holia Sitte war; und selbst, wenn er jemals das Bedürfnis bekommen hätte, sich mit einer zu vergnügen, hätten Lorons Gruselgeschichten von seiner schauderhaften, hässlichen Tätowierung vermutlich dafür gesorgt, dass keine Frau jemals freiwillig unter ihm gelegen hätte. Und eine gegen ihren Willen zu nehmen war nicht nur für die Frau, sondern auch für ihn entwürdigend... wer außer Loron ergötzte sich an dem Widerwillen eines Opfers?
 

Der Weg am Ufer des Ankin entlang nach Süden war beschwerlich; noch beschwerlicher war das Überqueren des Flusses, weil direkt hinter dem Ankin bereits der nächste, große Strom eintraf, der aus dem Nordosten heran floss. Durch die Überschwemmungen waren beide Flüsse kurz vor der Südküste zu einem großen zusammengewachsen, der jetzt ein gewaltiges Delta bildete. Das Wasser war kalt und gegen die Strömung anzuschwimmen machte es auch nicht einfacher. Zoras fragte sich hinterher, ob er allen Ernstes durch den Fluss geschwommen war und wie es möglich war, dass er das einfach so geschafft hatte... er dankte den Geistern für ihren Segen, als er am östlichen Ufer der beiden Flüsse im Schlamm hinfiel und die Erschöpfung ihn übermannte.

Nachdem der Fluss hinter ihm lag, führte der Weg ihn direkt nach Osten, wie Chenoa gesagt hatte. Er hielt auf die großen, steilen Sul-Mirr-Berge zu, die Westfann von Ostfann trennten. Als er das Gebirge erreichte, hatte er das Gefühl, vor Hunger und Müdigkeit sterben zu müssen, denn in Fann gab es noch weniger Wild als in Kuyala. In einem Dorf, in dem er zwischendurch kurz gerastet hatte, hatte er Brühe mit Knochenmark bekommen, dafür hatte er die beiden folgenden Reisetage so gut wie gar nichts essen können, bis er in einem Wäldchen voller verkümmerter, mickriger Bäume ein mageres Eichhörnchen erwischte, das er in seinem Hunger beinahe samt Fell und Füßen hinunter geschlungen hätte. Das einzige, was er zum Glück immer hatte, was Trinkwasser; dafür war der Wasserzauber Alara eben nützlich, obwohl zu zaubern auch von seinen Kraftreserven zehrte, sodass er nicht mehr Wasser trank, als er zum Überleben brauchte. Als Zoras die Berge erklommen hatte und von dem Grat hinab spähte in den Osten, hatte er das Gefühl, auf der verdammten Reise sicher zwanzig Pfund abgenommen zu haben. Er fühlte sich müde und ausgezehrt, als er sich seine dürr gewordenen Unterarme rieb, auf denen sich im schneidenden Wind in den Bergen die Härchen aufstellten. Er war schon immer ziemlich dünn gewesen, da es in Holia nie nahrhaftes Essen gegeben hatte, aber das, was er jetzt wiegen mochte, war unter Garantie nicht mehr normal. Er dachte an Neisa, die er fett genannt hatte, und musste kurz schmunzeln über ihre Aufregung deswegen. Warum regten Frauen sich so auf, wenn man ihnen sagte, dass sie keine dürren Knochengerüste waren? Frauen mit etwas Speck waren doch die besten... sie waren viel angenehmer anzufassen, weil sie weicher waren, und sie wirkten viel sanfter und fraulicher so. Er hätte Neisa vielleicht erklären sollen, dass er sie sehr hübsch fand... sie war nicht wirklich fett. Aber sie hatte etwas auf den Rippen und machte nicht den Eindruck, beim kleinsten Windhauch umzuknicken. Neisa... er hoffte, es ging ihr gut. Hoffentlich war Tayson gut zu ihr, sonst würde es ihm leid tun.

Der Abstieg aus dem Gebirge in Richtung der aufgehenden Sonne war überraschend einfach. Als er endlich die letzten Ausläufer der Berge hinter sich hatte, war das Land staubtrocken. Hier schien der Regen nicht angekommen zu sein; das, was Zoras jetzt vor sich sah, war das, was er von Fann erwartet hatte. Es war wildes Land, wohin er auch sah; trockene Savanne mit goldbraunem, von der starken Sommersonne verbranntem Gras, während im Norden weit entfernt die südlichsten Streifen der großen Wüste flimmerten. Dafür, dass es auf den Wintermond zuging, wenn er nicht gar schon begonnen hatte inzwischen, war es unglaublich heiß; es wehte kein Lüftchen, als der junge Mann seufzend seinen Weg nach Osten fortsetzte. Jetzt, wo er angekommen war, fragte er sich, wie es weitergehen sollte. Wo sollte er in diesem seelenlosen Ödland nach den Barbaren suchen, die Chenoa meinte? Es gab doch sicher viele dieser wilden Völker... welches davon war das Richtige? Er umklammerte fest seine Hellebarde, die den Weg unbeschadet überstanden hatte, und hoffte, dass die Männer sie wirklich als Zeichen anerkennen würden... was, wenn nicht? Und wie kam Chenoa auf die Idee, dass diese Barbaren, denen nichts heilig war außer sie selbst und ihresgleichen, alles stehen und liegen lassen und ihn nach Kisara zurück begleiten würden, in ein Land, das sie fürchtete und verabscheute, in ein Land, das sie vermutlich selbst genauso missachteten? Chenoa hatte von einer Prophezeiung geredet... sie hatte gesagt, die Männer würden ihn erkennen. Sie würden bereit sein. Zoras fragte sich aber, ob er es denn war.

Die Dämmerung war rasch im Wüstenland. Als die Sonne begann, unterzugehen, und die Wärme des Landes nachließ, erblickte er am Rand der Welt ein großes Lager, eine große Ansammlung von durch Menschen erbauten Behausungen; Zelte und kleine, simple Hütten. Als er in Sichtweite des Lagers kam, war es schon beinahe dunkel. In dem Moment war es, das er aus den trockenen Dünen und Grashügeln heraus angesprungen wurde. Von allen Seiten packten ihn plötzlich Hände und rissen ihn mit brutaler Gewalt zu Boden. Sie waren so schnell und kräftig, dass er keine Chance bekam, sich zu wehren oder gar die Hände zum Zaubern empor zu reißen. Alles, was er von sich gab, war ein erschrockenes Husten, als er mit einem schmerzhaften Stoß auf dem harten Boden landete und ihm seine Waffe aus der Hand fiel.

„Himmel!“, brüllte er dann, „Loslassen, ihr Wilden! Ich komme ohne böse Absichten!“ Doch zu seinem Entsetzen schienen die Männer ihn entweder nicht verstanden oder ignoriert zu haben, denn sie machten keine Anstalten, von ihm abzulassen. Sie johlten und riefen sich gegenseitig in einer komischen Sprache Dinge zu, die Zoras beim besten Willen nicht verstand. Er sah keuchend nach seiner Hellebarde, die einer der sonnengebräunten Krieger in seinen Händen wog und sie schließlich hinter sich auf den Boden fallen ließ. Ungläubig weitete Zoras die Augen und starrte die Kerle an, die ihn an den Boden pressten und es ihm unmöglich machten, sich viel zu bewegen.

Das waren die falschen, kam es ihm plötzlich, und in seinem Geist wuchs die Furcht. Sie hatten das Zeichen nicht erkannt; Chenoa musste sich geirrt oder er sich verlaufen haben.

„Scheiße...!“, stöhnte er nur und begann jetzt plötzlich mit einem wütenden Knurren, sich zu wehren und zu versuchen, den festen, schmerzhaften Griffen zu entkommen. Einer, der den Schädel irgendeines großen Tieres wie einen Hut auf dem Kopf trug, ging vor Zoras in die Hocke und starrte ihn aus Augen an, die schwarz wie Obsidian waren und voll von furchteinflößender Stärke. Der junge Mann keuchte und wand sich fluchend in den Griffen der Kerle.

„Loslassen!“, brüllte er erneut, „Verdammt noch mal! Elende Kannibalen, an mir ist nichts dran, ihr könnt mich nicht fressen!“ Der Mann vor ihm runzelte angestrengt die Stirn, ehe er hinauf sah zu den anderen Männern, die Zoras noch immer festhielten. Dann sagte er ihnen etwas, was der Gefangene nicht verstand, und machte seltsame Handbewegungen – was er dann tat war es eigentlich, was Zoras' Panik erst gänzlich die Oberhand gewinnen ließ. Er starrte ihn abschätzend an wie ein gutes Stück Fleisch, wie um zu prüfen, welcher Teil wohl am besten schmecken würde... aber plötzlich erkannte der junge Magier, dass es nichts mit essen zu tun hatte, was sie im Sinn hatten, als der Typ mit dem Schädel auf dem Kopf eine Hand nach ihm ausstreckte und ihm unter die Kleider fuhr.

Die Berührung ließ ihn sämtliche Würde und Vorsicht vergessen, als er sich in eine Höhle am anderen Ende der Welt zurückversetzt fühlte und unter die gierigen Augen von perversen Räubern. Plötzlich sah er sie vor sich... die Geister all der Barbaren, die er im Wald von Senjo ermordet hatte, nachdem sie ihn mondelang geschändet und malträtiert hatten... plötzlich sah er in den schwarzen Augen des Typen vor ihm dasselbe, lüsterne Grinsen, dieselbe, falsche Begierde, die einige Männer offenbar gegenüber hübschen Jungen verspürten, wie andere es bei Frauen taten. Zoras schrie. Es war ihm egal, ob er sich, seine Vorfahren oder irgendwelche Geister beschämte, indem er sich vor Panik wie ein Mädchen die Seele aus dem Leib schrie. Nicht noch einmal! Noch einmal würde er das nicht überleben.

Seine blinde Angst gab ihm die Kraft, sich mit einem wilden Schrei loszureißen und stolpernd auf die Beine zu springen. Einer der Kerle griff nach ihm und wutentbrannt fuhr Zoras herum und schleuderte ihm einen Blitz aus seiner jetzt freien Hand ins Gesicht, worauf der Kerl zurück geschmettert wurde und auf dem Boden landete. Der Schädeltyp sagte etwas, dieses Mal lauter, und die Männer stürzten sich von allen Seiten wieder auf den Jüngeren und warfen ihn gemeinsam brüllend auf den Boden, dieses Mal bäuchlings. Er spürte, wie jemand ihm ins Gesicht schlug, sodass irgendetwas in seinem Mund zu bluten begann. Er schmeckte den Geschmack seines eigenen Blutes und zappelte keuchend, als die Kerle ihn festhielten, einer setzte sich auf ihn und sie zerrissen johlend sein Hemd.

„Verdammt, Chenoa!“, brüllte er panisch und wand sich japsend unter den Händen der Kerle, „Du... elende Lügnerin, ich bringe dich um! Ich bringe dich verdammt noch mal um!“ Er hatte so laut geschrien, dass seine Stimme in der kühlen Nachtluft verhallte – dann erst merkte er, dass es plötzlich still geworden war. Zoras schnappte nach Luft, während er mit nacktem Oberkörper auf dem Boden lag, die Männer hatten ihn noch immer fest in ihrem Griff, bewegten sich aber plötzlich nicht mehr und waren ganz still. Dann dämmerte ihm, was sie so entsetzte; ach ja, sie sahen seinen nackten Rücken. Er lachte bitter. „Na, seht ihr? Ihr seid nicht die ersten Perversen, die mich in den Arsch ficken wollen. Schreckt euch das ab? Ich weiß, ich bin hässlich... fürchtet euch, ihr Elenden!“ Er hörte einen der Typen etwas murmeln; seine Stimme klang andächtig und verwundert. Dann sprach ein zweiter und klang zuversichtlich. Der Typ mit dem Schädel rief etwas und alle Männer ließen den Schamanen auf der Stelle los. Hustend rappelte Zoras sich auf und schnaufte verärgert. „Na, Glück gehabt, ihr habt es euch wohl anders überlegt...“ Auch, wenn er nicht begriff, was hier vor sich ging, er war froh darum. Er sah in lauter ernste, erwartungsvolle Gesichter, als er wieder auf den Beinen stand und sich den Staub von der nackten Brust putzte. Na toll, schon wieder war sein Hemd kaputt. Er kam nicht dazu, weiter zu denken, denn die Wilden taten so ziemlich das Letzte, mit dem er jetzt gerechnet hätte; sie fielen um ihn herum auf die Knie und verneigten sich ehrfürchtig, sodass ihre Gesichter den Boden berührten. Dabei murmelten sie immer wieder dieselben Worte wie eine Anbetung. Zoras hustete und blinzelte ein paar Mal; was machten diese Säcke da? Er sah auf den Kerl mit dem Schädel, der offenbar ihr Anführer war, der ebenfalls auf den Knien vor ihm lag und jetzt mit einem wissenden Lächeln den Kopf hob. Dann sprach er plötzlich, wenn auch mit starkem Akzent, die Einheitssprache.

„Vergib uns, Seelenfänger. Du bist der Mann, der das Zeichen trägt. Es hieß... es würde einer aus dem Westen kommen. Und er würde das Zeichen tragen... das Zeichen des Seelenfängers. Es ist das Zeichen des Königs der Stämme. Und nur diesem Mann... diesem Mann würden alle Stämme folgen. Nur dem Herrn der Kondorgeister.“

Zoras klappte beinahe die Kinnlade herunter. Moment – dann waren es doch die Richtigen? Er sah empört auf die im Sand liegende Hellebarde.

„Erst schmeißt ihr mein Zeichen weg und dann fällt euch das wieder ein?!“, schnappte er, „Aber erst mal angrabbeln, ja, ja! Mann, muss ich ein geiler Typ sein, dass sogar die wilden Männer alle auf mich stehen.“ Der Anführer erhob sich und schüttelte den Kopf.

„Nicht die Waffe das Zeichen.“, sagte er mit jetzt schlechterer Einheitssprache, „Auf deinem Rücken, Mann aus dem Westen. Das Zeichen des Seelenfängers.“ Der Schamane traute seinen Ohren nicht und fasste auf seinen Rücken, wie um zu fragen, ob der das ernst meinte. Die Tätowierung war das Zeichen? Der Kerl nickte bestätigend. „Ein Zeichen für immer.“, sprach er ernst, „Kann nicht verwechselt werden. Für immer. Waffen gibt viele. Aber nur ein Zeichen.“ Zoras ärgerte sich über die bescheuerte Sprache des Typen, allerdings war ihm das lieber als ihn gar nicht zu verstehen. Das war doch alles nicht wahr... seine Tätowierung, dieses hässliche Mistding, das er so verabscheute, war das Zeichen? Jetzt wurde ihm klar, was Chenoa damit gemeint hatte, dass die Geister alle Dinge in seinem Leben bestimmt hatten... selbst die schlechten.

Die Geister haben gewusst, dass dieses Ding... einmal so etwas entscheiden würde. Wir sind diesen Räubern nicht zufällig begegnet... es war alles Wille der Geister.

Der Gedanke war ernüchternd... er warf seine ganze Weltanschauung aus dem Konzept. Er sah auf den Anführer der wilden Leute, der in Richtung des Lagers deutete.

„Komm.“, sagte er ernst, „Im großen Lager gibt Fleisch. Gute Prophezeiung.“ Er grinste zufrieden und die anderen jubelten, sich ebenfalls erhebend. „Die weiße Frau wird dir alles zeigen.“ Zoras blinzelte verblüfft; die weiße Frau? Aber er folgte den Männern ohne Widerstand, nachdem er die Fetzen seines Hemdes und die Hellebarde aufgehoben hatte; in seinem Kopf schwirrten lauter wirre Gedanken und die Himmelsgeister schwiegen ihn an.
 

Die weiße Frau war wirklich weiß. Jedenfalls im Gegensatz zu den braungebrannten Wilden, ihre Haut war viel heller und ihre Haare waren blond. Sie war aber keine Lianerin; ihre Haut war in etwa im selben Ton wie seine eigene, vermutlich, weil sie hier viel in der Sonne war. Zoras schätzte sie auf etwa in seinem Alter, als sie das riesige Lager betraten und vor einem großen Feuer die weiße Frau bereits wartete. Ihre blonden Haare trug sie offen, sie hingen ihr den Rücken hinab; um ihre Stirn war eine Schnur aus Sehnen gebunden, an der ein kleiner, blauer Stein befestigt war, der ihre Stirn zierte wie ein Diadem. Ihre Kleidung aus aus den hellen Häuten von jungen Antilopen gefertigt und sie stand still wie eine Statue, als die Männer mit Zoras zu ihr kamen. Er spürte, dass sie ihn musterte; ihre blauen Augen trafen seine und sie sahen einander eine Weile schweigend an. In dieser Frau lag so viel Ruhe und Ausgeglichenheit, als wäre sie fähig, die ganze Welt im Einklang zu halten; sie war wie eine Tochter der Mutter Erde selbst, mit der sinnlichen Schönheit einer erwachsenen Frau und doch der Jugendhaftigkeit eines jungen Mädchens. In ihren Wangen bildeten sich niedliche Grübchen, als sie lächelte und ihm einen Blick schenkte, den er nicht deuten konnte. Zoras hatte das Gefühl, als er ihren Blick sah, dass er sie irgendwo schon einmal gesehen hatte; aber das war nicht möglich.

Der Anführer sprach zu der Frau und sie antwortete ihm auf seiner komischen Sprache, die sie perfekt sprach. Dann zogen die Männer sich zurück und bedeuteten Zoras, bei der Frau am Feuer stehen zu bleiben. Sie drehte sich zu ihm und lächelte erneut.

„Du bist der Seelenfänger... der Mann aus der Prophezeiung. Du bist... sehr jung. Ich habe mir einen älteren Mann vorgestellt... irgendwie macht es mich froh, dass du so jung bist.“ Zoras war verblüfft – sie sprach seine Sprache absolut grammatikalisch korrekt und ohne Akzent! Er sah sie noch einmal an und grübelte.

„Du... du bist ein Schamanenmädchen. Du bist wohl so etwas wie ihre Zauberin...?“ Vielleicht hatte sie seherische Fähigkeiten und konnte deshalb zwei Sprachen... Sie lächelte immer noch.

„Nein, also... nein. So hoch ist meine Stellung nicht. Ich bin wie du Teil ihrer Prophezeiung, deswegen verehren sie mich; aber ich bin hier aufgewachsen als Tochter der Medizinfrau. Das... ist schon eine hohe Stellung, ja, aber... so hoch dann auch wieder nicht. Zauberin... eigentlich halten die Stämme nicht viel von Zauberern. Du... sollst der einzige Schamane sein, den sie jemals zaubern lassen in ihrer Gegenwart. - Komm. Du musst erschöpft sein. Ich bringe dir Essen und Trinken, danach zeige ich dir dein Schlaflager. Wir haben extra eine Hütte aufgebaut dafür, weil es hieß, dass der eine, der Mann mit dem Zeichen, zu diesem großen Lager käme. Wie heißt du?“

„Zoras...“, murmelte er nur verblüfft davon, wie viel sie redete, und vor allem darüber, dass all ihr Ernst und ihre Würde von ihr abfielen wie trockener Schnee, als sie redete; plötzlich war sie ganz locker und schien auf gewisse Art erleichtert zu sein. Sie nahm ihn unbeschwert an der Hand und führte ihn um das Feuer herum durch das Lager. Ihre Hand fühlte sich warm und weich an in seiner. Schließlich bat sie ihn, sich auf einem kleinen, flachen Felsblock niederzulassen, worauf sie davon eilte und bald mit einer Knochenplatte mit Fleisch zurückkam. Essen... Himmel, jetzt wurde ihm erst sein Hunger wieder bewusst, und er ignorierte jeden Anstand, als er dankend ihr Fleisch annahm und es hastig hinunter schlang. Es war gutes Fleisch... der Geschmack vom gebratenen Fett rann ihm die Kehle hinunter und er hörte die junge Frau neben sich kichern.

„Du bist aber wirklich hungrig.“, stellte sie fest, „Lass dir Zeit, es gibt genug. Die Jagd war gut. Und trink etwas zwischendurch.“ Damit hielt sie ihm eine Schale hin, die wohl mal der Deckel eines Schädels gewesen war, in der eine dunkle Flüssigkeit glänzte. Er seufzte und trank; der Geschmack war zunächst etwas bitter, aber beim zweiten Schluck war es sehr angenehm.

„Vergib mir, dass ich so barbarisch bin.“, seufzte er, während er weiter das gebratene Fleisch aß, „Ich bin seit Wochen unterwegs und wirklich ziemlich ausgehungert... danke für deine Mühe.“ Sie lachte leise.

„Du kommst aus Kisara, oder? Wie ist es... dort? Sicher liegt Schnee... es ist Wintermond.“ Zoras antwortete nicht sofort. Schließlich nickte er.

„Ich komme aus Vialla, ja. Und ich komme auch nicht ohne Grund... du beherrschst beide Sprachen. Vielleicht kannst du dolmetschen, was ich dem Anführer hier zu sagen habe...“

„Dies ist die Versammlung aller Stämme.“, sagte sie, „Mein Stamm ist mit vielen anderen aus dem Land zusammengetroffen, weil wir alle der Prophezeiung folgen. Es sind viele Häuptlinge, mit denen du sprechen wirst. Aber erst morgen. Du solltest dich erst ausruhen.“ Sie wirkte plötzlich etwas verlegen, als sie auf ihren Schoß blickte und dann leise fortfuhr: „Wenn du es wünschst, bleibe ich auch bei dir.“ Zoras blinzelte sie doof an und brauchte etwas, um zu verstehen was sie meinte. Er errötete.

„Ähm... nein, Himmel! S-sehe ich etwa so aus, als würde ich einfach-...?! Wirklich nicht, keine Angst. Ich, ähm... ich schlafe alleine.“ Sie sagte nichts, was ihn beunruhigte – hatte er sie jetzt beleidigt, weil er sie abgewiesen hatte? Aber das ging doch nicht, er kannte sie gar nicht... davon abgesehen wäre er viel zu müde gewesen, um an so etwas denken zu können. Als sie wieder aufsah, strahlte sie ihn aber fröhlich an und wirkte nicht beleidigt oder gekränkt.

„In Ordnung, dann werde ich heute Nacht in der Hütte meiner Mutter bleiben. Du bist ein Krieger... du musst ausgeruht sein morgen. Du bist der Mann, der alle Stämme der Steppe vereint... du bist wichtig. Komm... wenn du satt bist, zeige ich dir, wo du schlafen kannst. Und gib mir deine Hemdfetzen, ich... werde versuchen, sie zu reparieren!“ Sie war so eifrig und enthusiastisch, dass er nicht auf die Idee kam, ihr den Wunsch abzuschlagen, so gab er ihr die Stofffetzen, ehe er aufstand und sich von ihr weiter zwischen Zelten und Hütten vorbei führen ließ. Sie begegneten vielen Menschen, die sie beide groß ansahen; manche grüßten das blonde Mädchen freundlich, worauf sie stets fröhlich zurück grüßte. Doch Zoras sahen sie alle mit gerundeten Augen an, als wäre er gerade vom Himmel gefallen. Er verübelte ihnen die Blicke nicht... er war ein Fremder.

Er schlief in einer kleinen Hütte auf einer Matratze aus Fell, die mit Gräsern und Farnen gefüttert war. Das Bett war weicher als sein gammliges Schlaflager in Holia jemals gewesen war, und die Müdigkeit übermannte ihn so schnell, sobald er in voller Kleidung auf dem Lager lag, dass er nicht einmal mehr mitbekam, wie die weiße Frau sich von ihm verabschiedete.
 

Er schlief nicht besonders lange; die Geister hielten ihn mit geflüsterten Worten der Unruhe davon ab. Seit langem träumte er einmal wieder vom Ende der Welt, von dem blutigen Himmel, der auf ihn herab stürzte, während die Erde unter seinen Füßen zerbrach und er in eine Finsternis stürzte, aus der kein Mensch jemals zu entkommen hoffen könnte. Durch die Finsternis tanzte ein kleines, weißes Mädchen und griff nach seinen Händen. Es sprach von einer Prophezeiung und davon, dass er der Herr der Schattenvögel war, und er wunderte sich darüber, was das fremde Mädchen alles wusste – bis er in dem Licht, das es umgab, sein Gesicht erkannte und in ihm das diabolische, so entfernt vertraute Lächeln und die beiden verschiedenfarbigen Augen. Dann tauchte hinter dem Licht der Schatten eines monströs großen Mannes auf, dessen bloße Aura alle Lebewesen in die Knie zu zwingen schien; und er holte mit der Hand aus, um das Mädchen zu erschlagen, in dem Moment wachte Zoras auf und sprang japsend auf die Füße.

„Neisa!“

Er war verblüfft darüber, ihren Namen laut zu schreien, und registrierte erst nach einer Weile, wo er war. Ihm schwindelte durch das plötzliche Aufspringen und in seinen Beinen spürte er noch den grauenhaften Muskelkater vom Abstieg aus den Bergen des vergangenen Tages. Er rieb sich stöhnend die Schenkel und ging in die Hocke, um sich dann durch die schwarzen Haare zu fahren. Was war mit Neisa? Er hatte sie gesehen, er war sich sicher, dass sie es gewesen war... auf den ersten Blick hatte sie gewirkt wie das junge Mädchen, das hier in Fann für sein Essen und sein Bett gesorgt hatte, und verdutzt erkannte Zoras, dass das der Grund war, weshalb sie ihm bekannt vorgekommen war...

„Oh, du bist auf. Das ist gut, rasch! Das ganze Lager ist bereits auf den Beinen und in den Vorbereitungen, du musst dich auch bereit machen.“ Zoras hob verwirrt den Kopf, als er die leise Stimme vernahm, und die Lederhaut, die als Vorhang vor der kleinen Hütte fungierte, wurde zur Seite gezogen, worauf das weiße Mädchen dahinter auftauchte. Sie strahlte ihn an und er war abermals verblüfft. Sie sah Neisa wirklich ähnlich... abgesehen von ihren Augen, denn ihre waren blau, während Neisas unverkennbares Merkmal ihre verschiedenen Augen waren... das eine war grün, das hatte sie zweifelsohne von ihrem Vater, denn Karana hatte die gleichen, grünen Augen. Das andere war blau... Zoras hatte sich immer gewundert, woher Neisa blaue Augen haben mochte, denn ihre Mutter hatte braune, soweit er wusste. Musste eine rezessive Vererbung gewesen sein.

„Guten Morgen...“, murmelte er nur etwas durcheinander, und das blonde Mädchen kam zu ihm und zog ihn eifrig auf die Beine.

„Rasch, ich bringe dich zum Fluss. Du musst dich reinigen, bevor du der König der Stämme werden kannst. Ich habe auch deine Kleidung gerichtet, oder, na ja... ich, ähm, habe es versucht.“ Sie lachte nervös. „Ich bin leider eine furchtbar schlechte Näherin und... na ja...“ Er sah stirnrunzelnd, wie sie ihre blutig gestochenen Hände hinter ihrem Rücken verbarg, und sich räuspernd zog er beide Brauen hoch. Himmel, warum machte sie sich so eine Mühe für ihn? Ihm fiel auf, dass er ihren Namen gar nicht kannte, und entsetzt fragte er sie danach – wie hatte er das vergessen können?

„Sie nennen mich Sorachita. Das... ist mein Name hier.“ Sie lächelte auf eine seltsame Weise, während sie bescheiden den Kopf senkte, und er wunderte sich über ihre Wortwahl. Ehe er aber dazu kam, sie danach zu fragen, drehte sie sich um und eilte hinaus. „Komm schon, du musst dich waschen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Der Fluss war in Wirklichkeit kaum mehr als ein kleines Rinnsal mitten im trockenen Grasland. Das Mädchen kehrte ihm gehorsam den Rücken, um ihm nicht zuzusehen, während er sich auszog und sich im kühlen Wasser des kleinen Baches wusch. Er spürte, dass sie verlegen war, und er war es auch; nackt sein war ihm in Anwesenheit anderer Menschen grundsätzlich unangenehm, abgesehen von seinen Eltern, die ihn schließlich großgezogen hatten. Eine Weile schwiegen sie beide, bis er die Gelegenheit nutzte, wo er mit ihr alleine war, um ihr Fragen zu stellen.

„Du hast gesagt, hier heißt du Sorachita. Du... bist nicht hier geboren, oder? Ich meine, du siehst anders aus und sprichst anders... woher stammst du wirklich?“ Er sah über die Schulter, wo sie auf einem kleinen Felsblock hockte und ihm noch immer brav den Rücken kehrte.

„Ich komme aus Vialla.“, erzählte sie dann, und sie klang fröhlich, aber er spürte die Traurigkeit, die hinter ihren Worten verborgen war. „Ich bin nach Fann gekommen, als ich sieben war. Damals sind meine Eltern ermordet worden und... man hat mich weg von Kisara gebracht, in Sicherheit. Ich... erinnere mich gar nicht mehr an Vialla.“ Er blinzelte.

„Das tut mir leid.“, murmelte er dann betreten, „Das klingt tragisch. Darf ich fragen, warum... sie ermordet wurden?“

„Das weiß ich nicht.“, seufzte Sorachita, „Vielleicht, weil mein Vater hohen Ranges war. Er war Geisterjäger... aber er hat sich auch oft in Schwierigkeiten gebracht, vielleicht hat er etwas Dummes angestellt. Mir hat man... nichts davon gesagt.“ Er hustete.

„Geisterjäger?!“

„Ja, sein Name war Senol Kita. Eigentlich heiße ich Sora Kita. Aber als ich mich hier so vorgestellt habe, haben sie gedacht, das wäre ein Name, und weil sie das K nicht sprechen können, wurde es Sorachita. Sora Kita... es ist merkwürdig, diesen Namen auszusprechen. Ich habe es lange nicht getan...“ Zoras schnaubte, während er mit den Händen Wasser aus dem Bach schöpfte und es sich über den Kopf kippte, um seine Haare zu waschen.

„Wie soll ich dich dann nennen? Sora oder Sorachita?“

„Sag, was dir besser passt!“, lachte sie darauf, „Was dir besser gefällt.“ Sie schwiegen wieder und er kam auf ein anderes Thema.

„In der Schule haben wir gelernt, dass die Wilden hier in Fann keine Magier mögen. Und dich haben sie, obwohl du die Tochter eines Geisterjägers bist, einfach aufgenommen? Das klingt ziemlich utopisch, oder die Lehrbücher haben gelogen.“

„Nein, das stimmt schon.“, erklärte sie, „Die Leute hier trauen Zauberern nicht. Aber ich... bin wie du ein Teil dieser Prophezeiung. Das wusste ich natürlich nicht... aber es heißt darin, dass in Zeiten der Finsternis ein weißes Mädchen kommen wird. Das Mädchen wird ein Zaubermädchen sein... und eines Tages wird...“ Sie brach ab und zögerte kurz, ehe sie kleinlauter fortfuhr: „Eines Tages wird dieses Mädchen die... Frau des Königs. So... hat es geheißen.“ Zoras hustete erneut und starrte sie ungläubig von hinten an.

„Moment. Heißt das, du... bist jetzt sowas wie meine Frau?!“ Das erklärte, warum sie ihm angeboten hatte, ihn zu befriedigen... er errötete bei dem Gedanken. Als er sie betrachtete, waren ihre Ohren auch etwas rot geworden; ihr Gesicht konnte er nicht sehen.

„Wie gesagt, das... ist eben die Prophezeiung... ich meine... ich... weiß es auch nicht. An dem Tag, als ich zu meinem Stamm kam, war Sonnenfinsternis. Es war also... eine Zeit der Finsternis. Und es hieß... dass ein Mann aus dem Westen käme, wenn die Erde bebt. Im Sommer hat die Erde oft gebebt... deshalb haben sich alle Stämme versammelt und auf den König gewartet. Auf den Mann mit dem Zeichen, der aus dem Westen kommt. Und dann... kamst du. Und du trägst das Zeichen... sag...“ Sie druckste etwas herum und er blinzelte, „Darf ich... darf ich das Zeichen sehen? Es heißt, es wäre auf... deiner Haut. Auf deinem Rücken, haben die Männer gesagt, richtig?“ Er räusperte sich, während er noch immer im Bach hockte und jetzt mit den Händen seine nassen Haare kämmte. Er kehrte ihr den Rücken.

„Von mir aus. Aber schön ist es nicht, erschrecke dich nicht, Sora.“ Er hörte es rascheln, weil sie sich vermutlich umdrehte und seinen nackten Rücken betrachtete; tatsächlich war sie die erste, die sich nicht zu erschrecken schien bei dem Anblick, sie blieb ganz ruhig und sagte kein Wort. Als es erneut raschelte, linste er über die Schulter und sah, dass sie ihm wieder brav den Rücken kehrte. „Also...“, fuhr er dann langsam fort, „Ich wurde von Vialla hierher geschickt, weil Krieg ist. Und wir brauchen die Hilfe dieser Krieger hier. Kannst du denen das übersetzen, was ich ihnen zu berichten habe?“

„Natürlich.“, meinte sie leichthin, „Das ist kein Problem. Oh, ach ja, ähm... also... es gibt noch etwas... das ist mir jetzt irgendwie peinlich, dich zu fragen... bist du gut rasiert?“ Er hustete, ehe er sie blöd ansah und nach seinem Kinn fasste.

„Ähm – ja...? Also, mir wachsen im Gesicht keine Haare... bisher...“

„Nein, nicht nur im Gesicht. Ich meine, ähm... überall, abgesehen vom Kopf.“ Er schwieg und starrte sie noch blöder an.

„Ähm – wie bitte? Was... was meinst du mit überall?“

„Na ja, Beine und Arme und, ähm... na ja, da, wo Männer eben ihren... na ja...“ Er hustete erneut.

„Alter, natürlich nicht! W-wieso... wieso zum Geier sollte ich mich da rasieren?“

„Die Leute hier finden Haare auf dem Körper unhygienisch...“, stammelte Sora und wirkte höchst verlegen, „Bitte werde nicht böse, es... es wurde mir aufgetragen, d-dafür zu sorgen, dass du... dass du eben... gereinigt bist und... deswegen... ähm... i-ich weiß, dass das im Westen nicht so Sitte ist... aber wenn sie dir folgen sollen, musst du... eben...“ Er wurde rot, sah an sich herunter und hüstelte peinlich berührt.

„Willst du mich verarschen?“, stöhnte er, „Ich soll mir die Beine rasieren?! Damit ich glatt wie ein Babypopo bin, oder was? D-das... ist doch voll unmännlich! Und erst recht mein-... nein, also, wirklich, das geht nicht! Ich meine, die werden mir ja wohl nicht die Hosen ausziehen und nachsehen, ob ich mir die Eier rasiert habe! D-das... das ist mir peinlich!“

„Na ja, das... sicher nicht, aber ich glaube, du solltest... es trotzdem tun, denn... wenn man die Tradition missachtet, werden sie sehr wütend und... ich meine... sie nehmen es ja nur wegen der Zeremonie so genau, es ist eben ein besonderer Anlass, dass sie dich ihren König nennen... bitte wehre dich nicht, mir... ist das genauso peinlich wie dir, dass ich sowas verlange... i-ich meine... ehrlich...“ Vollkommen entrüstet verschränkte er die Arme.

„Musst du das auch?“, fragte er sie patzig, „Musst du dir auch die Beine und Arme und das rasieren, was, äh, Frauen eben so haben? Also, ich habe in Holia nie gesehen, dass eine Frau sowas gemacht hat... geschweige denn ein Kerl!“ Sora japste verlegen.

„Na ja, wie gesagt, es gilt als unsauber und... n-natürlich habe ich auch...“ Sie kramte in dem kleinen Lederbeutel, den sie mitgebracht hatte, und hielt ihm schließlich, ihm immer noch nicht das Gesicht zuwendend, ein schmales Messer hin. „Mach es einfach, es ist ja nicht schlimm... nur ungewohnt... aber man gewöhnt sich daran und... du willst doch nicht, dass sie dich widerlich finden...“ Zoras brummte ergeben, als er ihr das Messer abnahm und es frustriert betrachtete.

„Komisch, da, wo ich herkomme, galt diese Tätowierung als widerlich und nicht die Haare, die eben da wachsen, wo sie hingehören. Diese Leute sind komisch... das... das ist doch abartig!“ Er nahm sich abermals vor, Chenoa zu ermorden, wenn er sie wiedersehen sollte; diese dumme Kuh hatte das sicher gewusst, sie hätte ihn wenigstens seelisch darauf vorbereiten können... das war so ziemlich das demütigendste und erniedrigendste, was er jemals hatte tun müssen, und weil er natürlich keine Übung damit hatte, hatte er letztendlich zwar keine Haare mehr am Körper, dafür aber unzählige Schnittwunden, die auch nicht schöner aussahen... davon abgesehen, dass seine Haut danach wie verrückt juckte, als er sich mit einem Tuch, das sie ihm gab, abtrocknete und wieder angezogen hatte. Sein Hemd war merkwürdig geworden; Sora konnte wirklich nicht nähen. Die Nähte waren schief und so lose, dass er fürchtete, die Fetzen würden gleich wieder auseinander fallen, wenn er sich zu viel bewegte. Er sagte ihr das natürlich nicht; sie hatte sich extra für ihn so abgemüht und er wusste die liebevolle Zuneigung zu schätzen, die das arme Mädchen ihm entgegen gebracht hatte. Und dennoch war ihm nie eine Frau untergekommen, die so untalentiert im Nähen gewesen war; da konnte ja selbst er besser nähen, und er war ein Mann... er hatte als kleiner Junge manchmal seiner Mutter geholfen, was er gern getan hatte, bis Loron ihm gedroht hatte, ihn in der ganzen Umgebung als weibisch zu verschreien, weil er wie ein Mädchen mit seiner Mutter nähte, statt sich mit anderen Jungen zu prügeln. Loron... Zoras hoffte, dass der Bastard durch Ela-Ri den Tod gefunden hatte.
 

Die Männer der Stämme belächelten ihn. Zumindest die Schnitte auf seinen Armen und Unterschenkeln; sein Hemd hatte keine Ärmel und seine Hose war ihm zu kurz, deswegen war es keine Schwierigkeit, die peinlichen kleinen Wunden zu sehen. Sein Gesicht brannte krebsrot vor Scham, als er später mit seiner Waffe in der Hand vor der versammelten Meute der Kerle im Lager stand und von allen Seiten angestarrt wurde; auch, wenn sie ihm nicht wirklich die Hosen auszogen, um nachzusehen, ob er auch wirklich haarlos war, hatte er das Gefühl, dass sich ihre Blicke durch die Hose in seinen Schritt bohrten und jeden Zoll seiner juckenden, gereizten Haut begafften. Er hätte sich am liebsten zusammengekauert und die Beine verschränkt wie eine Frau, die deutlich machen wollte, dass sie auf keinen Fall eine Vereinigung wollte; in Holia hatten sich die Frauen oft so zusammengekauert, damit hatten sie gezeigt, dass sie gerade bluteten oder aus sonst einem Grund nicht bereit waren, sich einem Mann zu öffnen; was Arlon oder Loron auch nicht jedes Mal interessiert hatte, und dann hatte den armen Frauen auch das Einigeln nichts genutzt.

Zu seinem Glück schienen die Männer hier seriöser zu sein als die in Holia, vermutlich war es nur seine Paranoia, die ihn sich wie ein gebratenes Hühnchen auf dem Silbertablett fühlen ließ. Ihm gegenüber vor allen anderen Kriegern stand der Kerl mit dem Schädel. Sora hatte ihm erklärt, dass er der Älteste war und dass ihm alle anderen Jäger und Krieger folgten. Der Schädel auf seinem Kopf war gleichzeitig eine Jagdtrophäe und sein Statussymbol, das erkennen ließ, dass er einen hohen Rang hatte. Der Älteste begann zu sprechen. Er wirkte ernst und seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er Autorität besaß; niemand widersprach diesem Kerl. Sora, die neben Zoras stand, übersetzte das, was der Mann gesagt hatte.

„Er sagt, der Mann mit dem Zeichen ist gekommen, wie es die Prophezeiung gesagt hat. Sie hat gesagt, er würde kommen und das Volk in eine neue Welt führen... durch Feuer und Schatten. Sie sind bereit, das Lager abzubrechen und dir zu folgen.“ Zoras seufzte.

„Dann sollte ich ihnen wohl sagen, warum ich hier bin.“, murmelte er, ehe er sich räusperte; er war kein guter Redner. Karana konnte reden, sein Vater war ja auch Politiker. Aber er war nie talentiert darin gewesen... er hoffte, dass Sora seine Ähms und Alsos nicht mit übersetzen würde... „Ähm... ich komme aus Vialla, der Hauptstadt des Zentralreiches. Vor den Toren liegt die Streitmacht von Ela-Ri... dem Reich des Ostens, wo die Leute ihre Toten fressen und Bestien aus der Finsternis heran züchten zu ihren treuen Dienern. Die Leute aus dem Osten sind gekommen, um das Reich zu Fall zu bringen und... ich wurde geschickt, ähm, um euch um Hilfe zu bitten. Eine... also, eine weise Frau hat mich geschickt und gesagt, ihr würdet mir folgen! Der Weg nach Vialla ist wahnsinnig weit und schwer, aber ihr... seid doch mächtige Krieger, heißt es, ihr... kriegt das sicher trotzdem hin. Wenn selbst ich es geschafft habe, haha...“ Er kratzte sich nervös am Kopf, als Sora seine Worte übersetzte – das, was sie sagte, klang gleich viel seriöser und zuversichtlicher als sein blödes Gestammel. Er war ihr wirklich dankbar für ihre Hilfe... er sollte sich dringend überlegen, wie er sie belohnen könnte. Dabei fiel ihm ein, dass sie irgendetwas davon gesagt hatte, dass sie jetzt seine Frau wäre... das fand er irgendwie eigenartig.

