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Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten

Erstes Buch
von

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Flucht

Das Dorf war verlassen. Es war eigentlich kein Wunder, im frühesten Morgengrauen war selten viel Betrieb in Holia. Die grauen Schleier von herbstlichem Nebel legten sich über das geschundene Land, über die karge Wüste, als die man diesen Ort bestenfalls noch bezeichnen konnte. Asta Zinca trauerte nicht um das Dorf, in dem sie geboren war und sechzehn Sommer lang gelebt hatte. Es war keine Heimat gewesen, sondern ein Gefängnis, dessen Wasser und Brot aus den Schlägen und Misshandlungen ihres gestörten Vaters und genauso geisteskranken Bruders bestanden hatten. Das alles war jetzt vorbei... sie würde von hier verschwinden und niemals zurückkehren. Wenn Arlon und Loron geglaubt hatten, sie würde brav das Haus hüten, während sie in ihren hirnverbrannten Krieg zogen, der nicht mehr als ein alberner Aufstand war und ohnehin nichts bringen würde, hatten sie sich geschnitten. Es gab nur ein einziges Problem:

Wo sollte sie hin?

Sie hatte weder Verwandte – abgesehen von den beiden Gestörten, bei denen sie gezwungenermaßen lebte – noch Freunde. Es gab niemanden auf der Welt, der sich darum scherte, was aus dem jungen Mädchen wurde. Fest stand nur, dass sie schnell weg musste – bevor die Barbaren zurückkehrten. Solange das Dorf halb leer war und nur von Frauen, Kindern, Greisen und sehr wenigen Männern zum Schutz bewohnt war, hatte sie eine Chance; es war vielleicht die einzige, die sie jemals bekommen würde. Egal, wo sie landen würde, alles war besser als Holia. Alles, selbst die Arbeit einer noch so niederen Dienerin war besser als Tag für Tag von denselben Händen derselben lüsternen Böcke befummelt zu werden, verletzt zu werden, ausgenutzt zu werden. Alles war besser als mit Arlon und Loron zusammen zu wohnen.

Ihre Mutter war gestorben, als sie ihr das Leben geschenkt hatte. Asta wünschte seit sie denken konnte jeden Tag einmal, sie hätte damals dasselbe Schicksal ereilt und sie wäre als Säugling mit der Mutter gestorben... es wäre würdiger gewesen.

Würde... etwas, was man in Holia fast nirgendwo kannte. Und es war auch besser so, denn als Frau hatte man keine Würde zu haben, sondern nur ein schönes, enges Loch zwischen den Beinen, in das jeder noch so abartige Schwanz passte. Das Mädchen schüttelte sich vor Gram bei dem Gedanken, während es hastig in der schäbigen Hütte den gammligen Proviant zusammen suchte, den sie finden konnte. Sie musste weg... es gab zwei Möglichkeiten. Entweder sie fand etwas, wo sie bleiben und würdevoller leben konnte, oder sie starb auf dem Weg. Falls etwas anderes einträfe, würde sie sich mutig selbst erdolchen, beschloss sie tapfer und dabei fiel ihr ein, dass sie keinen Dolch besaß. Nicht mal ein Knochenmesser... sie besaß gar nichts.

Zitternd kam sie auf die Beine und lugte aus der Tür in das verlassene, graue Dorf. Sie musste sich beeilen. Ein Messer brauchte sie in der Tat... sie würde sich nach einem scharfkantigen Stein umsehen müssen. Das einzige, was diese Gegend zu bieten hatte, waren scharfkantige Steine. Asta schnappte den Sack mit dem Proviant, der kaum etwas wog, und verließ das Haus. Sie hatte sich einen verschimmelten Mantel übergeworfen, um nicht von weitem schon an ihren langen, blonden Haaren zu erkennen zu sein; woher der kam, wusste sie gar nicht. Sie wusste manches nicht... zum Beispiel, wie ihr dämlicher Vater, der mit seinem Penis zu denken schien, es geschafft hatte, zwei Kinder großzuziehen. Es war ihr ein Rätsel, warum sie sprechen und gehen konnte, denn Arlon hatte es einen Dreck interessiert, was mit ihr gewesen war. Er hatte es ihr gewiss nicht beigebracht. Sie musste demzufolge eigentlich unsagbar klug sein, weil sie es trotzdem konnte, dachte sie... aber irgendwie hatten die sechs Jahr ein der Schule von Mitonha sie nicht sonderlich klug aussehen lassen.

Als Kind hatte sie naiv geglaubt, eines Tages würde schon ein schöner Mann kommen und sie heiraten wollen, sie wegholen von ihrem barbarischen Vater und ihrem Bruder. Eines Tages wäre es soweit, sie hatte jeden Morgen nach dem Aufstehen daran geglaubt und so gehofft... und nie war jemand gekommen. Wenn Männer gekommen waren, sobald sie älter geworden war, dann nicht, um sie liebevoll zu heiraten. Sie war keine begehrenswerte, schöne Frau, sie reichte eben nur für die Bedürfnisse von Barbaren. Sie war dürr, hässlich, hatte keinen schönen Busen und erst recht keinen schönen, runden Po. Sie war eine Bohne; vermutlich auch eher eine verkümmerte Missgeburtenbohne. Ihre Hände waren schwielig vom Arbeiten und ihr Rücken war krumm, ihre Beine verbeult vom Knien auf trockener Erde bei dem sinnlosen Versuch, Gemüse anzupflanzen. Was an ihr wäre in irgendeiner Weise begehrenswert gewesen?

Asta verdrängte die deprimierenden Gedanken – dass sie hässlich war, war jetzt egal. Sie musste hier raus. Hastig eilte sie an den Hütten vorbei, darauf bedacht, keinen Laut zu machen, während sie barfuß durch das Dorf tapste. Ihre Füße waren etwas kalt... so etwas wie Schuhe konnte sie sich nicht leisten. Welche selbst zu nähen hatte sie versucht, sie waren immer schnell kaputt gegangen, da hatte sie es aufgegeben und inzwischen waren ihre Füße abgehärtet.

Bitte, Geister der Mutter Erde... ihr spürt die Füße dieser Frau. Bitte helft mir, hier weg zu kommen, ich werde euch mein Leben lang danken.

