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Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten

Erstes Buch
von

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Seelenlos

In der Ferne donnerte es. Es war aber kein wirklicher Donner, es waren die Trommeln des Krieges. Die Erde erzitterte unter dem Dröhnen des Lärms, während Iana schon zum dritten Mal eine Siedlung der Menschen in Flammen aufgehen und dann in den Schatten stürzen sah. Erst das Lianerdorf, dann Karanas Heimatdorf, jetzt diese Stadt im Süden an der Küste, deren Namen sie nicht mal erfahren hatten. Die Halblianerin beobachtete aus sicherer Entfernung von einer Anhöhe aus das Desaster, das entstand. Zu ihren Füßen brannte die Stadt, sie hörte die Menschen schreien und sah weit in der Ferne, hinter den Rauchsäulen, das Meer, von dem Karana gesprochen hatte. Sie kamen mit Schiffen... es waren unzählig viele. Iana konnte nicht zählen, aber das musste sie auch nicht können, um zu begreifen, was das war, das auf das Festland kam mit dröhnenden Trommeln.

Es war der Tod des Reiches... so viel war gewiss.

„Das ist wahnsinnig.“, murmelte die Frau dumpf, während sie hinab starrte, „Wenn diese Armada hier landet und sich weiter voran schlägt, werden wir alle in diesem Land sterben. Hast du gesehen, wie viele sie sind, Karana?“ Karana antwortete nicht, als sie sich barsch zu ihm umdrehte, er stöhnte nur und hielt sich den Kopf. „Wenn wir nicht auch gleich gegrillt werden wollen von denen, sollten wir jetzt verschwinden, solange sie noch mit der Stadt da beschäftigt sind. Wenn wir jetzt an der südlichen Küste sind, müssen wir wohl nach Norden, dann kommen wir sicher irgendwann nach Vialla. Oder nicht?!“ Sie fing sich einen verklärten Blick von ihm und zischte. „Was ist jetzt schon wieder mit dir, ich dachte, deine Geister sprechen wieder, also sag gefälligst was.“

„Sollen wir einfach wegrennen und die... alle sterben lassen?“, murmelte er und sie lachte hohl.

„Nun, wenn ich es mir recht überlege, nein, stürze dich auf sie und zerfetze sie, du machst gerade den Eindruck, als wärst du dazu in der Lage, so viele Leute abzumurksen!“ Er schnaubte und raufte sich fluchend die wirren Haare.

„D-das ist nicht witzig, Iana! Normalerweise könnte ich das, ich bin der Sohn des Herrn der Geister, verdammt!“

„Na, und worauf wartet dein großartiger Vater dann?!“, fuhr sie ihn an und zeigte auf das Inferno, „Warum ist er dann nicht hier, wenn er doch so toll ist, und beendet das mit einer Armbewegung?! Und warum sitzen wir hier herum und warten darauf, niedergetrampelt zu werden?! Steh auf, ich verpiss mich hier.“ Sie erntete zustimmendes Bellen von seinem Hund und ging ohne weiter auf Karana zu achten nach Norden. Aar folgte ihr, sie konnte ihm nicht verübeln, sein psychisch verwirrtes Herrchen einfach sitzen zu lassen. Karana war ein Idiot...

Sie spürte, wie er sie am Arm packte. Er drückte mit einer Heftigkeit zu, dass es schmerzte, und keuchend hielt sie inne und drehte hastig den Kopf, um ihn anzustarren. Karana starrte zurück – und in seinen Augen lag die fürchterliche Macht eines Geisterjägers. Er starrte sie einen kurzen Moment an mit einem Blick, der sie beinahe in die Knie gezwungen hätte bei seinem bloßen Anblick, und die Frau strauchelte verwirrt, als er seinen Griff noch fester machte.

„Ich warne dich.“, sagte er mit einer unglaublichen Gelassenheit, dass Iana sich fragte, ob er überhaupt wahrnahm, dass er ihr beinahe den Arm zerquetschte. „Sprich... nicht so von meinem Vater. Würdest du wollen, dass ich deinen als Nichtsnutz bezeichne? Du kennst meinen Vater nicht und du hast kein Recht, so zu sprechen, Weib. Deswegen... warne ich dich nur ein einziges Mal... Iana.“ Sie zitterte, aber nicht vor Angst – ihre Nackenhärchen sträubten sich in dem Moment, in dem sie seinen Blick wieder fing, und mit einem giftigen Knurren wandte sie das Gesicht nach rechts.