Der Älteste tauschte nach Soras Übersetzung einen Blick mit all seinen Kollegen. Dann sprach er ruhig und bedächtig und Sora übersetzte erneut:

„Er sagt, wir kämpfen nicht für das Zentralreich. Wir sind freie Völker und kämpfen nur für uns selbst. Wir fürchten Ela-Ri nicht, wir haben ihre Schergen an den Küsten oft bekämpft, die unser Land haben wollten. Ihr Schatten ist nur ein fauler Zauber, auf den wir nicht herein fallen. Die Armeen vieler Länder in Vialla brauchen unsere Hilfe nicht.“ Zoras brummte.

„Ich dachte, ihr wollt mir folgen!“, meckerte er und packte seine Hellebarde, „Ich denke, ich bin der Mann aus der Prophezeiung! Alter, ich habe mir jetzt nicht die Eier rasiert, damit ihr hier bleibt!“ Sora hüstelte.

„Soll... ich das übersetzen?“

„...Lass den letzten Teil bitte weg.“ Sie übersetzte und der Älteste nickte ernst auf die Worte; dann sprach er selbst in seiner gebrochenen Einheitssprache.

„Der Mann mit dem Zeichen führt uns in neue Welt. Aber neue Welt nicht Kisara, nicht Welt, in der wir uns einordnen. Freie Stämme, Mann aus dem Westen.“

„Dann kämpft für eure Freiheit!“, zischte Zoras ergrimmt, „Kämpft für sie! Oder wollt ihr, dass Ela-Ri nicht nur diese Küsten belagert, sondern auch den Rest des Landes? Dass sie von allen Seiten kommen? Ihr seid gute Krieger, aber sie sind viel mehr! Sie sind so viele, dass ihre Pfeile die Sonne verdunkeln, wenn sie alle gemeinsam angreifen! Wenn sie Vialla zu Fall bringen, könnt auch ihr sie nicht besiegen. Aber wir alle zusammen... alle Völker des Zentrums und die, die sich frei nennen, können es!“ Er schnappte nach Luft und Sora übersetzte seine Worte. „Wenn Ela-Ri geschlagen ist, kehrt ihr hierher zurück. Und seid frei. Ich verlange nur dieses eine von euch, Krieger von Ostfann. Wenn ihr mir nicht folgt... was soll dann eure Prophezeiung?“ Darauf erntete er eisernes Schweigen, dann begannen die Männer zu murmeln, bis der Älteste sie zum Schweigen brachte. Er sah in Zoras' Gesicht und ihre Augen ruhten lange schweigend aufeinander. Zoras sah die Seele des Mannes... er war tapfer, er hatte keine Angst. Auch nicht vor ihm selbst. Er erkannte, dass der Mann in seinem Gesicht die Wahrheit hinter den Worten verstand und vielleicht noch mehr... er erkannte die Art seiner Magie, obwohl der Kerl selbst gar kein Magier war, seine Augen waren gut und weise. Schließlich nickte er langsam und senkte sein Haupt; dann trat er vor, nahm seinen Schädelhut ab und setzte ihn in einer würdevollen Bewegung auf Zoras' Kopf. Das Gewicht des Schädels und der Verzierungen drückte ihm gegen den Kopf und er weitete stumm die grünen Augen ob der Ehre, die in dieser Geste mitschwang; als er aufblickte, fielen die Männer und Frauen und selbst die Kinder im Hintergrund auf die Knie vor ihm, bis die ganze, versammelte Mannschaft zu seinen Füßen lag. Sora kniete nicht, fiel ihm auf; sie hatte nur bescheiden den Kopf gesenkt. Sie schien zu spüren, dass ihn das verblüffte, und antwortete ihm flüsternd:

„Ich bin ja deine Frau und damit jetzt Königin. Eine Königin kniet nicht, sagen die Leute. Die Königin hat, obwohl sie eine Frau ist, einen fast gar nicht weniger hohen Status als ihr Mann... das ist etwas, das es im Westen nicht gibt.“ Das war wahr; egal, wie hoch die Position einer Frau sein mochte, sie war immer tiefer als die der Männer. Grundsätzlich.

„Mann aus dem Westen ist Zauberer.“, versetzte der jetzt hutlose Älteste, der zurückgetreten war, „Herr der Kondore. Vogel, der am Himmel fliegt und totes Fleisch frisst. Herr über Vogel... ist der Seelenfänger. Der Herr über Tod. Und dem folgen wir.“ Er sagte etwas auf seiner Sprache zu den Männern und sie stampften mit ihren Speeren auf den Boden. „Wir brechen auf. Jetzt. Lange Reise nach Westen. Ela-Ri fällt.“ Er rief etwas lauter in seiner Sprache und Zoras seufzte erleichtert – dann hatte er sie da, wo er sie haben wollte. Er sah auf Sora, die ebenfalls lächelte und aufgeregt wirkte. Vor seinen Augen begannen die Menschen, sich zu verteilen und die Behausungen abzubauen. Die Frauen schnallten sich bereits Gepäck auf die Rücken und Zoras hielt den ältesten verblüfft noch einmal an.

„Wartet – Moment, alle kommen mit? Selbst die Frauen und Kinder?“, wunderte er sich, „Ich meine... ihnen könnte etwas zustoßen.“ Der Älteste schien ihn auch ohne Sora zu verstehen, denn er antwortete grinsend:

„Wir Volk guter Krieger. Starke Krieger, beste von Tharr. Nur Frauen hier bringen gute Krieger auf Welt. Unsere Frauen stark und gut. Nichts geschieht.“ Er war verblüfft über diese Antwort, aber sie ließ ihn kurz schmunzeln.

Nur unsere Frauen bringen wahre Krieger zur Welt. Ihnen wird nichts passieren.

Die Zuversicht, mit der der Mann sprach, machte ihm selbst Mut; er sah auf Sora, die sich die offenen Haare hinter die Ohren strich und ihn ansah mit einem Blick voller Bewunderung und Zuneigung; einem Blick, den er noch nie bei einer Frau gesehen hatte, die ihn angesehen hatte. Nicht einmal bei Neisa. Er erinnerte sich plötzlich an Chenoas Worte, die sie zu ihm gesagt hatte, ehe er aufgebrochen war.

„Das Mädchen... kann deine Leere füllen.“

Als er jetzt Sora anblickte, hatte er die Bestätigung, dass Chenoa nicht von Neisa gesprochen hatte damals. Sie sah Neisa so ähnlich... und dennoch war sie jemand anderes. Und sie war ein guter Mensch, den er bereits nach nur einem Tag zu schätzen gelernt hatte. Er räusperte sich.

„Wenn Ela-Ri fällt, kommst du doch mit zu mir, oder?“, fragte er sie, „Du bist schließlich meine Frau.“ Sie errötete leicht, schien aber stolz zu sein, denn sie nickte kichernd.

„Natürlich. Vielleicht möchtest du ja... nächstes Mal, dass ich in der Nacht auf deinem Lager bleibe.“ Er musste verlegen lachen und senkte etwas den Kopf; na ja, das musste er sich dann noch mal überlegen. Und bis es soweit war, lag noch eine Reise voller Schatten vor ihnen... er fragte sich, ob sie rechtzeitig kämen.
 


 

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Haaahaaaa, Zorchen muss sich die Eier rasieren... das wird ihm noch ewig Alpträume machen XDDD

Schattengeist

Karana erwachte mit einer brennenden Hitze in seinem Inneren und war zu benommen, um festzustellen, wo er war. Er hatte keine Ahnung, wie lange er weg gewesen war; um ihn herum war es dämmrig und er lag auf dem Rücken. Sein Kopf schmerzte höllisch, als er versuchte, die Augen zu öffnen, so schloss er sie mit einem Keuchen wieder und lauschte den fremden, dumpfen Stimmen, die ihn umgaben. Geisterstimmen... er hörte, wie sie zu ihm sprachen, obwohl er Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. Die Windgeister streiften seine Haut und berührten ihn, ihre dünnen Finger strichen seine Brust hinab und andere fuhren ihm in die Hose. Er stöhnte, als das Brennen in seinem Inneren heftiger wurde. So viele Hände, die nach ihm angelten... die Geister waren unersättlich und er war es auch.

Saidah... er dachte voller Verlangen an die Frau und vergaß für den Moment, dass sie ihm den Rücken gekehrt hatte in Vialla. Jetzt war sie da, er spürte es genau, und ihre Stimme flüsterte ihm seltsame Worte ins Ohr. Ihre Finger berührten und stimulierten ihn und er wand sich keuchend unter ihren sanften Berührungen; sie reichten ihm nicht, er wollte mehr... er wollte sie ganz, er wollte sie für sich, und zwar für immer.

In seine Gedanken mischte sich das Gesicht einer anderen Frau; er erkannte Ianas hübsches, blasses Gesicht vor seinen inneren Augen, und verblüfft stellte er fest, dass er sie auch wollte... er wollte sie beide, Saidah und Iana, weil sie fähig waren, ihm das zu geben, was er verlangte... keine andere Frau, die er in seiner Heimat gehabt hatte, hatte ihm dasselbe Feuer geben können, nicht einmal Niarih, obwohl sie dicht dran gewesen war. Die Gedanken an Saidah und Iana, die jetzt beide bei ihm waren, erregten ihn, und er lehnte stöhnend den Kopf zurück, als er spürte, wie sie ihn in sanfter Intensität stimulierten und wie ihre Finger ihn umschlossen und bearbeiteten. Das war ein Traum... Saidah und Iana würden nie beide zugleich bei ihm liegen. Aber es war ein guter Traum, und er wollte sich nie wieder davon losreißen. Seine Kehle brannte, als hätte er zu viel scharfen Alkohol zu sich genommen, und die Welt drehte sich in schillernden Farben um ihn herum, als er flatternd die Augen öffnete und sich seinem Traum hinzugeben versuchte, der über ihm war und sich bewegte. Die Frauen, die ihn mit geschickten Berührungen erregten, waren weder Saidah noch Iana; jetzt, wo seine Augen offen waren, hatte er keine Ahnung, wer sie eigentlich waren – wo war er noch gleich? Es war egal, sie befriedigten ihn und es war gut... irgendeine Frau kniete nackt über seinem Bauch und kreiste mit den Hüften, gewährte ihm Einblicke, die ihm die Schamesröte ins Gesicht trieben; weiter hinten hockten noch mehr, die ihn berührten, die seine Schenkel streichelten und ihn unter ihren langen, krallenartigen Fingernägeln schaudern ließen vor Erregung. Ihm war schwindelig und in seinem Kopf rauschte das Blut, als er abermals keuchte und spürte, wie ihn eine der nackten Frauen mit der Zunge berührte. Ihm kam in den Sinn, dass das hier falsch war – er kannte die Tussen doch überhaupt nicht, wie konnte er sich ihnen so schamlos hingeben? Wo war er, verdammt? Aber ihre Berührungen und die Nackte über ihm, die den Kopf in den Nacken warf, während sie weiter ihre Hüften bewegte und sich vor seinen Augen mit den Fingern selbst berührte, ließen alle Zweifel in ihm verschwinden. Vielleicht war er tot und die Geisterfrauen im Reich des Himmelsdonners gaben ihm ungefragt die brennende Erfüllung, weil sie genau wussten, dass er gerade danach verlangte... also, so war der Tod etwas angenehmes, musste er sich eingestehen. Und er hielt sich nicht zurück, seine Begierde zu zeigen, als er zusah, wie die Fremde über ihm sich selbst berührte und ihn der Anblick vor Verlangen rasend machte. Er spürte, wie die andere weiter unten ihn in den Mund nahm und ihn auf eine Weise befriedigte, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte; und es war gut, es entfachte das Feuer und ließ ihn in der Ekstase erzittern, bis er sich unruhig zu winden begann und danach verlangte, es richtig zu tun. Obwohl die Geisterfrauen mit der gebräunten Haut, die nichts trugen außer goldenem, schwerem Schmuck an allen unmöglichen Stellen ihres Körpers, in einer seltsamen Sprache zu ihm redeten, verstanden sie ihn, und seine Lenden erfüllte eine drückende Hitze, als die eine, die ihn gerade noch mit dem Mund liebkost hatte, sich auf ihn setzte und er tief in das weiche, heiße Fleisch eindrang. Er hob ungeduldig die Hände und berührte die andere Tussi, die über ihm kniete, er zog ihre Finger zwischen ihren Schenkeln weg und ersetzte sie mit seinen eigenen, um sie selbst zu berühren, worauf sie über ihm stöhnte und er sah, wie ihre runden Hüften erzitterten. Sie gab sich ihm hin und er sich der zweiten Frau, während die dritte jetzt auf seinem einen Bein saß und sich gegen ihn rieb, sodass er sie auf seiner Haut spüren konnte. Himmel, er wollte tot bleiben; er wollte garantiert nie wieder zurück in die Welt der Lebenden, wenn er jetzt bis in alle Ewigkeit so etwas haben konnte. Der Gedanke erfüllte ihn mit Macht... er mochte Macht, sie ließ ihn vor Erregung noch mehr anschwellen und gab ihm neues Feuer, als er sich keuchend bewegte und die eine nahm, die auf ihm tanzte, so lange, bis das Feuer in seinem Inneren explodierte und die schmerzende Hitze ihn verbrannte. Mit einem leisen Stöhnen ejakulierte er, während er noch die andere berührte, und er hatte das Gefühl, er würde gar nicht mehr aufhören zu kommen, so sehr zitterte er in der Ekstase, die ihn ergriff und forttrug...

Dann sprachen die Geister zu ihm, und sie sprachen in seinem Kopf und auf seiner Sprache.

Bald kommt das Ende der Welt, Karana... mach die Augen auf. Du bist nicht tot...

Er öffnete keuchend und von einer so tiefen Befriedigung erfüllt die Augen, dass er zunächst nur bunte Farben wahrnahm; als er endlich richtig wach war, schwindelte ihm und er spürte eine ätzende Übelkeit, als hätte er eine ganze Nacht durch gesoffen.

Er fand sich splitternackt auf einem Schlaflager liegen, das sich in einem geräumigen Zelt befand, wie er vermutete, als er sich verblüfft umsah. Keuchend setzte er sich auf und sah in der Ecke am Boden des Zeltes drei Frauen hocken, die sich miteinander unterhielten, kicherten und dann ab und zu grinsend zu ihm herüber sahen; er hatte die Frauen nie zuvor gesehen, aber sie waren nackt bis auf den üppigen Schmuck, den sie trugen, und ihre schwarzen Haare waren zusammengesteckt zu eigenartigen Frisuren, geschmückt mit Federn, Knochen und goldenen Ketten. Jetzt wusste er, wo er diese Art von Schmuck schon einmal gesehen hatte, und ein kalter Schauer durchfuhr ihn; das hier war das Lager von Ela-Ri, das Kriegslager. Und die Frauen mussten Dienerinnen des Königs sein – die ihn gerade alle drei auf einmal verdammt noch mal genommen hatten, und wie. Er starrte die Frauen verblüfft an und als sie sich bewegten und ihre nackten Brüste etwas wippten, wurde er schon wieder hart vor Verlangen. Was zum Geier machte er hier? Wo war Iana...? Er sah nach links, wo sich ein fahler Lichtspalt im Zelt auftat, weil der Eingang geöffnet worden war. Darin stand ein groß gewachsener, angezogener Mann, der ihn aus milchigen Augen ansah – der blinde Seher vom Schlachtfeld. Karana räusperte sich, weil es ihm unangenehm war, vor dem alten Geier nackt zu sein – obwohl er blind war, richtete sich sein nicht vorhandener Blick mit einem wissenden Grinsen auf Karanas Unterleib und seine Erektion, und der Jüngere brummte verlegen und versteckte sein steifes Glied hinter seinen Armen.

„Was willst du von mir, blinder Mann?“, fragte er kalt, und der Mann machte eine Handbewegung, die unmissverständlich bedeutete, dass Karana mit ihm kommen sollte.
 

Er bekam eine Hose, die er sich anziehen konnte, damit er nicht nackt durch das Kriegslager gehen musste; die Kleidung war ihm zu groß und vor allem viel zu weit, weil die Männer von Ela-Ri alle größer und kräftiger waren als er selbst. Er hatte sich schon immer ziemlich darüber geärgert, dass er, während um ihn herum alle den Körper eines erwachsenen Mannes bekommen hatten, selbst Simu irgendwie, immer noch so schmal war wie ein heranwachsender Junge. Selbst der kleine Zoras wirkte irgendwie männlicher als er, hatte er manchmal das Gefühl... der war zwar auch dürr, aber das kam daher, dass er nichts zu essen bekam. Er, Karana, konnte essen, bis ihm schlecht wurde, und er war trotzdem so schmal wie ein Paddel.

Du kommst wohl nach deiner Mutter, die ist auch so zierlich.“, hatte sein Vater ihn manchmal aufgezogen, und seine Mutter hatte dann feixend erwidert:

Sei froh, das heißt, dir werden wenigstens keine Brüste wachsen, wenn du nach mir kommst.“ Diese Gespräche waren dann immer in den Beteuerungen des Vaters ausgeartet, dass er ihre kleinen Brüste sehr reizend fand und sie sich nicht selbst immer so schlecht machen sollte, und Karana hatte seinen turtelnden Eltern dann mit den Augen rollend den Rücken gekehrt, während er sich seelisch damit abgefunden hatte, dass sie vermutlich gleich auf dem Flur vor allen anderen übereinander herfallen würden. Inzwischen musste der junge Mann über seine Eltern grinsen, wenn sie sich so eindeutige, verliebte Blicke zuwarfen und sich so albern aufführten; sie hatten immerhin ein sehr intaktes Sexleben, das musste man ihnen lassen. Und er beneidete sie darum... er hatte sich gewünscht, mit Saidah auch einmal so sein zu können, aber inzwischen hatte er nicht mehr das Gefühl, dass das im Bereich des Möglichen wäre.

Iana. Ihm fiel Iana wieder ein, während er, die viel zu große Hose festhaltend, die ihm sonst von den Hüften gerutscht wäre, dem seltsamen Kerl vor sich durch das Lager folgte. Es war eiskalt und der Boden war gefroren; jeder Schritt mit seinen nackten Füßen darauf schmerzte höllisch.

„Wo ist sie?!“, schnappte er dann ergrimmt, „Wo ist Iana?!“ Der Gedanke führte ihn zurück in das Zelt und zu seinem bizarren Traum – der kein Traum gewesen war, denn die drei komischen Frauen hatten ihn tatsächlich befriedigt. Was, wenn man mit Iana etwas ähnliches gemacht hatte...? Der Gedanke machte ihn zornig. Wie konnte es jemand wagen, seine Frau anzurühren? Sie war sein und nur ihm war es vorbehalten, sie zu nehmen, nur er sollte sie berühren dürfen... er wäre beinahe in den Seher hinein gerannt, der plötzlich vor einem größeren Zelt stehen blieb und sich zu ihm umdrehte – dabei grinste er ihn mit seinem blinden Blick herrisch an.

„Niemand rührt die Schattenfrau an.“, behauptete er dann in der Einheitssprache und Karana keuchte; der Mann hatte zwar einen grässlichen Akzent, aber er konnte tatsächlich seine Sprache. Die Schattenfrau? Das verwirrte ihn... das hatte er schon einmal gehört auf dem Hochland. Was war mit Iana...?

„Dann gib sie mir zurück.“, verlangte er, „Sie gehört zu mir.“

„Nicht jetzt.“, sprach der Mann vor ihm, „Du kommst zum König. Benimm dich.“ Mehr sagte er nicht, er drehte sich um und rief etwas zum Eingang des Fellzeltes, vor dem sie standen, das mit Ketten aus goldenen Perlen und Knochen verziert war. Der König... Karana erinnerte sich dunkel an den Kerl, der vor die Armee getreten war, diesen Riesen von Mann, der in seinem Jähzorn seinen Dolmetscher getötet hatte. Der Schamane schluckte verunsichert und spürte, wie der Schwindel in seinen Kopf zurückkehrte. Oh nein, er war noch nicht bereit, zu sterben! Und er sorgte sich um Iana... er wollte sie sehen, er wollte ihr sagen, dass er auf sie aufpasste; auch, wenn sie ihn garantiert verhauen würde, wie sie es manchmal tat, selbst danach sehnte er sich... er keuchte, als der Seher ihn am Arm packte und mit sich durch den Eingang in das Zelt schleifte.

Innen war es schummrig wie in dem kleinen Verschlag, in dem er aufgewacht war; es war nur wesentlich luxuriöser eingerichtet und verziert. Weiche Felle bedeckten den Boden und schützten so seine halb erfrorenen Füße. Am Boden standen Öllampen, die für ein wenig Licht sorgten, und vor ihm auf einer Erhöhung aus Fellen, Knochen und eingefetteten Häuten von merkwürdigen Tieren, die wie alles andere mit Gold und Knochen verziert war, thronte der riesenhafte König von Ela-Ri. Karana keuchte ungehalten. Dem Herrscher zu Füßen räkelten sich ein paar weitere, splitternackte Frauen, die mit den Händen seine Beine streichelten; eine hockte neben dem merkwürdigen Thron und hielt ein Tablett aus Gold, auf dem gebratenes Fleisch lag. Karana fragte sich, was ihn hungriger machte, die Frauen oder der Geruch des Fleisches, irgendwie schien es beides zu sein... der Seher schlug ihn vorwärts auf die Knie und zischte ihn an.

„Knie vor dem Allmächtigen, du Unhold! Wage nicht, seine Mätressen anzusehen mit so einem Blick! Sie so anzusehen ist nur dem König vorbehalten!“ Karana brummte über den Knilch, der trotz Blindheit alles zu sehen schien, während er jetzt am Boden kniete und den Schmerz in seinem Rücken ob des heftigen Schlags noch spüren konnte. Der König sprach; er sprach in seiner eigenen Sprache, aber Karana konnte die Bedeutung der Worte dennoch erfassen.

Lass ihn, Bruder. Er ist nicht als Feind hier. Er weiß es ja nicht besser. Der Sohn des Königs ist hier, um ein Angebot zu hören.“ Karana war verblüfft. Sohn des Königs? Entweder verwechselten sie ihn oder sie bezeichneten seinen Vater als König, weil er der Herr der Geister war... so etwas wie der König der Schwarzmagier.

„Was wollt ihr von mir?“, zischte er und hob den Kopf – um gleich wieder zu Boden gestoßen zu werden. Der Seher hatte ihn getreten und verbat ihm, dem Allmächtigen so ins Gesicht zu sehen. „Und wo ist Iana?!“

Bruder.“, sagte der König in aller Gelassenheit in seiner hässlichen Sprache, „Lass mich sein hübsches Gesicht ansehen...“ Der Seher brummte und packte Karana an den Haaren, um seinen Kopf wieder empor zu zerren, und zornig schlug der Jüngere nach seinem Peiniger.

„Lass mich los, verdammt noch mal!“ Er sah jetzt zischend dem König ins Gesicht, der sich gerade von der nackten Frau mit dem Tablett ein Stück Fleisch geben ließ, das er genüsslich aufaß, während er Karana langsam von oben bis unten musterte.

Ja, du bist ein hübscher Junge.“, erklärte er dann sinnlich, „Du bist ein Sohn eines Königs. Zieh ihn aus, Bruder.“ Karana hustete.

„Was?! Moment, nein! Alter...!“ Er wehrte sich nur kurz, ein Schlag auf seinen Kopf mit dem Speer des Sehers beendete seinen Widerstand rasch und er spürte, wie der Schwindel ihm beinahe schwarz vor Augen werden ließ, als der Typ ihm gehorsam die zu große Hose wieder vom Leib riss und er jetzt nackt vor dem König hockte. Die nackten Frauen am Thron lächelten ihn wohlwollend an, offenbar gefiel ihnen, was sie sahen. Karana errötete. Was sollte das jetzt? Er schauderte und versuchte krampfhaft, sich sein Schamgefühl nicht weiter anmerken zu lassen, obwohl er sich ziemlich wehrlos vorkam, wie ein Hühnchen auf dem Silbertablett – nein, hier wohl eher Goldtablett. Sein Blick wanderte nervös zu dem Tablett der einen Frau und den Fleischstücken darauf, die wirklich gut aussahen... er hatte wirklich Hunger.

Der König erhob sich langsam von seinem Thron und schob seine Mätressen zur Seite, ehe er vor Karana in die Hocke ging und den jungen Mann eingehend betrachtete. Er streckte eine Hand nach seinem Gesicht aus und fuhr ihm mit den Fingern nachdenklich über die Stirn.

Er hat einen mächtigen Geist.“, sagte er zu seinem Bruder und Karana zischte, war aber froh, dass er ihn wenigstens nur an der Stirn angrabbelte und nicht sonst wo. „Er ist widerspenstig. Bist du dir sicher, Bruder, dass er gut ist?“ Der Seher grinste; Karana konnte es spüren, obwohl der Mann hinter ihm stand. Er sprach ebenfalls in der schnarrenden Sprache des Ostens.

Er hat einen starken Geist, weil er viele in sich trägt. Er hat den Geist eines Windherrschers... den Geist eines mutigen Kindes und den Geist eines mächtigen Diktators. Ein Fetzen... einer Seele, die eigentlich im Schatten hätte sterben sollen.“ Der Seher ging hinter ihm in die Hocke und Karana spürte, wie er um ihn herum griff und mit seinen Fingern in seinen Mund fasste. Der Jüngere schnaubte und wollte ihn beißen, aber der Mann hatte kaum Mühe, mit seinen Fingern seinen Mund so zu öffnen, dass er ihn unmöglich wieder schließen könnte, ehe der Typ nicht seine Finger herausnahm. Karana hustete und spürte den Brechreiz in sich aufsteigen. Der komische Kerl fasste nach seinen spitzen Eckzähnen und er erstarrte. „Sieh, Bruder, Allmächtiger. Das sind die Fangzähne des Dämons und der Beweis... für seine Abstammung vom Geist, der niemals hätte wiedergeboren werden dürfen. Wir müssen diesen Teil seiner Seele rufen. Wenn er die Oberhand hat, ist es gut.“ Der König musterte Karana eindringlich, während sein Bruder die Finger aus Karanas Mund zog und der noch immer erfüllt von Übelkeit wild hustete. „Gib ihm... Macht, König. Das gefällt ihm. Dann wird es gut.

„Was habt ihr vor, zum Geier?!“, empörte sich Karana zornig, „Was soll das alles?! Was redet ihr da?!“ Viele Geister? Ein Geist, der nicht hätte wiedergeboren werden dürfen? Er hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Und was hatten immer alle mit seinen Zähnen? Auch Ryanne hatte die interessant gefunden, erinnerte er sich... wozu das alles? Der König erhob sich vor ihm und rückte seine Kleidung zurecht.

Was wird mit der Frau?“, fragte der Seher dann und Karana spannte sich nervös an – Iana! Er wollte sie sehen... verdammt, warum kauerte er hier so unnütz herum? Er musste aufspringen und sie befreien... doch ein Blick in das Gesicht des Königs, ein Blick in seinen tödlichen, machtvollen Geist ließ ihn all seinen Mut sofort vergessen. Er hatte nie im Leben eine Chance gegen diese beiden Männer zugleich, da war er sicher.

Wenn ihr es wagt... Iana ein Haar zu krümmen... dann werdet ihr euch wünschen, niemals geboren worden zu sein, schwor er bitter und teilte dem König seine Worte durch bloße Gedanken mit, unmissverständlich klar machend, dass er es ernst meinte. Der König trat einen Schritt zurück und ließ sich noch ein Stück Fleisch geben.

Bist du sicher, dass sie die Schattenfrau ist? Die, von der wir geträumt haben?“ Der Seher schnaubte.

Ihr Schwert zerbrach nicht an meinem Speer. Und nur ein Schattenschwert kann einer anderen Schattenwaffe standhalten. Nur Kadhúrem, die Schattenklinge aus dem Norden.“ Karana blinzelte. Moment, Schattenschwert? Meinten sie Ianas komisches Kurzschwert?

Sie könnte die falsche Frau sein.“, meinte der König, „Die zufällig das echte Schwert trägt.

Sie ist die richtige Frau. Ich habe es in ihrem Inneren gesehen. Wir sollten sie einsperren. Niemand darf sie berühren, wer es tut, wird sterben. Sie ist mächtig.“ Karana keuchte.

„Dann gebt sie mir zurück!“, verlangte er wütend, „Sie gehört mir!“ Er erntete die stummen Blicke der beiden Männer, dann zog der Seher ihn unsanft auf die Beine, sodass Karana strauchelte. Beinahe wäre er gestürzt. Der König sagte etwas zu seinem Bruder und der Seher sprach in der Einheitssprache zu Karana:

„Gehörst du denn... auch ihr? Weiß sie das?“

„Natürlich weiß sie das, wir haben uns vereint wie Mann und Frau!“, entrüstete der Jüngere sich giftig, „Gebt sie mir. Jetzt.“ Der Seher grinste ein seltsames Grinsen.

„Gut... dann wird es Zeit, ihren Willen zu brechen.“ Während Karana noch ungläubig die Augen weitete über diese Worte, rief der Seher nach Sklaven draußen, die die Schattenfrau zum Zelt bringen sollten.
 

Iana wirkte nicht so, als wäre ihr ein Haar gekrümmt worden. Sie wehrte sich nicht, als die Sklaven sie ins Zelt führten, sie war weder gefesselt noch in sonst einer Weise in ihrer Bewegung beeinträchtigt worden. Karana starrte sie an und sie starrte zurück, als sie nach Luft schnappend in der dämmrigen Erleuchtung des Zeltes stand und die Nase rümpfte. Die Sklaven blieben an ihrer Seite und Karana hatte keinerlei Zweifel, dass sie die Frau aufhalten würden, wenn sie versuchen sollte, zu fliehen. Die Männer wirkten nicht sonderlich furchteinflößend im Vergleich mit dem König und seinem blinden Bruder; groß waren sie alle, aber die Diener waren schmächtiger.

„Was zum Geier wollen die eigentlich?“, fragte Iana ihn dann, „Wieso bist du nackt, haben sie dich etwa wie ein Mädchen genommen?“ Karana errötete.

„Bisher noch nicht... wenn die das wagen, sind sie des Todes, Alter!“ Er musterte sie; sie war komplett angezogen und ihre Kleidung war kaum malträtiert, die Risse, die sie aufwies, stammten eher aus der Schlacht als von den Leuten hier. Der König hatte sich erhoben und trat nun einen Schritt auf Iana zu, musterte sie eingehend und verengte die dunklen Augen zu argwöhnischen Schlitzen.

„Ist der Sohn des Königs dein Mann, Schattenfrau?“, fragte der Seher sie darauf, und Iana zog verblüfft eine Braue hoch.

„Wer?“

„Sie meinen mich...“, stöhnte Karana, „Ich habe ihnen gesagt, dass du zu mir gehörst.“ Iana runzelte die Stirn, nickte dann aber zu seiner Erleichterung; genau genommen war sie nicht seine Frau... aber vielleicht würde es ihnen das Leben erleichtern, wenn sie so tat, als wäre sie es. Aus irgendeinem Grund fürchteten sich die Ela-Ri-Männer vor Iana... Karana begriff nicht, wieso sie sie Schattenfrau nannten. Der blinde Mann feixte, als er in seinen Umhang aus Fellen griff und Ianas Kurzschwert hervor zog, das er auf dem Schlachtfeld an sich genommen haben musste. Karana sah die Frau erbost die Augen weiten.

„Das Schattenschwert...“, keuchte der Zauberer andächtig und betrachtete es eingehend, während Iana zischte und sich die kleinen Härchen auf ihren Armen sträubten. Sie hielt sofort inne, als der Kerl ihr die Waffe plötzlich an die Kehle hielt, und Karana hustete. „Ich frage mich, ob dein eigenes Schwert dich zu töten vermag...“ Iana keuchte und Karana sprang empört auf die Beine.

„Lasst sie in Ruhe, ich warne euch! Wenn ihr es wagt, sie anzurühren...!“ Er spürte im nächsten Moment, wie er gepackt und zurück zu Boden geworfen wurde, und er sah den König, der jetzt angriffslustig die Zähne fletschte – einen Moment später war es Karana, der das Kurzschwert an der Kehle hatte. Er schnappte nach Luft und fühlte sich benommen durch den Sturz. Sein Kopf schmerzte und er zischte.

„Dann vielleicht doch lieber dich...?“, grinste der Blinde über ihm, „Wir werden dir wehtun müssen, um deinen Geist zu wecken... den, der im Schatten hätte sterben sollen.“

Ein schmerzhafter Stoß in Karanas Rippen beendete seine Worte und der Jüngere keuchte, als er den Schmerz wie Feuer in seiner Brust brennen spürte. Er rappelte sich stöhnend auf, bis er saß, dann wurde er vom König an den Haaren gepackt und weiter empor gerissen. Er hörte Iana irgendwo schreien, aber er konnte nicht mehr orten, aus welcher Richtung ihre Stimme kam, als er mit einem gewaltsamen Tritt abermals zu Boden befördert wurde, dieses mal bäuchlings; ein harter Schlag ins Genick ließ ihm kurzzeitig schwarz vor Augen werden.

Er hatte keine Ahnung, wovon sie redeten und was für einen Geist sie meinten. Die Schmerzen flauten ab und hinterließen einen fürchterlichen Brechreiz, sodass er keuchend nach vorne kippte und sich fast übergeben hätte. In seinem Kopf hörte er Stimmen und vor seinen Augen war es plötzlich so finster, als wäre er genau wie der komische Kauz vor ihm erblindet. Ianas Rufen verhallte irgendwo in weiter Ferne, dann hörte er sie nicht mehr. Er fragte sich, ob sie tot war... und Saidah. Wo war Saidah? Die Geister wisperten in seinem Kopf und er nahm nur am Rande seines angeschlagenen Bewusstseins wahr, wie er wieder auf die Knie gezerrt wurde und wie sich ein ungeheurer Druck auf seinen Kopf und seinen ganzen Körper zu legen schien; das hatte er schon einmal erlebt, diese unsichtbare Macht der Geister, die ihn aus dem Himmel zu Boden zu pressen schien und verhindern wollte, dass er jemals wieder aufstand. Er kippte jetzt nach hinten und lag dann keuchend und flach auf dem Rücken, lauschte dem Rauschen seines eigenen Blutes und dem dumpfen Pochen des Schmerzes. Er versuchte krampfhaft und mit einem verzweifelten Stöhnen, sich daran zu erinnern, was er tun sollte... sich daran zu erinnern, was die Macht war, die er inne hatte und die er rufen könnte, um die Schmerzgeister zu verjagen und diese Barbaren dem Erdboden gleich zu machen. Aber durch seinen Kopf rauschten nur Blut und das Gefühl, wieder ohnmächtig zu werden. Er versuchte, sich an Saidah zu erinnern, die ihn gelehrt hatte...

Beherrsche deinen eigenen Geist. Wenn du keine komplette, uneingeschränkte Kontrolle über deinen eigenen Geist hast, kannst du auch kein Geisterjäger sein. Kontrolle, Karana, merke dir meine Worte...“ Doch Saidahs Worte waren so weit weg, sie klangen dumpf und verzerrt, als hätte sie jemand anderes gesagt. Ein Dämon... irgendein Schatten, der seine Seele befiel und der den Schmerz mit einem plötzlichen, viel heftigeren Druck auf seinen Körper explodieren ließ, sodass die Finsternis vor Karanas Augen einem beißend hellen Licht wich, ehe er schrie und die Augen wieder öffnete. Er wurde wieder auf die Knie gezerrt und spürte eine Hand, die sich mit gespreizten Fingern an seine Stirn krallte, als hätte sie vor, ihm das Gehirn auszusaugen. Verschwommen erkannte er das Gesicht des blinden Typen vor sich, der seine Hand auf Karanas Stirn gelegt hatte und seinen Kopf festhielt. Er sagte in seiner eigenen Sprache irgendetwas zu seinem Bruder, der Karana offenbar von hinten festhielt und ihm dabei fast die Arme auskugelte. Es schmerzte und der junge Mann spürte in sich die Verwirrung dem Zorn weichen. Wie konnten sie es wagen, ihn so unwürdig anzupacken? Er verstand die Worte der Männer, obwohl sie nicht seine Sprache sprachen.

Die Geister sagen, es ist gut. Es birgt ein Risiko, was wir tun... sein Geist ist mächtig, wenn er sich losreißt, ist das das Ende.“ Er hörte den König ergrimmt zischen.

Wenn es schiefgeht, Bruder, bist du der Erste, der für diesen Fehler stirbt, das schwöre ich dir. Ich habe kein Erbarmen mit dir, nur, weil du ein besserer Seher und mein Bruder bist.

Karana keuchte in dem schmerzhaften Griff des Typen und versuchte unwirsch, sich zu winden. Da unterbrach der blinde Mann sein Gespräch mit dem König und sah ihn wieder an, dieses Mal zuvorkommend grinsend. Er griff neben sich und hielt ihm die goldene Platte mit den Fleischstücken entgegen, die vorhin die Dienerin getragen hatte.

„Du solltest etwas essen, Sohn des Königs. Du musst wieder zu Kräften kommen. Bediene dich und iss, bis du satt bist.“ Karana schnappte skeptisch nach Luft. Ihm schwindelte und in seinem Inneren pochte noch immer der Schmerz des Drucks, der nachgelassen hatte.

„Bietest du mir vergiftetes Fleisch an, damit du mich los bist?“, schnarrte er erbost und der Seher lachte, nahm selbst ein Stück Fleisch und aß es.

„Sieh her, ich esse es. Es ist nicht vergiftet. Vergib uns die brutalen Schläge, es ist nicht einfach, einen Geist zu brechen... es funktioniert eben nur mit Gewalt.“ Schmatzend hielt er Karana das Tablett wieder hin. Das Fleisch sah gut aus und der Geruch machte ihn hungrig. Mit einem Zischen schnappte er nach den Stücken und schlang eins nach dem anderen herunter. Der Geschmack und die Wärme des Fleisches gaben ihm die Kraft zurück, seine Schmerzen zu ignorieren. Kraft war gut... er linste den Mann vor sich aus seinen grünen Augen argwöhnisch an, als er ihm auch einen Trinkbecher hinhielt. „Gierig bist du wie ein Hund. Schling nicht so, sonst bleibt es dir noch im Halse stecken... trink etwas. Gutes Fleisch... und guter Saft von Beeren. Es wird dir Macht verleihen, Sohn des Königs... Macht ist gut, nicht wahr?“ Karana schnaubte und riss ihm unsanft den Becher aus der Hand, um zu trinken. Es war ein Gemisch aus gegorenem Beerensaft, eigenartigen Kräutern und dem Beigeschmack von ungewöhnlichem Blut. Es brannte wie Feuer in seiner Kehle und er verschluckte sich und hustete, ehe er noch ein Stück Fleisch aß und mit dem Fett das Brennen in seinem Hals etwas linderte. Der Alkohol berauschte ihn; der Mann hatte nicht gelogen, es gab ihm Macht. Macht, die er nie zuvor verspürt hatte, wenn er gegessen hatte. Sie mussten ihr Fleisch und ihren Schnaps mit einem Zauber belegt haben, dass es ihn so betörte... er grinste, während ihm noch der blutige Saft des Fleisches von den Lippen rann, und entblößte seine scharfen, spitzen Eckzähne. In den Augen des Blinden erschien ein seltsames Blitzen, obwohl sie doch eigentlich tot waren. „Ich habe doch gesagt, es ist gut.“, behauptete der Seher zufrieden, „Durch ihr Fleisch und ihr Blut nehmen wir die Macht unserer Gefallenen auf... so nützen uns unsere toten Krieger selbst dann, wenn sie tot sind, indem sie als Fleisch und Suppe dienen und uns Lebenden ihre Macht übertragen... jetzt kennst du das Geheimnis der Macht von Ela-Ri...“
 

Iana kauerte im Schatten des Zeltes, flankiert von den Wachen, die sie zu Boden gestoßen hatten, als sie versucht hatte, Karana zur Hilfe zu kommen. Jetzt hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, irgendwem zu helfen, stattdessen wollte sie brechen bei den Worten, die zu ihr drangen, die der hässliche Kerl vor Karana in der Einheitssprache sprach. Und Karana war entweder so berauscht durch irgendwelche Drogen, die man ihm gegeben hatte, oder noch zu benommen von den vorigen Schlägen, um zu kapieren, was er da gierig herunter schlang, als wäre es das beste Fleisch der Welt. Iana verabscheute die Männer dafür, was immer sie mit Karana vorhatten – es konnte nichts Gutes sein. Sie schloss keuchend die Augen und wagte nicht, sich sonst zu bewegen aus Angst, man würde sie dafür aufspießen. Sie betete zu den Himmelsgeistern, dass sie Karanas benebelten Verstand wieder klären würden... sie hatte keine Waffe und allein mit ihren Fäusten würde sie nie all diese Männer überwältigen können. Karana jedoch hatte seine Magie und die Hilfe der Geister... wenn er nicht bald aus seinem Rausch aufwachte, würden sie vermutlich beide hier sterben.