Die Geister schienen sie nicht verstanden zu haben. Als sie das Dorf gerade verlassen hatte und einfach blind quer feldein durch die Wiesen rannte, kam ihr ein Mann entgegen. Es war zu spät, um sich zu verstecken, er hatte sie bereits gesehen, ehe sie es richtig registriert hatte, und panisch taumelte die junge Frau zur Seite und krallte sich dabei an ihren Beutel.

„Mutter Erde... du hast mir nicht zugehört!“, jammerte sie und wollte vor Verzweiflung schreien, als der Mann aus dem nebligen Schatten vor ihr auftauchte und sie ihn plötzlich erkannte.

„Mutter Erde ist nervös. Sie hat ihre Ohren gerade wo anders und nicht bei einem mittellosen Bauernmädchen aus Holia. Es geschehen schlimmere Dinge.“ So sprach Ram Derran, der Jäger, während er sie verblüfft musterte und offenbar nicht vorhatte, sie aufzuhalten. Asta entspannte sich ein wenig; er war vermutlich der einzige Mann, der nicht darauf aus war, sie zu vergewaltigen. Abgesehen von seinem Sohn Zoras, musste sie addieren, der schien da erfreulicherweise nach seinem Vater zu schlagen. Der schwarzhaarige Zauberer musterte sie noch immer und seine grünen Schlitzaugen, die so fremdländisch wirkten, ruhten auf ihrem Proviantbeutel. „Nanu? Wohin des Weges um diese Tageszeit, Asta?“ Sie keuchte und trat von einem Fuß auf den anderen, seinem bohrenden Blick ausweichend. Es hieß, Ram Derran wäre ein grottenschlechter Magier; sie hatte nicht zu befürchten, dass er sie plötzlich grillen oder ersäufen könnte mit nur einer Handbewegung. Dennoch hatte sie das Gefühl, seine Augen würden ihr die Seele aussaugen, wenn sie ihn zu lange anstarrte. Eine fürchterliche Eigenart, die auch nur Schamanen beherrschten. Alle Magier, die sie je gekannt hatte, und das waren nicht viele, konnten so schauen. Nur war die Wirkung bei den einen mehr furchteinflößend und bei anderen mehr betörend... und es gab fast nichts auf der Welt, das Asta Zinca betörend fand bei dem, was sie erlebt hatte.

Zoras' Vater gehörte da mehr zu der furchteinflößenden Sorte. Sie warf einen Blick auf seinen sorgfältig gefertigten Jagdspeer, den er trug, und seine Kleider, die so viel schöner und sauberer waren als ihre; seine Frau konnte wahnsinnig geschickt nähen. Asta hatte Pakuna immer darum beneidet... wenn die schöne Frau des Jägers bei Zincas im Haus gewesen war – was oft vorgekommen war – hatte sie mitunter zusammen mit Arlons Tochter genäht und versucht, ihr etwas beizubringen. Alles sagten, die einzigen Schamanen in Holia wären gruselig und gefährlich... für Asta waren Derrans die einzigen Menschen in ganz Kamien, mit denen sie sprechen konnte. Sie musste nicht lügen... der Jäger würde sie nicht zurück ins Dorf bringen.

„Ich fliehe aus Kamien.“

Ram Derran schenkte ihr einen kurzen Blick.

„Tust du das?“, brummte er, „Dann will ich dich nicht aufhalten. Ich werde niemandem sagen, dass ich dich getroffen habe... die wenigsten würde es interessieren.“ Asta wollte schon Worte des Dankes erwidern, da richtete er plötzlich seinen Speer auf ihre Kehle und sah sie finster an. „Andererseits haben Arlon und Loron dann keinen Grund mehr, nicht meine Frau zu nehmen, wenn sie gerade Lust darauf haben, jemanden zu vögeln... für mich wäre es unvorteilhaft, dich gehen zu lassen.“

„Meinst du das ernst?“, keuchte sie und erbleichte, „Ich... habe dir nie etwas getan!“

„Nein, aber Pakuna deinem Vater auch nicht, oder?“

„Warum fliehst du nicht auch?“

„Soll ich wegrennen, während meine Frau in den Fängen deines bescheuerten Vaters ist?“ Asta zitterte, den Blick gesenkt.

„Ich meine... ihr wohnt seit acht Sommern hier. Wieso... seid ihr überhaupt noch in Holia?“ Sie merkte, dass er kurz zuckte, wagte aber nicht, ihn anzusehen. Nach einer Weile sprach er und zischte dabei.

„Sag mir, wohin sollen wir in dieser Scheißprovinz? Ich glaube nicht, dass wir hier raus kämen, ohne uns mit irgendwelchen Horden anlegen zu müssen. Und ich bin kein Kämpfer. Ich bin Jäger, aber wenn ich einmal gejagt werde, bin ich geliefert.“

„Und Zoras?“, wagte sie zu widersprechen, „Zoras ruft die Geisterwinde... ich habe es gesehen. Er kann sie beherrschen und den Mächten der Schöpfung befehlen, ihm zu gehorchen...“ Sie hatte erwartet, dass darauf eine unschöne Reaktion käme, so war sie wenig überrascht, als er mit dem Speer nach ihr schlug und abermals zischte.

Zoras!“, spie er ihr den Namen seines einzigen Kindes vor die Füße, „Zoras ist verblendet! Er hat keine Ahnung von dem, was er tut, er tut es einfach so. Der kann mir nicht helfen.“ Asta sagte nichts und war dennoch erleichtert, als der Mann seinen Speer senkte und sie schauderte. „Jetzt lauf endlich.“, knurrte er, „Bevor ich es mir doch anders überlege. Aber erwarte nicht, dass du weit kommst... dieses Land ist der Tod, Asta.“ Er ging an ihr vorbei in Richtung Dorf, und die junge Frau fuhr herum und rief ihm nach:

„Warte bitte! - Kann... ich mir kurz deinen Speer leihen?“ Sie erntete einen ungläubigen Blick.

„Was willst du mit einem Speer?“, fragte er, gab ihn ihr aber ohne weiteren Widerstand, als sie zu ihm zurück kehrte und die Waffe mit fester Hand ergriff. Ohne ihm zu Antworten hob sie sie hinter ihren Nacken und ergriff mit der freien Hand ihre langen Haare, um sie festzuhalten. Ein kurzes Ratschen und schon hatte die scharfe Klinge der Speerspitze ihre Haare abgetrennt. Ram Derran sah sie noch immer verblüfft an, als sie die Haare aus ihrer Hand fallen ließ und ihm seinen Speer zurückgab.