„Lass mich los, du tust mir weh, Karana.“ Zu ihrem Entsetzen kicherte er amüsiert – und es war kein freundliches Kichern, wie sie schaudernd feststellte. Der Geruch von verbranntem Holz und Fleisch drang ihr in die Nase und sie schauderte.

„Willst du weglaufen, Wachtel? Du... gehörst jetzt zu mir. Die Geister haben es gesagt, du spürst es auch... nicht wahr?“ Sie fuhr wieder erbleichend zu ihm herum und starrte ihn an – dann, ganz plötzlich, ließ er sie los und trat mit dem wissenden Grinsen auf dem so makellosen, perfekten Gesicht einen Schritt zurück, dabei seine fürchterlichen, dämonischen Eckzähne entblößend. Sie handelte, ehe sie darüber nachdachte, was sie tat, und einen Moment später hatte Karana ihre Schattenklinge an der Halsschlagader.

„Dass ich deinen Vater beleidigt habe tut mir leid. Aber dein bin ich deswegen noch lange nicht, Zauberer. Und wenn du mich noch einmal so angrinst, schneide ich dir deine verdammte Kehle durch. Haben wir uns verstanden, Karana Lyra?“

Die Veränderung in seinem Gesicht war so plötzlich und so verblüffend, dass sie beinahe das Kurzschwert fallen gelassen hätte. Er starrte sie plötzlich entsetzt an und schien ganz genau zu wissen, dass sie nicht scherzte; aller Hochmut, alle Selbstsicherheit von eben waren wie mit einem Wisch aus seinem Gesicht verschwunden.

„Alter – i-ist ja gut, spieß mich nicht gleich auf! Wenn du mich tötest, kriegst du sicher keine Belohnung von irgendwem in Vialla dafür, dass du es so lange mit mir aushältst...“ Sie weitete ungläubig die Augen und wusste nicht, was sie jetzt mehr verwirren sollte – dass er so plötzlich seine Meinung änderte oder dass er sie durchschaut hatte. Woher wusste er das mit der Belohnung jetzt auf einmal?

Als sie das Schwert langsam sinken ließ, ihn immer noch anstarrend, rieb er sich erleichtert den unverletzten Hals und grinste sie gut gelaunt an.

„Ich bin Schamane, dumme Frau. Ich kann dir bis ins Herz blicken, wenn ich will... hast du gedacht, du könntest das vor mir verbergen und so tun, als hättest du was für mich übrig? Entschuldige, aber verarschen lasse ich mich auch nicht.“ Glucksend ging er an ihr vorbei und tätschelte dabei den Hund, ehe er sich aufmachte nach Norden, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Iana starrte ihm fassungslos nach, während sie gedankenverloren ihre Waffe wegsteckte.

Nein, was sie am meisten irritierte, verärgerte und verblüffte, war, dass er mit seinen Worten von zuvor, die sie so verabscheut hatte, nicht unrecht gehabt hatte.

„Du... gehörst jetzt zu mir. Die Geister haben es gesagt, du spürst es auch... nicht wahr?“

Sie fasste sich unschlüssig an die Brust an die Stelle, wo ihr Herz sitzen musste, und ein furchtsamer Schauer durchlief ihren Körper, als sie ihm nachsah, wie er samt Hund voraus ging. Ja... sie spürte es auch, und es machte ihr Angst. Es war nicht einfach nur Anziehung, weil er so unverschämt hübsch war... es war eine krankhafte Mischung aus Erregung und Abscheu, die sie auf irgendeine geistlose Art an diesen Mann zu binden schien...

Sie war ihm nicht wegen des Messers in sein Dorf gefolgt, sondern, weil sie das instinktiv gespürt hatte, seit sie ihn zum ersten mal gesehen hatte. Und sie hasste ihn dafür.
 