Karana schien weit entfernt davon zu sein, sich zusammenzureißen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie in sein Gesicht und sah darin die Macht, die sie fürchtete – diesen ätzenden Triumph und Größenwahn in seinen Augen, den sie schon manchmal miterlebt hatte. Jetzt war er mächtiger als je zuvor und fuhr unwillkürlich zusammen, als er den Mund zu einem bizarren grinsen verzog, die Lippen noch rot vom Blut des Fleisches; er schien sie im Schatten der Ecke nicht wahrzunehmen, denn obwohl seine Augen zu ihr sahen, sah er nicht wirklich sie an. Der große König ließ ihn jetzt los und erhob sich, während der Seher das leere Tablett und den Becher wegstellte und etwas auf seiner Sprache in Richtung des Eingangs rief. Als kurze Zeit später das Zelt geöffnet wurde, sah Iana ein paar weitere Sklaven und nackte Frauen herein kommen und sie zog die Brauen hoch.

„Hast du dich nie gefragt, warum sie dich nicht in den Rat der Geisterjäger lassen...?“, hörte sie dann den Seher sprechen, und seine Stimme klang heuchlerisch und war so voller Genugtuung, dass Iana erneut gegen den Brechreiz ankämpfte. „Du hättest doch längst die Macht... deinen Vater in den Schatten zu stellen. Ich habe nach Träumen gejagt und dich gesehen... du bist ein großer Herr der Geister. Willst du nicht wissen, warum sie dich ignorieren...? Warum... dein Vater zornig wird, wenn du es wagst, ihm gegenüber zu viel deiner Macht zu zeigen...?“ Iana beobachtete schockiert, wie Karana das Gesicht verzog und grimmig die Brauen senkte, während einer der hereingekommenen Sklaven dem nackten jungen Mann jetzt einen Umhang aus Fell und Haut umlegte, womit Karana all den angezogenen Leuten gegenüber nicht mehr ganz so albern wirkte. Der Schamane schnaubte.

„Wovon sprichst du?“, schnarrte er den Seher an und der grinste – Iana spürte, dass er grinste, obwohl er ihr den Rücken zudrehte.

„Sie fürchten dich. Sie haben Angst... um ihre Stellung, um ihr erbärmliches Reich... weil sie genau um deine Macht wissen. Weil du sein Blut in dir trägst... sein Blut und seine Macht, die Macht des Herrschers von Lyrien... deines Urgroßvaters.“ Iana erbleichte.

Sie erinnerte sich an die alte Namah, die sie in Dokahsan getroffen hatten. Sie hatte von dem Mann erzählt, der einst die ganze Provinz unterworfen hatte, von einem Mann, den sie Kelar Lyra genannt hatte. Sie wusste nicht, warum sie dieser Name plötzlich so erschreckte... aber nur, als sie an ihn dachte, zog sich in ihrem Inneren etwas zusammen, eine Mischung aus Abscheu und panischer Angst ergriff Besitz von ihrem Inneren. Sie kauerte sich unwillkürlich mehr zusammen, als müsste sie sich schützen.

„Tss...“, hörte sie Karana sagen, und der Ton in seiner Stimme hatte sich verändert. Er klang nicht mehr nach dem berauschten lallen eines Betrunkenen, er war fest und überzeugend, während die nackten Sklavinnen zu ihm kamen und begannen, ihn zu berühren und die Hände routiniert unter den Fellumhang gleiten zu lassen. Iana war viel zu entsetzt von dem Szenario, um an Eifersucht zu denken, obwohl sie genau sah, wie Karana die Berührungen der Frauen genoss und wie sein Mannknochen sich hart aufrichtete, als die Frauen kichernd den Umhang etwas zurück streiften und ihn in Anwesenheit aller zu befriedigen begannen. Er keuchte kurz. „Dann sind sie töricht... wenn sie Angst haben.“

„Vergiss sie.“, sagte der Seher mit beeindruckender Überzeugung in der Stimme, „Vernichte sie... Sohn des Königs. Wozu sollst du vor ihnen knien? Geh mit uns... geh mit Ela-Ri, und der einzige Mann, vor dem du jemals knien wirst, ist der allmächtige Herrscher und König... du kannst haben, was du verlangst. Die Frauen gehören dir, wenn du sie haben willst. Alle und noch mehr... genau wie das gute Fleisch. Genau wie die Macht... alles ist dein. Sind wir nicht gnädig? Sag es.“

„Ich wurde geboren, um einmal zu herrschen.“, sagte Karana, „Ich bin geboren worden, um ein Herr der Geister zu sein... ein Herrscher über Leben und Tod!“ Er lehnte mit einem euphorischen Grinsen auf den Lippen den Kopf zurück und bewegte sich entgegen der aufreizenden Berührungen der Sklavinnen, die ihn bearbeiteten und ihm das Gefühl zu geben schienen, die größtmögliche Macht allein durch die Ekstase eines sexuellen Höhepunktes zu erlangen. Iana war angewidert von den Frauen – und noch viel mehr von Karana, als er in seiner Euphorie den Kopf wieder herunter riss und direkt durch den Seher hindurch in ihre Richtung starrte – jetzt wusste sie, dass er sie sehen konnte. Und in seinen Augen lagen Triumph und Machtgier... seine Augen sagten:

Und du... gehörst mir, für immer und ewig.

Dass er den Verstand verloren hatte, glaubte sie aber erst, als sein Mund Worte sagte, die unmissverständlich machten, was seine Augen gesagt hatten.

„Dann werden... sie knien. Das Reich wird fallen... und sie werden knien... vor dem, der die Macht hat, Leben und Tod zu befehlen.“ Iana schüttelte ungläubig den Kopf. Sie wollte zu ihm rennen und ihn schlagen, ihn anschreien, was er da tat – er verbündete sich mit den Feinden, um seinen eigenen Vater und seinen Bruder, seine Freunde und Landsmänner zu töten? Das konnte nicht sein Ernst sein!

Und vor allem, wofür? Für Macht... und Frauen, die es ihm den ganzen Tag lang besorgen würden.

„Was bist du doch für ein glorreicher... Bastard und Hurensohn, Karana.“, zischte sie erbost über seine Augen, die ihr folgten, als der König den Befehl gab, Iana wegzubringen. Sie spuckte Karana vor die Füße, als sie an ihm vorbei geführt wurde.

„Machtgieriger Hurensohn...“, zischte sie abermals, und sie erkannte in seinen Augen den Wahnsinn, den sie schon oft gesehen hatte – und gleichzeitig eine entsetzliche Macht, die wirklich fähig wäre, sie alle zu vernichten, wenn man sie frei ließ... sie verabscheute ihn in diesem Moment so sehr, dass sie sich wünschte, er würde tot umfallen.
 

Iana fragte sich, warum sie sie hier gefangen hielten. Niemand hatte sie angerührt oder versucht, ihr wehzutun, es sei denn, sie versuchte, wegzulaufen; dann kamen die Sklaven und vereitelten ihren Fluchtversuch. Iana sah die Skepsis und die Furcht in ihren Augen hinter den Masken aus schwarzen Tätowierungen oder Kriegsbemalungen aus Asche; was genau es war, konnte sie nicht sagen, nur, dass die Männer sie anstarrten, als fürchteten sie, sie könnte explodieren und alle vernichten. Sie hatte überlegt, ob sie sich diese Furcht zunutze machen könnte, um zu entkommen, aber ganz so furchtsam waren die Männer dann doch nicht. Sie schienen sich nicht sicher zu sein, ob sie ihren Herrn oder die Frau, die sie bewachen sollten, mehr zu fürchten hatten.

Warum haben sie Angst vor mir?, fragte sie sich, während sie im Inneren eines kleinen, dunklen Zeltes hockte und die Zeit totzuschlagen versuchte. Sie hatte Karana lange nicht gesehen; wie lange, konnte sie gar nicht sagen. Es mochten Tage sein, Wochen, vielleicht aber auch nur ein halber Nachmittag. Nicht, dass sie ihn ernsthaft vermisst hätte... nicht mehr.

Die Gedanken an den jungen Mann verschafften ihr eine ungeahnte Übelkeit und fluchend raufte sie sich die Haare. Was war in ihn gefahren? Das konnte er doch nicht ernsthaft machen... sie fragte sich, was die beiden Männer zu ihm gesagt haben mochten, bevor Iana dazu gezogen worden war; vielleicht hatten sie ihm gedroht, sie zu töten, wenn er sich nicht fügte. Aber selbst in diesem Fall wäre sie ihm böse. Wie konnte er seine eigene Familie verraten, sein eigenes Heimatland? Sie wollte nicht Schuld daran sein, dass er sich gegen diejenigen stellen müsste, die ihn gern hatten... vielleicht war sie das ja auch gar nicht.

Der Eingang des Zeltes öffnete sich und Iana sah auf, auf dem lumpigen Schlaflager sitzend, das man ihr bereitet hatte. Eine Frau schlüpfte ins Zelt und brachte ihr eine Schale mit dampfender Brühe. Sie gestikulierte und wollte offenbar, dass Iana aß, aber die Frau verzog nur zischend das Gesicht.

„Ich esse keine Brühe mit dem Blut eurer Landsmänner, danke. Da verhungere ich lieber. Das ist ja widerwärtig!“ Sie schenkte der Sklavin einen ablehnenden Blick und schob die Schale demonstrativ wieder weg. Die Frau wirkte ratlos und zog die Brauen verwirrt hoch. Abermals bot sie Iana die Brühe an und die Halblianerin stierte sie wütend an. „Ich sagte Nein!“, bellte sie schließlich laut, darauf stellte die verblüffte Frau die Schale auf den Boden des Zeltes und sah augenblicklich zu, dass sie weg kam, in ihren Augen die nackte Panik. Als sie draußen war, jammerte und winselte sie in ihrer grauenhaft klingenden Sprache, und Iana schnaufte. Was waren das für behinderte Leute hier? Schaudernd umschlang sie mit den Armen ihre angezogenen Knie und lehnte den Kopf missmutig darauf. Wenn sie wenigstens ihre Waffe wiederbekäme... solange dieser Sehertyp ihr Schwert hatte, konnte sie ohnehin nicht fliehen. Sie würde nicht ohne die Waffe ihres Vaters gehen... und wenn sie hier sterben würde, sie starb lieber als das einzige Erinnerungsstück an ihn zu verlieren... sie vermisste ihren Vater, fiel ihr in dem Moment auf.

„Wenn du wüsstest, was ich für Dummheiten begangen habe, Vater...“, murmelte sie deprimiert, das Gesicht gegen ihre Knie pressend. „Wie konnte ich Vertrauen haben in einen Mann, der das Potential hat, so... grausam zu werden? Ich habe von Anfang an gespürt, dass Karana schlecht ist! Er ist... herrisch und undankbar und... ich habe es gewusst. Ich hätte klüger sein sollen... aber... aber sag mir, Vater, wenn er doch schlecht war, warum... habe ich mich so an ihn gebunden gefühlt? Warum... war es angenehm... wie seine Frau... zu sein?“ Sie errötete und ihre gemurmelten Worte an die Geister wurden immer leiser, bis sie verstummten. „Es ist irgendetwas... in mir, das ihn vermisst... irgendetwas... das um ihn weint, das ihn wieder haben will... warum will ich jemanden wiedergaben, der mich... und alle anderen in Kisara... so verraten hat?!“ Sie wurde wütend, kauerte sich enger zusammen und zitterte, als ihr kalt wurde. Ihr Vater gab ihr keine Antwort... die Geister schwiegen sie an. Was erwartete sie auch? Sie war nur eine halbe Lianerin. Sie war nichts Besonderes.

Wenn Karana nur unter Drogen gestanden hätte in dem Moment, in dem er gesagt hatte, er würde das Zentralreich zu Fall bringen, hätte sie ihm vergeben können. Aber seine Stimme war so klar gewesen... in seinen Augen war der Nebel verschwunden gewesen. Übrig geblieben war nur eine Angst einflößende, grausame Macht, die in ihm schlummerte... wie eine versteckte, dunkle Seite seines Geistes, die manchmal zum Vorschein trat. Sie fragte sich, was er jetzt machte... vermutlich hatte er Spaß mit seinen Sklavinnen, dieses Schwein. Sie fühlte sich dreckig, als sie daran dachte, dass sie vor kurzem genauso willig und euphorisch wie seine Frau bei ihm gelegen hatte. Wütend wanderte ihr Blick auf die Schale mit Brühe und der Brechreiz in ihrem Inneren wurde heftiger denn je – dann öffnete sich der Eingang des Zeltes erneut. Als Iana empor blickte, hätte sie sich um ein Haar wirklich übergeben.

„Karana...“

„Still, Frau.“, knurrte er sie an, während er gelassen das Zelt hinter sich wieder zuzog, „Du solltest essen. Es ist nicht das, was du annimmst, es ist einfache Markbrühe. Diese Männer fürchten dich, sie würden dir nichts zu essen geben, von dem sie behaupten, dass es ihnen Macht verleiht.“ Sie schnaubte und rappelte sich auf, während sie ihn feindselig betrachtete.

„Warum bist du hier?“, fragte sie kalt, „Darfst du hier sein?“

„Klar. Ich bin der Held, ich darf fast alles, was ich verlange.“ Er grinste sie triumphierend an und sie hätte ihm gerne vor die Füße gekotzt, so abscheulich fand sie ihn in diesem Moment.

„Scher dich weg. Ich brauche deine Hilfe nicht, Karana... du hast genug getan, denke ich.“ Er gluckste und trat auf sie zu, sie wich zurück, bückte sich und griff nach der Schale mit der Brühe. „Wage nicht, mir noch näher zu kommen, Verräter!“, warnte sie ihn erbost, und Karana schnaufte, ehe er seine komischen Eckzähne fletschte wie ein hungriges Raubtier.

„Du gehörst mir, Iana. Hast du das schon vergessen?“ Sie starrte ihn an über diese Frechheit – dann kam er noch näher und voller Zorn warf sie die Schüssel nach ihm. Er wich instinktiv aus und die Schale zerbrach am Boden des Zeltes, wo sich die Brühe über die Erde ergoss. Doch Iana hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern, dass sie ihn nicht erwischt hatte, denn mit einer plötzlichen Geschwindigkeit war er direkt vor ihr, packte sie an den Armen und stieß sie gewaltsam herunter auf das Schlaflager, ehe er sich über sie rollte und sie zischend an den Boden pinnte. Sie schrie und er erstickte ihren Protest mit einem heftigen Kuss. Sie wollte ihn beißen, aber ehe sie dazu gekommen wäre, zog er sich schon zurück und starrte sie finster von oben herab an. Iana wand sich wütend in seinem Griff.

„Geh runter, Karana!“, fauchte sie ihn an, „Wenn du es wagst, es gegen meinen Willen zu tun, wird mein Zorn grauenhafter sein als der der Erdgeister, die dich verfluchen werden, du Bestie!“ Er hielt sie fest und verhinderte, dass sie ihre Arme befreite, ehe er sich wieder über ihr Gesicht beugte und mit der Zunge über ihre Wange glitt.

„Bestie...? Das habe ich... lange nicht mehr gehört. Wie... nostalgisch.“, raunte er, und sie erstarrte, als sie spürte, wie er sich gegen sie drückte. Ein Schauer aus Hitze durchfuhr sie und sie verfluchte ihren eigenen Körper für diesen Verrat – sie wollte das nicht! Nicht mehr... nicht mit diesem Karana, der da über ihr lag. Sie spürte, dass er hart geworden war, und er widerte sie an, sodass sie zornig das Gesicht zur Seite drehte.

„Ich bin nicht dein Spielzeug!“, fauchte sie, „Geh runter, oder es wird dir leid tun!“

„Keine Sorge.“, sagte er dunkel, „Ich habe keine Angst vor dir, du dumme Wachtel.“ Sie weitete die Augen – dann verlor sie keine Zeit mehr damit, sich zu wundern. Mit aller Kraft fuhr sie hoch, entriss sich seinem Griff und schlug ihm mit solcher Kraft ins Gesicht, dass er zu Boden geworfen wurde. Keuchend setzte sie sich auf und stierte ihn an, während er hustete und nach seiner blutenden Lippe fasste. Er musste sich seine eigenen, spitzen Zähne mit voller Wucht in die Lippe gerammt haben bei ihrem Schlag... das Blut rann über sein Kinn und er wischte es benommen mit dem Handrücken weg.

„Wage es nicht... Karana.“, sagte sie noch einmal finster, um ihre Abscheu zu unterstreichen, „Wir sind geschiedene Leute.“

Der junge Mann erhob sich ohne ein Wort und fuhr sich erneut über die blutende Lippe. Dann grinste er; sie schauderte bei dem Blick, den er ihr dann zuwarf. Es war ein Blick, den sie nicht deuten konnte... es war nur für den Bruchteil eines Augenblickes, dass sie das Gefühl hatte, in seine Augen wäre der andere Karana zurückgekehrt... der, den sie lieb gewonnen hatte. Der, zu dem sie sich so hingezogen fühlte... ehe sie es richtig erfassen konnte, war der Moment vorüber und der Schamane wandte sich murrend zum Zelteingang.

„Morgen brechen wir auf.“, sagte er dann kalt. „Morgen... werden sie fallen. Hier, das habe ich dir mitgebracht... enttäusche mich nicht... Hühnerdiebin.“ Mit einer Bewegung zog er etwas aus seinem Gürtel und warf es ihr achtlos vor die Füße, ehe er das Zelt wieder verließ und kein weiteres Wort sagte. Iana schnappte fassungslos nach Luft, als der Gegenstand mit einem Klirren zu Boden fiel und sie ihn erkannte. Es war das Kurzschwert ihres Vaters.
 


 

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whoot XD Iana und Karana herzen!... Nicht! XD

Am Ende der Welt

Tejal hatte keine Hauptstadt. Das Land war klein und bestand nicht aus Provinzen und Kreisen, sondern aus hunderten kleiner Clanländer; Sadara war lediglich die Stadt des Clanlandes des momentanen Herrscherclans, des Clans der Sadara. Von der Größe her glich die Stadt mehr einer kleinen Kreisstadt im Zentrum, aber wenn man bedachte, dass allein in diesem Ort fast nur Mitglieder dieses einen Clans lebten, war das beachtlich.

Saidah war niemals in Tejal gewesen, dem Land der goldenen Paläste hinter dem Schlangenmeer. Geografisch gesehen gehörte das goldene Land zum Ostreich, weil es wie Ela-Ri auf demselben Kontinenten hinter dem gefährlichen Meer lag; die Herrscher von Tejal waren aber seit jeher Feinde von Ela-Ri und dadurch Verbündete des Zentrums. Die Macht von Tejal musste verblüffend groß sein, obwohl das Land so klein war; denn nicht mehr als ein recht kleines Gebirge trennte Tejal vom Staatsgebiet Ela-Ris, und seit hunderten von Jahren, wenn nicht tausenden, waren die Menschen in Tejal fähig, diese Grenze zu halten, als einziges Land auf dem ganzen Kontinenten... alle anderen Länder, die einst eigene Regierungen gehabt hatten auf dem Ostkontinent, waren nach und nach an Ela-Ri gefallen. Als letztes Dhimorien, das Fischerreich im Süden.

„In Tejal gibt es so gesehen nicht eine Königsfamilie, die immerzu die Herrscher stellt.“, sagte Chenoa Jchrrah zu ihrer Begleiterin, als sie gemeinsam vor den goldene, mächtigen Toren von Sadara standen. „Es gibt viele Clans; jeder Clan besteht aus vielen Familien. Jedes Clanland bestimmt in regelmäßigen Abständen eine Familie, die die Oberhand über das Clanland bekommt; den Clan, der dann repräsentativ für ganz Tejal die Oberhand bekommt, wählt das sogenannte Orakel. Es sind eine Handvoll uralter, weiser Menschen, die in den Bergen bei Ela-Ri leben, die keinem Clan angehören und nur für diese Weissagungen überhaupt existieren. Sie werden von allen Menschen in Tejal wie Götter geehrt und ihr Wort ist Gesetz; selbst die Königsfamilie hat sich dem Willen der Clanlosen zu beugen, falls es Uneinigkeit gibt.“

„Erscheint mir paradox.“, murmelte Saidah, „Dann sind sie ja eigentlich keine Könige, sondern Marionetten.“ Chenoa feixte.

„Nun, wir sind ja nicht hier, um deren Regierung in Frage zu stellen. Die vom ganzen Clan gewählte Oberhauptsfamilie des Landes, das die Weisen zum Land des Herrschers erwählen, wird demzufolge die Königsfamilie. Die Familie Ayaghil vom Clan der Sadara ist bereits seit fast einem Jahrhundert an der Macht; natürlich munkeln die Leute, dass sie vermutlich den Weisen den besten Preis zahlen und deswegen immer wieder gewählt werden, aber beweisen kann das auch keiner. Vielleicht ist es auch eine Laune der Geister... wenn wir eine Audienz bekommen, werden wir vor die Königin von Tejal treten, Thamila Ayaghil von Sadara. Sie ist vom Volk der Schamanen, sie ist Telepathin. In ihrer Linie gab es aber diverse Lianer, du wirst es ihr ansehen, wenn wir ihr begegnen, Saidah.“ Saidah straffte die Schultern. Thamila Ayaghil... sie hatte den Namen der hübschen Königin schon einmal gehört. In Tejal herrschte das Matriarchat; damit war das goldene Land das einzige auf ganz Tharr, in dem die Frauen über den Männern standen. Demzufolge war nicht der König, sondern die Königin diejenige, die die Politik regelte, die die Entscheidungen traf. Und nicht ihr Sohn, sondern ihre Tochter würde einmal das Erbe der Familie antreten, während ihr Sohn zur Familie seiner Frau ziehen und diese ehren würde. Saidah hatte sich, als sie als Kind zum ersten mal davon gehört hatte, sehr darüber gewundert, dass es ein Land gab, in dem Frauen wichtiger waren als Männer. Das gab es auf dem gesamten restlichen Planeten nicht... ihr Vater hatte ihr es einigermaßen plausibel erklärt, als sie sich bei ihm über die Verwirrung beklagt hatte.

„Sie sehen es so... das Problem liegt bei den Erben. Bekommt eine Königin ein Kind, ist unbestreitbar, dass sie die Mutter dieses Kindes ist, dass sie vom selben Blut ist. Aber die Vaterschaft ist immer zweifelhaft; auch, wenn es natürlich nicht angebracht ist für eine Königin, ein Kind von einem anderen Mann als dem ihren zu empfangen, aber, glaub mir, Saidah, das hat es garantiert oft genug gegeben in unseren Ländern hier. Und dann sitzt nachher einer auf dem Thron, der gar nicht wirklich vom Blut des Königs ist... das vermeiden sie in Tejal dadurch, dass sie es für wichtiger erachten, dass der Erbe das Blut seiner Mutter hat.“

Sie schmunzelte bei der Erinnerung, bis Chenoa sich räusperte und sie wieder auf sich aufmerksam machte.

„Bevor wir zur Königin kommen, werden wir dem König begegnen; während sie als Herrscherin die Politik macht, ist der König für die Verteidigung und den Schutz des Landes zuständig. Thamila Ayaghils Ehemann ist demzufolge gleichzeitig der König und der oberste Führer der Streitmacht; ihn werden wir hinterher mehr brauchen als seine Frau, er soll uns ja helfen. Deswegen ist es gut, dass du mitgekommen bist; der König wird deinen Namen erkennen, Saidah.“ Die Geisterjägerin runzelte die Stirn und fragte sich, wie Chenoa darauf kam, dass der Name Chimalis bis nach Tejal gedrungen war; weder sie noch ihr Vater noch sonst einer ihrer Vorfahren hatte, soweit sie wusste, jemals viel mit Tejal zu tun gehabt. Aber die Zuyyanerin schien sich ihrer Sache sehr sicher... was blieb ihr also anderes übrig als zu parieren?

Am Tor wurden sie von Wachen abgefangen, die sie fragten, wer sie wären und was sie begehrten. Sie sprachen die Einheitssprache, wenn auch mit eigenartigem Akzent; Chenoa übernahm das Sprechen.

„Wir sind Gesandte aus Kisara. Mein Name ist Chenoa Jchrrah und dies ist Saidah, Erbin des Chimalis-Clans. Wir kommen, um mit der Königin von Tejal zu sprechen.“ Saidah beobachtete die Wachen, die sich ansahen, ehe sie einen dritten Wachmann voraus schickten, der im Hintergrund gestanden hatte.

„Was begehrt Ihr von der Königin?“, fragte einer der Männer dann, „Du siehst mir mehr wie von Zuyya aus als wie aus Kisara.“ Er musterte Chenoa dabei und sie nickte.

„Das ist richtig, ich bin oberste Beraterin des Imperators; aber in diesem Fall spreche ich für Kisara und nicht für das zuyyanische Imperium. Falls es Euch sonst lieber ist, wendet Euch an Saidah, ich verübele sicher niemandem, der Zuyyanern nicht über den Weg traut.“ Der Wachmann lachte leise.

„Na ja, das ist es nicht mal. Es laufen nur allerhand seltsame Gestalten durch die Gegend, wir sind deswegen doppelt auf der Hut. Wartet bitte einen Moment hier. Der General wird sich Eurer gleich annehmen, sobald er hier ankommt... ah, da ist er ja schon.“ Saidah folgte dem Wink des Soldaten nach Norden, wo der Wachmann, der gerade weggeschickt worden war, zurückkehrte in Begleitung eines kleinen Trupps gerüsteter Männer. Ihnen voran ging der General, der gleichzeitig der König von Tejal war. Seine Rüstung war etwas aufwendiger verziert als die der anderen und er trug einen langen Umhang, der ihn etwas wie einen Geisterjäger erscheinen ließ, was Saidah belustigte. Als der Trupp am Tor angelangt war, verneigten die beiden Frauen sich höflich.

„Eure Majestät.“, sagte Chenoa mit einer Kopfneigung, „Es ist mir eine Ehre.“ Der General musterte beide Frauen nur sehr flüchtig und wandte sich dann an seinen Wachmann.

„Ihre Namen und ihr Anliegen?“, fragte er knapp und Saidah fühlte sich unweigerlich an ihren Vater erinnert; auch er hatte lange Jahre dem Militär von Janami gedient und sein Tonfall war dementsprechend harsch und knapp gewesen. Es war nostalgisch, so etwas jetzt zu hören.

„Sie kommen aus Kisara, Euer Gnaden. Eine kommt eigentlich von Zuyya, aber im Moment doch aus Kisara, hat sie gesagt, die andere nennt sich Saidah vom Chimalis-Clan.“ Das war der Moment, in dem der General sich abrupt zu Saidah umdrehte und sie verblüfft musterte. Die Frau schrumpfte unmerklich zusammen unter dem Blick aus seinen schwarzen, schmalen Augen; mehr von seinem Gesicht sah sie erst, als er seinen Helm abnahm und sich kurz die etwas durcheinander geratenen, schwarzen Haare raufte, die jetzt zum Vorschein kamen.

„Chimalis...“, sagte er verdutzt, „Das ist bei Leibe ein Name, den ich lange nicht gehört habe. Wie lange... ist es wohl her, dass ich in Tuhuli gewesen bin, wo Euer Clan lange Jahrhunderte lang zu residieren pflegte? - Ihr seid nicht mehr in Tuhuli, oder?“ Saidah verneigte sich. Ja, Tuhuli; die kleine Stadt in Dokahsan, in der einst das Anwesen ihrer Vorfahren gestanden hatte. Ihr Vater war noch dort aufgewachsen... die Zuyyaner hatten das Anwesen im Krieg vernichtet.

„Nein, Euer Gnaden. Ich war nur kürzlich dort wegen Recherchen über die Familie.“

„Saidah...“, grübelte der König, „Von wem stammt Ihr ab?“

„Mein Vater war Meoran, Sohn von Nomboh und Keisha.“

„Ah!“ Das schien der König zu kennen, denn er lächelte jetzt, „Ich erinnere mich an Euren Vater, flüchtig. Meine Familie hat in Dralor gelebt, einem kleinen Dorf südlich von Tuhuli. Wir waren zwar angesehene Schwarzmagier, aber mit Euch oder anderen von Eurem Kaliber haben wir uns nie auf eine Stufe gestellt.“ Er hielt ihr verblüffenderweise die Hand hin. „Madanan Ayaghil von Sadara, Ehemann von Thamila und Vater von Thayalan und Thakani. Es ist mir eine Ehre, Euch vor meine Gemahlin zu führen, wenn es recht ist.“ Saidah nahm seine Hand dankbar an und verneigte sich abermals, während sie irgendwo in ihrem Inneren das Gefühl hatte, seinen Vornamen schon einmal gehört zu haben. Madanan... sie wusste nur nicht, woher sie ihn kannte.
 

Der Palast in Sadara war wunderschön. Da die Familie Ayaghil schon ziemlich lange als Herrscherfamilie fungierte, hatten sie auch genug Zeit gehabt, ihr Anwesen mit den Jahren zu verschönern und zu vergrößern. Teilweise wirkten die prunkvollen Verzierungen zwar etwas überladen, aber die Bezeichnung Goldenes Land für Tejal log nicht... die Dächer glänzten im Licht der aufgegangenen Sonne, als wären sie aus einem speziellen, wertvollen Gold, das direkt vom Himmel herab regnete, und das nur in Tejal, nur über den Palästen derer, die würdig genug waren. Chenoa war Zuyyanerin und dementsprechend scheinbar unbeeindruckt von all den Dingen, an denen sie vorbei kamen, aber Saidah war fasziniert. Dieser Palast war sicher kleiner als der in Vialla, aber schöner war er allemal. Sie wurden vom König und seinem Trupp an Wachen durch den Palast geführt bis zu einer großen Halle, deren gewölbte, kunstvoll bemalte und verzierte Decke von sechs Säulen gestützt wurde. Jede Säule war auf andere Weise verziert und jede erinnerte dank ihrer Musterung und Bemalung an ein anderes Tier. Saidah erkannte eine Säule, die sich offenbar den Fischen widmete, eine andere zeigte Vögel, deren Gefieder rot wie Flammen war, sodass sie wie aus Feuer aussahen. Sie musste sich von den Säulen abwenden, um nach vorne zu blicken; im hinteren Teil der Halle war in den halben Fußboden ein kleiner Teich integriert. Kleine, verzierte Wasserspeier besetzten den Rand des Wasserbeckens, auf dem sogar vereinzelt Seerosen wuchsen. Und direkt vor dem Teich thronte auf einem Podest, das mit seidenen Kissen und Tüchern bedeckt wurde, die Königin Thamila, ihr zu Füßen saßen ein paar Hofdamen und jüngere Mädchen. Alle Frauen waren jetzt still und betrachteten neugierig die Besucher. König Madanan trat zur Seite, um den Blick auf die beiden Gäste freizugeben.

„Meine Königin.“, sagte er förmlich, „Wie der Bote zuvor angekündigt hat, bringen wir die beiden Frauen aus Kisara.“ Er wandte sich an seine Männer und wies sie an, zu gehen, da sie jetzt nicht mehr gebraucht wurden. Die Soldaten gehorchten und Saidah und Chenoa verneigten sich ehrfürchtig vor der Königin.

Die Frau auf dem Podest war nicht alt; ihre schwarzen Haare hatte sie größten teils offen, nur einige Strähnen waren mit aufwendigem Schmuck auf ihrem Kopf zusammengebunden worden. Ihre Kleidung war aus Seide wie die Kissen, auf denen sie saß, und als Saidah den Blick wieder hob, traf sie der Blick der Königin aus verblüffenderweise nahezu schneeweißen Augen; ihre Augen erinnerten stark an Lianer. Saidah erinnerte sich, gehört zu haben, dass in Tejal viele Lianer lebten; dieses Land war ein Zufluchtsort für sie gewesen, nachdem sie im Zentrum auch vor Scharan schon von allen Seiten schikaniert und gejagt worden waren... so musste auch Königin Thamila Vorfahren aus dem Beschwörervolk haben. Da ihre Haare allerdings völlig im Gegensatz zu denen der Lianer pechschwarz waren und ihre Haut sehr gebräunt, wirkten ihre Augen etwas eigenartig.

„Willkommen.“, sagte Königin Thamila mit einem sanften Lächeln und einer ruhigen, ausgeglichenen Stimme. „Wir haben geahnt... dass jemand aus dem Westen käme, mein Gemahl und ich. Er ist der Schwarzmagier von uns beiden und daher mehr für die Worte der Geister zuständig als ich... aber gespürt haben wir beide, dass es eine Veränderung geben wird. Ela-Ri ist im Aufruhr... nicht wahr? Mit Bedauern erhielten wir Kunde über die grausigen Taten.“

„Ganz recht.“, sagte Saidah, die es für sinnvoll hielt, zu sprechen, „Mein Name ist Saidah Chimalis, ich bin Mitglied des obersten Rates der Geisterjäger in Kisara. Dies ist Chenoa, die meinem Heimatland ihre Unterstützung angeboten hat gegen die Barbaren. Wir kommen auf Geheiß des Königs von Kisara, um Euch um Hilfe zu bitten... als Verbündete des Zentralreiches.“ Das drückte es simpel aus und ersparte langes Reden vorweg. Königin Thamila schwieg einen Moment und dann glitt ihr Blick hinüber zu ihrem Mann, der mit etwas Abstand neben den Gästen stand wie ein aufmerksamer Wachmann, der bei falschen oder beleidigenden Worten sofort zuschlagen würde. Er drehte jetzt den Kopf zu den Besuchern.

„Ja, so etwas in der Art haben wir erwartet.“, behauptete er dann in aller Ruhe. „Die Geister und die Schutzgötter haben uns darauf vorbereitet. Wann seid Ihr aufgebrochen in Vialla?“

„Wir waren rasch unterwegs, wir haben vier Tage gebraucht.“

„Das ist in der Tat schnell. Na ja, Zuyyaner haben da eigenartige Reisemethoden, wie ich mitbekommen habe, sie haben die Fähigkeit, überall und nirgends zugleich zu sein. Im Krieg konnten sie das jedenfalls sehr gut.“ Chenoa räusperte sich und der König tat es ihr gleich. „Aber ich will mich nicht beschweren, euch Zuyyanern habe ich es ja zu verdanken, dass ich von Dokahsan aus hier gelandet bin. Ihr habt mir wirklich ein ziemlich angenehmes Schicksal beschert durch euren Krieg. Während andere starben, bekam ich eine schöne Frau und ein Land geschenkt, das soll mir mal einer nachmachen.“ Saidah runzelte die Stirn und fragte sich, ob das bitterer Sarkasmus war; aber da sprach auch die Königin wieder und wechselte das unangenehme Thema.

„Das Zeitalter... nähert sich dem Ende.“, murmelte sie, „Ihr bekommt die Hilfe von Tejal, Frau aus dem Westen. Gebt uns einen Tag, um uns vorzubereiten und die Armee zusammenzurufen. Morgen bei Sonnenaufgang brecht ihr auf.“

„Ich danke Euch, Eure Gnaden.“, murmelte Saidah und verneigte sich, „Das... bedeutet uns viel in den düsteren Zeiten.“

„Wartet.“, räumte Chenoa ein, „Wir sprechen noch nicht exakt über dasselbe Thema. Wir erbeten Hilfe, das ist richtig; aber der Weg, auf dem Eure Streitmacht nach Kisara gelangen sollte, ist nicht der über das Schlangenmeer und durch Janami. Unser Weg, der vor uns liegt, führt durch das Herz von Ela-Ri... nach Süden, den Kontinent entlang, durch Dhimorien und über die Inseln, um die Streitmacht von hinten zu zerschlagen.“ Darauf erntete die Frau Schweigen und Königin Thamila machte ein verblüfftes Gesicht.

„Durch... Ela-Ri? Durch das Reich des Feindes? Unsere Männer sind tapfer und halten die Grenzberge, aber nie wagt sich einer hinüber ins Reich der Blutsonne.“

„Dann wird es dieses Mal geschehen, Königin.“, sagte die Zuyyanerin trocken, „Ela-Ri ist jetzt harm- und schutzlos. Die Krieger sind alle in Kisara, es wird nie wieder eine Chance geben, Noet, ihre Hauptstadt, zu Fall zu bringen und den Rest des Landes auszumerzen.“

„Auszumerzen?“, wiederholte die Königin erstaunt, „Das bedeutet, Frauen und kleine Kinder...?“

„Frauen, die neue Bestienzüchter gebären, und Kinder, die zu solchen heranwachsen. Wenn ihr Ela-Ri loswerden wollt, geht es nur auf diese Weise. Sie werden auf keine Angebote eingehen. Sie wollen nicht unterworfen werden oder anderen Ländern dienen. Sie wollen lieber sterben als ihr Reich zu verraten, und wenn auch nur einer von ihnen am Leben bleibt, wird er aus dem Schatten eine neue Armee ziehen und dann geht das Theater von vorne los.“

„Ihr sprecht, als wären diese Menschen von Natur aus schlecht.“, murmelte die Herrscherin bestürzt und senkte den Blick, ehe sie eine Weile schwieg. „Ist das wirklich der einzige Weg?“

„Wenn sie überleben und eine neue Armee machen, und wenn es in dreißig Jahren erst wäre, dann wird sie mächtiger und hartnäckiger als die jetzige sein und Ihr... werdet sterben bei dem Versuch, sie aufzuhalten. Überlegt Euch also gut, was Euch wichtiger ist. Wir sind im Krieg und der... erfordert drastische Maßnahmen.“ Schweigen. Saidah senkte den Kopf und knetete unruhig ihre eigenen Finger. Chenoa war skrupellos. Es war kein Wunder, sie war Zuyyanerin. Alle Zuyyaner waren pragmatisch und kannten keine Schmerzgrenze. Deswegen waren sie im Krieg auch lange so erfolgreich gewesen... sie bewunderte diese Einstellung und fand sie gleichzeitig verabscheuungswürdig. Und dennoch... es gab wirklich keinen anderen Weg.

Der König räusperte sich, ehe er vor seiner Frau den Kopf neigte.

„Dann haben wir keine Wahl.“, behauptete er, „Dann... wird Noet brennen, noch bevor morgen die Sonne untergeht.“
 

Man bot den beiden Frauen jeder ein Gästezimmer im Palast für die eine Nacht an, die sie in Sadara bleiben würden; mit dem Morgengrauen würden sie aufbrechen. Saidah hatte eine Weile nach Chenoa gesucht, nachdem am Abend die Sonne wie ein feuerroter Ball im Westen untergegangen war, aber die Zuyyanerin war spurlos verschwunden; die Geisterjägerin dachte, sie würde schon wieder auftauchen. In Tejal war es warm für die Jahreszeit; ungewöhnlich warm und trocken, dachte sich die Frau, als sie rastlos durch den Palast und seine Gärten streifte und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Aber sie war nervös... wie lange waren sie fort? Was wohl mit den anderen war in Kisara? Sie sorgte sich... die Zeichen standen schlecht, die sie in ihren Träumen sah. Sie war schon immer eher nervöser Natur gewesen, aber das, was sie im Moment spürte, war schlimmer als normal. Irgendetwas würde passieren... irgendetwas, das alles verändern würde.

Das Ende der Welt...

Sie hockte sich seufzend auf eine steinerne Treppe, die zu einer kleinen Pagode hinauf führte, die wie ein kleiner Tempel mitten im Garten herum stand. Es war erstaunlich hell dafür, dass es Nacht war; lag das an Tejal oder hatte dieser Garten irgendetwas an sich, das leuchtete?

Sie dachte plötzlich an Karana, während sie da auf der Treppe saß, und die Gedanken an Purans Erstgeborenen ließen sie schaudern. Karanas Augen hatten auch immer geleuchtet. Als sie noch ein Kind gewesen war und Karana zum ersten Mal gesehen hatte, war er noch ein Baby gewesen. Er erinnerte sich gewiss nicht daran, aber sie tat es. Er war unruhig gewesen und hatte geweint... sie hatte ihn zu trösten versucht und sobald sie leise zu ihm gesprochen hatte, war er ruhig geworden. Seine Mutter war ganz verblüfft darüber gewesen, aber in jenem Moment war es gewesen, dass Saidah gemerkt hatte, dass das Band der Geister sie und Karana auf seltsame Weise aneinander gebunden hatte. Und sie hatte das Gefühl tief in ihrem Inneren aufbewahrt wie einen wertvollen Schatz... die Verbundenheit zu dem Jungen, der viele Jahre später zu ihr nach Minh-În gekommen war, um die Lehre zu absolvieren. Der Junge, den sie zum Mann gemacht hatte... er hatte sich wirklich verändert. In Vialla war ihre Begegnung nicht sehr erfreulich gewesen, weder für sie noch für ihn. Es tat ihr leid, ihn verletzt haben zu müssen, aber sie hatte keine Wahl gehabt. Das Band, das die Geister einst zwischen ihnen geknüpft hatten, war jetzt nicht mehr da.