„Ich danke dir.“, wisperte sie damit und verneigte sich vornehm, „Jetzt... mit anderer Frisur ist es leichter, unterzutauchen. Lebe wohl... ich wünsche dir und deiner Familie alles Gute. Ich bete, dass die Geister gnädig sind...“ Als sie sich abwandte, hörte sie ihn ihr nach brummen:

Ich bete, dass sie deinen Vater endlich mal erschlagen.“
 

Asta kam nicht oft aus dem Dorf; eigentlich so gut wie nie, meistens musste sie für ihren Vater und ihren Bruder die Hausarbeit erledigen; oder sich auf sonst eine unwürdige Weise zur Verfügung stellen, wenn es gerade nichts zu arbeiten gab. Die junge Frau schauderte ergrimmt bei den Gedanken – das war jetzt vorbei! Sie würde Arlon und Loron und alle anderen, perversen Spinner nie wieder sehen! Sie würde ein für eine Frau würdiges Leben führen, irgendwo weit weg von ihrem Geburtsort, der nur Schande und schlechte Erinnerungen in ihr zurückgelassen hatte. Sie würde sich irgendwo Arbeit suchen und vielleicht würde eines Tages ein Mann kommen, der sie zur Frau nehmen wollte. Eines Tages... das war vermutlich noch fern. Wenn es diesen Tag überhaupt geben würde.

Die junge Frau strich sich bekümmert durch die jetzt kurzen, blonden Haare. Sie redete sich immer ein, den Wunsch aufgegeben zu haben, wie jedes normale junge Mädchen einmal einen guten Mann heiraten zu können... sie redete sich immer ein, sie würde ohnehin keinen abkriegen, weil sie hässlich und dumm war. Weil die Männer in Holia ihr beigebracht hatten, sie wäre nichts wert... und ihr einziger Lebenszweck wäre es, die Frauenarbeit zu verrichten und die Beine breit zu machen, wenn es von ihr verlangt wurde. Sie fragte sich, ob es irgendwo einen Mann gab, der anders dachte.

In der Schulzeit in Mitonha war sie nicht sonderlich beliebt gewesen; dafür hatte ihr herrischer Bruder gesorgt. Sie hatte auch nie Möglichkeiten gehabt, sich wie die anderen Mädchen hübsch zu machen, ihre Haare schön zu flechten oder zu schmücken oder sich gar zu schminken; all das gab es doch in Holia gar nicht. Oder in irgendeinem anderen Ort in Kamien... in Kamien gab es nur Staub, unfruchtbare Erde und perverse Männer.

Sie sollte nach Kisara gehen... das Nachbarland war dicht und dort sollte es besser sein. Das war der Grund, weshalb die Männer hinaus gezogen waren... wenn Asta sich klug anstellte, lief sie ihnen jetzt nicht in die Arme, sondern schaffte es, sie hinterrücks zu umgehen und sich an ihnen vorbei nach Thalurien zu schleichen. Das wäre eine gute Sache. Sie musste ja nicht so dicht an der Grenze bleiben, dass sie Gefahr lief, doch von den Männern entdeckt zu werden... außerdem hatte sie dafür gesorgt, dass man sie nicht aus der Ferne erkennen würde. Die junge Frau ließ ihre Hand in den Lederbeutel gleiten, den sie mit sich trug, und förderte das kleine Fläschchen zu Tage, das sie aus dem Dorf Tumhin hatte; mit der Tinktur, die es enthielt, sollte sie angeblich ihre Haare färben können, so hatte man ihr gesagt. Niemand wusste, wie lange das tatsächlich hielt oder ob der Regen es hinaus waschen würde, aber es war einen Versuch wert. Blonde Haare waren nicht so häufig in Kamien... es wäre sinnvoll, wenn ihre Haare eine andere Farbe bekämen. Mit einem resignierten Seufzen öffnete sie die kleine Flasche und kippte sich die Tinktur über den Kopf, ohne noch einmal nachzudenken.

Eines Tages würde die Welt schön sein und sie anlächeln... eines Tages würde sie einen liebevollen Ehemann und niedliche Kinder haben, und das weit, weit weg von Holia und ihrem scheußlichen Vater, dem sie die Pest an den Hals wünschte, ebenso wie ihrem erbärmlichen Bruder Loron.
 

Ihre Haare waren rosa. Asta wusste nicht recht, ob sie darüber lachen oder weinen sollte, als sie einen halben Tag später einen kleinen Bach erreichte, in dem sie ihr Gesicht wusch und Wasser trank, in dessen Oberfläche sie sich spiegelte und ihre neue Frisur zum ersten Mal betrachtete. Jedenfalls war sie nicht mehr blond... aber wurde auf rosa Haare nicht noch eher jemand aufmerksam? Rosa! Sie sah aus wie eine Zuyyanerin... es hieß, die Bewohner der Zuyya hätten allesamt eigenartige, unnatürliche Haar- und Augenfarben. Asta fürchtete sich vor den Zuyyanern... es hieß, sie wären fürchterliche, gnadenlose Schlächter, die kein Herz hatten. Einst hatte Krieg geherrscht zwischen Tharr und dem blauen Mond Zuyya... zum Glück hatte Asta als Kind die letzten Jahre des Krieges so gut wie verpasst und jetzt war er seit sechs Sommern vorüber. Aber nach dem, was sie erzählt bekommen hatte, musste es furchtbar gewesen sein in den Jahren vor ihrer Geburt... und Karanas Vater war es gewesen, der den alten Kaiser des zuyyanischen Imperiums erschlagen hatte.