„Ihr seid ruhelos... genau wie ich. Das ist wohl eine Krankheit unter uns Schwarzmagiern... was, Herrin?“ Sie fuhr herum, als sie eine Stimme hörte und hinter ihr am Eingang der Pagode der König von Tejal auftauchte. Er trug nicht mehr seine Rüstung und den imposanten Umhang; in zivil sah er nicht aus wie ein König oder ein General. Saidah neigte den Kopf in seine Richtung.

„Das kann gut sein. Guten Abend, Majestät.“ Der König lächelte kurz, ehe er die Stufen herab kam und sich mit gehorsamem Abstand neben sie hockte.

„Ich habe das Gefühl, mein Land morgen zu verlassen ohne zurückzukehren. Ich weiß nicht genau, woher es kommt... ich habe aber keine Angst. Was mir mehr Angst macht, sind die eigenartigen Klimakatastrophen... ich glaube, die Monde bringen uns Unheil.“ Saidah sah ihn verblüfft an und er deutete in den Himmel. „Seht... ist über Kisara die Ghia auch so monströs groß?“

Sie starrte hinauf und hatte das Gefühl, ihr Herz würde aussetzen. Die Ghia, der grüne Mond am Himmel, war wirklich riesig; jetzt wusste sie, warum es so hell war. Sie erhob sich keuchend und starrte fassungslos auf diesen gigantischen Himmelskörper, während sie im Augenwinkel wahrnahm, wie König Madanan sich ebenfalls erhob.

„Das... das ist unheimlich.“, sagte die Frau japsend, „Das... ist nicht normal. Bisher ist es mir nicht aufgefallen...“

„Wir beobachten die Ghia schon lange; sie wird immer größer, in jeder Nacht. Es ist, als... käme sie auf uns zu. Es ist wirklich unheimlich... ich bin mir nicht sicher, ob das vielleicht Schuld an dem Klimawandel ist. Die ganze Welt spielt verrückt, in Fann regnet es und in Intario brechen alle Vulkane aus... und hier ist es viel zu warm für die Jahreszeit. Die Leute haben gemeint, weil die Ernte gut war und es ein fruchtbares Jahr geworden ist, dass der Mond uns Glück brächte... dass er einen Zauber auf Tharr wirft, der es gut macht. Aber ich glaube, es ist kein Glück, das von der Ghia kommt, sondern der Tod... seltsam, oder?“ Saidah konnte nicht sprechen. Das war gruselig... es machte ihr Angst. Die Geister wisperten in ihrem Kopf und warnten sie... aber sie verstand nicht, was sie sagten, was ihre Unruhe nicht gerade verringerte. Schließlich unterdrückte sie die Stimmen in ihrem Geist und wandte sich mit einer Kopfneigung an den König.

„Euer Gnaden – es ehrt mich und meine Kollegen, die ich vertrete, dass Ihr uns unterstützt. Es bedeutet... uns wirklich viel. Nicht nur den Geisterjägern, sondern dem Land Kisara.“ Der Mann lächelte einen Moment.

„Nun, wir sind Verbündete von Kisara. Die Wahrheit eines... Freundes erweist sich doch dadurch, dass er dem anderen zur Hilfe kommt, wenn es brenzlig ist, und nicht nur dann, wenn keine Gefahr droht. Ist es nicht so? Davon abgesehen war ich... seit ich wegen der Zuyyaner aus meiner Heimat Dokahsan geflohen bin nicht mehr in Kisara...“ Saidah lächelte.

„Wenn wir überleben, findet Ihr sicherlich irgendwen, den Ihr von früher kennt, wünsche ich Euch.“

„Ich gehe stark davon aus, dass dem so sein wird, Saidah Chimalis.“, erwiderte der Schwarzhaarige und schritt an ihr vorbei, ehe er fortfuhr. „Dein Ratsvorsteher und Herr der Geister ist mit mir in dieselbe Schulklasse gegangen, als wir noch Kinder waren. Ich habe mich gefreut aus der Ferne mitzuerleben, dass Puran aufgehört hat, vor seiner eigenen Macht davonzurennen... er war immer so eine Heulsuse... leider hat meine Frau bei den Politikertreffen in Vialla immer vergessen, ihn von mir zu grüßen, ich glaube, der Gute hat gar keinen Schimmer, dass ich noch lebe. Ich hoffe, er fängt nicht an zu heulen...“
 

Die Zeit war knapp. Die Reise nach Tejal war schnell gegangen, Chenoa hoffte, dass auch der Marsch durch Ela-Ri verhältnismäßig fix gehen würde. Aus einem Fenster des Palastes beobachtete sie argwöhnisch den gigantischen Mond Ghia. In Vialla hatten sie nicht davon gesprochen... dabei müssten sie es auch dort bemerkt haben. Die Ghia war unnatürlich groß und machte den Eindruck, als wäre sie ein Ballon, der mit zu viel Luft gefüllt worden war und dessen haut jeden Moment platzen würde. Aber dann würde sich keine Luft über die Welt ergießen, sondern das pure Verderben...

Mit Feuer und Schatten... kommt das Ende der Welt. Dies ist nun... der Wille der Mächte der Schöpfung... der dreizehnte Neumond geht bald auf.

Am dreizehnten Neumond würde ein neues Jahr beginnen, das tausendste Jahr nach Beginn der tharranischen Zeitrechnung. Eine würdige Zahl für das Datum des Endes.

Die Frau drehte den Kopf, als Schritte auf sie zu kamen. Ihre gelben Augen fixierten in der Dunkelheit des Korridors die Gestalten zweier Frauen, die den Gang hinunter kamen. Königin Thamila war in Begleitung ihrer jungen Tochter, Thakani. Die Kleine würde einst in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und Herrscherin der Ayaghil-Familie werden. Als die Königin Chenoa erreichte, lächelte sie höflich nickend.

„Ah, guten Abend, Herrin.“, sagte sie, „Ihr seid noch nicht zu Bett? Ich denke, morgen wollt Ihr früh aufbrechen.“ Sie hielt die Hand des jungen Mädchens neben sich, das Chenoa mit geweiteten Augen fixierte. Unwillkürlich klammerte sich das Mädchen fester an seine Mutter und Chenoa schenkte der Prinzessin einen kurzen Blick.

„Sie ist eine begabte Gedankenleserin, glaube ich, Euer Gnaden.“, sagte sie mit einem flüchtigen, sehr geübten Lächeln. Chenoa fiel es schwer, zu lächeln, aber wenn man mit Menschen sprechen wollte, musste man es hin und wieder tun, damit sie nicht misstrauisch wurden. „Sie wird bestimmt eine weise Königin.“ Die amtierende Königin lachte leise, ließ ihre Tochter los und strich ihr über die schwarzen, langen Haare.

„Eure Worte ehren mich und meine Tochter ebenso. Ihr seid... doch sicher nicht ohne Grund hier oben vor ihren Gemächern... wolltet Ihr etwas?“

„In der Tat, es gibt etwas, das ich Euch ans Herz legen möchte, Euer Gnaden. Es wird... Euch nicht gefallen.“ Sie beobachtete, wie Thamila sich anspannte und wie das Mädchen vor Schreck die Augen weitete.

„Was mit Ghia passiert... bringt uns Schatten, oder?“, wisperte die Kleine dann und wurde von der Mutter zurechtgewiesen.

„Still, du sprichst jetzt nicht. - Sprecht, Herrin.“ Chenoa seufzte. Die beiden waren Telepathen; Telepathen konnte man schlecht seinen Willen aufzwingen. Was sie vorhatte, musste so laufen, dass sie aus freiem Willen taten, was sie verlangte... andernfalls wäre es schlecht.

„Ihr müsst Tejal verlassen, Euer Gnaden. Nehmt die, die Euch am liebsten sind, und geht nach Dan-morough, in die Hauptstadt von Janami.“ Nach diesen Worten sah sie zwei verwirrte Gesichter. „Ich weiß, es klingt wahnsinnig... aber ich... bin eine Seherin, Königin. Ich habe Verderben gesehen... nicht nur für Tejal. Für alle Länder... für ganz Khad-Arza. Wenn Ihr hier bleibt, erwartet Euch und Eure Familie... der Tod.“ Königin Thamila weitete die fast weißen Augen ungläubig.

„W-...was redet Ihr da? Ich kann mein Volk nicht im Stich lassen und wegrennen... wieso Dan-morough?“

„Ich sage doch, nehmt die, die Euch am liebsten sind, aber je weniger, desto besser.“ Chenoa änderte spontan ihre Strategie und senkte den Kopf, obwohl ihre gelben Augen die beiden Frauen noch immer fixierten. „Glaubt mir, alle, die hier bleiben, werden... angemessen versorgt. Euer Volk, das zurückbleibt, wird kein Leid erfahren... das verspreche ich Euch.“

„Warum sollen wir dann fort?“

„Weil das Ende... der Welt kommt, Königin. Wollt Ihr verantworten, dass Euch hier etwas zustößt und ich Eurem Gemahl davon berichten muss, dass dies hätte verhindert werden können, wärt Ihr gegangen?“

„Ich verstehe aber nicht, warum uns hier der Tod droht und dem Volk nicht... w-wie... könnt Ihr das wissen?“ Chenoa schloss die Augen – in diesem Moment bekam sie verblüffende Unterstützung von Prinzessin Thakani.

„Mutter... lass uns tun, was sie sagt!“, wisperte das Mädchen verwirrt und ängstlich, „Lass uns gehen! Ich habe... ich habe davon geträumt! Ich habe von Feuer und Schatten geträumt und... von einer Stadt mit hohen Türmen. Der... der Traum hat mir gesagt, es ist gut...“

„Das ist Dan-morough.“, erklärte Chenoa mit einem weiteren Lächeln, „Die Stadt mit den Türmen. In Janami gibt es viele Türme.“

„Aber wir können nicht einfach-... was passiert mit allen, die hier bleiben?“, fragte die Königin unsicher, „Ich bin Herrscherin. Ich kann nicht einfach weglaufen.“

„Ihr seid die Familie, die von den Weisen des Orakels erwählt wurde. Die Weisen werden sagen, dass es am wichtigsten ist, dass Ihr hier weg kommt. Wie ich sagte, alle, die hier bleiben, werden versorgt. Es wird kein Leid geben, das versichere ich Euch, Euer Gnaden.“

„Bitte hör auf sie, Mutti...“, keuchte die Prinzessin hysterisch und Chenoa ließ sich nicht anmerken, dass sie auf dem Gesicht des unschuldigen Mädchens die blinde Panik bemerkte. Die Kleine wusste genau, was sie erwartete... sie war eine gute Magierin.

„Na gut...“, murmelte die Königin dann resignierend und runzelte die Stirn, „Dann werden wir unsere Sachen packen lassen und morgen aufbrechen. Ich sage deinem Bruder Bescheid... komm, rasch, meine Kleine.“ Sie verneigte sich vor Chenoa und schenkte ihr einen unsicheren Blick. „Habt Dank... Herrin... ich vertraue Eurem Wort. Mir bleibt... wohl nichts anderes übrig.“

„Es ist der Wille der Mächte der Schöpfung, Euer Gnaden.“, sagte die Zuyyanerin und kehrte den beiden bereits den Rücken, um den Ernst in ihrem Gesicht zu verbergen, der sich nicht länger verstecken ließ. Das Einverständnis der Königin hatte einen hohen Preis gehabt... sie würde Chenoas Worten niemals wieder vertrauen, das wusste die Blauhaarige. Aber das war es wert... sie war gewohnt, dass man ihren Worten nicht glaubte.

Tja, Prinzessin Thakani Ayaghil von Sadara... Eure Naivität und Euer Überlebenswille hat Euch gerade die Haut gerettet... jeder ist sich selbst der nächste, nicht wahr? Vor Euch liegt keine schöne Zeit... aber gebt die Hoffnung nicht auf. In der tiefsten Dunkelheit findet sich vielleicht... trotzdem eine Kerze.
 

Niemand sprach, als die Streitmacht am Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen aufbrach nach Süden, um zunächst Tejal zu durchqueren, dann die Berge, die das Land von Ela-Ri trennten, um darauf nach Noet zu gelangen, in die Hauptstadt des Schattenlandes. Bei der Reise durch hunderte Clanländer sammelten sie aus jeder Provinz neue Männer auf, die sich der Armee anschlossen und die brav ihrem König folgen würden, den die Weisen im Gebirge zum Herrscher gemacht hatten. Es war ungewöhnlich gewesen, als die Prinzessin einen Ausländer geheiratet hatte, aber es war ihr Wille gewesen und der Großteil des Volkes hatten ihre Wahl akzeptiert; zumal sich König Madanan seit jeher bemüht hatte, seinen Anforderungen gerecht zu werden und den Leuten keinen Grund zu geben, ihm zu misstrauen. Saidah wusste jetzt ja, woher sie seinen Vornamen kannte; zweifelsohne musste Puran mal von ihm gesprochen haben, wenn beide sich aus der Kindheit kannten. Puran... sie hoffte so, dass er wohlauf war, genau wie die anderen in Vialla. Doch wenn sie versuchte, die Geister um Rat zu fragen, erntete sie nur eisernes Schweigen... etwas Schlimmes würde passieren. Und das Bild der gigantischen Ghia ging ihr nicht mehr aus dem Kopf... seit wann war das schon so? Wie hatte ihr das entgehen können?

„Seht!“, rief der König und General da von vorne und die Frau merkte, dass die Armee Halt gemacht hatte auf dem Grat im Gebirge, den sie gerade entlang gegangen waren. Der König zeigte nach Süden. „Seht, die Pestbeule von Ela-Ri, Noet!“, rief er, „Das stinkende Loch, in dem die Bestienzüchter hausen und von dem aus sie ihr widerwärtiges Reich vergrößern, indem sie andere unterwerfen! Ich sage, machen wir der Pestbeule ein Ende! Noch bevor die Sonne untergeht, wird Noet brennen... mögen die Schutzgötter euch beistehen, Männer von Tejal!“ Die Männer stießen entschlossen ihre Waffen auf den Boden und stimmten ihm zu. Chenoa war neben den König getreten und gemeinsam blickten sie alle hinab von den Bergen auf die dunkle, gewaltige Stadt vor ihnen. Noet war noch größer als Vialla... die Stadt lag an der Ostküste des Kontinenten und schien sich über den gesamten Horizont zu erstrecken, so groß war sie. Sie würde jetzt schlecht bewacht sein... und dennoch wäre Noets Fall noch der schwierigste Teil ihres Unterfangens. Saidah war davon überzeugt, dass der Rest ein Kinderspiel werden würde, sobald die Reichshauptstadt gefallen war. Sie spürte, wie Chenoa zu ihr herüber sah.

„Tu es...“, sagte die Zuyyanerin zu ihr, „Schicke ihnen deine Vogelgeister, Saidah. Sollen sie zittern... und sterben, wenn diese Armee wie eine Flutwelle über sie hereinbricht und nicht einen von ihnen am Leben lässt. Zeige ihnen... unseren Schatten, Saidah.“ Die Geisterjägerin seufzte, ehe sie aus ihrem Umhang eine schwarze Kondorfeder zog und sie in den Himmel erhob. Sie hörte das Grollen des Himmels über sich, der sich bezog, und wie der mächtige Bergwind ihre Kondorfeder in ihrer Hand erzittern ließ. Sie hörte das Wispern der Geister, mit denen ihre Familie vor ewigen Jahrhunderten den Pakt geschlossen hatte... sie war eine Tochter des Chimalis-Clans. Kurz dachte sie an ihre Hellebarde, die jetzt der Junge namens Zoras trug, und sie bat die Geister der Aasgeier, dem Enkelsohn der Cousine ihres Vaters beizustehen, wie sie ihr immer beigestanden hatten.

Zoras... du hast einen guten Namen. Der Onkel meines Vaters, der denselben Namen trug, war ein mächtiger Geisterjäger... möge die Stärke seines Geistes auf deinen übergehen und mögest du... das Erbe meiner sterbenden Familie übernehmen, da ich es nicht mehr tun kann. Meine Zeit... ist begrenzt.

Dann riss sie den Kopf in den Nacken und atmete tief den kalten Wind ein, ehe der Himmel über ihr grollte und sie auf der anderen Seite des Himmels die Geister sehen konnte, die ihr ihre Macht verliehen.

„Dann kommt, Geister der Kondore, Geister der Krähen! Kommt herab aus dem Schatten und seid meine Diener, wie auch ich eure Dienerin sein werde! Kommt zu mir und bringt das Verderben und den Zorn des Himmels über jene, die nicht würdig sind... Vogelgeister!“

Und mit einem Krachen ließ sie ihre Feder in den Himmel empor fliegen, die vom Wind in Richtung Noet geblasen wurde, während sie selbst beide Arme in den Himmel riss und die Macht aus den Schatten zog, die Macht der Todesvögel, die sich jetzt in Scharen von tausenden und abertausenden herab stürzten, Wesen, die halb Tier, halb Geist waren, Wesen aus Finsternis, die wie ein todbringender, alles vernichtender Dämon über den Süden herfielen und keinen am Leben lassen würden. Sie spürte die Macht ihrer Familie in ihrem Geist schlummern und sie hielt sie gut fest... solange sie noch die Kraft hatte, das zu tun. Und als sich die Armee den Schattenvögeln nach herunter auf die Stadt stürzte, um sie zu Fall zu bringen und keine Gnade zu zeigen, dachte Saidah wieder an die riesige Ghia und an das Ende der Welt, das unweigerlich folgen würde.
 


 


 


 

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yeah, Bollywood-Land ist da <3

Kontrolle der Geister

Die Sonne ging nicht auf; an diesem Tag würde die Welt im Schatten bleiben, alle in Vialla spürten es, als es dunkel blieb und das Dröhnen der warnenden Trommeln bereits in weiter Ferne über das gefrorene Land hallte.

Sie kommen. Wir haben keine Zeit mehr... heute wird sich unweigerlich entscheiden, ob Vialla fällt oder stehen bleibt... bringt den Richtigen euren Tod und Schatten, Himmelsgeister.

Dasan Sagal fiel es schwer, seine jüngste Tochter anzusehen, wie sie wie ein Häufchen Elend auf dem Bett kauerte; und es lag nicht daran, dass sie nackt war, den Anblick war er gewohnt. Mit einem Seufzen wandte er den Blick von ihr ab und betrachtete scheinbar interessiert seinen Gehstock.

„Chitra, ich muss jetzt gehen. Ich werde nicht von dir verlangen, als Heilerin Leyya und den anderen zu helfen, verstecke dich mit den Zivilisten. In deinem Zustand wärst du vermutlich ohnehin keine Hilfe. Aber zieh dir etwas an, bevor du gehst. Und tu es rasch, sie werden bald hier sein.“ Er erntete zunächst keine Antwort, und als er es schon aufgeben wollte, sprach sie doch; ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

„Lass mich nicht alleine, Vater... nicht du auch noch. Wenn... du da rausgehst... könntest du sterben. Ich will... dich nicht verlieren.“ Er rieb sich die Hand, die den Stock umklammerte.

„Dann ist es mein Schicksal. Ich habe meinem König Treue geschworen und habe nicht vor, das zu brechen. Außerdem habe ich schon eine ganze Weile auf dieser Welt gelebt, es wäre ein würdiger Abgang. - Was nicht heißen soll, dass ich sterben möchte. Allein aus diesem Grund nicht, weil ich die letzte Erinnerung an dich, meine geliebte Tochter, nicht mit so einem Gesicht behalten möchte. Wenn du wieder lächelst, kann ich beruhigt sterben, weil ich weiß, dass du dann auch ohne mich zurechtkommst... du Nesthäkchen.“ Er unterdrückte sein eigenes Lächeln; er hatte sie viel zu gern, um ernsthaft streng mit ihr zu sein, obwohl er es lieber sein sollte.

„Dann lächle ich nie wieder...“, wisperte sie, und er brummte.

„Rede keinen Unsinn, Chitra. Was soll ich tun, dir die Welt zu Füßen legen?“

„Ich vermisse meine Niarih...“, stammelte sie und er sagte nichts, als sie den Kopf senkte und zu weinen begann. „M-meine... kleine Tochter, das... einzige Kind, das ich jemals haben werde... unser Baby! Ich träume nachts von ihr, wie sie den Gefahren ausgesetzt ist, oder wie die Leute von Ela-Ri sie längst...“

„Schluss damit!“, fiel er ihr ins Wort, ungewollt barscher als geplant, und sie hob erschrocken das Gesicht. „Ich spüre den Lebensgeist unserer Tochter irgendwo da draußen, Chitra. Ich weiß, dass sie am Leben ist, ich kann jetzt nicht gehen und sie suchen! Ich trage Verantwortung, Chitra, ich bin es auch dem Rest der Familie schuldig, das beste für alle zu hoffen. Wenn das alles vorüber ist, suchen wir sie! Das verspreche ich dir, Chitra, aber vorher können wir nicht.“

„Sie ist deine Tochter!“, keuchte die Heilerin verstört, „Kannst du wirklich... so ruhig sein, wenn du nichts über ihr Schicksal weißt...?“

„Ich habe viele Kinder, Chitra, ich habe bereits deine Mutter und einige deiner Geschwister verloren, ich weiß sehr gut, wie es sich anfühlt. Aber hier... geht es nicht nur um mich! Hier geht es um das ganze Reich. Was glaubst du, aus welchem Grund Puran seinen eigenen Sohn aufgegeben hat? Er hatte keine Wahl, weil er Verantwortung trägt, sogar noch viel mehr als ich. Glaube mir, Chitra, es ist keine leichte Entscheidung und es ist mir nicht egal, wo Niarih ist! Aber im Augenblick bleibt mir nichts anderes übrig als die Geister zu bitten, sie zu schützen... das solltest du auch tun.“ Er hinkte ein paar Schritte zur Seite und nahm ihre Kleider von einem Sessel, um sie ihr hin zu werfen. „Da, zieh dich an, jetzt. Die Trommeln kommen näher, bevor sie hier sind, solltest du mit den anderen verschwinden.“ Er sah mit Erleichterung, dass sie sich gehorsam fügte und begann, sich anzuziehen. Als sie fertig war und sich erhob, sah sie ihm ins Gesicht und ihre blauen Augen drückten so viel Kummer aus... so viel Angst.

„Vergib... mir, Vater.“, wisperte sie unglücklich und neigte beschämt den Kopf, „Ich bin dir keine gute Tochter gewesen in den letzten Monden. Bitte... komm gesund zu mir zurück... bitte.“ Er seufzte, als sie zu ihm kam und ihn zärtlich umarmte; und er war froh, dass sie ihn auf die Weise umarmte, wie es eine Tochter mit ihrem Vater tun sollte, nicht wie eine Frau, die ihren Mann verabschiedete, wie sie es sonst tat, wenn er im Begriff war, zu gehen. Er wünschte sich, er müsste sie nicht so traurig machen...

„Wenn du keine gute Tochter bist... liegt das daran, dass ich als Vater versagt habe, meine Kleine. Sei tapfer... Vati kommt bald zurück und nimmt dich dann in den Arm.“ Sie musste bitter lachen und er spürte, wie sie zitterte, als sie ihn losließ und sich bebend die Augen wischte.

„Bringst du mir Bonbons mit...?“, schluchzte sie, und er musste ebenfalls grinsen.

„Die roten, die nach Kirsche schmecken. Deine Lieblingsbonbons, Schätzchen. Eine ganze Tüte voll... also sei brav.“
 

Was immer mit Karana geschehen war, Puran hatte es für sich behalten und Sagal, den General und den Soldaten gebeten, es ebenfalls für sich zu behalten. Es wäre nicht gut, wenn Leyya es wüsste... er musste sich auf sie verlassen können, denn ihre Heilfähigkeiten würden an diesem Tag viele Leben retten müssen. Und wenn sie nicht konzentriert war, funktionierte es nicht... und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie hart genug wäre, um ihre Arbeit verrichten zu können, während sie fürchtete, dass ihr Sohn tot war. Es fiel ihm selbst schwer... der Herr der Geister klammerte sich an einen winzigen Hoffnungsschimmer in seinem Inneren, dass der Mann von Ela-Ri bloß geblufft hatte, um zu versuchen, sie zum Aufgeben zu zwingen. Er hatte die ganze Nacht versucht, in der Geisterwelt eine Antwort über Karanas Verbleib zu finden, aber die Mächte der Schöpfung hatten ihn eisern angeschwiegen. Er hatte keine Ahnung, ob sein Sohn lebendig oder tot, gefangen oder frei war... alles, was er bei den Geistern gefunden hatte, war Schatten.

Und jetzt blickte er hinauf in den schattigen, düsteren Himmel, unter dem die versammelten Streitmächte aller großen Länder des Reiches jetzt standen und auf die Ankunft der Trommeln warteten. Es schneite und der Wind blies ihnen eiskalt aus dem Osten entgegen. Der Winter war erstaunlich früh erstaunlich kalt geworden in diesem Gebiet... Puran fragte sich benommen, ob das auch zu den seltsamen Katastrophen zählte, die überall auf der Welt aufzutauchen schienen wie Sprösslinge im Frühling. Der Boden unter ihren Füßen war steinhart gefroren und noch von der letzten Konfrontation zerklüftet und uneben. Unter ihnen bebte und grollte die Erde mit den stampfenden Schritten der Gegner, die in weiter Ferne heran kamen. Sie mussten mehr geworden sein, wenn ihre Schritte die Erde so zittern ließen – viele mehr. Wie konnte das sein? Sie hätten reduziert sein müssen... oder sie hatten erstaunlich schnell einen unglaublichen Nachschub an Soldaten aus dem Süden bekommen. Sie selbst waren auch mehr geworden, tröstete der König sich darauf nervös; sie hatten die Truppen von Kisara und Alymja, die Artillerie von Intario, die Reiter von Senjo und die Luftwaffe von Janami. Die Krieger aus Janami waren mächtig, sie waren von allen am diszipliniertesten und auch am gnadenlosesten. Puran erinnerte sich an seinen verstorbenen Freund und Vaterersatz Meoran, der lange dem Militär von Janami gedient hatte; vermutlich war die Armee von Janami die am besten organisierte auf ganz Tharr. Der Mann fragte sich, was mit den Sieben passierte – jetzt, wo Karana und Iana nicht mehr da waren, war vielleicht die ganze Legende für die Katz. Er hatte nicht mehr mit der Seherin oder dem rothaarigen Yarek gesprochen, der sich wohl auch ganz gut auszukennen schien; er konnte nichts weiter tun als zu hoffen, dass die übrigen der Sieben wohlbehalten überleben würden... seine einzige Tochter und sein verbliebener Sohn, der nicht von seinem Blut, aber immerhin im Geiste sein Kind war.

Dann kamen die Gegner über dem Brachland in Sichtweite und Puran verstand, warum ihre Schritte die Erde so erzittern ließen; ungläubig weitete er die Augen bei dem, was sich ihm da eröffnete, und sah alle Schauermärchen über das Reich der Bestienzüchter bestätigt... sie waren wirklich Bestienzüchter.

„Sind das... Nashörner?“, hörte er irgendwo Neron Shai keuchen, „D-das ist nicht deren Ernst!“

„Oh ja, und was für welche.“, sagte Sagal irgendwo anders, „Ein Onkel vierten Grades von mir ist in seinen besten Jahren in Fann von einem Nashorn getötet worden, das Horn ist messerscharf und die Wucht, mit der man von so einem Ruck mit dem Kopf dieses Tieres erwischt wird, ist so gewaltig, dass das Horn einmal quer durch den ganzen Rumpf gejagt wird und hinten wieder heraus schaut. - Ich hoffe, ihr hattet schon gefrühstückt.“

„Verdammt, Sagal!“, jammerte Neron, „Das macht mir Angst!“ Er zeigte nach vorne, „Und das sind doch nicht nur Nashörner, das sind Tiger mit langen Zähnen! Ich dachte, die wären ausgestorben...“

„Und Elefanten...“, stöhnte seine Frau Saja irgendwo weiter hinten, „Ich werd nicht mehr! Die haben sie letztes Mal aber nicht gehabt...“

„Man hebt ja auch das beste für den Schluss auf.“, murmelte Puran vorne und ließ mit einem Zischen das Geisterschwert in seiner rechten Hand erscheinen. Im Stillen dankte er seiner Frau für die widerlichen Knollen, die das Zittern seiner verfluchten linken Hand eindämmten; er brauchte einfach beide Hände. Dieses Mal würde der Bastard kriechen, der den alten König getötet hatte... er wusste, was die tausenden Männer hinter ihm von ihm erwarteten. Er war der Herr der Geister... er war vermutlich der einzige, der eine Konfrontation mit diesem König überleben konnte. Er könnte ihn nicht töten, denn er hatte einst geschworen, nie wieder einen Menschen zu töten, nachdem er im Krieg gegen die Zuyyaner wirklich viele der feindlichen Soldaten erschlagen hatte... aber er konnte ihm Arme und Beine abschlagen und ihm die Augen und die Zunge heraus reißen, bis er keine Bedrohung mehr wäre. Und die Erlösung würde er jemandem anderen überlassen, es gab sicher genug hinter ihm, die im vergangenen Kampf einen Freund, Bruder, Vater oder Sohn verloren hatten, die diese Aufgabe zu gerne übernehmen würden. Er konnte die Gegner jetzt deutlich sehen, vorne an war der Streitwagen des riesigen Königs, der noch verzierter und gefährlicher wirkte als beim letzten Mal. In einer angemessenen Entfernung kam die polternde Armada mit den wilden Bestien zum Stehen; dieses mal kam kein Bote und es gab keine Angebote von Ela-Ri. Puran wusste, dass sie jetzt auf Leben und Tod kämpfen würden... und sie würden nicht aufgeben, bis der letzte von ihnen den Kopf eingebüßt hatte, einschließlich ihrer Nashörner, Säbelzahntiger und Elefanten und was sie sonst noch alles auf Lager haben mochten. Und in Thalurien hatten sie Karana gefürchtet, weil er den Geist seines Hundes Aar angeblich beeinflussen konnte, sodass der Hund seinem Willen folgte... was die Leute in Thalurien wohl zu zahmen Nashörnern, Tigern und Elefanten sagen würden? Aar war nie wirklich von Karana beeinflusst worden, der Hund war ihm einfach treudoof hinterher gelaufen, er hatte Karana aus freiem Willen gehorcht. Puran war sich nicht sicher, ob ein Nashorn ernsthaft freiwillig für Menschen in einer Armee kämpfen konnte; er hatte die riesigen Tiere mit den gewaltigen Hörnern noch nie real gesehen, nur in Bilderbüchern, ebenso die noch größeren Elefanten, deren Stoßzähne so lang waren wie er groß war. Wer unter die gewaltigen Füße eines dieser Tiere geriet, war definitiv nicht nur Geschichte, sondern auch Hundefutter, wenn man ihn danach noch von der Erde abkratzen konnte... wie immer diese Bastarde diese Bestien zu ihren Sklaven gemacht hatten, es war wirklich ein beeindruckender Auftritt... der Mann spürte den Mut seiner Armee hinter sich sinken beim Anblick der Monster. Verdammt, er sollte etwas sagen...

Mit einem Seufzen riss er sein blitzendes Schwert in den Himmel, ehe er die Stimme erhob.

„Männer des Zentrums! Jetzt... ist der Tag gekommen, und die Schatten sind bereits hier! Sie werden nicht weichen, bis wir sie geschlagen haben, also zeigt keine Furcht! Die Geister... von Himmel und Erde werden dieses Land schützen, das sie einst geschaffen haben, genauso wie die Menschen, ihre Kinder, die darauf leben! Möge der Tag noch fern sein, an dem wir alle hier... dereinst mit den Geistern im selben Reich sein werden! Möge der Tag noch fern sein, an dem die Hoffnung stirbt, dieses Land zu verteidigen! Diese Bastarde töteten den letzten König von Kisara, er war ein guter, braver Mann! Ich sage, dieses mal töten wir ihren König! Und am Ende des Tages wird es ihnen leid tun, dass sie sich... mit uns angelegt haben!“ Er hörte, wie die Männer hinter ihm ihre Waffen zogen, während die Gegner sich bereits vorwärts auf sie zu stürzten.

„Tod und Schatten!“, rief der General von Kisara irgendwo und Puran schnappte nach Luft, ehe er das Schwert nach vorne riss und damit das Zeichen zum Angriff gab.

„Tod und Schatten, Männer!“ Und die Soldaten erwiderten mit neuem Kampfgeist den alten Schlachtruf, ehe sie sich gemeinsam voran stürzten, auf die Gegner, das Verderben und die Unsterblichkeit zu.
 

Im Kriegslager war es still geworden, nachdem die Armee aufgebrochen war. Iana lugte vorsichtig durch einen Spalt im Eingang des Zeltes, in dem sie wohnte, an dem Wächter vorbei, der davor stand und nicht zulassen würde, dass sie hinaus kam. Die letzte Nacht hatte sie kaum geschlafen, weil zu viel in ihrem Kopf gewesen war. Jetzt war der Tag gekommen, obwohl es finster war, als hätten die Geister beschlossen, das Tageslicht heute bei sich zu behalten. Ein feiner Schnee rieselte vom Himmel herab auf das leere Lager. Sie war aufgewacht, als sie das Brüllen der wilden Tiere gehört hatte, Geräusche, die sie nicht mal in ihren schlimmsten Albträumen wahrgenommen hatte... was für Bestien es wohl waren, die die Männer mit in die Schlacht genommen hatten?

Eigentlich waren ihr die Bestien egal; es wurde Zeit für sie, von hier weg zu gehen. Sie griff lautlos unter die Matte aus Fellen, auf der sie geschlafen hatte, um die Waffe ihres Vaters hervor zu ziehen, die Karana ihr gebracht hatte. Karana. Sie war verwirrt von seinem Verhalten... sie hatte deutlich gemacht, dass sie ihre Heimat und die anderen nicht verraten würde. Wenn er also wusste, dass sie gegen ihn war, warum brachte er ihr ihre Waffe? Und das war garantiert nicht im Sinne des Königs oder des komischen Blinden, dass sie das Schwert jetzt hatte... entweder war Karana sehr dumm oder sehr klug; sie dachte zum ersten Mal darüber nach, ob er seinen Verrat vielleicht nur vorgetäuscht hatte – ob es irgendetwas gab, das er dadurch erreichen würde. Sie erinnerte sich flüchtig daran, wie für einen winzigen Moment seine Augen wieder anders gewesen waren... wie die Machtgier verschwunden war und wie sie seine Zuversicht gesehen hatte. Es war so kurz gewesen, dass sie gedacht hatte, sie hätte es sich eingebildet... aber je länger sie mit dem Schwert in der Hand da hockte und daran dachte, desto mehr glaubte sie zu wissen, dass es wirklich da gewesen war...

Was sollte sie tun? Auf jeden Fall musste sie hier weg und zurück zu den anderen... dann würde sie sehen, was mit Karana passierte. Und wenn er tatsächlich seine eigene Familie verraten hatte, würde sie ihn töten. Iana erhob sich und verbarg das Schwert hinter ihrem Rücken, als sie durch den Eingang hinaus trat und der Sklave, der sie bewachte, irgendetwas zu ihr sagte, dabei lauernd seinen Speer umklammernd.

Diese Leute fürchten mich aus irgendeinem Grund... sie haben mich nicht angerührt oder haben versucht, mich zu töten. Behalte... Autorität, Akada.

Sie machte ein missmutiges Gesicht und deutete nach rechts, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie sich erleichtern müsste; als er sich schon daran machte, sie gehorsam zu dem Platz zu begleiten, der dafür vorgesehen war, fuhr sie herum und schneller als der Kerl hätte Piep sagen können (hätte er ihre Sprache beherrscht) hatte er das Kurzschwert an der Kehle. Er schnappte nach Luft und ließ augenblicklich den Speer fallen, als Iana ihm boshaft ins Gesicht starrte.

„Rühr... dich nicht vom Fleck, du Missgeburt!“, zischte sie, „Entschuldige, ich will nicht unhöflich sein. Danke für die Gastfreundschaft, aber ich gehe jetzt heim. Wenn du die Klappe hältst, lasse ich dich am Leben... wagst du es, zu schreien, bist du tot.“ Sie fand, dass es wenig Sinn hatte, einem Mann zu drohen, der jetzt nichts verstand von dem, was sie sagte, aber ihre Geste sollte die Drohung deutlich genug machen... und jedes Spatzenhirn würde sich denken können, dass sie ihm sagte, sie würde fliehen. So dachte sie, aber der Sklave erbleichte unter der gebräunten Haut und wimmerte irgendetwas panisches vor sich hin, ehe er rückwärts taumelte und dann laut schrie, um Hilfe zu holen. Iana zischte und wollte schon los rennen, da sah sie aus allen Richtungen andere, übrig gebliebene Sklaven kommen, viele waren bewaffnet, sogar die Frauen hatten Messer aus Knochen und zischten energisch. Iana verdrehte die Augen.

Vergib mir, Mutter Erde, dass ich deine Haut mit dem Blut dieser Widerlinge beschmutzen muss... aber ich kann nicht zulassen, dass Karana mit meinem Lebensgeist davon rennt und damit Unheil anrichtet!

Mit diesen Gedanken sprang sie zurück, als einer der Männer sich mutig auf sie stürzte. Im nächsten Moment hatte das Kurzschwert sauber seine Kehle durchtrennt, worauf der Kerl röchelnd zu Boden ging. Einige Frauen kreischten panisch und die Männer wichen entsetzt rückwärts, als die junge Frau den Kopf wieder hob und sie kalt anblickte.

„So!“, rief sie, „Das habt ihr davon, euch mit mir anzulegen! Wagt es, mir zu folgen oder zu versuchen, mich aufzuhalten, und ihr werdet alle... auf diese Weise sterben! Ihr solltet euch für eure Dummheit schämen, einem solchen König treu zu folgen, der keine Achtung vor euch hat... lauft davon, wenn ihr könnt! Lauft um euer Leben, zurück nach Ela-Ri, und kehrt diesem Reich für immer den Rücken. Dann wird weder euer bestialischer König noch einer von uns euch ein Leid zufügen... ihr dummen Maden!“ Damit spuckte sie angewidert auf die blutige Erde zu ihren Füßen, ehe sie ihre Waffe packte und sich auf den Weg machte. Niemand hielt sie auf; die Sklaven traten fassungslos zurück und machten ihr den Weg frei, während sie ehrfürchtig irgendetwas murmelten, das sie nicht verstand. Sie hätte gerne gewusst, warum sie sie fürchteten... aber um sie das zu fragen hatte sie jetzt keine Zeit. Sie musste sich beeilen... der Weg zur Schlacht hoch war weit.
 

Karana fand sich genial. Das Gefühl der Macht durchfloss seinen Körper und setzte ihn so stark unter Strom, dass er zitterte, während er das triumphierende Grinsen nicht unterdrücken konnte, das in sein Gesicht kroch. Sie hielten ihn für den König – sie erkannten als Erste an, wer er eigentlich war, mit welchem Recht er der größte Herr der Geister aller Zeiten werden würde. Er war ein Sohn der Lyras! Er war ein Nachfahre des Reiches Lyrien, von dem die Alte in Dokahsan erzählt hatte... es war eigentlich ein Jammer, dass sein Großvater es zerschlagen hatte.

Er war verblüfft darüber, was in ihm vorging, als er mit der zweiten Welle an Kriegern gemeinsam mit dem merkwürdigen Seher entfernt vom Schlachtfeld stand und zusah, wie die Bestien und Männer seine eigenen Landsleute unter sich begruben wie Ameisen. Es machte ihn euphorisch... sie würden im Dreck kriechen! Und niemals wieder würde irgendwer an seiner Genialität und Macht zweifeln... dafür würde er sorgen. Sie würden begraben werden unter den Monstern, und er würde sie auslachen. Simu, den Besserwisser, der ja so klug war. Sagal, den Krüppel, der mehr sah als gesund für ihn war, wofür Karana ihn hasste... Neisa, die Hure, die ihm den Rücken gekehrt hatte und stattdessen lieber zu Zoras Derran hielt... er spuckte angewidert auf die Erde bei den Gedanken an sie und stellte noch angewiderter fest, dass die Vorstellung, sie vor sich kniend und um Vergebung flehend zu sehen, ihn sexuell erregte. Oh ja, sie würde ihm nie wieder den Rücken kehren! Und sein Vater... sein Vater, der ihn niemals für voll genommen hatte. Karana zischte und ballte bebend vor der grausamen Macht die Fäuste. Sie würden kriechen und wenn nicht, würden sie sterben! Sie würden sehen, dass er ein Genie war...

Sein Kopf schmerzte heftig, obwohl er versuchte, das Stechen zu ignorieren, wurde es immer heftiger, je länger er da stand und zusah, wie das Gemetzel vor ihnen vonstatten ging. Vor seinen Augen blitzten Bilder auf, die so weit weg zu sein schienen, und dennoch jagten sie ihn und machten ihn wahnsinnig. Er sah Iana... die Frau, die ihm gehören sollte. Er sah die Abscheu in ihren Augen und hörte, wie sie ihn hasserfüllt anschrie...