Sie hatte den Mann nie persönlich getroffen, aber was er getan hatte war definitiv ein Teil der modernen Geschichte geworden; in der Schule hatte sie es schon gelehrt bekommen, und sie war fasziniert von Karana gewesen, dem Sohn eines Mannes, der in die Geschichte eingegangen war... sie dachte jetzt mit einem leisen Seufzen an den jungen Mann, den sie schon ziemlich lange nicht mehr gesehen hatte und der mit ihrem Bruder in eine Schulklasse gegangen war. Karana war immer schon bildhübsch gewesen, er war klug und talentiert, er hatte ein Händchen für die Mädchen gehabt, die schon früh begonnen hatten, ihm verträumt nachzusehen... die junge Frau aus Holia errötete bei dem Gedanken, dass sie ihm auch immer gern nachgesehen hatte. Auch, wenn Karana Lyra sie niemals eines Blickes gewürdigt und Loron und selbst Zoras ihr wieder und wieder eingeredet hatten, was für ein Dämon Karana doch wäre, sie hatte ihn immer still für sich bewundert und toll gefunden. Vermutlich war sie die letzte Frau, die er jemals ansehen würde... es hieß ja, er sah eine große Menge an Frauen an, dauernd, sei es in der Kneipe von Thuran, wo er arbeitete, oder in einem der anderen Dörfer. Viele davon waren Mädchen, die ihm schon in der Schule kichernd nachgesehen hatten; Asta hatte er noch nie eines Blickes gewürdigt.

Sie klatschte sich empört gegen die erröteten Wangen.

„Ah, hör mit dem Unsinn auf!“, schalt sie sich, „Das bringt dich nicht voran, Asta! Los, lauf, hinaus aus diesem Scheißland!“
 

Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie eigentlich lief. Sie lief durch Wald und Flur, schreckhaft wie ein Reh, weil sie mit jedem Knacken im Gestrüpp etwas Fürchterliches erwartete, das sie aufschlitzen könnte... eine Raubkatze oder das seltsame Heer aus Kamien, das sie wieder einfing und zurück an den Ort des Grauens schleppte. Die Nächte schlief sie kaum aus Furcht, im Schlaf gefressen werden zu können... bald waren ihre Vorräte alle und sie musste nach Wurzeln graben und Beeren von Büschen sammeln wie ein Wildschwein. Asta kannte sich mit Beeren nicht richtig aus... sie musste gerade gesegnet sein von den Geistern, dass sie bisher nie giftige erwischt hatte. Sie musste die Grenze nach Kisara längst überschritten haben, denn hier gab es immerhin Beeren und Wurzeln. In Kamien gab es nur Staub...

Sie war schon einige Tage unterwegs, als sie das nächste Mal ein Dorf erreichte... oder das, was davon übrig war, und mit Entsetzen bemerkte sie, dass sie genau in die Richtung gelaufen sein musste, in die auch die Armee verschwunden war. Das hier war Thalurien... und irgendein Dorf qualmte vor ihren Augen vor sich hin, niedergebrannt von den Männern, die Asta so sehr verabscheute. Sie schauderte, das Szenario von weitem betrachtend, und Panik ergriff sie. War ihr Vater irgendwo? Oder Loron? Sie musste schleunigst weg von hier... zu sehen war keiner der Männer. Das hatte aber nichts zu heißen, vielleicht lauerten sie im Gestrüpp... Asta keuchte bestürzt und ergriff blind die Flucht. Irgendwo hin, weg von diesem Ort des Todes. Sie würde niemandem helfen können, selbst, wenn noch jemand lebte. Sie konnte nicht heilen und auch nicht verarzten, sie war nur eine Frau... eine gedemütigte, panische Frau, die um jeden Preis ein besseres Leben führen wollte als bisher, und das ließ sich schlecht machen, wenn sie wieder auf Arlon und die anderen stieß...

Der Morgen graute. Sie war früh aufgestanden und hatte ihren Weg fortgesetzt, jetzt, da sie so wild kopflos nach irgendwo flüchtete, spürte sie plötzlich mit allen Gliedern die Müdigkeit der vergangenen Tage. Wie viel hatte sie geschlafen? Zu wenig... und zu wenig gegessen hatte sie auch, stellte sie fest, als sich ihr Magen protestierend zusammenzog, während sie heftig atmend rannte. Den Hügel hinunter, ins nächste Gestrüpp, wobei sie ein paar Kaninchen aufscheuchte, die genauso panisch flohen wie sie. Wie lange sie gerannt war, wusste sie nicht mehr, als sie über eine Erhebung im Boden stolperte und schreiend zu Boden stürzte. Japsend kam sie auf die Knie und sah sich hektisch um – oh nein, hatte sie jetzt jemand gehört? Sie vernahm Schritte... irgendwo ging jemand. Rasch. Irgendwo plätscherte ein kleiner Bach... erst als sie ihre Hände hob und aufstand, bemerkte sie, dass ihre Finger und Knie nass waren vom feuchten Boden.

„Hallo?“, hörte sie aus der Ferne, „Ist jemand hier?“ Asta keuchte und ließ sich ins Gras fallen, um sich auf der Stelle tot zu stellen. Oh nein... jemand hatte sie bemerkt. Es war ein Mann, der Stimme nach zu urteilen, und ihr wurde kalt, als sie daran dachte, dass die Männer aus Kamien sie jetzt finden würden.

Ihre Flucht war kurz gewesen... die Gedanken an die Ausweglosigkeit, in der sie steckte, ließen sie beinahe weinen.

Als sie die Stimme, die zuvor gerufen hatte, plötzlich unmittelbar hinter sich vernahm, wäre sie vor Schreck beinahe gestorben.

„Lieber Himmel, bist du verletzt, Frau? Hast du gerade geschrien?“ Asta fuhr keuchend herum, alle Hoffnung auf Überleben aufgebend, bis sie das Gesicht ihres Gegenübers plötzlich erkannte; ein Gesicht, mit dem sie hier und jetzt garantiert nicht gerechnet hatte.

„Moment... Simu?!“
 

Simu musterte die Frau mit den merkwürdigen Haaren perplex und war erstaunt darüber, dass sie seinen Namen kannte. Sie rappelte sich plötzlich auf und schien vor Erleichterung über seinen Anblick weinen zu wollen, dann raufte sie sich die Haare und begann ohne Punkt und Komma zu reden.

„Ach, du lieber Himmel, du bist das! Das... das hätte ich nie gedacht! Ich habe geglaubt, die Männer aus Kamien kämen und würden mich zurück schleifen... ich habe dich ja ewig nicht gesehen, du hast dich gar nicht verändert... b-bin ich froh, ich werde leben!“ Simu runzelte konfus über den Redeschwall die Stirn.

„Ähm... kennen wir uns?“

Die Frau japste.