„Das kann nicht dein Ernst sein! Du verrätst dein eigenes Heimatland, Karana? Das werde ich dir niemals vergeben... niemals.“

Er zischte und fasste nach seinen pochenden Schläfen, weil der Schmerz fast unerträglich wurde. Er spürte, wie der Seher ihn ansah.

„Was denn, kneifst du?“, fragte er Karana mit einem schäbigen Grinsen, „Das wäre schlecht... denn dann müsste ich dich töten.“ Demonstrativ schüttelte er seinen Speer etwas, worauf Karana japsend wieder nach vorne blickte und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Was sollte das, verdammt? Warum protestierte ein Teil seines Geistes jetzt, wo er endlich soweit gekommen war, seine Macht und Position zu erhalten, die ihm zustand?

Noch nicht. Noch ist es zu früh. Bring sie dichter vor die Stadtmauern... so dicht, dass sie nicht mehr weglaufen können. Dann werden sie knien... die Barbaren aus Ela-Ri. Du willst nicht wirklich deine Familie verraten, Karana... du weißt, dass du es nicht willst.

Er schnaufte – was dachte er da? Das waren nicht seine Gedanken! Das war irgendein Spinner, der versuchte, von seinem Geist Besitz zu ergreifen! Er war der König von Lyrien, verdammt! Wütend fletschte er seine spitzen Eckzähne und versuchte, die drängende Stimme in seinem Inneren in ihre Schranken zu weisen.

Verschwinde aus meinem Kopf, du Heuchler! Das ist meine Macht! Das ist mein Recht! Ich bin der Herr der Geister!

Du bist Herr über gar nichts... nicht einmal über deinen eigenen Geist..., erwiderte die Stimme, und Karana spürte den Zorn in sich hochkochen. Wie konnte dieser Mistkerl es wagen, sowas zu behaupten? Das Rauschen des Blutes in seinem Kopf wurde so laut, dass es die Stimme übertönte, und als die Euphorie und das Gefühl der Macht ihn wieder erfüllten, warf er den Kopf in den Nacken und lachte Himmel und Erde schallend aus.

„Seht ihr?!“, brüllte er und riss die Arme empor, „Ich bin Karana Lyra! Ich bin der Nachfahre der größten Familie von Schamanen! Du hast nachgegeben, du Hurensohn! Haha! Jetzt habe... ich die Macht!“ Er spürte den Schmerz in seinem Kopf brutal zustechen und keuchte, als er fast das Gleichgewicht verloren hätte.

Idiot... nennst deine eigene Frau eine Hure... Kelar.

In dem Moment gab der Blinde neben ihm mit einem Brüllen das Zeichen zum Angriff.

Er würde sie zerschmettern! Er würde keinen dieser Bastarde am leben lassen, und am Ende wäre er allein Herrscher über alles! Er hatte die Macht, Vater Himmel und Mutter Erde an seine Füße zu zwingen, er würde auch Iana auf den Boden zwingen, und Saidah, und Neisa, und seinen großkotzigen Vater, dessen Posten er schon längst inne haben sollte! Die Gedanken machte ihn wahnsinnig und er konnte nicht aufhören, wie ein Irrer zu lachen, als er zusammen mit den anderen Kriegern aus dem Osten hinauf zur Schlacht stürmte, in seinem Kopf nur der bestialische Wille, zu töten. Er wollte sie alle zerfetzen! Er würde den Himmel explodieren und die Erde zerbrechen lassen, wenn er Lust hatte, denn er hatte die Macht, ihnen zu befehlen!

Über ihm grollte der Himmel voller Bosheit, als Karana mitten im Getümmel anhielt, während die Krieger um ihn herum bereits die ersten Widersacher niederschlugen Irgendwo hörte er das Röhren der Nashörner und Elefanten, die mit einem einzigen Schwenk ihrer Köpfe Dutzende Männer in die Luft warfen und an ihren Stoßzähnen und Hörnern aufspießten.

„Sieh mich an! Vater!“, brüllte Karana und riss voller Enthusiasmus die Arme in den düsteren Himmel. Schnee fegte ihm entgegen und pikste ihn ob seiner eisigen Kälte. „Sieh mich an und siehe! Ich habe mehr Macht als du, ja! Ich werde dich... in den Schatten werfen, und niemals wieder wird jemand seinen Sohn nach dir benennen, damit du niemals wiedergeboren wirst! Dafür sorge ich! Geister, kommt in meine Arme! Vernichtet... die Unwürdigen, und lasst keinen am Leben!“ Mit einem mächtigen Donnerschlag fuhr der Wind aus dem Himmel direkt zwischen Karanas Hände und wurde zu einem tosenden, gewaltigen Wirbelsturm, der beinahe den Magier selbst umgerissen hätte. „Sieh mich an... meine Frau!“, zischte er weiter, „Wagst du jemals wieder, zu sagen, ich hätte... diese Macht nicht?! Ich werde dich... zerreißen, Salihah Ekala, Seherin!“
 

Das Donnern ließ die Erde erzittern.

„Karana!“, japste Neisa und sprang von einer plötzlichen Panik ergriffen auf die Beine. Sie sah, wie ihre Mutter und die anderen Heilerinnen sie erschrocken ansahen, dabei nur ganz kurz ihre Arbeit unterbrechend.

„Neisa, träume nicht!“, schrie Leyya sie hysterisch an, „Hier sterben Menschen, wir brauchen jeden einzelnen von uns!“ Neisa wusste das; ihr Herz klopfte so heftig in ihrer Brust, dass sie Angst bekam, es würde explodieren.

„Karana, er ist da, er ist am Leben!“, keuchte sie und taumelte, „Ich weiß es, ich habe es gespürt!“ Aber es war ein komisches Gefühl gewesen... nicht die Freude darüber, dass ihr Bruder lebte, sondern eine kalte, nackte Panik, die tief in ihr schlummerte... ein Teil ihres Geistes, der gewusst hatte, was geschehen würde. Sie sah über den Mauern von Vialla, hinter denen die Heiler bereits voll beschäftigt waren damit, die Sterbenden zu retten, die es schafften, zurück in die Stadt zu gelangen, die Macht der Windgeister, die vom Himmel herab gezogen wurde; war das Karana? War es ihr Vater? Oder der Bestienkönig, der auch Windmagier war? Plötzlich wisperten die Geister in ihrem Kopf und sie taumelte keuchend zur Seite, als sie die Warnungen in ihrem Inneren spüren konnte; Warnungen, die ihre Panik verdoppelten.

„Hüte dich vor dem Monster... vor der Bestie. Lauf, Neisa! Sieh in die Sonne... lauf! Die Bestie wird kommen... und dann ist es zu spät. Lang lebe der König, Neisa.“

Sie rannte los. Sie ignorierte das Rufen ihrer Mutter und der anderen Heiler, sie ignorierte, wie einer sie packte und zurück reißen wollte, als sie vom Boden den Bogen und einen Pfeil aufsammelte, die Waffen eines der Männer, die sie versuchten zu retten. Sie hörte nicht, was die anderen riefen... in ihrem Kopf war nur das Wispern der Geister, in ihrem Geist nur die Panik, die Furcht vor dem, was passieren würde... sie musste sich beeilen! Hinaus aus der Stadt... zu den Männern, die ums Überleben kämpften da draußen. Nach Osten... in die Sonne, die nicht zu sehen war.
 

„Verdammt – war das Neisa?!“, schrie Tayson und duckte sich unter einem angreifenden Kerl hinweg, ehe er herum fuhr und ihn mit seinem Schwert zurück stieß, um ihn mit offener Kehle zu Boden fallen zu lassen. Yarek schnappte hinter ihm nach Luft und sah nach Osten in Richtung des Tores, das in die Stadt führte. Tatsächlich, er sah die helle Kleidung des Mädchens in der Masse verschwinden. Was zum Geier hatte das denn jetzt zu bedeuten?

„Was macht diese Schlampe da?!“, meckerte er darauf, „Sie soll drinnen bleiben, wo sie in Sicherheit ist!“

„Hihi, die Geister der Ahnen treiben witzige Spielchen mit ihnen...“, gackerte Ryanne zu allem Überfluss und der Rothaarige schnaufte, während er zusah, wie die Seherin eine Barriere um sie herum erstellte und somit eine Reihe von Angreifern an dem Schild abprallte.

„Was gibt es da jetzt zu lachen, Ryanne?“

„Neisa hat einen Bogen!“, giggelte die Seherin, „Das ist jetzt aber nicht ihre Urgroßmutter, die mit ihr durchgeht, das ist älter. Passt aber trotzdem...“ Yarek hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach; er hatte jetzt keine Zeit dafür, verdammt! Ryanne zeigte nach vorne. „Und siehe... Karana ist auch von den Toten auferstanden! Aber haltet euch fern... er ist jetzt böse. Wir sollten lieber das Nashorn zu Fall bringen!“ Yarek starrte sie an.

„Welches N-...“

„Ein Nashorn!“, schrie Simu in dem Moment von rechts, und der Rothaarige fuhr abermals herum, dabei packte er seine Masamune mit aller Kraft. Aus dem Westen stürmte ein gigantisches Tier auf ihn und die kleine Gruppe der Schicksalskinder zu; die Sieben waren es nicht, im Moment waren es nur die Drei... Simu, Eneela und Thira. Plus Tayson. Der Typ war zwar simpel, aber unkaputtbar, wie Yarek gelernt hatte. Egal, was er machte, Tayson kam einfach immer wieder auf die Beine. Er schlug mit seiner Waffe zwar recht planlos um sich, aber schaffte es dabei tatsächlich, eine Menge Gegner auszuschalten. Er musste ein ziemliches Glück haben.

Der Mann zischte, während sich alle dem brüllenden Nashorn zu wandten.

„Gegen das Vieh können wir mit Nahkampfwaffen nichts ausrichten!“, erklärte er, „Die Haut ist zu dick für Schwerter. Wir bräuchten Speere und eine gewaltige Wurfkraft... oder Magie, um damit fertig zu werden.“ Er sah die drei Frauen an, die bei ihm waren; die einzigen, die der Magie in verschiedener Weise mächtig waren. Eneela war Lianerin... Ryanne konnte versuchen, das Ungeheuer mit Telekinese zurück zu schlagen, und Thira hatte als Zuyyanerin wohl die besten Chancen. „Achtung, es kommt! In Deckung!“, brüllte der Söldner dann, als Ryanne ihre Barriere auflöste und sie alle schreiend zur Seite sprangen. „Eneela! Versuche, eine Lian zu rufen, rasch! Simu, pass auf, dass niemand sie niedertrampelt!“

„Jawohl!“, rief Simu, als das Nashorn brüllend durch sie hindurch rannte, anhielt, sich röhrend umdrehte und mit gesenktem Horn wieder auf die Gruppe zu galoppierte.

„Und Thira, mach es langsamer, wenn du kannst! Wozu ist die Reikyu sonst gut, wenn nicht, um seine Seele zu kontrollieren?!“, fuhr Yarek fort und packte seine Masamune, um nach vorne zu hechten und dem Tier im Vorbeispringen mit dem Schwert ins Hinterbein zu schneiden. Das Nashorn brüllte auf und hielt an, hinkte im Kreis und schnaubte angriffslustig. Die Erde bebte unter den Kameraden und warf sie von den Beinen; nicht jedoch das Tier, das brüllend strauchelte und geifernd herum fuhr, bereits angeschlagen durch die blutende Wunde am Hinterbein. Thira ließ ohne jegliche Emotion ihre Reikyu erscheinen, die Seelenkugel, die jeder Zuyyaner hatte, der zaubern konnte. Yarek hatte größten Respekt vor den unheimlichen Kugeln, die so harmlos und albern aussahen... es waren nur Kugeln. Wie sollte eine Kugel verheerenden Schaden anrichten, hatte er sich als Kind gefragt... aber er hatte in seiner Zeit bei Chenoa vieles gelernt. Unter anderem, dass keine Waffe Tharrs so grausam war wie die Reikyu es sein konnte, wenn man sie gekonnt einsetzte. Die Reikyu ermöglichte es, in den Geist des Gegners einzudringen, ihn zu kontrollieren, sogar seine Erinnerungen komplett zu löschen oder zu verändern. Auf diese Weise machte der Imperator sich die Leute gefügig... er bläute ihnen mit Hilfe von Seelenkontrolle ein, dass sie für das Imperium arbeiten sollten, und wenn ihre eigenen Seelen nicht mächtig genug waren, um dem Eindringling standzuhalten, folgten sie ihm. Chenoa mochte vielleicht die einzige auf Zuyya sein, die der Kontrolle standhielt... was sie noch gefährlicher machte als es der Kaiser war. Yarek war sich sicher, dass er Chenoa nicht zur Feindin haben wollte.

Das Monster hielt an, als Thira es aus ihren roten Augen gebieterisch anstarrte, dabei immer noch die Kugel aus purer, seelischer Macht über ihrer Handfläche schwebend.

„Ein Nashorn ist simpel.“, sagte sie dabei monoton, „Es sieht sehr schlecht, aber es kann gut hören. Ich schalte ihm sein Gehör aus, dann ist es blind und taub. Versuche es dann, Eneela. Aber pass auf den Kopf auf. Er wird herum fahren und orientierungslos mit seinem Horn in der Luft fuchteln. Ich kann ihn nur begrenzt ruhig halten, ich bin noch keine Meistermagierin.“ Yarek sah Eneela nicken und griff selbst die Masamune, während er sich mit Tayson von den beiden Hinterseiten dem Tier näherte, falls es versuchen sollte, nach hinten zu fliehen. Wie Thira gesagt hatte, fuhr der Kopf wild schnaubend empor und Thira zuckte bei dem mächtigen Widerstand gegen ihre Hypnose, während Eneela vor Panik aufschrie, als das Horn sie beinahe aufgespießt hätte. Ryanne verpasste dem ruckenden Kopf einen Schlag mit Telekinese, ohne das Tier zu berühren.

„Unten bleiben, Dickerchen!“, schnaubte sie dabei und das Nashorn brüllte wutentbrannt, ehe es plötzlich mit einer gewaltigen Kraft herum fuhr, den Kopf dabei mit riss und Tayson hinter sich beinahe skalpiert hätte. Der Schwarzhaarige keuchte und stolperte rückwärts, sodass Yarek bereits seine Waffe packte, um dem Kerl zur Hilfe kommen zu können – in dem Moment unterbrach das Rauschen von Wasser sie, als Eneela bebend die Arme nach vorne riss, aus denen das Wasser sprudelte, das sie schon einmal beschworen hatte.

„Weg, Tayson!“, brüllte Yarek, „In Deckung!“ Er hechtete um das Nashorn herum, das wild nach ihm schlug mit dem Horn, während er noch Ryanne packte. Das gewaltige, messerscharfe Horn erwischte ihn am Ärmel, zerriss seinen Mantel und verpasste ihm einen verhältnismäßig harmlosen Kratzer auf dem Oberarm. Er zischte und schlug mit der Masamune nach dem Kopf, erwischte das Tier an der Lippe und hörte das markerschütternde Brüllen, ehe er samt Tayson und Ryanne davon hechtete, als Eneela ihren Fisch mit einer beeindruckenden Wasserwelle über das Tier jagte. Der Druck des Wassers warf das Nashorn auf die Erde und es strampelte und ruckte röhrend mit dem Kopf.

„Töte es, Yolei!“, kreischte Eneela und heulte panisch, während ihre Knie versagten und sie strauchelte, „Ertränke es... vergib uns, Mutter Erde, dass wir den Lebensgeist des Tieres nehmen...“ Die Flutwelle ergoss sich über das Tier und spülte es ein Stück zurück, das Rauschen der Wellen erfüllte das Schlachtfeld, als auch andere Krieger von Ela-Ri von den Wassermassen zu Boden geschmettert und ertränkt wurden; das Nashorn war kräftig, es lebte immer noch und gurgelte unter dem Wasser, es wollte einfach nicht sterben. Yarek schnaufte.

„Thira!“, brüllte er herüber, und die Zuyyanerin ließ die Reikyu verschwinden, ehe sie aus ihrem Gürtel ihre Waffe zog, die bläulich schimmernde Klinge der Kouriha, die sie ohne ein Wort empor riss und mit einem Schwung hinab in Richtung des Nashorns aus der Klinge gewaltige Eissplitter schießen ließ. Die Eiszapfen durchbohrten das Herz des sich wehrenden Tieres und machten seinen Tod kurz und ohne viel Leid. Als es aufhörte, sich zu bewegen, sank Eneela zu Boden und zitterte, während die anderen wachsam wieder herum fuhren, als sich weitere Krieger von allen Seiten auf sie stürzten.

„Verdammt, werden das nie weniger?!“, jammerte Tayson, „Auf in den Kampf, Männer! - Äh, und Frauen. W-was ist mit Neisa, Yarek?!“ Er starrte besorgt nach Osten, wohin die kleine Heilerin vorhin verschwunden war, und Yarek brummte.

„Los, geh ihr nach, rasch. Ich kümmere mich um die anderen hier. Beeile dich und wehe, ihr ist ein Haar gekrümmt!“ So befahl er und Tayson sah zu, dass er weg kam, während Simu Eneela auf die Beine half – vor ihnen bebte die Erde erneut und ein gigantisches Donnern aus dem schwarzen Himmel ließ sie alle nach Süden herum fahren; und erbleichen beim Anblick des Windwirbels, der auf die Erde herab stieß und nur zu dem Zweck gerufen worden war, sie alle in den Himmelsdonner zu jagen. Yarek weitete ungläubig die Augen, als er glaubte, in weiter Ferne Karanas Gestalt erkennen zu können.

„Ist i]er das mit dem Wirbelwind?“, fragte er kalt und Ryanne, die neben ihn kam, kicherte.

„Oh ja. Er ist ein hübscher Mann, oder? Aber halte dich fern, Yarek, schau zu und staune über den Wahnsinn der mächtigsten Geisterkinder.“
 

Die Macht setzte ihn unter Strom. Sie brannte in seinem Geist, hinter seinen Lidern, die er geschlossen hatte, in seiner Kehle, in seinem ganzen Körper. Sie war wie ein mächtiges Feuer, das seinen Leib und seine Seele einnahm, als er den gewaltigen Wirbelwind in seinen Händen hielt und die Kraft des Zaubers ihn beinahe von den Beinen gerissen hätte. Karana spürte den Zorn des Himmel über sich und den der Erde unter seinen Füßen... den Zorn auf jene, die versuchten, sie mit Gewalt in die Knie zu zwingen, die versuchten, das gute Land zu vernichten und zu unterwerfen. Er hatte keine Angst vor dem Zorn der Mächte der Schöpfung! Er war Karana, er war mächtiger als das... er würde sie zerschmettern und dann würde niemals wieder jemand wagen, ihm den Rücken zu kehren! Mit dem Brennen der Macht steigerte sich aber auch der aasige Kopfschmerz, der ihn blendete und jetzt so mächtig wurde, dass er beinahe gestürzt wäre. Ein Licht explodierte in seinem Kopf, als der Schmerz so heftig wurde, dass er stöhnen musste, während er sich mit aller Kraft darum bemühte, den Wind festzuhalten. Er durfte nicht nachgeben! Er durfte der Stimme nicht mehr zuhören, sie machte die Kopfschmerzen! Er wollte kein Gewissen, er brauchte keins! Er war der Herr der Geister... und dennoch kehrte der Schmerz heftiger zurück und machte ihn beinahe wahnsinnig, als er in seinem Inneren gegen sich selbst kämpfen musste – oder gegen einen Teil seines Geistes?

„Beherrsche deinen eigenen Geist, Karana. Wenn du das nicht kannst, wirst du auch kein Geisterjäger.“ Das waren Saidahs Worte... Saidah! Wo war sie...? Er hatte plötzlich Panik, als er um sich herum überall das Brüllen der Schlacht hörte, als überall Männer fielen und Blut spritzte, als Schwerter klirrten und Zauber aller möglichen Elemente die Erde erzittern und den Himmel dröhnen ließen.

Ich... werde... nicht fallen!, schwor er verbiestert, Verschwinde... Geist! Die Macht ist... allein mein, ich teile sie nicht... mit... niemandem!

Er hörte die Stimme wieder, als der Schmerz in seinem Kopf sich anfühlte, als würde er gleich explodieren und ihn töten. Karana schrie und hatte Mühe, den Zauber zu kontrollieren.

Du bist... noch lange kein Herr der Geister. Und große Macht äußert sich anders als durch tödliche Zauber., sagte die Stimme, und Karana stöhnte ermattet, während sein ganzer Körper vor Schmerz brannte und zitterte. Er konnte die Winde, die er gerufen hatte, nicht mehr lange halten... warum zögerte er?

Du bist ein Sohn von Kisara! Das ist dein Land, das sind deine Landsleute, die du hier angreifst! Das ist nicht dein Wille, Karana, das ist der eines alten Geistes, den sie geweckt haben, der nicht dir gehört! Du musst die Kraft haben, ihn zurückzudrängen! Du bist Puran Lyras Sohn, du bist Nachfahre einer großen Familie! Beweise es! Kämpfe dagegen, Karana... dreh dich um. Jetzt.

Er keuchte – er wusste nicht, warum er tat, was die Stimme verlangte. Der Spieß drehte sich um... jetzt war es der Schmerz, der protestierte und sagte, er sollte sie töten, er sollte sie alle vernichten und die Macht an sich reißen... die Stimme, die vom Gegenteil sprach, tat nicht mehr weh. Er sah in den Schatten der Geisterwelt, wie der Windgeist die Hand nach ihm ausstreckte und ihn fröhlich angrinste.

Komm... nimm meine Hand, Karana. Lauf... nicht weg. Du musst jetzt Ela-Ri zerschlagen... irgendwie. Wenn sie nahe genug dran sind. Dann können sie nicht weglaufen und dann werden sie fallen. Vertrau mir!

Was... was soll ich denn tun?! fragte er den Geist panisch, Ich weiß nicht... was ich machen soll!

Beherrsche deinen Geist! Sei eins mit Himmel und Erde, Karana. Das, und nicht das Bringen von Tod und Macht, ist die wahre Aufgabe der Schamanen. Saidah hat es dich doch gelehrt... oder? Gib mir deine Hand. Jetzt!

Er tat es und streckte die Hand nach dem Windgeist aus. Und in dem Moment, in dem er sie ergriff, explodierte der Schmerz mit einem gleißenden Blitzen vor seinen Augen, ehe er den Windwirbel losließ und ihn nach Süden schmetterte, auf die Krieger und Bestien, die noch als Verstärkung kamen.

Fassungslos beobachtete Karana, wie der Wirbelwind eine Schneise in der Erde verursachte und mit einem donnernden Grollen durch die Männer fegte, sie in Stücke riss und empor schleuderte, um sie wieder fallen zu lassen und sie zu zermalmen durch die gewaltige Macht, die entfesselt worden war. Karana spürte das Kribbeln, das jetzt nachließ – er fühlte sich erleichtert, wo er den Druck des Zaubers nicht mehr spüren konnte; und der Kopfschmerz war verschwunden. Ja... so war es gut! Er würde sein Heimatland niemals verraten... er könnte seine Familie nie hintergehen. Und schon gar nicht seinen Vater, den Mann, den er am meisten auf der ganzen Welt verehrte und liebte.

Er spürte, wie jemand hinter ihn trat, und als er sich umdrehte, stand der Seher von Ela-Ri vor ihm. Er musterte ihn einen Moment schweigend, ehe er seinen Speer fest umklammerte und seine milchigen Augen Karana argwöhnisch durchbohrten.

„Das... war die falsche Richtung.“, sagte er scheinheilig, „Du hast die falschen Männer getötet, Sohn des Königs. Dann... lehnst du also die Macht ab, die ich dir versprochen habe, und... stirbst lieber qualvoll.“

„Nein...“, knurrte der Jüngere und hob warnend die Hände, „Du... hast keine Macht über mich, blinder Mann! Komm und töte mich... wenn du kannst! Es wird das Letzte sein, das du tust!“

Der Seher stürzte sich mit dem Speer auf ihn. Karana konnte ihm ausweichen und schleuderte ihm einen Windzauber entgegen, den der Ältere ohne Mühe abfing, ehe er brüllend herumfuhr und abermals mit dem Speer auf ihn einstach. Mit einem Sprung nach hinten riss Karana die Arme empor und der nächste Windzauber traf den Speer des Typen und riss ihn ihm mit einem Schlag aus der Hand. Der Blinde fuhr herum und keuchte, im nächsten Moment schlug Karana ihn mit der bloßen Faust zu Boden und ließ bereits die nächste Katura in seiner Hand entstehen, als er plötzlich selbst von einem Windstoß erfasst und zu Boden geschleudert wurde. Das kleine Windmesser, das der Seher nach ihm geworfen hatte, zerfetzte Karanas Hemd aus Fellen, das er im Kriegslager bekommen hatte, und keuchend landete er auf dem Rücken am Boden, als der Blinde wieder aufsprang und gleich noch einen Zauber nach ihm warf.

„Der Allmächtige... duldet keine Verräter!“, zischte er dabei und Karana schnaubte, rollte sich instinktiv zur Seite und entkam so um Haaresbreite dem Zauber des Mannes, ehe er sich aufrappelte und noch eine Katura nach ihm warf. Doch der Seher sprang mit einem geschickten Sprung nach hinten und griff seinen Speer vom Boden, um ihn wieder zu packen und nach ihm zu schlagen. Er traf Karanas Schulter und der Jüngere schrie, ehe er zu Boden geschleudert wurde und den heißen Schmerz spürte, der sich in Form von Blut über seinen Arm ergoss. Stöhnend fasste er nach der Fleischwunde, die die Klinge des Speers geschaffen hatte, und kam japsend auf die Beine – dem nächsten Windzauber wich er mehr zufällig aus; der Schmerz in seiner Schulter betäubte ihn und war viel zu stark für die kleine Wunde. Die Klinge des Speers musste Zauber oder Gift beinhalten, dachte er sich, als ihm schwindelte und er den nächsten Windzauber des Magiers mit voller Wucht gegen die Brust bekam, was jetzt seine Haut zerriss und ihn mit Wucht zu Boden schleuderte. Karana stöhnte und versuchte, auf die Beine zu kommen, aber was immer seine Wunde so schmerzen ließ, es machte ihm jetzt fast schwarz vor Augen und er keuchte ungehalten, als der Seher plötzlich über ihm stand und mit dem Speer auf sein Herz zielte.

„Ein Jammer... dass dein Leben so früh enden muss... Karana Lyra. Du hast nichts Besseres verdient, Heuchler.“ Und als Karana bereits seinem Tod ins Auge blickte, kam von der Seite plötzlich etwas heran geflogen und traf den Speer des Sehers. Mit einem Krachen zerbarst der ganze Speer bei der Wucht, mit der das unbekannte Flugobjekt ihn getroffen hatte, und Karana kniff japsend die Augen zu, um keine Splitter hinein zu bekommen. Als er sie wieder öffnete, saß der Seher am Boden, zweifellos gleich mit umgeworfen, als der Speer zerbrochen war. Und er starrte mit bleichem Gesicht und weit aufgerissenen, nutzlosen Augen hinauf, während Karana stöhnend versuchte, sich aufzurappeln. Neben ihm in der Erde steckte ein nur allzu bekanntes Kurzschwert – die Waffe, die den Speer vernichtet hatte.

„Iana...?!“, keuchte er benommen, und er hörte die Frau über sich brummen.

„Du bist so nutzlos!“, tadelte sie ihn, „Was kannst du eigentlich alleine, ohne dass ich dich jedes Mal retten muss? Du hohler Vollidiot, du machst echt nur Ärger!“ Er starrte sie an; sie stand direkt vor ihm, und sie hatte nie schöner ausgesehen als in diesem Moment, in dem er die unausgesprochene, unsichtbare Macht in ihrer Haltung sah, diese Macht, die die Männer aus Ela-Ri gefürchtet hatten.

Die Schattenfrau... und Kadhúrem, das Schattenschwert. Es muss wirklich Wille der Geister gewesen sein, dass ich sie getroffen habe...

Und er wusste in diesem Moment, dass er hier richtig war. Nicht an der Seite der Barbaren, sondern auf der Seite von Kisara, von seiner Familie und seiner Frau, Iana. Er liebte sie so sehr in diesem Moment, nur dafür, dass sie lebte, dass er gerne aufgesprungen wäre, sie geküsst und umarmt hätte und ihr die ewige Treue geschworen hätte... Iana hielt ihm ihre Hand hin.

„Steh auf, du Trottel. Du hast mir mein Schwert zurückgebracht... dafür musste ich mich eben revanchieren. Und offenbar hast du immerhin deinen Verstand zurück... Karana.“ Er blinzelte, als sie verlegen lächelte und auch ihr Schwert aufhob, ehe sie den Seher ansah. „Und jetzt bist du dran... alter Mann. Glaube nicht, dass ich Gnade zeigen werde.“

„Nein...“, murmelte der Seher ergeben und hielt ihr bereits unterwürfig die Kehle hin, „Dann haben... meine Visionen mich verraten. Ich träumte von... der Schattenfrau, und dass sie... den Tod bringen würde. Ich habe nicht bemerkt... dass die Geister meinen eigenen Tod gemeint haben.“ Das waren seine letzten Worte, ehe das Schattenschwert seinen Kopf vom Körper trennte.
 

Senator Lyra, der jetzt König war, hatte nicht das Gefühl, gegen den Herrscher des Schattenlandes eine bessere Figur abzugeben als der alte König, obwohl er um einiges größer war als der es gewesen war. Der König von Ela-Ri war dennoch mehr als einen Kopf größer als er selbst, er war sich ziemlich sicher, dass dieser Gigant der größte auf Tharr lebende Mensch sein musste; wie könnte jemand noch größer sein als der?

Er umklammerte bebend seine Waffe, während der riesige Kerl auf ihn herab starrte mit einer Genugtuung und einem Triumph in seiner Mimik, die Puran fast hätte erbrechen lassen, so abscheulich war es. Es würde sich niemand einmischen in die Konfrontation; das war seine Aufgabe. Diesen Riesen zu Fall zu bringen war allein seine Aufgabe, und wenn er scheiterte, wie es sein Vorgänger im Amt getan hatte, wäre die Not groß. Wie sehr er Verantwortung zu hassen gelernt hatte... und trotzdem schaffte er es immer wieder, sich noch mehr davon aufzuhalsen. Er tat es nie absichtlich, aber egal, was geschah, immer lief es darauf hinaus, dass er der Idiot war, der auf alle aufpassen musste... vielleicht hatte er einen übernatürlich ausgeprägten Beschützerinstinkt, der nicht nur seine geliebte Frau und seine Kinder umfasste, sondern noch tausende von Menschen mehr. Wie viele tausend Männer kämpften um ihn herum für das Reich, auf das er jetzt aufpassen sollte? Wie viele dieser Männer vertrauten darauf, dass er diesen Bestienzüchter zu Fall bringen konnte? Die unausgesprochenen Erwartungen machten ihn nervös, fast noch mehr als der Anblick des geschmückten, verzierten Mannes vor ihm, der sich in voller Größe vor ihm aufbäumte und ihn nur anstarrte – ihn allein durch einen Blick seine Macht und seine Überlegenheit spüren ließ. Der Blick wollte ihn in die Knie zwingen, er wollte ihm das Gefühl geben, der Himmel würde auf ihn herab stürzen und ihn unter sich begraben, ihn zerquetschen wie ein lästiges Insekt. Puran Lyra sollte solche Blicke gewöhnt sein... der zuyyanische Imperator, den er einst getötet hatte, bevor Karana geboren worden war, hatte ähnlich geguckt. Und dennoch war er gefallen und seine Macht war am Ende nicht mehr als Staub und Schatten gewesen.

Der Gedanke gab ihm einen winzigen Funken Hoffnung und Vertrauen; es war der einzige Lichtschimmer, an den er sich jetzt klammern konnte, und er musste; andernfalls wäre nicht der Gigant derjenige, der fiele, sondern er selbst. Und er war noch nicht bereit zu sterben, so alt war er nun auch wieder nicht. Und es wäre unverantwortlich, die arme Leyya dermaßen zum Weinen zu bringen; und wie er sie kannte, würde sie weinen, sollte er wirklich fallen. Sie war so jung... er durfte nicht so verantwortungslos sein, sie alleine zu lassen. Da war die Verantwortung schon wieder...

Gebt mir... euren Schutz, Geister von Himmel und Erde... mehr werde ich nicht verlangen. Ich beanspruche keine Macht, ich... bitte euch nur... um euren Schutz. Wir Sterbliche... sind armselige Irre, die sich einbilden, eure Mächte dafür benutzen zu können, sich gegenseitig zu töten. Es sollte das Leben sein, für das... wir die Macht einsetzen, die ihr uns großzügig gewährt... und nicht der Tod.

Er spürte den eiskalten Wind, der ihm ins Gesicht fegte, und beobachtete seinen Gegner, der sich jetzt rührte und seinen Speer kampfbereit in Purans Richtung hob. Er schaltete das Brüllen der Schlacht um sich herum ab und hörte nur noch den Wind, der ihm um die Ohren sauste, und das Wispern der Geister, die darin lebten. Dann atmete er tief die eisige Luft ein, sodass es in seinen Lungen brannte, ehe er den Kopf empor reckte und jede Furcht aus seinem Geist verbannte.

„Komm!“, rief er dann dem gegnerischen König zu, „Du oder ich. Tod und Schatten!“

Die Erde zitterte, als der große König sich mit einem barbarischen Brüllen samt seinem Speer auf ihn stürzte. Puran wusste nicht, ob das Zittern durch die Macht des Typen kam oder noch von den Füßen der Bestien, die durch das Schlachtfeld stürmten und die braven Soldaten reihenweise zerschmetterten. Vielleicht war es auch der Zorn der Erdgeister über das viele, unnötige Blut, das vergossen wurde. Er schnaubte und hechtete zur Seite, um dem Speer auszuweichen, ehe er mit dem Geisterschwert nach seinem Kontrahenten schlug. Der andere König schien nicht erfreut darüber, seinen Gegner so verfehlt zu haben, denn er fuhr wutschnaubend wieder herum und der nächste Schlag des Speers hätte Puran mit voller Wucht aufgespießt, hätte er ihn nicht im letzten Moment mit seiner Waffe abgeblockt, sodass die gewaltige, scharfe Spitze des Speers nur seine Schulter streifte. Der Druck, der auf diesem Schlag lag, war so gewaltig, dass ihm fast die Beine eingeknickt wären, als der Riese sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Speer lehnte und dabei wie ein geiferndes Raubtier die Zähne fletschte. Puran keuchte und spürte den heißen Atem des Kerls, der sich nach vorne beugte, und der faulige Gestank des schattigen Geistes voller Bosheit brachte ihn ins Schwanken.

„Ja, knurre mich nur an wie ein ausgehungerter Köter!“, schnaubte der Mann seinem Gegner entgegen, „Das wird... dir nichts nützen!“ Dann nahm er alle Kraft zusammen, die er aufbringen konnte gegen den mächtigen Körper des Feindes, und stieß ihn und seinen Speer mit einem Schlag seines Schwertes von sich, um zurück zu springen und dem sofort folgenden, nächsten Angriff abermals auszuweichen. Der Feind schrie ihn auf seiner hässlichen Sprache an, aber Puran hatte keinen Schimmer, was er gesagt haben mochte; vermutlich beschimpfte er ihn aufs Übelste, sollte ihm recht sein. Der Speerstoß, der dann folgte, warf ihn von den Beinen, obwohl er nicht ihn selbst, sondern seine Waffe getroffen hatte, die ihm darauf beinahe aus der Hand gefallen wäre. Keuchend rollte der Kleinere sich zur Seite und entging knapp dem nächsten Angriff; Himmel, der war echt schnell... er musste sich beeilen, wieder hoch zu kommen, wenn er nicht wie ein Stück totes Fleisch aufgespießt werden wollte. Aber der Gegner war schneller, Puran Lyra schaffte es gerade eben, sich noch mal herum zu rollen, ehe er in dem Moment, in dem der Kerl brüllend den Speer aus der Erde riss, die er durchstoßen hatte, seine jetzt nicht zitternde linke Hand herum riss und ihm damit eine Katura um die Ohren schlug, die ihn rückwärts stolpern ließ. Den winzigen Moment nutzte der König von Kisara dann, um mit einem Satz aufzuspringen, sein Geisterschwert herum zu reißen und den gigantischen Speer zu erwischen. Mit einem unschönen Geräusch splitterte das Holz des Schaftes und die Waffe zerbrach mit einem Grollen des Himmels.

Der riesige König stand einen kurzen Moment starr und blickte auf den Rest seines zerfetzten Speeres, während sein Gegner keuchend wieder auf den Beinen stand und jetzt das Geisterschwert gen Himmel schwang. Puran beobachtete, wie der Triumph in den Augen des Monsters erlosch; er wich einer gnadenlosen, grollenden Wut, die sich jetzt auf sein verzerrtes Gesicht schlich, und Puran verengte seine grünen Augen zu lauernden Schlitzen, als er den Zorn des Feindes spürte, der sich auf ihn konzentrierte, der nur lebte, um ihn zu zerfleischen. Das war der Moment, in dem er das Gefühl bekam, dass der Bestienherrscher seinen Menschenverstand eingebüßt hatte. Er war jetzt nicht viel mehr als ein wildes Raubtier, eine gefährliche Bestie wie die, die er zu seinen Sklaven gemacht hatte, und genauso dumpf wie seine Sklaven war alles was er im Kopf hatte, ihn zu töten. Mit einem Brüllen, das die Erde erschütterte, warf der Riese den Kopf zurück und rief die Mächte der Schöpfung vom Himmel herab, die Stürme aus dem Schatten, die er beherrschte, bereit, alles zu zerfetzen, was in seine Nähe zu kommen drohte. Puran wusste, wenn er zuließ, dass der Typ so eine Macht heraufbeschwor in seinem Wahn und Zorn, wäre das das Ende. Unter seinen Füßen zerbrach bereits die Erde und ließ ihn schwanken, so sprang er zur Seite und ein Stück vor dem Giganten zurück, der das Gesicht wieder herunter riss und die Arme wüst fluchend in Purans Richtung streckte. Der Kleinere schnappte nach Luft und wich geistesgegenwärtig dem gleißenden Wirbel aus purer, magischer Kraft aus, den der Feind nach ihm schleuderte, ehe er den Gegenangriff wagte und mit dem Schwert, das er trug, das genau wie jeder Zerstörer auch aus nichts anderem als geistiger Macht bestand, nach dem Mann schlug, dessen schwarze Augen ihn benebelt von der Trance der höheren Magie und dem Zorn seines Geistes anstarrten und ihn die schattige, faulige Macht spüren ließen, die der Herrscher inne hatte. Er schleuderte Purans Schwert einen weiteren Windzauber von solcher Intensität entgegen, dass es ein ohrenbetäubendes Dröhnen gab, als beide Zauber aufeinander prallten. Himmel und Erde ergoss sich über Purans Kopf wie ein krachender Abgrund des Todes und warfen ihn zurück zu Boden, wo er hart aufschlug und hustete. Mutter Erde rettete ihm das Leben, als sie in dem Augenblick, in dem das nächste Windmesser auf ihn zu gefegt kam, auseinander brach und ihn in die Tiefe stürzen ließ, sodass der Zauber über ihn hinweg fegte. Er schloss bebend die Augen, während er, ein paar Fuß tief in den Schlund der Erdmutter gesackt, eben jener ehrfürchtig für ihre Hilfe dankte. Und die Mutter Erde erwies sich als seine beste Unterstützung, als sie ihn mit einem grollen aus der Tiefe wieder hinauf ans Tageslicht warf und gleichzeitig unter den Füßen des Gegners auseinander bröckelte, sodass er den Halt verlor und brüllend stürzte. Er stolperte auf dem zerklüfteten, kalten Boden und Puran wusste, dass das vielleicht seine vorerst einzige Chance wäre, ihn zu erwischen, dank der Hilfe von Mutter Erde, deren Geister ihm offenbar gerade sehr wohlgesonnen waren; er dachte kurz an seine eigene Mutter, die Schamanenkönigin Nalani, die große Macht gehabt hatte über die Erdmutter... vielleicht war es auch ihr Geist, der ihm jetzt auf die Beine half, der ihn vorwärts schubste, wie seine Mutter es schon immer getan hatte. Und er riss seine Waffe mit einem Keuchen herum und schleuderte seinerseits die geballte Macht der Geisterwinde mit einem Hieb seines Schwertes auf den Gegner, der sich gerade wieder aufrappelte. Mit einem Krachen aus dem Himmel und einem unschönen, blendenden Blitzen durchschlug das Windmesser dem Feind das rechte Handgelenk.