„A-Asta! Asta Zinca, wir waren auf derselben Schule... ich... bin die kleine Schwester von Loron...“ Ah – er erinnerte sich, da war ja mal jemand gewesen. Asta... er hatte sie ganz anders in Erinnerung. Jedenfalls nicht mit rosa Haaren... die Schwester von Loron. Simu brummte, als sie den Namen des Scheusals erwähnte. Dieser Bastard... er würde ihm die Haut abziehen für das, was er Eneela angetan hatte. Apropos... er sollte zurück zu der Lianerin, ehe sie aufwachte.

„Ach so... ich erinnere mich. Was... hast du hier zu suchen?“, fragte er so nur und sie putzte sich das Gras von ihren lumpigen Kleidern.

„Ich laufe weg!“, jammerte sie, „Weg aus Holia... da ist das Leben nicht schön für eine Frau.“ Das konnte er sich vorstellen... er seufzte leise.

„Das kann ich verstehen. Vergib mir, wenn ich dich erschreckt habe. Ich hörte jemanden schreien. Bist du verwundet?“

„Was? N-nein... ich bin nur gestolpert, halb so wild. Wieso... rennst du denn hier in der Pampa umher?“

„Ich bin auf dem Weg nach Yiara zu meiner Tante... oder so. Eigentlich suche ich meine Schwester... und versuche dabei eine Bekannte wieder zum Leben zu erwecken, die seit gestern Nacht ohnmächtig herum liegt... woran übrigens dein Bruder Schuld ist. Ich fürchte, ich muss deshalb jetzt auch wieder gehen... wenn du unverletzt bist, verschwinde rasch. Die Horde ist nach Nordwesten gezogen, vielleicht wollen sie nach Taiduhr. Ich hoffe ja, dass mein Vater ihnen da die Eingeweide herausreißen wird und dem ein Ende bereitet, der ist garantiert fuchsteufelswild.“ Es war in der Tat unwahrscheinlich, dass Puran so etwas täte... Puran tötete keinen Menschen. Aber vielleicht würde Sagal es tun, der war doch garantiert noch am Leben... wenn in Lorana je ein Überlebenskünstler gewohnt hatte, dann war es der alte Krüppel mit dem Stock. Simus Arbeitgeber gewissermaßen... er empfand tiefen Respekt vor diesem Mann, der trotz seines lahmen Beins so viel Macht inne hatte. Er hoffte sehr, dass er noch lebte.

„W-was?“, stammelte die Frau mit den kurzen Haaren neben ihm und sah ihn aufgelöst an, „W-was... was ist denn geschehen? Wieso suchst du denn Neisa?“

„Nun... gestern Nacht hat Lorana gebrannt.“ Er zeigte nach Südwesten. „Vielleicht hast du die Rauchschwaden gesehen... mein Heimatdorf ist kaputt, meine Schwester habe ich im Inferno verloren... aus irgendeinem Grund hat Zoras sie angeblich verschleppt. Deswegen suche ich sie... bei dem weiß man nie. Du solltest ihn ja besser kennen... den besten Freund deines Bruders.“ Er kehrte der Frau mit einem höflichen Kopfnicken den Rücken und hustete, als sie ihn aufhielt und seinen Arme ergriff.

„S-Simu, warte! Wie, Zoras?! Wieso ist Zoras nicht bei der Horde?“

„Woher soll ich das wissen? Loron hat mir erzählt, Zoras hätte Neisa mitgenommen. Und das besorgt mich etwas...“ Er musterte ihre erbärmliche Erscheinung, wie sie ihn anstarrte wie ein Häufchen Elend, offenbar auch nicht wissend, ob sie Angst haben sollte oder nicht. Sie ließ ihn los und Asta senkte zitternd den Kopf.

„Du gehst weg von hier...?“, wisperte sie, „Weg aus Thalurien?“

„Ja. Nach Yiara, wie gesagt. Sehr große Hafenstadt auf der Halbinsel im Norden.“

„Und deine Familie? Also, der Rest davon?“

„Meine Mutter ist unterwegs dorthin. Mein Vater ist in Taiduhr und wo Karana ist, weiß ich leider nicht.“ Sie druckste etwas herum und trat von einem nackten Fuß auf den anderen, ehe sie es wagte, ihm ins Gesicht zu sehen; sein Instinkt verriet ihm schon bevor sie fragte, was jetzt wohl käme.

„Darf... hättest du... was dagegen, wenn ich dich begleite? Ich... würde gerne hier weg, so weit wie möglich... in der großen Stadt finde ich sicher Arbeit und eine Bleibe, hoffe ich... ich werde dich ganz sicher nicht belasten! Ich bin schon seit Tagen allein unterwegs, ich kann alleine überleben. Aber ich... fürchte mich so...“ Der Blonde fasste sich kurz an die Stirn. Warum war eigentlich immer er der Idiot, der die hilflosen Frauen einsammelte? Erst Eneela, jetzt die... dann noch Lorons Schwester. Auch, wenn sie ihm nie etwas getan hatte und ihren Bruder vermutlich mehr hasste als er selbst... was sollte er mit ihr? Simu war ein barmherziger Mann... er konnte sie ja nicht einfach stehen lassen.

„Von mir aus, wenn es dich beruhigt. Ich muss jetzt erst nach Eneela sehen... vielleicht wacht sie ja langsam auf. Es wäre besser, wenn sie alleine laufen könnte... auf die Dauer kann ich selbst ihr geringes Gewicht nicht tragen.“
 

Eneela zitterte. Sie brauchte eine Weile, um richtig zu sich zu kommen, als sich die schützende Finsternis in ihrem Geist auflöste, die sie eingehüllt und davor bewahrt hatte, die Schmerzen der Wirklichkeit wieder spüren zu müssen. Jetzt war sie wach und aller Schmerz, alle Grausamkeit war wieder da, und mit einem Keuchen registrierte sie den Kloß in ihrem Hals, als sie Wasser trank, das Simu ihr gebracht hatte. Als sie aufgewacht war, hatte sie im Gras gelegen und Simu und eine fremde Frau waren bei ihr gewesen. Eneela musterte die Fremde verstört, als sie das Wasser ausgetrunken hatte und sich zitternd aufsetzte, irgendwie versuchend, wach zu werden und dennoch alles zu verdrängen, das ihr mit einem Mal schmerzhaft in den Kopf schoss.