Das markerschütternde Brüllen des Schmerzes, das der Bestienherrscher ausstieß, erfüllte die eisige Luft im Süden von Vialla. Puran schauderte selbst, behielt das Schwert aber fest in der Hand und schnappte keuchend nach Luft, ehe er einen Blick auf den blutüberströmten Stummel des Unterarms warf, der jetzt noch übrig war. Doch die Schmerzgeister schienen den Mann, der so groß und mächtig war, nur kurz außer Gefecht zu setzen, denn er kämpfte gegen sie an, brüllte und fluchte, ehe er vorwärts stürmte und seine verbliebene Hand empor riss, um einen vernichtenden Geist vom Himmel zu ziehen; Puran riss bereits sein Schwert herum, da schnellte der Kerl mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit frontal auf ihn zu und seine Hand stieß so plötzlich vom Himmel herab auf ihn zu, dass er erst merkte, dass der Kerl ihn an der Kehle packte und locker mit seiner einen Hand von den Beinen riss, als es schon geschehen war. Und er hörte die Flüche und das Reden über Abschaum aus dem Mund des Feindes, der ihn zu sich heran zerrte und ihm wutentbrannt, benebelt vom Schmerz, den er erfolgreich in die Knie zwang, und vom Zorn, ins Gesicht spuckte und dabei die Zähne fletschte. Mit einem gewaltigen Schlag warf er Puran Lyra auf den Erdboden und war dann über ihm, packte mit der Hand seine Kehle und drückte mit einem ungeheuren Zorn zu, bereit, ihn zu erdrosseln als Strafe für die Hand, die er eingebüßt hatte. Senator Lyra konnte nicht atmen, und er strampelte wie ein strangulierter Hase unter dem Kerl am Boden, während aus seiner Kehle nur ein ächzendes Keuchen kam. Er spürte einen grauenhaften Schmerz und das Brennen in seiner Kehle, als der König ihm den Hals zerquetschte, und er war unfähig, überhaupt sein Schwert zu heben ob des gewaltigen Schmerzes, der sich in seinem ganzen Körper ausbreitete und der vor seinen Augen bereits das gleißende Licht tanzen ließ, das man angeblich sehen sollte, bevor man den Tod fand – in dem Augenblick, in dem Puran glaubte, er würde durch eine einzige Hand dieses Kerls erdrosselt werden, ließ der ihn plötzlich los und fuhr schreiend zurück. Der König von Kisara weitete keuchend die Augen, als der Schmerz nachließ, das Licht verschwand und er laut zu husten begann, während der Feind von ihm herunter kippte und schmerzverzerrt brüllte. Er selbst rollte sich röchelnd und hustend zur Seite und hatte das Gefühl, sich gleich die Seele aus dem Leib kotzen zu müssen, ehe er den Kopf hob, um herauszufinden, was eigentlich passiert war.

„Staub und Schatten ist deine Macht, Herr von Ela-Ri, dem Reich der Blutsonne!“, hörte er die scharfe, bekannte Stimme aus einiger Entfernung, „Die Geister folgen nicht jenen, die dem Wahn verfallen, nach der Macht zu hungern!“ Und Senator Lyra traute seinen Augen nicht – denn vor der Mauer von Vialla, in der Hand einen gut gearbeiteten Bogen, stand seine Tochter. Und er stellte mit verblüfftem Entsetzen fest, dass sie eine Frau war... eine erwachsene Frau, kein kleines Mädchen mehr, und sie stand da mit einer solchen Anmut und einer so erwachsenen, reifen Schönheit, wie sie nur eine richtige Frau haben konnte, und er fragte sich, ob das wirklich seine Tochter war, die er dort sah... sein kleines, unschuldiges Mädchen, seine Neisa, die einmal wie ihre Mutter eine große und sanfte Heilerin sein würde... das, was er im Moment vor sich sah, war nicht sanft, sondern hatte die gefährliche, berauschende Macht einer Herrscherin... genau wie der Blick, den sie ihm jetzt schenkte, in dem er nicht den Geist seiner kleinen Tochter erkannte, sondern längst verstorbene Vorfahren seiner Familie.

„N-...Neisa...?!“, keuchte er fassungslos und rappelte sich immer noch hustend auf, während seine Tochter den Bogen plötzlich zitternd fallen ließ – plötzlich war der Moment ihrer Anmut vorüber und sie machte ein erleichtertes Gesicht bei seinem Anblick.

„I-ich habe Stimmen gehört... sie haben nach mir gerufen, ich... ich hatte solche Angst! Sie wollten... d-dass ich komme... Himmel sei Dank bist du am leben, Vati...!“ Er keuchte und fasste verwirrt und beunruhigt nach seinem brennenden Hals und den Blutergüssen, die er dem Kerl und seiner einen Hand zu verdanken hatte, während seine Lungen sich langsam wieder mit Luft füllten. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und mehr instinktiv fuhr er alarmiert herum, um zu sehen, wie der zornige König mit einem Brüllen den Pfeil aus seinem Rücken riss, den Neisa auf ihn geschossen hatte, um dann mit der Hand in Richtung des Mädchens herum zu wirbeln und einen weiteren, vom Himmel gezerrten Windstoß auf sie zu schleudern. Puran Lyra weitete in Panik die Augen und alles, was in seinem Kopf war, war der Tag, an dem der König starb – der Tag, an dem er zu spät gewesen war, um jenen zu helfen, die er gern hatte. Er wusste nicht, wie er es geschafft hatte, aber dieses Mal war er schnell genug. Mit einem einzigen, brutalen Schlag stieß er das Mädchen zu Boden und riss mit einer Hand sein Schwert empor, um es direkt in den Windzauber zu halten, der krachend zerbrach an der glühenden Klinge. Neisa schrie, als sie zu Boden stürzte, und er bemühte sich, nicht auf sie zu fallen, als er ebenfalls den Halt verlor und schließlich vom Rückschlag der Macht, die sich in beiden gegnerischen Zaubern vereinte, zu Boden geschleudert wurde. Er stieß sich irgendwo den Kopf und für einen Moment war ihm schwarz vor Augen, dann blendete ihn das gleißende Licht eines grauenhaften Schmerzes so sehr, dass er schrie. Er wusste nicht, wo er war, er wollte sich aufsetzen und seine Tochter beschützen, sein kleines Mädchen – er wollte sie anschreien, zu verschwinden, aber er konnte nicht sehen, er konnte nicht mal denken; da war nur der betäubende Schmerz, der ihn gemeinsam mit einem Schwindelgefühl daran hinderte, wieder aufzustehen. Er fasste nach seinem Kopf und fühlte Blut in seinen Haaren – war das sein Blut? Ja, da war irgendwo ein Riss in seinem Kopf, oder nicht? Es fühlte sich komisch an und plötzlich bekam er Panik, ihm könnte das Gehirn aus dem Kopf fallen, und er presste schreiend die Hand auf die klaffende Wunde, während seine benebelten Augen in dem Chaos aus Schmerzen und blutiger Erde nach Neisa suchten – dann hörte er ihre Stimme. Sie heulte.

„Vati! Um Himmels Willen, Vati, halt durch! Oh scheiße... d-dein Kopf... lass los, schnell!“ Er hatte keine Ahnung, warum sie weinte, und er sah nicht ein, die Wunde loszulassen, so wehrte er sich keuchend gegen ihre Finger, die versuchten, seine Hand von der blutenden Wunde zu lösen.

„Hau ab!“, brachte er dann hervor, „Schnell, er wird dich umbringen!“ Er keuchte und schloss bebend die Augen, als der Schmerz ihm fast das Bewusstsein raubte – dann riss er sie wieder auf, als er in der Ferne einen lauten Schrei vernahm, der nicht wie das Kreischen eines Sterbenden klang, sondern wie ein zuversichtlicher Schlachtruf, der keine Gnade kannte. Die anderen Krieger... wie viele wohl noch am leben waren? Irgendetwas schien sie gerade neue Hoffnung schöpfen zu lassen...? Er fühlte die Übelkeit in sich aufsteigen und krümmte sich stöhnend, als Neisa ihn anschrie, er solle die Hand von seinem Kopf nehmen. Ihre Stimme überschlug sich in blinder Panik, während sie heulte und ihn anschrie.

„Du krepierst, wenn ich das nicht sofort heile, du Idiot! Bitte, verdammt noch mal, lass endlich los!“ Dann brach sie das Geheule abrupt ab in dem Moment, in dem ihr Vater seine Augen wieder aufriss und für einen winzigen Moment die drohende Ohnmacht niederzwang, die versuchte, seines Geistes habhaft zu werden. Vor ihnen beiden stand der König von Ela-Ri, und er schnaubte wie ein wütender Büffel, als er hasserfüllt auf sie beide herab starrte. Puran Lyra erkannte verblüfft, dass sein Oberkörper plötzlich zerfetzt war von tausenden, tiefen Schnitten; er musste den Rückstoß des Windzaubers härter abbekommen haben als er selbst. Und jetzt hob er fluchend und brüllend die Hände empor, um seinen Gegner und seine erbleichende Tochter ein für alle Mal zu erledigen – in dem Moment, dem letzten, in dem Senator Lyra noch einen klaren Gedanken fassen konnte, sah er plötzlich den Blitz, der vom Himmel herab fuhr und statt ihm und Neisa den König traf, ihn zurück schleuderte und sie beide außer Gefahr brachte. Das Letzte, was er wahrnahm, ehe er sich dem Schwindel und der Bewusstlosigkeit hingab, war Saidahs Hellebarde von Yamir.
 

Neisa verbat sich, zu heulen – obwohl sie jetzt am liebsten geheult hätte, und nie im Leben war sie glücklicher gewesen, Zoras Derran zu sehen, als in diesem Moment, in dem er plötzlich vor ihr stand, in seiner Hand die gigantische Hellebarde und in seinem Gesicht die pure Autorität eines Geisterjägers – er war zurückgekehrt! Und er war mächtig... sie wäre beinahe selbst ohnmächtig geworden vor Erleichterung, und in ihr Gesicht kroch ein euphorisches Strahlen, als sie in Zoras' Gesicht sah.

„Du bist hier...“, wisperte sie, „D-du hast... du hast Vati und mir das Leben gerettet...“

„Jetzt kümmere dich um seinen aufgeplatzten Kopf, sonst war es das mit deinem Vater!“, rief er ihr zu, „Den großkotzigen Mistkäfer übernehme ich! Und wenn ich Tayson erwische, spieße ich ihn auf, weil er darin versagt hat, dich zu beschützen, dieser Vollidiot... ich hätte dich nie mit dem alleine lassen sollen! Verdammt!“

Neisa wimmerte vor Freude über seine Anwesenheit, aber sie verlor keine weitere Zeit, jetzt endlich ihres Vaters Kopf zu betasten und die Wunde zu schließen, damit er nicht noch mehr Blut verlor; wenn er innere Verletzungen hatte, müsste das ihre Mutter übernehmen, sie war noch nicht stark genug dafür... sie konnte nur provisorisch tun, was in ihrer Macht stand. Als sie die Wunde geschlossen hatte, hob sie den Kopf und sah zum ersten mal die Barbaren aus Ostfann, die sich aus dem Osten kommend wie eine Flutwelle über die Angreifer von Ela-Ri ergossen. Sie bekamen immer mehr Hilfe aus der ganzen Welt! Neisa schöpfte neue Hoffnung, während sie mit dem Kopf ihres bewusstlosen Vaters auf dem Schoß auf der blutigen, zermürbten Erde saß und den Geistern dafür dankte, am Leben zu sein... dann richtete sich ihr Blick auf Zoras, dem gegenüber jetzt der riesige König stand; nach dem Blitz, der ihn getroffen hatte, sah er wirklich nicht mehr sehr gut aus. Und sie war verblüfft, als sie in seinen Augen nicht nur den Zorn und den Wahnsinn bemerkte, als er auf den so kleinen und im Vergleich mit ihm schmächtigen Zoras herab stierte, sondern Furcht. Und plötzlich erinnerte sie sich an die Worte der Seherin:

„Zoras... ist der Seelenfänger.“

Sie schauderte, als sie sah, wie der kleine Magier die Arme in den Himmel riss, dabei den Stab der Waffe festhaltend, in die darauf mit einem Krachen aus dem Himmel ein weiterer Blitz schlug. Sie hatte nie etwas so beeindruckendes gesehen... der Anblick betörte sie und ihr entwich ein fasziniertes Keuchen, als sie die Macht spüren konnte, die Zoras inne hatte... die Macht des Seelenfängers! Die Macht des Todes, eines mächtigen Geistes, der fähig war, die Seelen der Lebenden zu rauben, einzufangen und in die Geisterwelt zu bringen... oder sie zu zerschmettern, wenn sie es nicht wert waren. Erfüllt von einer plötzlichen Euphorie schrie sie auf und umklammerte dabei die Schultern ihres Vaters.

„Bring ihn um, Zoras!“, zischte sie mit dem Gift einer Schlange auf ihrer Zunge, und sie wunderte sich über ihre Bestialität, „Zerfetze ihn, er ist... es nicht wert, diese... Made!“ Und sie spürte die Erde beben, auf der sie saß, und hielt andächtig die Luft an, als der Himmel über ihr grollte und die Blitze aus den schwarzen Wolken zuckten. Sie hörte Zoras, wie er die Mächte der Schöpfung rief und ihnen befahl, ihm zu folgen. Er rief die Schatten aus der Finsternis zu sich, die Mächte von Tod und Verderben, und Neisa konnte nur da sitzen und ihn anstarren – und sie wusste plötzlich, dass er perfekt war. Er war ein bildschöner Mann, während er im Feuer seiner eigenen Macht da stand, Kopf und Arme ehrerbietig erhoben und mit der Stimme eines erwachsenen Mannes hinauf zum Himmel brüllend; und es war eine andere Macht als die, die Karana hatte. Nie zuvor hatte sie den kleinen Mann aus Holia so bewundert wie in diesem Augenblick... „Zoras...!“, sprach sie voller Sehnsucht und Andacht seinen Namen aus, „Zerfetze diesen Bastard!“

Und er gehorchte ihr.

„Geister der Schattenvögel!“, brüllte er in den schwarzen Himmel hinauf, „Dann kommt und nehmt euch meine Seele, die ich euch versprochen habe! Und dafür... kriege ich euren Schatten und eure Macht! Ich bin jetzt der König der vereinten Stämme der Steppe von Fann! Auf meinem Kopf thront der Schädel, der es beweist, so bin ich... der Herr über Tod und Schatten!“ Neisa sah fasziniert zu, wie der feindliche König einen zornigen Versuch startete, seinen viel kleineren und viel mächtigeren Gegner zu erschlagen; doch der Windzauber, den der Kerl nach Zoras warf, zerschmetterte an der Macht der Hellebarde, die Zoras in dem Moment herunter riss, in dem sich die Schwärze des Himmels verdunkelte, bevor der Schatten in Form von Millionen von Geistervögeln vom Himmel herab stürzte und gemeinsam mit dem Blitz den König traf. Und der Herr über das Reich der Bestien versank in den Schatten, die über ihn herfielen wie hungrige Aasfresser, während der Riese schreiend zu Boden ging, erschlagen von der Macht der Schatten, über die er selbst Herr sein wollte. Und als der Schatten verschwunden war, kniete der König am Boden und war damit jetzt etwa auf Zoras' Augenhöhe. Es war erstaunlich, dass er immer noch lebte, obwohl sein Körper nicht viel mehr als ein Haufen blutiger Fetzen war, gebraten vom Blitz und zerfressen von der Macht der Schattenvögel. Zoras schnaubte, als er den Kerl am Haarschopf packte, oder an dem, was davon übrig war, und ihn damit zwang, aufrecht zu bleiben. Seine letzten Worte zum Herr von Ela-Ri waren ohne jedes Erbarmen gesprochen.

„Ich habe... von dir geträumt. Wie war das gleich? Lang... lebe der König. Dein Reich ist gefallen... nur Staub wird übrig bleiben.“

Dann durchschlug die Klinge der Hellebarde ohne weiteres Zögern den Hals des Mannes.
 

Neisa hielt noch immer den Atem an, während sie auf das starrte, was vor ihr geschah – auf das Bild des mächtigen Gegners, der gefallen war... der nie wieder Schaden anrichten würde. Vorsichtig legte sie ihren bewusstlosen Vater auf die Erde und kam zitternd auf die Beine. Der Wind hatte plötzlich nachgelassen; stumm fiel der Schnee aus dem grollenden, schwarzen Himmel auf sie herab, während sie nur Augen für Zoras hatte, der seine Waffe heftig atmend sinken ließ und noch immer am ganzen Körper bebte ob der vorangegangenen Anspannung, die beim Zaubern aufkam. Irgendwo hörte sie die ersten Männer von Ela-Ri, die die Kunde zu verbreiten schienen, dass der König gefallen war, und im Südwesten brach Chaos aus, aber Neisa bemerkte es kaum.

„Du hast ihn erschlagen...“, keuchte sie nur tonlos, doch durch das Getöse der immer noch währenden Schlacht um sie herum ging ihre Stimme im Lärm unter, als Zoras den Kopf in ihre Richtung drehte. Seine schmalen, dämonischen Augen fixierten sie, als sich ihr Gesicht in einer Mischung aus Euphorie, Erleichterung, Furcht und Verehrung verzerrte, und sie sah ihn heftig nach Luft schnappen und seine rechte Hand verkrampft den Stab der Hellebarde umklammern, an deren Klinge das dunkle Blut des Monsters klebte. „Du bist zurückgekehrt... ich... wusste, du würdest zurückkommen!“, wisperte Neisa dann und aus einem Grund, den sie nicht kannte, kamen ihr plötzlich die Tränen. Sie hob schluchzend die Hände an ihr Gesicht und spürte die heiße Flüssigkeit, die aus ihren Augen über ihre schmutzigen Wangen rann. „Du... hast die guten Geister zurück zu uns gebracht, Zoras... dein Zauber muss... wahrlich mächtig sein...“

„Ach, du dämliches Mädchen!“, seufzte er, als er sich ganz zu ihr drehte in dem Moment, in dem sie taumelnd auf ihn zu kam, und er machte drei große Schritte und war dann direkt vor ihr, sodass sie gegen seine Brust kippte und sich keuchend an ihn klammerte – sie wusste nicht einmal, warum sie so froh war, ihn zu sehen... und was in ihr es war, das ihr versicherte, dass sie sich nicht über jeden anderen beliebigen genauso gefreut hätte. Er linste nach Westen, als er ihr Gesicht von seiner Brust zog und ihr einen verblüffenden Blick schenkte, der sie erneut die Luft anhalten ließ – sie hatte so einen Blick noch nie in seinem Gesicht gesehen. Es war nicht der eines bockigen Kindes oder eines arroganten Kriegers, es war nur der Blick eines Mannes... eines hübschen Mannes. „Du hättest nie auf das Schlachtfeld kommen dürfen, dumme Neisa.“, sagte er ernst zu ihr, „Du wolltest doch nicht ernsthaft die Welt für mich retten?“ Sie konnte nur in sein Gesicht starren und lächelte verzerrt, als sie sich an ihr Versprechen erinnerte.

„Das tue ich noch... nächstes Mal dann.“ Er zeigte ihr ein kurzes, flüchtiges Grinsen triumphierender Natur, das sie verblüffte – aber nicht so sehr wie das, was er dann tat, als er ihr Kinn erneut ergriff, es hochzog und sie mit einer Leidenschaft küsste, die ihr den Atem glatt wieder verschlug. Und sie konnte nur starr stehen und am Rande wahrnehmen, wie er sie innig küsste und wie angenehm es sich anfühlte... dann war es auch schon wieder vorbei und sie stolperte hustend rückwärts, während ihr Gesicht errötete und Zoras mit einer ausschweifenden Armbewegung seine Waffe nach Westen streckte. Neisa erkannte erst jetzt, warum, als sie Tayson sah, der von Westen in ihre Richtung gelaufen kam. Lieber Himmel, hatte der das gesehen?! Der Gedanke trieb Neisa die Schamesröte ins Gesicht und sie taumelte, als Tayson näher kam und einen entsetzlichen Eindruck machte. Zoras hielt ihm warnend seine Waffe entgegen.

„Jetzt pack mich nicht an, Tay-Tay.“, schnaufte er, „Das war die Rache dafür, dass du nicht rechtzeitig hier warst, um sie zu beschützen, wie du doch so großkotzig behauptet hast es tun zu wollen! Du solltest mir dankbar sein, dass ich deine Braut gerettet habe, obwohl es mir nicht mal etwas bringt... da war das ja wohl angebracht.“

„Moment mal!“, empörte Tayson sich, „I-ich war doch schon auf dem Weg! Als ich kam, war der König schon erledigt!“

„Ja, weil ich schneller hier war als du, Verlierer. Pass besser auf sie auf, ansonsten verdienst du sie nicht.“ Neisa weitete ungläubig die Augen, als sie Zoras so etwas sagen hörte, und er schulterte seine Hellebarde und verengte die Augen. „Ich verabscheue Männer, die es nicht fertig bringen, ihre Frau selbst zu beschützen... mein Vater hat meine Mutter einfach zu oft im Stich gelassen. Also lass es dir gesagt sein, Tay-Tay.“ Tayson schnaubte abermals und griff nach Neisas Hand.

„Entschuldige, dass ich nicht wie ihr Magier Instinkte habe, die mich genau zur rechten Zeit an den richtigen Ort bringen, ich muss da leider selber denken, um das zu können, und ich werde mein Bestes geben, verlasse dich darauf, Kurzhöschen.“ Zoras feixte.

„Was denn, keine Instinkte? Na ja, vielleicht bist du dann eben nicht der Richtige, um auf die kleine Prinzessin aufzupassen.“ Neisa wollte sich gerade einmischen, aber das erübrigte sich; jetzt brach das Chaos in der Schlacht aus und sie sah mit Verblüffung, wie die Horde der Barbaren von Süden her weiter zusammen getrieben wurde wie fliehendes Vieh. Im Schneegestöber erkannte sie in der Ferne irgendwo fremdländische Banner und ehe sie sich wundern konnte, hatte Zoras neben ihr die Sache bereits erfasst. „Ah, so ein Glück, Chenoa hat ihr Wort auch gehalten, diese verdammte Frau. Da sind die Truppen aus Tejal. Und wenn ich Chenoa erwische, mache ich sie einen Kopf kürzer dafür, dass sie mich nicht vorgewarnt hat, dass ich-... ach... komische Dinge tun musste in Fann.“

Der Tag, an dem Ela-Ri fiel, war ein Tag des Schnees. Und als wollte er all die Toten verbergen, die dieser Tag eingefordert hatte, legte sich der Schnee wie eine weiße Decke über das Schlachtfeld, damit das gefrorene Blut auf Mutter Erdes Haut weg zu waschen versuchend. Der Winter war gekommen... und mit ihm nahte das Ende der Welt.
 


 


 

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Booyah. Nieder mit Ela-Ri. Zoras hatte jetzt nen poser-Auftritt, Ausnahmezustand, Puran, äh, revanchiert sich noch, lol. XD

Der Schatten der Ghia

Über Vialla herrschte ein Schneesturm. Als Karana erwachte, blendete ihn das Weiß an den Fenstern, vor denen die Schneewehen umher fegten. Er fühlte sich schwindelig und wandte stöhnend den Blick vom blendenden Licht ab, während er zitternd eine Hand hob und sich über die verschwitzte Stirn strich. Er lag in einem Bett... hatte er geträumt? Ein unruhiges Gefühl erfüllte ihn, eine Rastlosigkeit, die ihn schon seit Monden verfolgte; nein, seit Jahren.

Das Ende der Welt...

„Aha, und er lebt doch noch.“, hörte er dann Ianas Stimme irgendwo neben sich, „Und ich dachte schon, er pennt jetzt bis Neujahr durch. Fauler Sack, selbst dein Vater mit seiner Gehirnerschütterung war schneller wieder auf den Beinen.“

„Iana...?“, stöhnte Karana und blinzelte benommen; er hörte noch mehr Stimmen, aber das erste, das er dann sah, als er seine Sicht zurück hatte, war sein Hund, der plötzlich bellend auf ihn sprang und ihm über das Gesicht leckte. Der junge Mann musste prompt lachen. „Huch?! Bruder Hund! So ein Glück, du bist auch noch wohlauf, alter Freund...“

„Wir haben ihn auch in den Katakomben versteckt mit den Zivilisten, wir konnten ihn ja nicht mit in die Schlacht nehmen... und du Tölpel hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt, als du so lange weg warst!“ Das war Simus Stimme, und als Karana sich aufsetzte, erkannte er einen ganzen Haufen Leute um sich herum. Auf der Bettkante saß Iana, die ihr Kurzschwert polierte, als gäbe es nichts Spannenderes zu tun. Weiter hinten standen Simu, Eneela und Asta Zinca, außerdem seine Mutter, Leyya, die sehr erleichtert wirkte.

„Ich habe schon geglaubt, du wärst für immer verloren!“, schluchzte die Heilerin auch gleich, und Karana seufzte gerührt von ihrer Zuneigung. Sie war eine so liebevolle Mutter... ihm kam, dass er ihr das viel zu selten zeigte. „Wir sind... alle so froh, dass du wieder hier bist, Karana. Dein Vater hat vor Freude geweint...“

„Das wird er dir sicher danken, dass du das noch herum erzählst.“, sagte Simu feixend und die Frau errötete verlegen, „Na ja, wir wissen ja, dass Vati eine ganz schöne Heulsuse sein kann.“

„Hey, Respekt vor dem König, junger Mann!“, sagte Leyya Lyra darauf trotzig und die anderen lachten. Karana hustete. König? Jetzt fiel ihm wieder ein, was gewesen war... er erinnerte sich an Ela-Ri, an das, was sie mit ihm gemacht hatten... zumindest glaubte er sich zu erinnern. Es fiel ihm schwer... was war geschehen? Er wusste nur, dass er im feindlichen Lager gewesen war... und dass man ihm Macht angeboten hatte. Und er... was hatte er gemacht? Er erinnerte sich an die Stimme in seinem Kopf und den grausamen Schmerz, der darin explodiert war...

Mit einem unruhigen Keuchen schob er Aar von sich weg und sah verstört zu Iana, die ihn keines Blickes würdigte.

„Warst du... die ganze Zeit bei mir?“

„Du bist ohnmächtig geworden, als der Seher tot war, deine Wunden waren vergiftet. Deine Mutter hat das netterweise bereinigt, danach hast du zwei Tage lang geschlafen. Du hast alles verpasst, der Krieg ist vorüber. Ela-Ri ist gefallen, der König auch.“ Er blinzelte und sah sie konfus an, als sie endlich von ihrer Waffe aufsah und ihm ins Gesicht blickte. Sie war so schön... obwohl sie so kühl und distanziert da saß, war sie so schön, und gegen seinen Willen errötete er leicht bei ihrem Anblick. Sie war bei ihm geblieben... nein, sie war zurückgekommen. Er erinnerte sich daran, dass sie ihn verabscheut hatte... vielleicht tat sie es auch immer noch, aber sie war trotzdem noch hier. Der Gedanke erfüllte ihn mit Freude, und ohne weiter nachzudenken umarmte er sie und zog sie fest an sich heran, sodass ihr die Waffe vom Schoß glitt und sie erschrocken zischte. „Himmel, Karana! Ja, ich bin da! Ich kann dich Vollhorst ja keinen Moment alleine lassen, weil du dauernd meine Hilfe brauchst!“

„Kehr mir nie wieder den Rücken!“, keuchte er in ihre Schulter, in der er das Gesicht vergrub, ehe er den Kopf drehte und sie innig auf den Hals küsste. Es war ihm egal, dass die anderen da alle zusahen, er war nie glücklicher gewesen, Iana zu haben, als in diesem Moment. „Ich habe... irgendwelche Dummheiten gemacht, an die ich mich kaum erinnere, als wir bei den Ela-Ri-Kriegern waren... ich... habe keine Ahnung, was die mit meinem Geist gemacht haben! Aber es ist vorüber und... und ich will... nie wieder, dass wir uns streiten, Iana. Ich hab dich... doch so gern...“ Er war kein Mann großer Worte, es fiel ihm schwer, seine Gefühle auszudrücken... aber er wusste in dem Moment, in dem sie peinlich berührt seine Umarmung erwiderte, dass sie wusste, dass er sie liebte.

„Ähm, wir lassen euch dann mal alleine...“, lachte Simu, „Wenn ihr fertig seid, kommt einfach runter in die Halle, hier sind jetzt so viele Leute, wir haben sicher viel zu bereden. - Komm, Mutti, hör auf, sie anzustarren. Vati ist sicher bald mit seinem Politikergelaber fertig und hat dann wieder Zeit für dich.“
 

Puran Lyra hatte gerade definitiv gar keine Zeit. Er war damit beschäftigt, sein Gegenüber fassungslos anzustarren, das sich etwas verlegen am Kopf kratzte. Als er endlich seine Sprache wiederfand, kam nicht mehr als ein empörtes Piepsen aus seiner Kehle.

„Du... du Armleuchter bist König von Tejal und vergisst zwanzig Jahre lang, mir das zu erzählen?! Überhaupt irgendein Sterbenswörtchen von dir zu geben?! Das ist nicht dein Ernst, Madanan! Das letzte Mal, dass ich von dir gehört habe, war ich sechzehn, verdammt! Ich... ich... fühle mich ignoriert und hintergangen, jawohl!“ Der König von Tejal kratzte sich blöd lachend am Hinterkopf.

„Ja... also... das kommt wirklich etwas blöd, ich weiß... aber es war keine Absicht! Ich meine, ich wäre mir immer komisch vorgekommen, zu dir zu gehen und dir zu erzählen 'Hey, Puran, ich bin jetzt übrigens König, toll, oder?', das wäre auch nicht besser angekommen!“

„Ich frage mich eher, wie es dazu gekommen ist!“, entrüstete der Herr der Geister sich perplex, „Wie... kommst du denn dazu, von Dokahsan nach Tejal zu gelangen und dann ausgerechnet die Prinzessin zu heiraten? Das muss dir erst mal einer nachmachen, du Hornochse...“

„Das, ähm, ist eine lange Geschichte, das zu erzählen kostet jetzt wirklich zu viel Zeit... ach, auch, wenn du mich so böse anschaust, ich bin ziemlich erfreut darüber, dass wir uns so mal wiedersehen...“ Er nickte kichernd zur Seite, „Ich habe auch dafür gesorgt, dass Meorans Tochter heil wieder zurückkommt. Sie sieht ihrer Mutter ganz schön ähnlich – warst du es nicht sogar, der so verknallt war in Ruja Chimalis?“ Puran Lyra errötete ertappt und hustete gekünstelt.

„Ach... jugendliche Schwärmerei.“

„Das hat mir meine Cousine erzählt, weil du es offenbar bei ihr im Bett erwähnt hast...“ Der Herr der Geister hustete noch einmal.

„J-jetzt reicht es aber, Madanan, du wirst mich vor dem versammelten Senat und allen Königen und Kollegen hier als notgeilen Stecher darstellen, d-das ist doch gefühlte Jahrhunderte her!“ Der König von Tejal musste lachen und sein ehemaliger Schulkamerad konnte dann auch nicht länger auf den Ernst der Lage pochen, als er auch leise gluckste. Jetzt, wo Ela-Ris Schatten abgewendet war, schien die Welt so gut zu sein... jetzt ging es in ein neues Zeitalter, ein Zeitalter ohne Ela-Ri. Puran Lyra fragte sich, was mit dem jetzt vermutlich recht zerstörten, leergefegten Land im Osten passieren sollte; sobald die Natur die gröbsten Verwüstungen behoben hatte, wäre es sicher ein fruchtbares Land. Es kamen viele Aufgaben auf sie alle zu... verblüfft stellte er fest, dass er sich innerhalb der paar Wochen schon so sehr an die Verantwortung des Königs gewöhnt hatte, dass es ihm jetzt kaum noch schwer fiel, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Er würde mit den obersten Ratsmännern, Ministern und Senatoren sprechen müssen, was jetzt weiter mit der Regierung geschah; er wollte nicht König bleiben, wenn alle dagegen waren, aber wenn die Männer von ihm verlangen würden, weiter zu machen, würde er sich auch nicht sträuben. Es war eben, wie schon seine Großmutter gesagt hatte, er war dazu geboren worden, Großes zu tun. Er konnte nicht davor wegrennen... er war eben von Natur aus dazu bestimmt, ein Führer zu sein, auch, wenn er sich dabei manchmal unwohl fühlte. Aber sie hatten gemeinsam Ela-Ri geschlagen... obwohl sie viele Verluste auf allen Seiten erlitten hatten, waren sie siegreich gewesen und der Mann spürte nicht mehr das Misstrauen seiner Untergebenen, die ihn zu Beginn immer mit skeptischen Blicken bedacht hatten. Dabei war der Sieg über Ela-Ri in geringster Weise sein Verdienst... den Ausschlag hatten letztendlich die Barbaren aus Fann und die Truppen von Tejal gegeben, die am Ende gekommen waren und alle Schatten wie eine Flutwelle fort gespült hatten. Und den König von Ela-Ri hatte er auch nicht alleine beseitigt... er sah sich kurz suchend nach dem kleinen Mann um, der ihm und seiner Tochter, wie diese selbst erzählt hatte, das Leben gerettet und den König getötet hatte, aber er war nicht überrascht, Zoras Derran hier nicht vorzufinden. Vermutlich war er bei seinen Eltern, die schließlich auch hier im Schloss herum lungerten... irgendwann würde er schon noch dazu kommen, sich in aller Demut bei dem Jüngeren zu bedanken. Er erinnerte sich flüchtig an die Hellebarde, die er getragen hatte – Saidahs ominöses Familienerbstück. Er beschloss, die Dame auch mal zu fragen, wie es kam, dass Ram Derrans Sohn diese Waffe trug. Aber dafür war später Zeit.
 

Zoras fiel es schwer, seine Eltern anzusehen; sie sahen aus wie immer, aber er hatte sich verändert. Und nicht, weil er jetzt rasierte Beine hatte, was zum Glück bisher keinem aufgefallen zu sein schien... es war etwas in seinem Inneren, das sich verändert hatte. Und er wusste, dass er seinen Eltern Lebewohl sagen musste... vielleicht für immer.

„Ich kann nicht bleiben. Die Leute aus Fann verlangen von mir, dass ich sie führe als Häuptling. Sie jetzt im Stich zu lassen, nachdem sie mir tausende Meilen gefolgt sind und für mich gekämpft haben, würde sie beleidigen, und ich möchte sie nicht als Feinde haben... das wäre schlimm. Ich... werde also mit ihnen zurück nach Fann gehen, fürchte ich. Mir... passt das auch nicht so in den Kram, aber... es wird wohl das Beste sein.“ Er spürte die ungläubigen Blicke seines Vaters und dass seine Mutter erzitterte, und unwillkürlich drückte er Soras Hand in seiner etwas fester. Sie war so nett gewesen, ihn zu begleiten; da sie jetzt laut den Männern aus Fann zu ihm gehörte, war er froh, dass sie bei ihm war.

„Du... gehst nach Fann?“, keuchte Pakuna dann und Zoras seufzte, ehe er ihr mitleidig in das hübsche Gesicht sah. „Du wirst... nicht mehr zurückkommen, oder?“

„Vermutlich nicht... es sei denn, ich werde irgendwie abgesetzt und nicht mehr gebraucht. Aber... hey, alles ist besser als Holia. Diese Leute respektieren mich, das... tut mir gut. Und Sora hier, ähm... nun ja, wir gehören irgendwie zusammen.“ Er sah auf das junge Mädchen, das höflich den Kopf neigte und dann wie zuvor fasziniert umher starrte.

„Ich bin so lange nicht in Vialla gewesen!“, rief sie freudig, „Hier habe ich gelebt! - na ja, nicht im Palast, aber in dieser Stadt, mit meinen Eltern, und manchmal, wenn der König Feste gegeben hat, waren wir auch hier! Es... es ist, als hätte ich eine Zeitreise gemacht, es ist genau wie damals, als ich zuletzt hier war! Ich bin so froh, Vialla noch einmal gesehen zu haben...“ Sie plapperte und plapperte und Zoras musste verlegen grinsen, als sein Vater schon skeptisch die Brauen hob. Ja, sie redete gerne... und er hörte sie gerne reden. Sein Blick galt Pakuna, die traurig den Kopf senkte und ein bitteres Lächeln zeigte.

„Ich werde dich... sehr vermissen, mein Sohn.“, wisperte sie. „Wir... wir dürfen euch sicher mal besuchen?“

„Ich latsche nicht nach Fann...“, brummte Ram Derran schon, und Pakuna schnaubte, während Zoras kurz lachen musste.

„Keine Angst, müsst ihr nicht; aber falls ihr wollt, könnt ihr sicher. Bleibt ihr jetzt in Vialla?“

„Vielleicht... jedenfalls werden wir nicht nach Holia gehen!“, erklärte Pakuna steif, und sein Vater stöhnte.

„Oh nein, weg von Vialla, ich lebe nicht da, wo Puran Lyra wohnt! Jetzt ist er nicht nur Senator, sondern auch noch König, dieser großkotzige Mistkerl, vielleicht sollten wir doch nach Fann...“

„Ach, du paranoider Vollidiot!“, meckerte sein Sohn, „Karana ist ein Idiot, sein Vater ist, glaube ich, ganz in Ordnung. Was auch immer du für ein Problem mit ihm hast... das ist nicht meine Sache. Nun, also...“ Er räusperte sich, ehe er Soras Hand losließ, „Diese Leute warten draußen. Ich will noch kurz zu Chenoa und sie verhauen, diese Schlampe, danach gehen wir. Also... lebt wohl, Mutter, Vater. Vielleicht sehen wir uns ja... doch noch mal.“ Er neigte den Kopf vor den beiden Menschen, die ihm das Leben geschenkt hatten, dann sah er zu seiner Fastfrau. „Warte hier; was ich mit Chenoa zu besprechen habe, will ich lieber alleine tun, es würde dich langweilen.“

„Darf ich so lange herum laufen und mich umsehen?!“, freute sie sich wie ein kleines Kind, „Ich bin so glücklich, hier zu sein!“

„Natürlich... ähm... aber stoß dich nicht!“, empörte er sich, ehe er gehen wollte und noch einmal von Pakuna aufgehalten wurde. Die Frau zog ihn sanft in ihre Arme und schluchzte, als sie das Gesicht in seinen Haaren vergrub.

„Ich hab... dich so lieb.“, wisperte sie, und er erstarrte bei der ungeahnten Nähe, die er als Kind so geliebt hatte; sie hatte ihn lange nicht mehr so fest umarmt, und sie beide wussten, dass es auch nicht gut gewesen wäre nach dem, was gewesen war; aber jetzt war es gut, und er erwiderte zärtlich die mütterliche Umarmung, bis sie von selbst locker ließ und etwas zurück trat. „Ich bin... so stolz auf dich.“, wisperte sie dann, und Zoras senkte bitter den Kopf; es wurde Zeit, dass er ging, bevor er noch gefühlsduselig wurde. Er war ein Mann... und Männer heulten schließlich nicht.
 

Chenoa zu finden war keine einfache Sache; erst recht nicht in diesem riesigen Palast, in dem hunderte von Leuten herum wuselten; als er die Zuyyanerin schließlich entdeckte, war sie nicht allein. Er hielt kurz vor der Tür zum Hinterhof inne, wo er sie zusammen mit dem rothaarigen Yarek stehen sah. Beide rauchten und machten dabei ziemlich ernste Gesichter, sie schien ihm gerade irgendetwas zu erzählen. Zoras beschloss, zu warten, bis der andere Kerl ging, doch gerade, als er gehorsam etwas zurücktreten wollte, um nicht aus versehen andere zu belauschen, entdeckte der rothaarige Typ ihn schon. Er zog ein letztes Mal an seiner Kippe, warf sie dann auf den Boden und ging nach einer flüchtigen Verabschiedung in Chenoas Richtung durch die Tür hinein in den Palast.

„Du wolltest sicher eher von ihr als von mir was.“, sagte er zu Zoras, als er an ihm vorbei kam, und Zoras fiel der merkwürdig konfuse Gesichtsausdruck auf, den der Kerl an den Tag legte.

„Ähm, ich habe etwas Zeit, du musst nicht weglaufen...“

„Nein, ich bin hier fertig. Ich suche die Seherin.“ Damit ging er von dannen und Zoras sah ihm verwirrt über sein Verhalten nach. Irgendetwas hatte ihn nervös gemacht; war das Chenoa gewesen? Er räusperte sich gekünstelt, während er noch immer Yarek nach sah – dann drehte er sich um und stieß genau gegen die Frau, zu der er gerade hatte hinaus gehen wollen.

„Aua! Verdammt, Chenoa!“

„Dreh dich doch nicht einfach um.“, riet sie ihm in aller Ruhe, „Ich habe schon darauf gewartet, dass du kommst. Vermutlich willst du dich auch beklagen?“ Er schnaufte, rieb sich die Nase und fragte sich, ob Yarek sich auch beklagt hatte. Chenoa hatte ihm die Bürde aufgehalst, die Sieben zu beschützen... vermutlich war das nicht sein Traumberuf gewesen. Er sah in das so schöne, distanzierte Gesicht der Beraterin des Kaisers und errötete gegen seinen Willen; wo er ihr jetzt so nahe war, konnte er nur an die Vereinigung denken, die sie gehabt hatten... es machte ihn verlegen, weil er ziemlich sicher war, dass sie ihm die lüsternen Gedanken ansehen konnte. Chenoa lächelte ihr aufgesetztes Lächeln. „Du hast deine Sache gut gemacht, Zoras. Du kannst deine Hellebarde schon fast richtig benutzen. Den letzten Schliff wirst du von einem Fachmann beigebracht bekommen müssen. Ich bin Zuyyanerin, ich kann dir nicht eine Magie beibringen, die ich nicht beherrsche.“ Der junge Mann schnaufte und senkte das Gesicht, weil seine Wangen glühten.

„Du Verräterin hast mit keinem Wort gesagt, dass das Zeichen die blöde Tätowierung ist! Ich habe geglaubt, die wollen mich ficken, verdammt!“

„Lerne, auf deine Instinkte zu hören.“

„Meine Instinkte haben gesagt Achtung, Männer begrabschen dich und ziehen dich aus, Alarm...“ Er raufte sich empört die Haare, „Ganz davon abgesehen, was ich für... für lächerliche Sachen machen musste, damit die mir gefolgt sind! Du hättest mich warnen können, ich meine, die wollten, dass ich mich rasiere, ja?! Und zwar überall! Ich komme mir vor wie ein haarloser Affe!“ Chenoa grinste zu seinem Entsetzen.

„Oh, na, da vergaß ich wohl, dran zu denken, wir auf Zuyya tun das auch, zumindest viele. Ich habe nicht daran gedacht, dass dir das seltsam erscheinen könnte.“ Er starrte sie an.

„Moment, was?! Du... auch?!“

„Blaue Schambehaarung ist ziemlich unerotisch.“ Er errötete perplex – jetzt, wo sie es sagte, als sie sich vereint hatten, war ihm gar nicht aufgefallen, dass sie da unten ziemlich nackt gewesen war... verdammt, er sollte aufhören, immer daran zu denken! Aber die Erinnerung weckte in ihm immer noch diese ungezogene kleine Flamme und das Verlangen, es noch mal zu tun. Sie lenkte ihn etwas von seinen Gedanken ab, indem sie sein Kinn hochzog und fortfuhr. „Sei tapfer. Wir werden uns vermutlich noch öfter sehen, als dir lieb ist.“ Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Aber es war ihm auch egal, als sie sich zu ihm beugte und ihn kurz aber intensiv küsste. Ehe er sich ihren Lippen richtig hingeben konnte, hatte sie auch schon wieder von ihm abgelassen und er seufzte resigniert, weil sie aufhörte.

„Was... hast du zu Yarek gesagt? Er wirkte... verändert, eben gerade.“ Chenoa sah ihn ernst an, dann drehte sie den Kopf zur Seite, als wollte sie ihm ausweichen.

„Ich habe gesagt... das Ende der Welt kommt noch immer. Das... ist alles.“
 

Sora war euphorisch. Sie war so lange nicht in Vialla gewesen, in Fann hatte sie geglaubt, sie hätte alles vergessen von der Stadt, in der sie geboren und die ersten sieben Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Aber jetzt war sie wieder hier und alle Erinnerungen durchströmten ihren Kopf so selbstverständlich, dass es sie unheimlich glücklich machte. Es war, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen und würde ihren Eltern voraus durch den Palast stürmen, um sich dann hinter irgendeiner Säule zu verstecken und auf sie zu warten, dann hervor zu springen und die Eltern gehörig zu erschrecken. Das hatte sie manchmal gemacht, wenn sie auf den Festen des Königs gewesen waren... heute wusste sie, dass ihr Vater als Geisterjäger und ihre Mutter als Telepathin nie wirklich erschrocken gewesen waren, sie hatten aber sehr überzeugend so getan. Und dann hatte ihr Vater sie durch die Korridore gejagt, dabei gelacht und sie schließlich eingefangen, in seine Arme genommen und hoch gehoben, um seine kleine Tochter dann an sich zu drücken und ihr zu versichern, wie lieb er sie hatte.

Sie hielt an, als die Gedanken ihre Euphorie in Wehmut verwandelten. Wie lange war das alles her? Ihre Eltern waren so lange schon tot... sie fragte sich, ob sie wirklich wissen wollte, wer sie getötet hatte. Sie war kein rachsüchtiger Mensch... sie wollte lieber nicht mehr daran denken. Wüsste sie den Namen des Mörders, würde sie nur von ihm träumen und weinend aufwachen, ihn verfluchen und darüber klagen, dass er ihr ihre Eltern genommen hatte... es war besser, wenn sie es nicht wusste. Staunend sah sie an die hohe Decke der Halle, durch die sie gerade gerannt war. Verzierungen und kunstvolle Bemalungen waren zu erkennen, die schon so alt waren, dass sie allmählich ihre Farben verloren. Das Schloss war alt geworden... sie war es auch. Sie war jetzt eine erwachsene Frau und kein kleines, wildes Mädchen mehr. Sie war ein akzeptiertes Mitglied ihres Stammes und würde bald die Frau des Königs sein. Das war so aufregend! Sie fasste neuen Mut, um weiter zu rennen und dabei fröhlich zu lachen. Heute war kein Tag der Trauer oder der Vergangenheit. Heute sollte sie sich freuen, weil Frieden gekommen war, weil alles gut war. Weit kam sie nicht mit ihrem Rennen, weil sie plötzlich, in ihren Gedanken versunken, gegen jemanden stieß, und mit einem erschrockenen „Au!“ von beiden Beteiligten stolperte Sora japsend zu Boden. Oh nein, und ihre Mutter hatte sie immer getadelt, sie sollte nicht beim Gehen träumen...

„E-entschuldigt!“, rief das blonde Mädchen hastig und rieb sich die Stirn, „I-ich wollte nicht-... eh...“ Sie stockte, als sie hoch sah und vor sich eine verblüffte, blonde Frau erkannte, die von einem Mädchen etwa in ihrem Alter und zwei kleineren Jungen flankiert war. Irgendwie kam ihr die Frau bekannt vor... sie weitete verblüfft die blauen Augen, als ihr der schwarze Umhang und der Anstecker mit dem Pentagramm auffielen; die Zeichen der Geisterjäger. „Nein!“, rief sie erstaunt aus, „Saja Shai?! Seid Ihr das?!“ Die Blonde wirkte genauso irritiert wie sie selbst, denn sie blinzelte ein paar Mal, während die drei Kinder einander blöd ansahen. Es dauerte etwas, bis die Geisterjägerin wusste, wen sie vor sich hatte.

„Sora Kita... Senols Tochter!“, machte sie atemlos, „Ich fasse es nicht – du bist... du bist zurückgekommen? Liebe Güte, du bist ja erwachsen!“

„Wer ist die, Mutti?“, fragte der kleinste Junge blöd, der sich an der kleinen Nase kratzte und sich dann die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte. Saja hatte keine Zeit, ihrem Kind zu antworten, stattdessen umarmte sie Sora, die sich erhoben hatte, und lachte dabei.

„D-dass ich das erlebe!“, freute sie sich, „Was für ein Wunder... ich habe geglaubt, wir würden dich nie wiedersehen... wo bist du all die Jahre gewesen? Puran und Meoran, diese Verschwörer, haben nie verraten, wohin sie dich gebracht haben, nachdem deine Eltern-... ach, was soll es, du bist hier! Sowas Schönes! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, wie geht es dir?“

„Mutti, wer ist das Mädchen?“, nölte der kleine Junge und zerrte an Sajas Umhang, und seine große Schwester zog ihn tadelnd zurück.

„Lass das, Tejo. Sei artig!“ Doch Saja strahlte bereits, als sie die ebenfalls verblüfft und erfreut lachende Sora losließ und sich an die drei Kinder wandte.

„Meine Tochter Mila kennst du vielleicht noch von damals, Sora? Die beiden Jungs sind meine Söhne, der Ältere heißt Eiko und der Kleine Tejo.“ Sora lachte blöd.

„Richtig, Mila, an sie erinnere ich mich! Und ihr anderen, guten Tag!“ Sie verneigte sich artig und der kleinere Junge guckte nur dumm, während der Ältere plötzlich heftig errötete und es vorzog, sich nervös hinter seiner Schwester zu verstecken. Sora fragte sich, was er hatte, aber sie beschloss, ihn nicht zu bedrängen. „Ich bin jedenfalls Sora... ähm... mein Vater war wie eure Eltern im Rat der Geisterjäger.“

„Es hieß, du wärst verschwunden, als deine Eltern gestorben sind...“, sagte Mila mit einem bescheidenen Lächeln, „Dann bist du zurückgekommen, um auch in den Rat zu gehen, oder wie?“ Sora war verblüfft – Moment, daran hatte sie gar nicht gedacht. Sie war die Tochter eines Geisterjägers... die meisten Kinder der Geisterjäger, die ebenfalls Schwarzmagier waren, kamen irgendwann zu ihren Eltern in den Rat. Jetzt, wo es ausgesprochen war, war die Idee gar nicht so schlecht, fand das blonde Mädchen verdutzt... dafür müsste sie allerdings noch viel üben, bevor sie in ihres Vaters Fußstapfen treten und Eismagierin werden konnte, wie es in ihrer Familie seit jeher üblich war...

„Das wird jetzt wohl nicht mehr gehen.“, ertönte da eine bekannte Stimme hinter ihr und sie fuhr herum, als sie Zoras sah, der auf sie zu kam, die Hellebarde geschultert und bereits mit der Autorität eines Ehemannes, der für seine Frau sprach. „Sie... gehört jetzt zum Stamm in Ostfann, die werden sauer, wenn wir nicht zu ihnen zurückkehren. Ich bedaure das also zutiefst, ihr an dieser Stelle die vorherbestimmte Karriere versauen zu müssen, aber wir müssen jetzt gehen.“

„Oh?“, machte Saja Shai verblüfft, „Wie, gehen, ihr geht zurück nach Fann? Beide?“

„Ich fürchte, es geht nicht anders.“, sagte der Schwarzhaarige dazu, als er die Gruppe erreichte, „Aber wer weiß, was die Zeit bringt. - Komm, Sora, wir sollten diese Leute nicht länger warten lassen. Gehabt Euch wohl, Herrin.“ Mit einer Verneigung vor Saja Shai nahm er Sora an der Hand, und sie lächelte ebenfalls, als sie den Kopf entschuldigend neigte und ihm dann gehorsam folgte.

„Vielleicht sehen wir uns mal wieder!“, rief sie lachend über die Schulter, „Grüßt bitte alle anderen von mir... ich werde meinen Eltern auch in Fann eine gute Tochter sein, versprochen!“ Sie sah, wie Saja Shai leicht lächelte und nickte, während das Mädchen und der kleine Junge artig winkten und der Ältere noch immer mit knallrotem Gesicht hinter dem Rücken seiner Schwester hervor lugte und sich sonst nicht rührte.
 

„Willst du denn lieber hier bleiben?“, fragte Zoras seine Braut, als sie Hand in Hand durch die Korridore in Richtung des Tores gingen. In diesem, den sie gerade passierten, war kaum ein Mensch außer ihnen. Sora seufzte leise.

„Ich hätte nichts dagegen. Das hier ist meine Heimat. Aber der Stamm ist... meine Familie, ich würde sie nie im Stich lassen. Es... ist schon richtig so. Wir können das auch gar nicht ändern.“ Sie lachte leise, als er stehen blieb und einen Moment schwieg. „Außerdem kann ich dich doch nicht alleine gehen lassen! Du brauchst mich als Dolmetscherin! Du hast deine Familie für den Stamm hier gelassen... dann werde ich meine Heimat auch hier lassen. Wir beide... müssen doch eine Einheit bilden.“ Er sah sie zweifelnd an, wie sie ihn liebevoll anlächelte mit so einer Güte, dass ihm mulmig wurde. Sora war ein guter Mensch... er schätzte sie sehr und wusste gar nicht so genau, warum eigentlich. Sie sah Neisa so verdammt ähnlich, als wäre sie ihre heimliche Zwillingsschwester.

Nein, schalt er sich grantig, Daran liegt es nicht, dass ich sie gern habe.

Neisa... er sollte aufhören, an Karanas Schwester zu denken, er tat es viel zu oft, obwohl er versuchte, sich dagegen zu wehren. Als er sie auf dem Schlachtfeld geküsst hatte, war irgendetwas davon in ihm hängen geblieben, ein Gefühl, das ihm abartig vorkam, und dennoch so tief in seinem Inneren vertraut. Er hatte an die Worte des Geistervogels gedacht. Es war ein Teil seines Geistes, der viel älter war als er selbst, der sich nach dem blonden Mädchen sehnte... er sollte damit aufhören. Deswegen musste er hier weg... um Neisa nicht wieder zu begegnen. Wenn er ihr wieder gegenüber stünde, wüsste er nicht, was sein Mund für Dinge sagen würde, die irgendwo in der Tiefe seines schattigen Geistes vergraben waren, ohne dass er einen Einfluss darauf hatte. Neisa hatte Tayson, und er hatte beteuert, sich in Zukunft zu bemühen. Das war alles, was zählte... mehr wollte er nicht.

Nein, mehr sollte er nicht wollen.

„Zoras?“, unterbrach die Stimme seiner Begleiterin seine düsteren Gedanken, und er fuhr hoch und sah sie einen Moment an. „Was... was ist? Alles in Ordnung?“ Er keuchte. Verdammt... er hätte Neisa nie küssen dürfen.

Er wusste nicht, was in ihn gefahren war, als er Sora plötzlich am Arm packte, sie rückwärts gegen die Wand schob und sie auf die Lippen küsste. Vielleicht hatte er geglaubt, die Gedanken an Neisa für immer vernichten zu können, wenn er eine andere küsste... vielleicht könnte er das auch, er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es sich gut anfühlte und dass das Mädchen erst verblüfft war, dann vorsichtig die Arme hob und sie um seinen Nacken schlang, um seinen Kuss liebevoll zu erwidern. Ja... es war gut. Sora würde bald seine Frau sein. Sie war eine gute Frau und der Gedanke machte ihn glücklich, mit ihr an seiner Seite leben zu können. Er wollte ihr niemals wehtun... er war nicht wie Karana. Er würde nicht Soras Mann sein und dabei an Neisa denken, wie Karana sich über Iana hermachte und dabei Saidah stöhnte. Als er den innigen Kuss beendete, keuchte er ungehalten, als er in Soras errötetes Gesicht sah und die Gedanken an Neisa tatsächlich weg waren. Vor ihm stand Sora... und sie war bildhübsch, klug und sanftmütig. Und er wollte sie... er drängte sein Verlangen erfolgreich zurück, denn jetzt wäre es unangebracht. Stattdessen fuhr er dem Mädchen zärtlich durch die offenen Haare und küsste ihre Wange.

„Wenn wir wieder in Fann sind...“, flüsterte er, „Wirst du meine Frau. Meine Königin... und dann will ich... dass du in der Nacht bei mir liegst. Es... es wird gut sein.“ Sie errötete heftiger, schien aber nicht abgeneigt zu sein, denn sie senkte mit einer Bescheidenheit, die nichts anderes als Höflichkeit war, das Gesicht und grinste dabei verschmitzt.

„Ja...“, flüsterte sie, „Es wird gut sein. Ich freue mich darauf.“
 

Die Seherin hockte mit einem wissenden Grinsen auf dem Bett in ihrem Zimmer, als Yarek eintrat. Er störte sich nicht daran, dass sie komplett nackt war, und auch nicht daran, dass sie ihn anstrahlte, als hätte sie auf ihn gewartet, als er die Tür hinter sich schloss. In diesem Augenblick erregte ihn ihr reizender Anblick nicht; er hatte jetzt anderes im Kopf, und ihr wissendes Grinsen machte ihn rasend.

„Du hast das gewusst, oder?“, fragte er sie kalt, als er seinen Mantel auszog und auf den Boden des Zimmers warf, darauf sein Hemd glatt streichend. „Du hast gewusst... dass Chenoa das sagen würde. Du hast gewusst, dass wir Ela-Ri besiegen und trotzdem alle verrecken werden... du elende Schlampe. Habe ich nicht recht?“ Er starrte sie grimmig an und ihre violetten Augen weiteten sich nur für einen Moment, ehe sie sich räkelte und er nur kurz auf ihre prallen, nackten Brüste starrte, die sie ihm so billig präsentierte. „Und hör auf, dich so nuttig aufzuführen, Seherin, ich habe gerade so gar keinen Bedarf, dich zu nehmen. Wir werden sterben und du hattest nicht den Anstand, es vorher zu sagen?“

„Hast du die Ghia gesehen, Yarek?“, fragte sie zurück und linste zum Fenster des Zimmers, „Sieh sie dir an. Ein Tod bringendes... unheilschwangeres Monstrum ist sie, oder? Der grüne Mond... der uns alle vernichten kann. Ich spüre ihre Macht... und ihre Bosheit. Spürst du sie auch?“

„Ich spüre deinen Wahnsinn, du verdammte Frau!“, fuhr er sie an, während er am Bett vorbei zum Fenster stampfte, um hinaus zu sehen in den Schneesturm. „Ich hätte Lust, dich zu häuten und zu verbrennen für dein ewiges Grinsen, Ryanne!“, fluchte er, „Warum hast du nichts gesagt?!“

„Die Geister sind launisch.“, behauptete sie, „Ich wusste es nicht, das ist gelogen. Ich habe gesagt, das Ende der Welt kommt... ich habe gesagt, es kommt mit Feuer und Schatten. Alles, was ich prophezeit habe, ist wahr geworden. Der König von Ela-Ri hat Puran Lyras Schicksal besiegelt; er ist jetzt der König von Kisara. Hast du Angst zu sterben, Yarek? Ich habe nicht gesagt, dass es unser Ende ist... nur das der Welt.“ Der Rothaarige zischte und fuhr zu ihr herum.

„Nein, ich habe keine Angst, nur wozu haben wir diese ganze Scheiße hier gemacht, wenn wir jetzt draufgehen?! Wozu soll ich die Sieben beschützen, wenn jetzt das passiert?! Und weder du noch Chenoa noch sonst einer von diesen Besserwissern, diesen Leuten, die alles wissen, lässt sich dazu herab, mir zu sagen, was zum Geier die Aufgabe der Sieben ist! Es scheint ja nicht das Schicksal von Tharr zu sein!“

„Nein, es ist das Schicksal von Khad-Arza.“, sagte Ryanne und ihr bohrender Blick jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sie war mächtig... und gefährlich. Er musste seine lockere Zunge in ihrer Gegenwart hüten, beschloss er weise.

„Khad-Arza wird es in ein paar Tagen nicht mehr geben!“, schnaubte er und bemühte sich um Fassung. Die Frau aalte sich vom Bett und kämmte sich grinsend mit den Fingern die blonden Haare.

„Ja... das Bündnis... wird zerbrechen. Aber die Seele von Khad-Arza... die Seele der Drei Welten wird weiterleben, Yarek. Das ist es... was die Sieben beschützen sollen. Das ist es, was getan werden muss.“ Er antwortete ihr nicht; er hatte diese rätselhaften Worte so satt. Warum geriet er immer nur an Frauen, die so sprachen? Erst Chenoa, dann Ryanne... er musste wirklich masochistisch veranlagt sein, sich immer wieder auf Seherinnen einzulassen.
 

Thira Jamali, die Erbin von Okothahp, hatte sich immer Blindheit gewünscht. Sie hatte sich gewünscht, nicht sehen zu können, was geschah, nicht die Macht zu besitzen, mit der Reikyu umgehen zu können. Die Reikyu war eine gefährliche Macht... wenn man zu tief hinein sah, verlor man den Verstand, wenn man zu viel hinein sah, seine Seele... oder vielleicht war es egal, ob man zu tief oder zu viel hinein sah, und man verlor beides sowieso. Wenn sie nicht sehen könnte, hätte sie nicht mit ansehen müssen, wie ihre Eltern getötet worden waren, als sie klein gewesen war. Aber sie hatte alles gesehen... die Gedanken an die Zukunft schürten in ihr einen Hass, den sie zehn Jahre lang ruhig gestellt hatte, den sie in ihrem Herzen verschlossen gehalten hatte, um ihn aufzuheben für die Zeit, die kommen würde... jetzt war sie gekommen. Und es war nicht gut, wenn sie vergaß, ihren Hass zu kontrollieren... sie wollte nicht zurück nach Zuyya, um keinen Preis. Sie wollte nicht zurück in das verdammte Imperium, nicht zurück unter die Herrschaft eines wahnsinnigen Mannes, der Schuld am Tod ihrer Eltern war. Zuyya war kein schöner Ort... jetzt noch weniger als jemals zuvor.

Sie kauerte in der dunklen Ecke eines Salons im Palast, ohne noch zu wissen, wie sie hergekommen war und warum sie hier saß. In ihren Händen glühte die Reikyu, die Seelenkugel, die ihr die Zukunft zeigte... und sie verabscheute sie so sehr, dass sie das Verlangen verspürte, die Reikyu zu vernichten. Obwohl sie wusste, dass es nicht möglich war, eine Reikyu zu vernichten, zumindest nicht mit roher Gewalt. Und um Magie zu beherrschen, die so etwas vollbrächte, war sie noch zu jung... zu unerfahren, weil ihr niemals jemand hatte beibringen können, wie es ging.

Sie war nicht überrascht, als Chenoa zu ihr kam. Die Beraterin des Kaisers, die gar nicht wirklich seine Beraterin war. Die Frau erschien aus dem Nichts vor ihr in den Schatten des Raumes, allein ihre gelben Augen hoben sich aus dem Dunkel ab, als sie auf das junge Mädchen herab blickte.

„Du sorgst dich... zurecht, Thira. Es werden keine guten Zeiten.“

„Es wird eine Katastrophe.“, sagte sie, „Wirst du nach Ghia gehen?“

„Nein. Ghia... ist so gut wie tot. Ich habe getan, was ich tun musste. - Beherrsche deinen Zorn, Tochter von Akando Jamali. Sei... wie dein Vater es dich gelehrt hat. Er war ein weiser und guter Mann... du weißt, dass er auch für mich wie ein Vater war, obwohl er kaum älter war als ich.“ Thira schwieg einen Moment.

„Ich will nicht zurück... ich weiß nicht, ob ich mich... so gut zusammenreißen kann. Und für die anderen wird es auch schlecht. Simu... sie werden Simu töten, wenn sie erfahren, wer er ist.“ Chenoa sagte darauf nichts. Erst nach einer Weile seufzte sie.

„Ich passe darauf auf, Thira. Der Kaiser sollte weder von dir noch von Simu erfahren.“

„Was ist mit den Tharranern? Willst du ihnen die schlechte Botschaft heute noch bringen?“

„Morgen früh reicht. Ich gebe ihnen eine letzte Nacht in dem Glauben, die Welt sei gerettet... sollen sie sich noch einmal erholen. Morgen früh... werde ich es ihnen sagen. Das wird schwer genug.“

„Was ist mit dem Imperator? Er wird nicht begeistert sein. Wie willst du dafür sorgen, dass er nicht vor Wut alles niederbrennt?“

„Das lass mal meine Sorge sein; um den Imperator kümmere ich mich, sobald ich alles gesagt habe, also morgen.“ Mit diesen Worten wandte die Beraterin sich von Thira ab und war im Begriff, zu verschwinden. „Schlaf, Thira... solange du noch kannst. Auf Zuyya wird es schwer werden... das Wetter ist scheiße da.“

Das waren wahre Worte... die Zukunft war nicht rosig, sondern mehr blutrot.
 

Es dämmerte, als der Schneesturm plötzlich aufhörte und eine weiße Landschaft zurückließ. Der Himmel klarte wieder auf, als es Nacht wurde, und Karana wusste, dass es eiskalt werden würde, wenn die Wolken weg waren. Der Schnee hatte das Schlachtfeld unter sich begraben, sodass niemand mehr erahnen konnte, dass dort vor wenigen Tagen noch die Erde voller Blut und Leichen gewesen war. Durch die Fetzen der verschwindenden Wolken erkannte man die gigantische Ghia am Himmel wie ein Unheil bringendes Auge des Vater Himmel, der auf die Welt herab blickte. Zuyya war fast ganz verschwunden; es war kurz vor Neumond. Bald würde der Hungermond anbrechen und mit ihm ein neues Jahr, das erste Jahr mit einer vierstelligen Zahl seit Beginn der Zeitrechnung.

„Die Esoteriker und Abergläubischen sagen, wenn das Jahr tausend kommt, geht die Welt unter.“, behauptete Karana zu Iana, die neben ihm und dem schwarzen Hund durch den Korridor ging, um seinen Vater zu suchen. Jetzt, wo alle wieder auf den Beinen waren, fand Karana, es wäre Zeit, seinem Vater seine Gefährtin ordnungsgemäß vorzustellen. Er war fast aus allen Wolken gefallen, als er erfahren hatte, dass er wirklich König und es nicht bloß ein Witz gewesen war, als man ihn Sohn des Königs genannt hatte. Obwohl es nahe lag, dass der alte König in Ermangelung eines Erben seines Blutes den erwählte, den er von allen immer am meisten geschätzt und verehrt hatte, überraschte Karana diese Tatsache ziemlich. War er jetzt Thronerbe von Kisara? Das war so abstrus, dass er nicht einmal euphorisch lachen konnte, weil es ihm Macht gab. Er verdrängte die verblüffenden Gedanken, um sich Iana zu widmen. „Und vielleicht haben sie recht, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll... aber obwohl Ela-Ri besiegt ist... spüre ich noch Schatten in mir.“ Iana sah ihn kurz an und schwieg dann.

„Ich... spüre es auch.“, gab sie dann zu und er hielt verblüfft inne.

„Was?“

„Die Schatten. Ich weiß nicht, woran... es liegt, ich... bin doch nur Halblianerin. Aber ich habe... in meinen Träumen das Gefühl, beobachtet zu werden... und es verschafft mir auch Unruhe.“ Karana runzelte nachdenklich die Stirn. Nun, Lianer waren auch Magier. Vielleicht spürten sie auch die Nähe zu den Geistern... oder vielleicht zu den Geistern der Lians, der Bestien, die sie beschwören konnten. Als er lange schwieg, sah sie ihn an und fuhr fort. „Denkst du, die Welt geht am Neumond unter, Karana?“

Er hätte vor wenigen Monden noch mit einem klaren Quatsch! Geantwortet. Jetzt war er sich nicht mehr sicher... die Nervosität, die ihn erfüllte, war eigenartig.

Und sein Vater wusste es augenscheinlich auch nicht besser, als sie ihn schließlich fanden; obwohl sein Sohn ihn nicht darauf ansprach, spürte er auch ohne Worte dieselbe Unruhe, die auch ihn selbst um den Schlaf brachte, wenn er seinem Vater in die grünen Augen sah. Er wirkte müde und älter als er war, und mit einem erschöpften Seufzen fuhr er sich durch die zerzausten Haare, als Karana zusammen mit der Frau und dem Hund zu ihm kam.

„Du bist wieder auf.“, war seine erste Bemerkung in Richtung seines Sohnes, „Ich bin froh zu sehen, dass es dir gut geht, Karana. Ich...“ Er machte eine verlegene Pause und räusperte sich, „Ich hatte einen Moment lang ziemliche Angst um dich... ich weiß, das gehört sich nicht für einen Mann, sowas zuzugeben, aber du bist nun mal mein einziger leiblicher Sohn... dann haben die Geister mich also doch nicht verraten, als ich sie gebeten habe, dich zu schützen.“ Er zeigte ein mattes Lächeln und sah dann zu Iana, der er kurz zunickte und für einen Moment irritiert wirkte. Karana fragte sich, ob es daran lag, dass sie wie Saidah aussah... Saidah. Er hatte sie nicht gesehen, seit er wieder hier war... im Moment war er froh darum.

„Ich habe von deinem neuen, äh... Beruf gehört, Vati...“, sagte Karana dann mit einem blöden Lachen, „Ähm, was sagt man da? Glückwunsch? Ich meine, du wurdest quasi befördert...“

„Befördert?“, seufzte sein Vater, „Nun ja, das liegt im Auge des Betrachters, mich wirft es eher zurück, weil es viel zu tun gibt. Die Minister und der Senat haben einstimmig beschlossen, mir das Amt zu lassen. Das heißt, wir werden wohl hier im Palast bleiben müssen... ich muss mich an diesen ganzen Krempel erst mal gewöhnen – Himmel, wir haben hunderte von Dienern, das bin ich nicht gewohnt... die haben mich böse angeguckt, weil ich mir meinen Kaffee selber machen wollte... ich beleidige sicher andauernd aus Versehen irgendwen, weil ich das alles nicht gewohnt bin...“

„Aber.“, fiel Karana da prompt ein, „War dein Großvater nicht auch ein König? Von Lyrien? Das hat uns die alte Namah in Dokahsan erzählt, bei der wir Unterkunft gefunden haben...“ Er sah, wie sein Vater sich plötzlich anspannte und ihn durchdringend anstarrte. Er starrte zurück und versuchte, diese Veränderung in seinen Augen zu deuten... er konnte es nicht. Es war eine Mischung aus Panik und Zorn, die er vorfand... was hatte das alles zu bedeuten?

„Wenn du mich jemals aufs Äußerste beleidigen willst, vergleichst du mich mit diesem Scharlatan.“, zischte Puran Lyra dann und zog die Brauen ärgerlich zusammen, „Dein Urgroßvater war ein Monster und kein König, er war nicht besser als dieser Ela-Ri-Hornochse. Zum Glück ist er schon lange tot und seine Leiche wurde verstopft und in den Fluss geworfen, damit sein Geist niemals... niemals wieder in diese Welt zurückkehren kann! Sprich... nicht mehr von ihm, Karana. Kelar... war eine Bestie, deren Tod eine Erleichterung für die Welt war.“ Karana runzelte die Stirn. Die Alte war anderer Meinung gewesen... er fragte sich, warum sein Vater so derartig verstimmt war, wann immer es um diesen längst toten Mann ging... er musste seinen Großvater wahrlich gehasst haben.

„Den Geist, der niemals hätte wiedergeboren werden dürfen...“

Er erschrak sich über die Stimme in seinem inneren; an die Worte des Sehers von Ela-Ri. Ja, das hatte er gesagt... was hatte das zu heißen? Die Gedanken waren ihm unangenehm und er wechselte daher eilig das Thema, die Geisterstimmen verdrängend.

„Ich habe gedacht, jetzt, wo das Chaos vorüber ist, komme ich dazu, dir mein Mädchen vorzustellen. Ich meine, eigentlich hast du sie ja nur von weitem gesehen... das ist jedenfalls Iana Lynn. Manchmal nennt sie sich auch Akada, das ist irgendein Kosename, den ihr Vater ihr gegeben hat...“

„Himmelskind.“, sagte Iana leise, und beide Männer sahen sie an. „Es... es bedeutet Himmelskind, es ist ein Wort aus einer alten Sprache der Bergmenschen von Kadoh. Mein Vater ist in so einem Bergstamm aufgewachsen und beherrschte diese Sprache deshalb... meine Mutter war Lianerin. Es ist mir eine Ehre, Herr.“ Puran Lyra musterte sie perplex und Karana lachte.

„Himmelskind, das ist eine hübsche Bedeutung.“

„Aus Kadoh.“, seufzte sein Vater da mit einem leichten Lächeln, „Ach, wie nostalgisch, das erfreut mich sehr. Ich bin auch vor vielen Jahren einige Jahre in Kadoh gewesen, wir haben uns im Krieg dort bei einem solchen Bergstamm versteckt. Karanas Name kommt auch aus Kadoh.“ Karana blinzelte.

„Was? Meiner?!“

„Oh ja. Du trägst den Namen eines sehr jungen Mannes aus diesem Stamm, dessen Mut deine Mutter ihr Leben verdankt. Sie hat beschlossen, dich nach diesem Jungen zu benennen, so haben wir diesen tapferen Knirps, der ein kleines Mädchen furchtlos vor den Zuyyanern beschützte, immer in Ehren gehalten. - Ich dachte, das hätten wir dir mal erzählt...“

„Musst du vergessen haben!“, empörte Karana sich verdutzt; das hatte er wirklich nicht gewusst. Aber jetzt erschloss sich ihm, warum der Seher zu ihm gesagt hatte, er hätte den Geist eines mutigen Kindes; es musste dieser Junge sein, den sein Vater gerade genannt hatte, dessen Seele er dank seines Namens in sich trug. Er dankte dem Geist von Karana aus Kadoh dafür, dass er seine Mutter beschützt hatte und dass er die Ehre hatte, seinen Namen tragen zu dürfen.

Sein Vater räusperte sich und unterbrach seine Gedanken.

„Du hast gesagt, sie sei dein Mädchen. Ohne dich vor ihr bloßstellen zu wollen, soll ich das ernst nehmen oder ist das nächste Woche sowieso vergessen?“ Iana hustete und Karana schnaubte.

„V-Vater!“, rief er, „Nein, natürlich nicht! Es ist mir ernst damit, ich... ich habe das Gefühl, die Geister haben dafür gesorgt, dass wir uns begegnen. Sie... binden uns aneinander.“ Um das zu unterstreichen nahm er Ianas Hand in seine und grinste ihn an. Iana blieb still und rührte sich nicht, während sein Vater sie abermals nachdenklich musterte.

„Ja...“, murmelte er dann etwas neben sich und kratzte sich etwas unschlüssig am inzwischen rasierten Kinn, „Die Geister machen... eigenartige Sachen. Du siehst aus wie jemand, den ich kannte.“ Karana spürte, wie Iana sich anspannte.

„Ja, das höre ich von vielen, Herr... ich bin Saidah nie begegnet. Dieser Frau, der ich angeblich ähnlich sehe.“ Karana rutschte in diesem Moment das Herz in die Hose, als sie das aussprach, und er erbleichte merklich, als sein Vater darüber verblüfft die Brauen hob.

„Ach.“, sagte er, „Saidah! - Tatsache, ein klein wenig. Aber eigentlich habe ich mehr an jemanden anderes gedacht... ah, entschuldigt, das tut ja nichts zur Sache. Ich sage ja, die Geister machen seltsame Dinge.“ Und das war der Moment, in dem Karana zum ersten Mal sicher war, dass es nichts mit Saidah zu tun haben konnte, dass er sich zu Iana hingezogen fühlte... er wusste nur nicht, was es sonst war...
 

Der Morgen graute wie ein tückischer Nebel über dem mit Schnee und Eis bedeckten Land. Es war still geworden... unheimlich still. Kein Vogel machte ein Geräusch, kein Wind fuhr durch die kahlen Äste der Bäume. Es waren ungute Zeichen... selbst für eine eiskalte, vergangene Winternacht war es zu still. Es war, als hätte die ganze Welt die Luft angehalten... zum letzten Mal, bevor sie zum Sprung über die große Schlucht ansetzen würde... und Puran wusste, sie würde scheitern.

Er brummte und griff ein Kissen neben sich, um es sich auf das Gesicht zu drücken und die Unruhe zu verdrängen, die er sich nicht erklären konnte. Die Geister waren nervös... sie hatten die ganze Nacht geflüstert und ihm Bilder des Todes gezeigt... dabei war Ela-Ri doch bezwungen? Und trotzdem war so viel Schatten in seinen Träumen...

„Und das Ende der Welt...“, keuchte er in sein Kissen, und er spürte, wie seine Frau ihn empört biss. Zischend fuhr er zusammen bei dem kurzen Schmerz, der ihn fast verrückt gemacht hätte. Er hörte sie schnauben.

„Das ist reichlich wenig erregend, wenn du dabei immerzu von deinen Träumen redest, Liebster!“ beschwerte sie sich, „Wie soll ich dich denn von deinen Sorgen ablenken, wenn du selbst dabei immer nur vom Ende der Welt redest? Entspann dich endlich...“ Er murrte und atmete heftig ein und aus, während er spürte, wie sie ihn küsste und wie ihre so geschickte Zunge den vorangegangenen Schmerz entschädigte.

„Entschuldige, Leyya... ich kann einfach nicht-...“

„Also, für mich sieht das anders aus. Außerdem warst du es doch, der eben noch so scharf darauf war, als wir aufgewacht sind!“

„Ist ja nicht so, dass ich nicht gerne würde... ich höre auf, versprochen, ich sage nichts mehr von den Träumen. Hör nicht auf, Liebes...“ Er hörte sie verschmitzt kichern und ärgerte sich darüber, dass es ihm so schwer fiel, die unruhigen Gedanken zur Seite zu schieben und sich stattdessen seiner zierlichen Gemahlin hinzugeben. Er war wirklich ein pietätloser Ehemann, er sollte sich schämen. Wie lange war es her, dass er seine arme Frau zuletzt richtig glücklich gemacht hatte? Geschweige denn sich selbst... aber seiner Frau war er es wirklich schuldig. Die verdammten Geister mussten warten, basta. So schloss er mit einem Stöhnen wieder die Augen und gab sich ihrer Zunge hin, und ihren Fingern, die ihn stimulierten, und er verlangte so sehr danach, sie auszufüllen, dass es schon schmerzte – dann grollte der Himmel über ihnen und vor seinen geschlossenen Augen zerbrach die gigantische Ghia in tausende Scherben, ehe sie die ganze Welt in Flammen setzte. Puran fuhr hoch und japste entsetzt.

„A-aber sie sprechen von Tod und Schatten, Leyya, ich muss aufstehen!“

„Puran!“, nölte seine Frau und ließ von ihm ab, „Leg dich sofort wieder hin, ich lasse dich hier nicht weg, bevor du dich endlich mal erleichtert hast. Himmel, wenn du jetzt aufstehst, passt du sowieso nicht in deine Hose. Und jetzt hör auf, andauernd dazwischen zu jammern, bevor wieder irgendjemand reinkommt und uns stört, wie immer, wenn wir es in diesem Palast getan haben.“ Er hustete, folgte aber brav ihrem Befehl und legte sich wieder hin, obwohl er noch immer keuchte und seine hübsche kleine Frau flink wie ein Rehkitz über ihn kam und sich über seinen schmerzenden Unterleib kniete.

„Das ist das Gute daran, König zu sein.“, behauptete er dann, „Ich habe vor die Türen Wachen gestellt und ihnen Petersilie für die Ohren gegeben, hier kommt niemand rein, bevor wir fertig sind. Und dank der Petersilie hören sie nicht mal, wenn ich so mache.“ Damit hob er mit einer flinken Bewegung seine Hand und fuhr ihr zwischen die Beine, worauf sie mit einem lauten Stöhnen den Kopf zurückwarf, wie er es erwartet hatte. Und in ihre Beschäftigung vertieft hörten sie das Rumpeln vor der Tür nicht und auch nicht die harschen Worte, die gesprochen wurden, und das Pochen an der Tür ignorierten sie gekonnt, als Leyya sich zitternd über ihren Mann beugte und sie sich leidenschaftlich küssten; jetzt, wo er die blöden Albträume endlich mal zur Seite geschoben hatte und die Flamme seiner Lenden ihn ganz und gar einnahm, war kein Platz in seinem Kopf für etwas anderes. Und deswegen waren er und Leyya umso erschrockener und verblüffter, als mit einem mal ungefragt die Tür aufflog und sie eine vertraute Stimme hörten:

„Himmel noch mal, Herr, vergebt mir, aber Ihr müsst augenblicklich kommen, es ist wichtig. - Ähm, ja, kommen, ich meinte erscheinen.“ Puran Lyra erbleichte und seine Frau quiekte entsetzt, obwohl Sagal, der in der Tür stand, sich irgendein Tuch vor die Augen gebunden hatte und daher zu größter Wahrscheinlichkeit nichts von ihnen sah, wie sie nackt aufeinander im Bett lagen.

„Entschuldigt, Herr Sagal, aber das hier ist auch wichtig!“, schnappte er empört, „Was habt Ihr hier verloren, wolltet Ihr nicht Eure T-... Enkelin Niarih suchen gehen?!“ Fast verplappert... verdammt, er war eben mit den Gedanken wo anders...

„Das wollte ich, ja, aber dann kam die zuyyanische Beraterin. Die taucht immer auf, wenn es alle stört, das ist wohl wahr, aber es ist wirklich wichtig. Es geht um das Leben der ganzen Welt... so, wie es aussieht, wird Tharr in wenigen Tagen nicht mehr existieren.“
 

Diese Nachricht war schwerwiegend genug, um jede Erregung sofort zu vergessen. Und sie war sogar entsetzend genug, dass weder er noch seine Frau sich ihre nicht vorhandene Befriedigung anmerken lassen konnten, als sie wenig später mit so ziemlich jedem, der hier im Moment etwas zu sagen hatte, im Thronsaal standen. Die Geisterjäger waren alle anwesend, alle versammelten Könige, die am heutigen Tag hatten aufbrechen wollen, die Minister, die Senatoren, sogar die auserwählten Sieben samt ihren Anhängern und Karanas Hund waren gekommen; und Zoras Derran, der seine Barbaren an sich zurück nach Ostfann hatte bringen wollen, sah irgendwie noch mehr als alle anderen aus, als wäre er gerade von einem schwer beladenen Wagen überfahren worden bei dem, was die zuyyanische Beraterin ihnen jetzt offenbarte, als wäre es eine Nachricht über etwas Gutes.