Ihr waren Dinge geschehen. Schreckliche Dinge... sie erinnerte sich an die Schatten, an das Feuer im Dorf und an den widerlichen Kerl... der sie...

Nein! Denk nicht daran... schiebe die Dinge zurück in den Schatten, in den sie gehören...

Sie fuhr zusammen, als Simu sie plötzlich ansprach; er sprach behutsam, ganz leise, als hätte er geahnt, dass sie sich erschrecken würde, und dennoch zitterte sie heftiger beim Klang seiner Stimme. Beim Klang irgendeiner Stimme... egal, wem sie gehörte.

„N-nein!“, japste sie, ohne gehört zu haben, was er gesagt hatte, „B-bitte lasst mich! Wo... wo sind wir...? Wer ist die Frau?“ Sie sah in Simus Gesicht eine bestürzte Sorge und senkte bebend das Gesicht... was war sie für eine scheußliche Person? Dieser Mann hatte viel für sie getan... sie sollte dankbarer sein. Das Leben auf Ghia hatte sie Demut gelehrt... Demut vor allen, die höheren Ranges waren als sie selbst.

Und alle waren ranghöher als eine Lianerin wie sie... sie war eine Sklavin. Wie hatte sie es wagen können, so zu sprechen?

„V-vergebt mir, Herr...“, stammelte sie und fing ohne den konkreten Grund zu verstehen zu weinen an, „Vergebt mir, ich... ich war unachtsam...“

„Jetzt hör doch mal damit auf.“, seufzte der Blonde vor ihr, „Hör auf, mich Herr zu nennen, ich bin nicht dein Herr. Und du schuldest mir gar nichts. - Diese Frau ist Asta, sie ist, ähm, eine Art flüchtige Bekannte von mir. Sie wird uns begleiten nach Yiara.“ Eneela schenkte der Frau mit den eigenartigen Haaren einen verwirrten Blick. War sie etwa Zuyyanerin, mit dieser Haarfarbe? Eneela hatte nicht viele Zuyyaner getroffen... aber es hieß, sie wären fürchterliche Bestien, die zwar wie Menschen aussahen, aber anders als diese kein Herz und keine Seele besaßen. Eneela ängstigte der Gedanke an Menschen ohne Seele... diese Frau hier schien aber eine zu haben. Seelenlose Monster schauten garantiert nicht entsetzt oder panisch.

Panisch?

„Du hast gar nicht erwähnt, d-dass deine Freundin ein... ein Gespenstermädchen ist!“, jammerte die Rosahaarige gerade und Eneela starrte sie ungläubig an, während Simu sich an den Kopf griff.

„Lianer sind keine Gespenster, Asta. Sie wird dir sicherlich nichts tun, sofern du ihr nichts tust.“

„A-aber... ich fürchte mich, in Kamien hieß es, dass Gespensterleute bösartig seien...“ Eneela schauderte, als sie die Worte hörte, und von plötzlicher Hysterie ergriffen sprang sie auf die Beine – sie verlor sofort das Gleichgewicht und strauchelte, ehe sie wieder zu Boden sackte und wimmerte. Kamien?! Diese Frau stammte aus dem Gebiet, aus dem die Männer gekommen waren, die den Schatten und das Feuer gebracht hatten...? Die grauenhaften Erinnerungen an die vergangene Nacht durchfuhren die Lianerin und sie kauerte sich wimmernd zusammen, als sie den Schmerz in ihrem Inneren noch immer spüren konnte. Sie fühlte sich schmutzig... die Hände des Rüpels schienen noch immer ihren Körper zu schänden, ihre Kleider zu zerreißen und ihre Seele zu zerstören... noch immer hörte sie seine dunkle Stimme und schrie vor Angst, als sie den Schatten wieder über sich fallen spürte.

„Tanz!“, zischte der Schatten, „Wenn du dich brav fügst, ist es schneller vorbei... schrei ruhig. Niemand wird dich hören... niemand wird kommen und dich retten.“

„Nein, lasst mich in Frieden!“, schrie das junge Mädchen und richtete sich taumelnd wieder auf – sie spürte, dass Simu sie vorsichtig am Arm zu fassen versuchte, und keuchend fuhr sie herum und versuchte hysterisch, sich loszureißen.

„Eneela – beruhige dich...“, rief Simu hinter ihr energisch, „Ganz ruhig, niemand wird dir wehtun! Das verspreche ich dir, dafür sorge ich. Wir werden zusammen nach Yiara zu meiner Tante gehen... die Rüpel aus Kamien werden uns nicht folgen.“

„Fass mich nicht an!“, keuchte sie panisch und er tat, wie ihm geheißen, worauf sie japsend wieder zu Boden stürzte. Sie weinte... sie wollte nur noch hier liegen und weinen. Sie wollte nicht mehr aufstehen und diese Schmerzen erleiden müssen, diesen Wahnsinn – warum geschah so etwas immer nur ihr? Warum verfolgte sie das Pech, wohin sie auch ging? Sie hatte Ghia verlassen, weil sie geglaubt hatte, auf Tharr wäre es besser...

Sie wollte sterben. Sie wünschte, sie wäre in den Flammen des Dorfes umgekommen... dabei verabscheute sie Feuer so dermaßen. Sie hasste es... sie fürchtete das Feuer so sehr.

„Und ich... habe geglaubt, etwas Grauenhafteres... als dieser Käfig, der jahrelang meine Heimat war... und dieser Dämon, dem ich so sehr den Tod wünsche... könnte mir nicht widerfahren...“
 

Simu war frustriert. Was sollte er jetzt machen mit zwei Frauen, die sich voreinander und vor dem Rest der Welt fürchteten? Als Eneela wieder am Boden kauerte und nicht wagte, wieder aufzusehen, und Asta nur konfus etwas abseits stand und zu ihnen herüber starrte, fragte er sich wirklich einen Moment, ob er nicht Eneelas Herr-Masche ausnutzen und ihr befehlen sollte, ihren verdammten Hintern zu bewegen, damit sie voran kamen... wie sollte er so Neisa finden? Wer wusste, was Zoras mit ihr vorhatte...?

Eneela hatte es wirklich schwer... was Loron ihr angetan hatte war unverzeihlich, dieser Bastard verdiente auf alle Fälle einen qualvollen Tod, beschloss der Blonde finster, während er der Schwester des verhassten Mistkerls einen Blick schenkte.

„Bleib, wo du bist.“, sagte er nur, ehe er sich vorsichtig zu der Lianerin hockte, ohne sie anzurühren. Er verstand, dass sie jetzt Berührungsängste hatte... er war zwar nicht Loron und hatte ihr nichts getan, aber er war ein Mann... sie würde vermutlich für den Rest ihres Lebens alle Männer fürchten. Was sie da sprach zeugte auch nicht gerade von Gutherzigkeit, die sie auf Ghia erfahren hatte...

Dieser Käfig, der jahrelang meine Heimat war...

Er fragte sich konfus, was ihr auf Ghia widerfahren sein mochte. Erst jetzt fiel ihm zum ersten Mal wirklich auf, dass er keine Ahnung hatte, wer sie eigentlich war. Er wusste nichts über sie, nichts über die Gegend, aus der sie stammte, über ihre Familie...

Etwa so viel, wie er auch über seine eigene Herkunft wusste.

Und sie war eine der Sieben... das hatte diese Ryanne gesagt, die aus Fann gekommen war. Simu spürte es instinktiv, ohne wirklich zu wissen, warum eigentlich... Eneela war wichtig. Und es war Wille der Geister gewesen, dass er sie gefunden hatte. Sein Blick fuhr wieder zu Asta, während er weiterhin neben der Lianerin am Boden hockte, die zitterte und apathisch vor sich hin murmelte. Was, wenn Asta auch...? Vielleicht war es auch Schicksal gewesen, das ihn zu ihr geführt hatte? Selbst, wenn sie Lorons Schwester war... Asta war kein böser Mensch. Vielleicht war es gut, wenn er sie mit nach Yiara nahm... wenn er dort die Seherin wiedertraf, konnte sie sagen, ob Asta vielleicht auch zu diesen sieben Auserwählten gehörte. Wenn sie nicht gerade wieder das Gedächtnis verloren hatte, hieß das.

„Eneela...“, sagte er dumpf zu der Lianerin neben sich, die beim Klang seiner Stimme merklich zusammenfuhr. „Eneela, beruhige dich. Ich werde dir nichts tun, niemals. Du bist in Sicherheit. Das verspreche ich dir.“

„Sicherheit...?“, wisperte sie monoton und als sie versuchte, sich hysterisch aufzurappeln, stolperte sie über ihre eigenen Füße und stürzte wieder zu Boden, sich stöhnend den verletzten Kopf haltend. „Wie kannst du von Sicherheit sprechen in dieser Welt voller Schatten und Feuer...? Ich hasse Feuer so sehr...“

„Hier ist kein Feuer mehr.“, sagte Simu geduldig, „Es ist weit fort. Es kommt nicht her.“

„Doch, das wird es...“, keuchte sie, „Es kommt immer zu mir. Immer und nur zu mir... Ghia hat gebrannt, weißt du...? Die Flammen kommen immer zu mir... nachts träume ich von der Welt, die brennt, von den Toten, die schreien... das Feuer... k-kommt... immer zu mir...“ So stammelte sie vor sich hin und er fragte sich bestürzt, ob sie fantasierte. Sie war am Hinterkopf verletzt worden; entweder im Inferno oder von Loron, das wusste er nicht, jedenfalls klebte getrocknetes Blut in ihren weißen Haaren. Vielleicht hatte der Schlag auf ihren Kopf ihren Geist so schwer erschüttert... vielleicht war es aber auch nur der Schock als Reaktion auf das, was Loron ihr angetan hatte... sie versuchte vermutlich, es zu verdrängen und redete deswegen so wirr.

„Kannst du aufstehen, Eneela?“, fragte er sie behutsam und bot ihr vorsichtig seine Hand an, „Ich helfe dir, halt dich an mir fest. Wir müssen weiter... weg von den Schatten, ich bringe dich in Sicherheit. Das Feuer wird nicht kommen. Dafür... dafür sorge ich, das verspreche ich dir.“ Das war viel gesagt... aber was sollte er tun, um sie hier weg zu bekommen? In der Tat waren sie noch nicht weit von Lorana entfernt... er hoffte wirklich, dass er Zoras noch einholen könnte. Oh, und er würde ihm die Augen ausstechen, wenn er es gewagt haben sollte, seine Schwester unsittlich anzufassen oder ihr auf sonst eine Art wehzutun...

Vielleicht konnte Asta ihm ja einen Tipp geben.

„Asta!“, rief er sie beim Namen, „Warst du bei den Männern aus Kamien? Hast du eine Ahnung, warum Zoras mit meiner Schwester nach Norden gegangen ist?“ Zu seiner Enttäuschung schenkte das rosahaarige Mädchen ihm nur einen blöden Blick.

„Zoras?!“, rief sie lauter als nötig und Eneela erschrak sich und fuhr zusammen, während sie gerade zitternd versuchte, sich an Simus Arm hinauf zu ziehen. „W-wieso Zoras, was hat der denn hier verloren?! Oh nein, ich will nicht zurück nach Kamien! Ich werde einen großen Bogen um Zoras machen!“ Simu verdrehte innerlich die Augen – was war denn das jetzt, das hatte er doch schon erzählt? Hatte sie nicht zugehört oder litten neuerdings alle Frauen, die er kannte, an Psychosen und akutem Gedächtnisschwund?

„Aber dann musst du uns verlassen, denn ich meinerseits werde versuchen, ihn zu finden... wie ich doch schon einmal sagte... er hat meine Schwester aus einem Grund, den ich nicht kenne... vermutlich will ich ihn auch nicht kennen.“ Lorons Schwester bewies tatsächlich so etwas wie die Fähigkeit des Kombinierens.