„Wiederholt das bitte.“, verlangte der König von Kisara und bemühte sich nach Kräften um Fassung, während seine Frau neben ihm zusammenzubrechen drohte und sich panisch an seinen Umhang krallte. „Was habt Ihr gerade gesagt, Herrin?“

„Die Ghia.“, wiederholte Chenoa Jchrrah mit dieser ätzenden Monotonie, die nur Zuyyaner inne hatten, „Sie und Tharr werden in genau drei Tagen aufeinander prallen und dabei explodieren. Ich möchte mich nicht damit aufhalten zu erklären, wie so etwas sein kann; Tharr ist, genau wie Zuyya, wie wir wissen, ein Mond des Planeten Ghia. Wenn ich jetzt von magnetischen Störungen und Anziehungskräften anfange, stehen wir morgen noch hier. Jedenfalls ist niemandem entgangen, wie riesig die Ghia geworden ist; das liegt daran, dass sie näher kommt. Astrologen auf Zuyya haben vermutet, dass dieser Umstand Schuld ist an all den Klimakatastrophen, die wohl auch auf Ghia gewesen sein müssen. Ihr habt drei Tage; heute, morgen und übermorgen, um von hier weg nach Zuyya zu fliehen. Zuyya... wird die einzige Welt sein, die dieses Desaster überlebt. Vorerst... Zuyya ist eine schlechte Welt, seid gewarnt. Aber besser eine schlechte als gar keine.“ Sie erntete fassungsloses Schweigen.

„Wenn es weiter nichts ist.“, schnaubte dann König Madanan von Tejal und verschränkte die Arme, „Das ist ja wunderbar, wie sollen wir in drei Tagen zurück in unsere Länder und unsere Völker retten?“

„Gar nicht.“, sagte Chenoa unverblümt, „Tharr hat drei Flughäfen, von denen die Raumfähren fahren. Einen in Vialla, einen in Yuron und einen in Dan-morough. Ich werde nach Yuron und Dan-morough gehen und dort Bescheid geben. Alle, die von den drei Städten zu weit weg sind, haben vielleicht noch das Glück, sich mit Hilfe von Telepathen teleportieren zu können. Wenn nicht, dann nicht.“

„Wie lange wusstest du das, Chenoa?“, durchschnitt Zoras' Stimme die Stille, „Du hast das... schon lange gewusst und uns kein Wort gesagt, habe ich recht?! Warum, verdammt, haben wir Ela-Ri bekämpft, wenn jetzt so etwas passiert?!“ Er erntete zustimmendes Gemurmel und die blauhaarige Frau seufzte.

„Nun, seien wir ehrlich. Ela-Ri wollte sicher niemand von euch mitnehmen nach Zuyya. Seid froh, dass ihr es los seid.“ Das waren harte Worte und Puran Lyra konnte nicht fassen, was er da zu hören bekam. Er suchte verzweifelt nach den richtigen Worten.

„Was auch immer Euch geritten hat, es soweit kommen zu lassen, Ruhe bewahren. Tharr und Ghia werden also in drei Tagen explodieren. Darum kommen wir nicht herum, da hilft kein Jammern, dann müssen wir uns eilen. Was sagt denn der zuyyanische Imperator zu der Idee, alle Flüchtlinge von Tharr und Ghia in seinem Reich aufzunehmen? Wie wir alle ahnen werden, wird der gute Mann nicht erpicht darauf sein, lauter Fremde beherbergen zu müssen, die er unverhohlen nicht leiden kann. Wir alle wissen, dass Euer Kaiser weder Tharr noch Ghia schätzt.“

„Das ist wahr.“, sagte die Frau, „Darum kümmere ich mich selbst. Der Kaiser wird nicht begeistert sein, aber er wird es zulassen, wenn ich dafür sorge.“ Sie sah in die Runde der fassungslosen Männer und ihr Blick blieb an Yarek Liaron hängen, der erbost wirkte. „Du übernimmst die Sieben... Yarek. Oder sechs, Zoras wird wohl an anderen Orten gebraucht. Sieh mich nicht so an, ich war nicht verpflichtet, euch überhaupt zu warnen. Ich hätte schweigen und euch alle in den Tod stürzen lassen können...“

„Was Ihr etwa mit der Mehrheit dieser Bevölkerung auch tut.“, sagte König Madanan düster, „All jene, die nicht zufällig in den großen Städten sind oder einen Telepathen zur Hand haben, sind des Todes... und mit diesem Wissen kamt Ihr zu uns und spracht diese Worte.“

„Ihr habt gesagt, Ihr geht nach Yuron und Dan-morough.“, fiel Simu plötzlich ein, „Was ist mit Ghia? Geht Ihr dort auch hin? Sind die Menschen dort gewarnt?“ Alle Blicke richteten sich wieder auf die Beraterin, die den Kopf einen kurzen Moment senkte und kein Wort sprach.

„Ich werde tun, was in meiner Macht steht.“, sagte sie dann, und Puran Lyra wusste nicht genau, was es war, das ihm versicherte, dass sie nicht vorhatte, die Ghianer zu warnen. Das bedeutete, dass die gesamte Bevölkerung des grünen Mondes ausnahmslos verrecken würde. Millionen von Menschen würden in drei Tagen einfach so den Tod finden... eine Explosion ging vermutlich schnell. Es würde so schnell gehen, dass die Menschen tot wären, bevor sie es merkten. Aber der Gedanke daran, dass so viele sterben würden, während sie hier überlebten, ließ ihn schaudern. Er hatte immer gewusst, dass Zuyyaner herzlose Pragmatiker waren. Vermutlich warnte diese hinterlistige Frau sie hier nur, weil sie für sie noch eine Verwendung hatte; für die Sieben insbesondere. Der Gedanke machte ihn wütend und er war kurz davor, der Frau ins Gesicht zu brüllen, dass sie es nicht wagen würde, seine drei Kinder oder irgendeinen anderen dieser sieben jungen Menschen für ihre seltsamen Prophezeiungen zu missbrauchen. Nur über seine Leiche würde sie es wagen, diesen Menschen etwas anzutun... er schluckte seinen Zorn tapfer wieder herunter und ballte verkrampft die Fäuste. Dann sah er in die Runde der Anwesenden, zu den Ministern und Senatoren, den Königen, zu seinen Kollegen, den Geisterjägern; er sah in Saidahs aschfahles Gesicht, er sah Neron und Saja Shai, die ihre drei leichenblassen Kinder festhielten und vor Fassungslosigkeit erstarrt waren. Er sah Tare Kohdar, neben dem seine Cousine Alona stand, und zum Schloss Emo, den Verräter. Emo grinste nicht... das war selten. Der schwarzhaarige Mann fixierte Chenoa mit einem eigenartigen Blick und schien sehr emsig über etwas nachzudenken, was den König von Kisara gerade so gar nicht interessierte. Schließlich ergriff er das Wort mit einem Räuspern und alle wandten sich ihm zu, einschließlich der Beraterin von Zuyya mit den gelben, dämonischen Augen voller Arglist. Er hatte Chenoa Jchrrah instinktiv immer für eine Verbündete gehalten, für eine gute Person... jetzt war er sich gerade nicht mehr so sicher, was er von ihr halten sollte. Aber hatte er eine Wahl?

„Ihr habt gehört, was die Frau gesagt hat. Wir haben drei Tage. Wir werden die Kunde verbreiten und so viele Menschen mitnehmen, wie wir können. Ich fürchte... das Ende der Welt, von dem wir so lange träumen, ist jetzt... endlich gekommen.“
 

Auf die Nachricht der Beraterin des Imperators hin brach Panik aus in Vialla; vermutlich auch überall auf der Welt, wohin die Botschaft vordrang. Von außerhalb strömten panische Menschen aus nahen Dörfern nach Vialla, mit nichts bei sich außer ihren lumpigen Kleidern, um ja noch einen Platz in einem Raumschiff zu bekommen. Und Puran Lyra verfluchte sein Amt jetzt gleich wieder, weil er verantwortlich für das Wohl eines Volkes war, das mindestens zur Hälfte krepieren würde in wenigen Tagen. Er ließ sämtliche Telepathen, die anwesend waren, allen voran natürlich Dasan Sagal und sein Netzwerk, die Information so weit und so schnell wie möglich verteilen und per Teleport gleich möglichst viele Menschen in Sicherheit bringen, in eine der drei großen Städte mit den Flughäfen. Seine Cousine war alles andere als begeistert.

„Wie stellst du dir das vor, großer König?“, meckerte sie dabei, „Wir haben auch nur begrenzte Kräfte, wir können nicht drei Tage lang Menschen nach Vialla teleportieren! Und das ohne Bezahlung, wirklich.“

„Ach, verdammt, maul mich nicht an, ich schenke dir Tare!“, jammerte ihr Cousin und sein Kollege errötete hustend und starrte ihn an, „Gib's zu, Cousine, du hast doch sowieso was mit ihm, oder nicht?!“ Alona schürzte peinlich berührt die Lippen.

„Was fällt dir ein?“, grummelte sie mit einem rötlichen Schimmer auf den Wangen, „Wir trinken nur gerne ein Weinchen zusammen!“

„Hintergehe mich nicht, meine Liebe, ich sehe genau, wie ihr Turteltauben euch anseht. – Verdammt, für sowas haben wir jetzt keine Zeit, beweg deinen Arsch, Cousine, oder ich trete dir rein!“

„Was für ein Kavalier du doch bist, Puran...“

Simu hockte auf der untersten Stufe der Treppe, die hinauf zu den Korridoren führte, und beobachtete unruhig das Chaos, das im Palast ausgebrochen war. In den Schlachten waren so viele Menschen gestorben... und trotzdem gab es immer noch so viele, die gerettet werden mussten. Das war nicht möglich... die meisten würden gezwungenermaßen zurückbleiben, egal, wie viele Telepathen sein Vater jetzt durch die Welt hetzte, egal, wie viele Kontakte Sagal hatte. Es gab nicht genügend Raumfähren für alle... und davon abgesehen war Zuyya eine kleinere Welt als Tharr oder Ghia. Niemals würden alle Menschen von Tharr auf Zuyya Platz finden... es würde schlimm werden.

Simu gefiel der Gedanke nicht, nach Zuyya zu gehen. Er fürchtete die Zuyyaner seit seiner frühesten Kindheit, ihre Gegenwart beunruhigte ihn und verursachte tief in seinem Inneren eine uralte Panik, die er sich nur damit erklären konnte, dass seine Eltern von Zuyyanern gejagt und offenbar ermordet worden waren. Er wusste nicht mal, warum... er war dann zu den Lyras gekommen und niemals hatten die Zuyyaner ihn dort gefunden, obwohl der Krieg gegen Zuyya noch lange angedauert hatte, nachdem er schon in Lorana gewesen war. Was würde wohl passieren, wenn er nach Zuyya kam? Es gab sicher schwerwiegendere Probleme als einen jungen Mann, dessen Eltern aus irgendwelchen Gründen einmal verfolgt worden waren, war seine einzige Hoffnung. Der Kaiser, der als skrupelloser, grausamer Tyrann galt, würde anderes im Kopf haben als ihn zu jagen, falls er das überhaupt wollte. Vielleicht ging es ja auch gar nicht um ihn, sondern nur um seine Eltern, die schon tot waren... das hatte Thira jedenfalls gesagt.

„Es werden so viele sterben... oder?“ Der Blonde drehte den Kopf nach oben, aus seinen Gedanken gerissen. Bei ihm hockten Eneela und Asta; die beiden jungen Frauen hingen irgendwie an ihm, vermutlich, weil er es gewesen war, der sie gefunden hatte. Simu duldete ihre Gegenwart stumm, dabei war ihm Eneela aber generell lieber als Asta, denn die Lianerin sprach nicht und ließ ihn in Ruhe nachdenken. Er konnte Asta aber auch nicht verübeln, dass sie reden wollte... sie war furchtsam, wie alle im Moment. Ihre zerzausten, rosafarbenen Haare waren ungekämmt und ließen ihre Erscheinung noch armseliger wirken als sie war. Simu sah auf ihre nackten Füße.

„Auf Zuyya wirst du Schuhe brauchen.“, sagte er zu ihr, „Ich habe gehört, dort ist immer Winter, es ist eiskalt.“ Asta sah errötend auf ihre verbeulten, hässlichen Füße und zog sie schüchtern zusammen. Sie war wirklich ein bedauernswertes Geschöpf... Simu verwünschte Loron und Arlon einmal innerlich dafür, dass sie die arme Asta ihr Leben lang so geschändet hatten, dass so ein Häufchen Elend ohne Selbstvertrauen aus ihr geworden war.

„Ich meine, die... die ganze Ghia wird sterben.“, wisperte die Rosahaarige darauf weiter und kauerte sich zitternd auf der Treppe zusammen, „Mir... tun die Leute leid.“ Simu schenkte ihr einen dumpfen Blick. Ja, ihm auch... und er konnte ihnen dennoch nicht helfen. Er war verblüfft, als Eneela, die neben Asta kauerte, sich plötzlich bewegte und mit glasigen Augen apathisch nach vorn starrte. Als sie sprach, konnte er kaum fassen, was er zu hören bekam.

„Dann sterben sie. Mir macht es nichts aus. Dann stirbt... Scharan mit ihnen, das Ungeheuer... und alle Bastarde, die die Sklaventreiberei unterstützt haben. Mir ist es recht.“ Simu hustete und war entsetzt über ihre Bosheit – dann besann er sich und unterdrückte das Verlangen, sie für so etwas Garstiges zu tadeln. Er konnte sie ja verstehen... Scharan, der Sklavenkönig, hatte ihr viel Unrecht angetan. Sie kannte keine anderen Menschen auf Ghia außer ihm und allen, die in seinem Haushalt gedient hatten. Ihre Mutter war tot... es gab niemanden mehr auf Ghia, der Eneela etwas bedeuten könnte. Sie dachte vermutlich nicht so garstig, wie ihre Worte geklungen hatten... nicht alle Ghianer waren Sklaventreiber. Auch sie hatten Frauen und kleine Kinder, die niemals groß werden würden... weil Chenoa dafür gesorgt hatte. Diese Frau war gnadenlos... Simu war verwirrt darüber, dass sie offenbar kein schlechtes Gewissen bekam, obwohl sie wissentlich Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen in den Tod stürzen ließ. Es war wie Auslese... die, die Chenoa Jchrrah für würdig hielt, am Leben zu bleiben, würden es schaffen. Und alle anderen würden sterben, um den Besseren eine Chance zu geben, zu leben... das war grausam. Simu war sich nicht sicher, ob er leben könnte mit dem Wissen, dass dafür, dass er weiterleben konnte, Millionen Menschen gestorben waren. Je weniger Menschen nach Zuyya gelangten, desto besser würde das Leben dort werden, desto geringer die Hungersnöte und der Platzmangel. Es machte schon Sinn, was Chenoa tat... aber es war grauenhaft. Der Blonde war verwirrt darüber, dass er allen Ernstes ihre Denkweise nachvollziehen konnte... wie konnte man so pragmatisch sein? Stöhnend raufte er sich die Haare, ehe er den beiden Frauen einen kurzen Blick schenkte.

„Das ist wohl wahr.“, murmelte er dann auf Eneelas Aussage, „Scharan wird sterben. Denken wir positiv, Leute. Das ist doch mal eine gute Nachricht.“
 

Jedes einzelne Raumschiff wurde bis zur äußersten Grenze vollgestopft. Egal ob es große Raumfähren waren oder kleinere Privatflieger von zuyyanischen Gesandten, die auf Tharr gearbeitet hatten, alles, was fähig war, nach Zuyya zu gelangen, wurde ausgeschöpft, jede noch so kleine Möglichkeit; das war alles, was sie tun konnten. Nacheinander starteten die Schiffe Tag für Tag, um so viele Menschen wie möglich nach Zuyya zu bringen; die ersten Fähren schafften es mit viel Überredungskunst und Raffinesse, sogar noch einmal umzukehren und noch eine Ladung mitzunehmen. Karana wusste nicht, was er fühlen sollte, als er, Iana in seinen Arme und den Hund an seinen Beinen, dicht gedrängt mit hunderten von anderen Menschen in einer der Fähren stand und die Enge ihm Atemnot verschaffte. Irgendwo in seiner Nähe waren Neisa, Tayson, Simu, Eneela, Asta, Yarek und Ryanne; Thira hatte er auch schon gesehen. Er fragte sich, wo Zoras geblieben war; schließlich gehörte er auch zu den Sieben. All solche verwirrenden Gedanken durchströmten seinen Kopf wie ein wilder Fluss, während um ihn herum die Menschen in Panik weinten und jammerten, Kinder im Gedrängel ihre Eltern aus den Augen verloren und hysterisch zu schreien begannen. Es fühlte sich so unecht an... Tharr zu verlassen. Ja, sie machten sicher nur einen Ausflug nach Zuyya und würden morgen zurückkehren, genau.

Karana machte sich schmerzhaft bewusst, dass es nicht so war... dass er eben, als er eingestiegen war, zum allerletzten Mal die Welt gesehen hatte, die seine Heimat war. Er würde sie nie wiedersehen... in kurzer Zeit würde sie zerschellen und verschwinden. Das war also das Ende der Welt... er hatte nicht geglaubt, dass es so aussehen würde. Die Gedanken an diese Endgültigkeit und Ewigkeit machten ihn nervös und er schnappte in einem plötzlichen Panikanfall nach Luft, als er das Gefühl hatte, an den Emotionen und in dem Gedrängel zu ersticken. Er spürte, wie Iana sich sanft gegen ihn drückte und seinen Hals küsste, wie um ihn zu beruhigen; es half nicht. Er hörte die Stimmen der Leute um ihn herum und nahm sie trotzdem nicht richtig wahr; sie waren nur da.

„Wo sind die anderen, Sagal?“, hörte er irgendwo seinen Vater durch das Gedrängel rufen, „Auf den anderen Schiffen?“

„Ja, ja, ich habe Shais und Tare Kohdar in der Fähre hinter uns gesehen. Saidah ist schon fort mit der anderen Fähre, Herr.“

„Und wo ist Emo?!“, empörte sich der König von Kisara, „Nicht, dass ich um ihn trauern würde, aber der Kerl kann sich doch nicht in Luft auflösen! Der war gestern schon nirgends mehr zu finden, ist der etwa weggelaufen, um sich jammernd seinem Schicksal zu stellen?“

„Für so patriotisch halte ich ihn eigentlich nicht, Herr.“, sagte Dasan Sagal dazu, „Ich tue mein Bestes, um das herauszufinden, aber im Moment kann ich mich leider nicht bewegen, Herr.“

„Wo wir gerade dabei sind, was ist mit Zoras Derran?“, hörte Karana Yarek sich einmischen, „Ich habe in dem Chaos nicht länger nach ihm suchen können, aber Chenoa bringt mich um, wenn der Kampfzwerg hier bleibt.“

„Ich vermute, dass er mit den Barbaren aus Fann zusammen ist.“, sagte Sagal, „Na, die in einer Raumfähre, das wird ja ein Spaß.“ Karana drehte ungläubig den Kopf zu dem alten Telepathen, der sich offenbar zu so etwas wie dem Berater seines Vaters gemausert hatte, jedenfalls waren die beiden Männer seit Ela-Ris Fall quasi unzertrennlich. Verblüffenderweise sah er, dass der alte Sagal seine Tochter Chitra wie einen Mehlsack über der Schulter trug; was war mit der denn, war die ohnmächtig geworden in dem Trubel? Er dachte an Niarih... wo war sie eigentlich? Der Gedanke schmerzte ihn, dass sie tot sein könnte oder, falls sie es nicht schon war, jetzt sterben würde. Sie war ein so liebevolles, sanftes Mädchen gewesen. Der Gedanke ließ ihn verwirrt keuchen und er spürte, wie Sagal ihn ansah und sein Entsetzen bemerkte.

„Niarih ist das Problem, ja.“, sagte er zu Karana, als wäre das nichts Besonderes für ihn, „Deswegen habe ich Chitra ja Schlaftee gegeben, sie wäre nicht freiwillig weggegangen, solange wir ihre Tochter nicht gefunden haben. Oh, sie wird mich hassen, wenn sie aufwacht, aber ich kann es mir nicht leisten, sie auch noch zu verlieren. Ich verliere genug Leute hier.“ Karana schnappte verzweifelt nach Luft. Das sagte der so, als wäre nichts dabei... aber der Jüngere wusste genau, dass Sagal nicht so herzlos war, wie er zu sein vorgab. Er war alt, er hatte bereits seine Frau und vermutlich sehr viele andere Verwandte überlebt, auch einige seiner eigenen Kinder. Irgendwann, wenn man so viel erlebt hatte, machte es einfach keinen Unterschied mehr... irgendwann musste man anfangen, sich selbst davor zu schützen, an jedem Tod eines geliebten Menschen zu zerbrechen. Denn wenn man einmal zu oft daran zerbrach, konnte man vielleicht nicht wieder heilen... er hatte plötzlich Mitleid mit dem Mann und noch mehr mit Niarih, der kleinen, süßen Niarih, die er nie wiedersehen würde. Genau wie Lorana, das Dorf, in dem er immer mit ihr zusammen gewesen war, genau wie alles, was er kannte. Die Gedanken schmerzten ihn und er klammerte sich unruhig an Iana und kämpfte plötzlich gegen die Tränen, die in ihm hochkamen; er war eigentlich kein Mann, der viel weinte, und es war ihm unangenehm, dass er plötzlich das Verlangen verspürte, wie ein kleines Kind zu flennen.

Ein Ruck ging durch das Schiff, als es startete und zunächst rollte, um dann mit einer ungeheuren Geschwindigkeit empor in den Himmel zu jagen. Karana war niemals mit so einer Fähre geflogen... und das erste und letzte Mal, dass er es tat, war begleitet von einer tiefen Trauer über den Verlust von so vielem, von einem stechenden Schmerz, der ihn gar nicht mehr loslassen wollte. Er wollte nie wieder mit so einem blöden Schiff fahren, nahm er sich verbiestert vor, als er die Augen schloss und das Gefühl der Geisterwinde durch seinen Körper strömen ließ, die in seinem Kopf zu wispern anfingen und von Tod sprachen.

Gibt es auf Zuyya überhaupt Mutter Erde und Vater Himmel? Gibt es auf Zuyya überhaupt Geister? Oder stirbt das alles... zusammen mit der Welt, die wir zurücklassen? Sprecht doch mit mir... Windgeister.

Die Geister antworteten ihm mit sanften Stimmen, was ungewohnt war.

„Es wird immer einen Himmel und eine Erde geben, solange auch nur ein Mensch daran glaubt, dass es sie gibt, Karana. Und solange ihr daran glaubt, gibt es auch Hoffnung... selbst auf Zuyya, der Welt des ewigen Winters.“ Diese Worte waren erheiternd... Karana kontrollierte seine Atmung wieder, als er daran dachte. Ja, sie würden leben. Und unter einem neuen Himmel, auf einer neuen Erde, würden die Geister sie alle zu dem machen, zu dem sie bestimmt worden waren. Sie waren die Sieben... das musste doch zu irgendetwas gut sein.

„Die Seele von Khad-Arza wird leben... auch, wenn das Bündnis zerbrochen ist.“, murmelte der Schamane und drückte dabei Iana an sich, die ihn jetzt verblüfft ansah. „Das ist es, wofür... die Himmelsgeister gesorgt haben, als sie uns geschaffen haben.“ Seine Geliebte antwortete nicht darauf und drückte sich nur etwas unsicher gegen seine Brust, während das Schiff vibrierte im Fahren. Karana schloss die Augen erneut und gab sich den Geisterstimmen hin, die ihm die Hoffnung zu geben versprachen, die sie alle noch brauchen würden... und plötzlich hatte er keine Angst mehr.
 


 


 


 

_____________________________

Whoooot. Noch Epilog^^

Epilog

„Wie war das, du Scharlatan?!“

Die Stimme des empörten Mannes durchdrang den Salon des prunkvollen Anwesens. Der Ältere brummte und raufte sich genervt die schwarzen Haare, ohne sein hinterlistiges Gegenüber aus den Augen zu lassen.

„Wie ich gesagt habe. Tharr und Ghia werden verrecken und die Schlampe des Kaisers hat nicht vor, hierher nach Ghia zu kommen. Ich habe überlegt, ob ich kommen sollte, immerhin birgt es das Risiko, dass sie mich erwischen. Und was habe ich zu verlieren? Ich halte mich für sehr barmherzig, es doch getan zu haben.“ Im nächsten Moment zerschellte ein sinnloser Gegenstand neben seinem Kopf an der Wand, dann packte der Hausherr ihn voller Zorn und stieß ihn auch gegen die Wand, ihm mit seinen feindseligen, grünen Augen verbiestert ins Gesicht starrend.

„Barmherzig ist, dass ich dich räudigen Köter nicht längst gehäutet und für die verdammten Sklaven als Futter serviert habe!“, fuhr er ihn an, „Du bist an mich gebunden, du Narr, und im Tod wäre ich dir viel gefährlicher als lebendig, du weißt das genau. Du bist doch hier der Geisterjäger von uns, oder nicht?“

„Kein Grund zur Aufregung. Sei mir dankbar und lass mich los, du tust mir weh.“

„Das tue ich oft und es macht mir Spaß.“, schnarrte sein wenig jüngeres Gegenüber und die bildhübschen Züge des Mannes verzerrten sich in seinem wahnsinnigen Grinsen. „Und du warst wenig nützlich in den letzten Monden. Was habe ich dir aufgetragen, du Mehlwurm? Hast du sie gefunden, wenn du es schon nicht fertig bringst, endlich Puran zur Strecke zu bringen? Dann kann es doch nicht so schwer sein, ein kleines... ausgerissenes Lianermädchen zu finden!“

„Keine Ahnung, Lianer gibt es einige auf Tharr. Die Reservate sind sowieso Geschichte. Was schert dich ein dummes Mädchen?“

„Diese blöde Schlampe hat mich um meine Lieblingsnutte gebracht, das zahle ich ihr heim!“, entrüstete sich der Mann und fletschte wütend die spitzen Zähne, was den Älteren schaudern ließ. „Nur, weil Kaiya es für nötig gehalten hat, sich heldenhaft für ihre dämliche Tochter zu opfern... wenn ich sie erwische, diese Eneela, dann mache ich sie zu Hackfleisch!“ Dann verschwand der Zorn aus seinem Gesicht und er räusperte sich, ließ seinen Spion wieder los und rückte feierlich seinen eigenen Kragen zurecht. „Na ja, hast recht, das kann warten. Wenn wir jetzt alle auf Zuyya leben müssen, bringt das vielleicht Vorteile... es wird Chaos geben. Und dann sorge ich dafür... dass sie verrecken, die Geisterjäger, die meiner Macht im Weg stehen. Sehnt sich Puran nicht nach seiner schönen Mutter... die ich so liebevoll getötet habe? Er wird sich freuen, wieder mit ihr vereint zu werden. Oh ja, ich werde sie alle zu Grunde richten und es wird ihnen leidtun, dass sie nicht gekniet haben!“ Der Schwarzhaarige sah sein Gegenüber skeptisch an, und Scharan trat zurück und schnaubte. „Ja, wenn du brav bist, lasse ich dich am Leben, obwohl du auch einer bist. Aber du bist mir zu Gehorsam verpflichtet, du elende Schlange.“ Der Ältere murrte.

„Besten Dank für deine Gutherzigkeit, Meister.“ Der Sklavenkönig grinste und zeigte erneut seine dämonischen Zähne, ehe er die Brauen senkte.

„Sag mir, wie weit ist der Tag voran geschritten?“

„Bald Abend. Wir sollten heute Nacht noch aufbrechen, ich habe einen Privatflieger mitgebracht. Schnapp' dir die paar Lianer, die dir am besten gefallen, und ein paar Schakale, und dann sind wir weg.“ Der Mann schien kurz zu überlegen, dann hob er herrisch den Kopf und kam wieder näher, ehe er seinem Gegenüber einen eindeutigen Blick zuwarf, während seine Hände nach seinem Gürtel fassten.

„Na gut, dann haben wir ja noch Zeit für den Tee. Knie, du Arsch, jetzt gleich. Und wehe, du gibst dir keine Mühe.“ Und der Ältere seufzte, als er gehorsam vor ihm auf die Knie ging und zusah, wie er seine Hose öffnete. Er hatte es ja geahnt.

Das würden spannende Zeiten auf Zuyya werden, dachte er sich konfus, ehe er seinem ungeduldigen Herrn gab, was er verlangte.
 


 

Ende Buch Eins

___________________________
 

Es ist vollbracht, yayz! ^o^ Weiter geht es mit Buch zwei <3 Ich danke vor allem meinem Betababy -Izumi-, das mir mir Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Ihren liebevollen Kommentar unter dem Dokument möchte ich hier rin behalten, weil er mich rührt.
 

Danke für diese tolle Geschichte! Ich freue mich auf das nächste Buch und bleibe dein Beta-Baby! ♥
 

Danke, mein Kleines! ♥ Ähihi!



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Kommentare zu dieser Fanfic (83)
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Von:  Decken-Diebin
2012-02-10T21:31:39+00:00 10.02.2012 22:31
Uhhh, erste Andeutungen auf die viel zu große Ghia, das find ich doch mal gut, haha :D Ich mag diesen Teil irgendwie... also es ist natürlich schlecht für die Ghianer und Tharraner, aber ich mag die Idee an sich, die Welten so sterben zu lassen... Ausgefallen, finde ich^^
Ich fand das böse, dass Chenoa Thamila so verarscht sozusagen óo Ich meine, okay, sie überlebt... aber ob sie das glücklich macht, wenn ihr Volk dabei draufgeht o.O' Und warum überhaupt, sollen die überleben, nur weil sie momentane Königsfamilie sind? Ts, immer diese Hierarchie und so XD
Und zum Schluss hat Saidah gepost *_* Das find ich cool... irgendwie mag ich Saidah so langsam... aber ich habe gerade das Gefühl, dass ich durch mein Hin- und Hergelese sie gerade zu doll mit Yu verwechsele x__X XD Egal, Saidah ist auch so ne Poserfrau und daher toll, haha :D
Von:  Decken-Diebin
2012-02-03T14:40:51+00:00 03.02.2012 15:40
Hallelujah... Karana dreht gezwungenermaßen jetzt völlig durch, oder was? XD Ich hab mich wieder ein wenig reingefunden, wuhu...
Aber es ist so antiherz zwischen Karana und Iana, das gefällt mir nicht ._. Die sollen sich lieb haben, wie ich es gewohnt bin... sonst doof, weil antiherz xD
Als ich die Stelle gelesen hab, dass die das Fleisch ihrer gefallenen Krieger essen und ihr Blut trinken, saß ich echt nur da: bäh... bäh... bäääh... bähbähbääääh! Sowas fällt auch nur Linni ein xDD
So, mal schauen und hoffen, dass die beiden sich wieder herzen :D <3
Von:  Kimiko93
2011-06-27T20:41:31+00:00 27.06.2011 22:41
"Berschützer der verlorenen Schäfchen"? Oh mein Gott, Simu ist MUSHUU!

Ähem. Und von psychotischen Weibern umringt, genau. Ich verabscheue das Wort Weiber zwar, aber ich benutze es in diesem Kontext mal, ja.

Okay, anscheinend muss ich erstmal einen Namen schreien... Ähm...

ASTAAAAAA!!!!!!

Yaaaay! Backstory für sie! Ich mochte, wie du ihre Aussehen beschrieben hast. Na ja, und dass ihr Charakter dem aus dem Fm noch am Ähnlichsten ist ôô ich mag sie <3

Und Simu natürlich auch. Er kann einem echt Leid tun. Und er ist Mushuu! *___*

Und Eneela... Aye... Dramatische Hintergrundgeschichte, aaaaha. Keine rndom-Familie mehr, die sie total lieb gehabt hat, wie es scheint, tihi. Und haben Lianer auch diese komischen Instinkte wie Schamanen oder Zuyyaner? Ich meine, sie scheint ja zumindest apokalyptische Träume zu haben, die dem sehr Nahe kommen ôo

Oh, und ich liebe, liebe, liebe Asta und Eneela zusammen <3
"Aaaah, ein Geistermädchen, bitte tu mir nichts, hülfeee! ;____;"
"Aaaah, jemand aus Kamien, bitte tu mir nichts, hülfeeee! ;____;"
Zu geil XD
Von:  Kimiko93
2011-06-26T21:15:53+00:00 26.06.2011 23:15
Nach all den voll intellektuellen Kommetaren heute fasse ich mich mal kurz:


*_____________________________________________________________________*
Von:  Kimiko93
2011-06-26T18:37:56+00:00 26.06.2011 20:37
Okay, irgendwie ist das alles komisch. Ich meine, lernen Schamanen nicht die Himmelsrichtung an der Sonne abzulesen? Oder an den Sternen? Ich meine, okay, vielleicht verlassen sie sich da zu sehr auf ihre Instinkte, aber... Und was ist mit normalen Menschen? Können die sowas nicht? Wäre es in seiner begrenzten Lebensspanne nicht sinnvoll gewesen, wenn Ianas Vater ihr sowas beigebracht hätte? Hm?

PLOTHOLE!

Egal. Irgendwie musste man sie ja in die Gegend bringen, in der Karana Menschen essen kann. Ähem.

Der war in diesem Kapitel auch ansatzweise sympathisch. Ich mocht ihn, vor Allem wenn er gerade seine Tabari-Seite raushängen lässt. Me gusta.

Und wenn wir gerade dabei sind; Kadhúrem, anyone? Mir sind da so ein paar Fragen zu gekommen; und zwar, hat Kadhúrem auch so eine Entstehungsgeschichte wie die Hellebarde und das Katana? Ist es älter oder jünger? Stehen die irgendwie in Verbindung?

(Verbindung wäre cool. Und in Einstimmung mit der Prophezeihung; "Vom Wind getragene Feder im Schatten", und so. Wind und Feder haben poserige Waffen mit Geschichten. Nicht den Schatten dissen!)

Die Beziehung der beiden ist auch nett. Mag ich. Vor Allem, wie sie in anfaucht und er sie verarscht. Yay.

Oh, ja, das Yay für diese Kapitel. Das geht an Aar, der braucht auch dringend mehr Liebe. Vor Allem von Wachmännern. Yay!
Von:  Kimiko93
2011-06-26T15:09:17+00:00 26.06.2011 17:09
O_____________O

Simu hat Loron geowned! Aber sowas von! Er hat ihm das Nasenbein gebrochen, ey, und nen Zahn ausgeschlagen! Omfg ö.ö


Ist ansonsten irgendwas passiert? Glaub nicht ôo' also, die Vergewaltigung, die natürlich nicht adult war, und Loron, der alles auf Zorchen schiebt. Und Karana. Möp.

Der soll mein Zorchen nicht defamieren ;_____;


Egal. Mein Yay geht an Simu, hands down. Yay!
Von:  Kimiko93
2011-06-26T14:16:05+00:00 26.06.2011 16:16
„Zerfetze den Mistkerl, reiß ihn in Stücke, wer immer du bist! Spieße ihn verdammt noch mal an seinem Schwanz auf und lasse ihn im Wind austrocknen wie ein Bettlaken!“
Aber bitte erst, nachdem der Blitz/Wind/Whatever ihm die Eier abgeschnitten hat, ja? ö.ö

Boah, ey. Da achte ich Ryanne kann an abgefahrenheit keiner mehr toppen, und dann... Kommt Betrunken!Neisa daher und stielt ihr komplett die Show |D

Hm... Ansonsten, ja, Simu ist tollig. Aber bisher keine Liebe für Tayson? Der war auch cool ö.ö hat der eigentlich irgendwann was mit Ryanne? Ich meine, ja, er kommt bestimmt mit Asta zusammen (Restefressen, einself!), aber so davor... Hm...

Arme Leyya óo aber na ja, Tayson und Ryanne kümmern sich ja jetzt um sie... Äh, nicht XD

Hm... Dann müsste die Sache mit Eneela auch bald kommen, oder? Jui ö.ö

Oh, und ich hab ja noch ein Yay zu vergeben, äh... Ein Yay für Tayson, der braucht mehr Liebe! Yay!
Von:  Kimiko93
2011-06-26T13:29:24+00:00 26.06.2011 15:29
Boah, is Karana hetzt tot? Haben die Vögel ihn aufgegessen? ö,ö

Ähem, ja. Wie schon gesagt, mir als Zorchen würde es... Äh, demnächst dann mal, so in Kapitel 20, tierisch auf den Geist gehen, dass ihm ALLE sagen, dass sie was wichtiges über ihn wissen, was ihm sehr weiterhelfen könnte, aber KEINER mit der Sprache rausrückt.

Aber bsiehr war ja Sagal der erste, glaub ich ôo Der Arschsack. Ich mag ihn einfach nicht. Keine Ahnung wieso. Bäääh.
Könnte daran liegen, dass er früher nicht da war, genauso wie Niarih, und er dementsprechend die groben Ereignisse nicht beeinflussen kann, oder nicht ausschlaggebend. Und bisher war ja auch alls, was wir von seinem Netzwerk mitgekriegt haben, entweder, dass er komische Dinge weiß, die er beim dramatischen Posen NICHT preisgibt, oder dass das Netzwerk von Vögeln zerhackt wird. Huh. Not buying it.

Und über Rams Abwesenheit wundere ich mich auch die ganze Zeit. Ist der irgendwann nochmal woanders als in Zorchens Monologen? Ansonsten ist seine Arschigkeit ja ungefähr genauso impliziert wie die Geilheit des Netzwekes... Ah, ich hab's. Show don't tell, das fehlt mir hier ein wenig.
Und nein, dramatisches Posen und dabei wichtige Namen fallen lassen zählt nicht.

Und letztendlich geht das Yay dann wohl an die Geister, die Karanalein dissen. Yay!
Von:  Kimiko93
2011-06-25T20:45:43+00:00 25.06.2011 22:45
Möööp!

Du hättest mir diese Kapitelnummern nicht geben sollen... Ähem. Ja.

Also, ich herze die beiden immer noch. Und ich finde nicht, dass du es zu früh klar machst, dass sie zusammen gehören, im Gegenteil. Im alten Fm wirkte es ja so, dass Neisa und Zorchen zwar als Kinder mal befreundet waren, oder sowas, aber dass sie letztendlich nur mit ihm zusammen war, weil er besser im Bett war. Äh, nicht so krass, aber da war eben dieses rein körperliche so... Dominant. Genau. Und das mit Tayson mehr so... Oh, da war ja was.

So gesehen lässt diese Version Neisa bisher positiver darstehen; sie denkt ja auch gerade an Tayson, und zwar als sichere Alternative, oder so. Das macht sie auch wieder sympathischer, denn hey, sie hat ja Recht. In meiner Lieblings-Avatar-FF gab's da mal eine tolle Analogie zu; es bit Jungen wie Schokolade und Jungen wie Brokkoli. Brokkoli ist gesund und gut für dich, Schokolade nicht. Und ich glaub das kann man irgendwie auf diese Situation anwenden XD


Öhm... Ach ja, Zorchen, genau. Und sein Vogel (Flachwitz!), dessen wichtigste Funktion ja zu sein scheint, Zorchen den Plot vorzuenthalten. So Yoda-Dumbledore-Chenoa-mäßig. Wobei ich es sehr geil fand, wie Zorchen zu seiner Hellebarde eine Beziehung aufbauen möchte. ("Hey, du hast mir gar nicht gesagt, dass du Gefühle hast. Willst du vielleicht auch ein Stück Fleisch?")

Dementsprechend geht mein Yay an die Hellebarde. Die auch Gefühle hat. Und die man NICHT als Jagdspeer missbrauchen sollte, armes Ding. Yay!
Von:  Kimiko93
2011-06-24T22:50:20+00:00 25.06.2011 00:50
GAAAAAAH!

Kinners, ich liebe euch. Ich herze dieses Kapitel. Ich herze Zoras Vogel (Flachwitz!). Ich herze Simus Penis. Irgendwie. Äh, arme Eneela. Ich leide mit ihr. Mehr, als ich dachte. Hust.

(Und da war ein typischer "Und warum reden wir gerade über Simus Penis?"-Moment... Hab ich mit ner Freundin ständig...)

So. Ich glaub, ich les dann mal hier weiter... Oder so... Vielleicht... Ach, keine Ahnung.

Ich herze Neisa. Neisa ist toll. Und biestig. Und... Fierce. Denglish ftw. Und ich HERZE, HERZE, HERZE Realistisch!Zorchen. Ganz ehrlich. Boooah. Du hast einen weiten Weg hinter dir seit diesem unsäglichen One Shot ö.ö

Und... Gaaaah! Die Spannung! Diese Tension! Diese UST! HAAAAACH *__________*

Und omfg, Neisa zeigt jetzt schon ihre versaute Seite, yaaay! Das mochte ich ja an ihr, dass sie es nicht so PuritySue-mäßig über sich ergehen lässt sondern alles will und anfängt <3 muhahahaha. Und das sogar ohne dabei aufgeschlitzt zu werden. Du hast abermals einen langen Weg zurückgelegt.

Und zum Schluss noch ein Yay für den allwissenden Vogel, der MEINE IDEE erwähnt! Yay!


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