„Ich würde mich mehr sorgen, wenn mein Bruder sie hätte, Zoras ist vermutlich der einzige Mann in ganz Holia, der keine Frau schänden würde...“ Der Blonde runzelte unsicher die Stirn bei den Worten. Da war vielleicht etwas dran... er kam für gewöhnlich viel herum und bekam viel mit auf seinen Reisen, die mitunter auch in den Westen geführt hatten. Und in Kamien war Zoras' Name groß und mächtig. Er war wie ein Ungeheuer, von dem man im Flüsterton sprach aus Angst, es könnte einen fressen, wenn man zu laut wurde. Zoras Derran war eine Schreckensgestalt, aber das bezog sich, so weit Simu es wusste, mehr auf die Magie... der Kerl war seit jeher Karanas einziger ernst zu nehmender Rivale gewesen in diesem Punkt. Der einzige, der gleichauf war mit dem arroganten, selbstgefälligen Sohn des Herrn der Geister... Simu fragte sich bitter, wo sein Bruder jetzt war. Hoffentlich war er wohlauf...

„Dann musst du dich vor ihm ja auch nicht fürchten, Asta.“, sagte der Blonde so nur. Eneela hatte sich mühsam aufgerappelt und er hielt sie energisch fest, damit sie nicht wieder umfiel. „Wir werden jetzt versuchen, nach Norden zu gehen, beeilen wir uns besser. Vielleicht finde ich meine Schwester... das wäre hilfreich.“ Asta schnappte nach Luft, als er sich mit der Lianerin im Schlepptau langsam in Bewegung setzte.

„Woher weißt du denn den Weg?“, stammelte die Frau aus Holia, „Ich meine... weißt du, wie wir nach Yiara kommen?“

„Mein Instinkt zeigt mir die Richtung. Mein Instinkt sagt mir auch, wohin ich gehen muss, um Neisa zu finden... vertrau mir.“ Die Rosahaarige sah ihn eher ungläubig an, als er über die Schulter zu der armseligen Kreatur zurück blickte.

„Instinkte? Ich dachte, du seist ein Nichtmagier und nur der Adoptivsohn des Herrn der Geister... im Gegensatz zu Karana bist du... doch gar kein Schamane...?“ Simu sagte darauf nichts und sein Blick ging ins Leere. Ja... das wusste er. Und er wunderte sich selbst auch darüber, warum seine Instinkte fast genauso ausgeprägt waren wie die seiner magischen Geschwister...

Er wusste ja nicht, was er war. Wer er war... und warum er zu den Lyras gekommen war. Es musste dafür einen triftigen Grund geben, den er nicht kannte... und es musste etwas sein, das jenseits des Netzwerkes der Sagals lag. Er hatte eine Weile für Dasan Sagal gearbeitet und der hatte genau wie Simus Eltern jahrelang nach dem Grund gesucht, der den kleinen Jungen damals in das Dorf Lorana gebracht haben mochte. Was immer es war, Simu war gleichzeitig sein Leben lang schon begierig darauf, es zu erfahren, und fürchtete sich andererseits vor der Wahrheit, die ihm vielleicht nicht gefallen würde.

Vielleicht würde er klüger werden, wenn der Schatten gefallen war, der jetzt heraufzog, um sie alle zu vernichten.
 


 

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Pinky! XD Und Psycho!Eneela und Simu, der Retter der verlorenen Schäfchen!



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Kimiko93
2011-06-27T20:41:31+00:00 27.06.2011 22:41
"Berschützer der verlorenen Schäfchen"? Oh mein Gott, Simu ist MUSHUU!

Ähem. Und von psychotischen Weibern umringt, genau. Ich verabscheue das Wort Weiber zwar, aber ich benutze es in diesem Kontext mal, ja.

Okay, anscheinend muss ich erstmal einen Namen schreien... Ähm...

ASTAAAAAA!!!!!!

Yaaaay! Backstory für sie! Ich mochte, wie du ihre Aussehen beschrieben hast. Na ja, und dass ihr Charakter dem aus dem Fm noch am Ähnlichsten ist ôô ich mag sie <3

Und Simu natürlich auch. Er kann einem echt Leid tun. Und er ist Mushuu! *___*

Und Eneela... Aye... Dramatische Hintergrundgeschichte, aaaaha. Keine rndom-Familie mehr, die sie total lieb gehabt hat, wie es scheint, tihi. Und haben Lianer auch diese komischen Instinkte wie Schamanen oder Zuyyaner? Ich meine, sie scheint ja zumindest apokalyptische Träume zu haben, die dem sehr Nahe kommen ôo

Oh, und ich liebe, liebe, liebe Asta und Eneela zusammen <3
"Aaaah, ein Geistermädchen, bitte tu mir nichts, hülfeee! ;____;"
"Aaaah, jemand aus Kamien, bitte tu mir nichts, hülfeeee! ;____;"
Zu geil XD
Von:  Decken-Diebin
2010-11-17T19:05:04+00:00 17.11.2010 20:05
Was für ein schönes Kapitel *__*
Ich meine... SIMUUU! *_________* <333 Er ist soooo knuffig, und der Retter aller Frauen und Frauenherzen und blah und Keks xD ♥
Allgemein fand ich das Kapitel aber informativ, wir haben einiges über Asta erfahren, das hat mir gefallen, es wurde noch mal wiederholt, dass Simu seine Vergangenheit kennenlernen will, es wurde gezeigt, dass Ram ganz nett und putzig ist und es wurde auch gezeigt, dass Eneela total psychisch angeschlagen ist...
Gelungenes Kapitel ! (:
Von:  Yachiru
2010-11-15T12:15:00+00:00 15.11.2010 13:15
Simu weiß wohl noch nicht, dass er ein Zuyyaner ist XDDDDDD
Und Ram <3333333 Ey, der Kerl ist so cool, den muss man einfach lieben XDDDDD
Von:  -Izumi-
2010-11-14T19:07:14+00:00 14.11.2010 20:07
Das Wichtigste am Kappi vorneweg:
RAAAAAAAAMIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII <33333333333333
Ne, mal ganz unvoreingenommen fand ich seinen Auftritt ziemlich cool ^^ Er ist lieb <3
Asta ist so... aww. Ich mag sie so, sie ist sehr tapfer. Und färbt sich die Haare rosa. Haha. XD
Und Eneela weint. Irgendwie hast du es aber gut dargestellt, ich meine, es ist alles so nachvollziehbar... und sie ist so bemitleidenswert.
Ach, sie ist toll <3
Und Simu, hach ja, ich liebe Simu <3 Er ist so ahnungslos und erwachsen und cool und hach ja eben. Er hat es nicht leicht, in der Tat nicht, aber er ist tapfer XD
Mochte das Kappilein <3


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