Das Wetter war schlecht geworden. Sie hatten dem Inferno an der Küste rasch den Rücken gekehrt und sich nordwärts geschlagen. Meistens sprachen sie nicht miteinander. Iana wich Karanas Blicken aus, wenn er sie kurz betrachtete, und sie schien nicht die Absicht zu haben, noch ein Wort mit ihm zu wechseln, das über das Allernötigste hinausging. Und eigentlich gab es nicht mal etwas Nötiges zu reden, fiel ihm auf – über die Richtung, in die sie gingen, konnten sie sich auch nonverbal einigen, indem sie mit den Armen in die entsprechende Richtung zeigten... Er hasste die ewige Stille, die zwischen ihnen herrschte, seit sie vor einigen Tagen an der Südküste Kisaras gelandet waren. Es war erdrückend – wenn Iana sprach, war sie unfreundlich und abweisend, aber wenn sie nicht sprach, war es eigentlich noch schlimmer, und er überlegte sich manchmal schon, ob er sie beleidigen oder schlagen sollte, damit sie mal den Mund auftat. Aber Frauen zu schlagen gehörte sich nicht... er war ja nicht Loron.

Überdies hatte er eigentlich gar keine Zeit, sich auf die hübsche Frau zu konzentrieren oder sich darum zu kümmern, dass sie mit ihm sprach; sprechen musste er in der Tat mit den Geistern von Himmel und Erde, die offenbar ein wenig ihrer Schweigsamkeit abgelegt hatten. Allerdings auch nicht alles... es war noch immer anders als früher. Er fragte sich, was Zoras gemacht hatte, das die Geister so aus seinem Kopf verjagt hatte... es musste ein mächtiger, fürchterlicher Zauber gewesen sein, und es war definitiv über dem Niveau eines mittellosen Bauernjungen aus Kamien. Aber Zoras war mehr, als er vorgab zu sein – oder als er vielleicht selbst glaubte, zu sein, denn Karana hatte nicht das Gefühl, dass sein ewiger Rivale auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, was er da gemacht hatte. Das war das Problem bei Zoras... seine Eltern hatten weder Geld noch Mittel, um ihm eine offizielle Lehre der Schwarzmagie zu ermöglichen, wie Karana sie bei Saidah bekommen hatte. Das hieß, dieser Idiot machte einfach, was ihm gerade in den Sinn kam, ohne den Sinn dahinter zu verstehen oder zu begreifen, was genau er tat – wie auch, er hatte die Theorie dazu ja nie gelernt. Karana fand es schon verblüffend genug, was dieser Kampfzwerg sich alles selbst beigebracht zu haben schien... er musste grummelnd einräumen, dass er selbst vermutlich nicht fähig gewesen wäre, ohne Saidahs Hilfe so weit zu kommen, wie er es jetzt war. Er würde eines Tages zum Rat der Geisterjäger gehören... davon träumte er, seit er laufen konnte. Die meisten Söhne wollten einmal werden wie ihre Väter... er selbst wusste, dass er da einen weiten, harten Weg vor sich hatte, denn sein Vater war nicht irgendein Mann, dem er einfach nacheifern konnte. Um so zu werden wie sein Vater, musste er seinen eigenen Geist kontrollieren, die anderen Geister kontrollieren und das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde wahren können... das war keine leichte Aufgabe.

Er seufzte leise, während er mit seinem Bruder Hund neben sich nach Norden wanderte, Iana irgendwo hinter ihnen. Iana... die hübsche Iana, die wie Saidah aussah und doch irgendwie anders war. Sie war Nichtmagierin... und Saidah war Geisterjägerin, natürlich waren sie verschieden. Er wusste nicht, was genau es war, das ihn so an der Hühnerdiebin faszinierte; sie war eine Frau, ja, er mochte Frauen, aber das war es nicht. Das war zu simpel... ganz so oberflächlich war er dann auch wieder nicht. Er begehrte sie... aber nicht, weil sie schön war oder weil sie wie Saidah aussah, es war etwas anderes, das tief in seinem Inneren schrie, wenn er sie ansah, das danach verlangte, sie für immer zu behalten und nie wieder loszulassen. Die Gedanken erregten ihn und verschafften ihm gleichzeitig Kopfschmerzen, sodass er sich keuchend die Haare zu raufen begann und langsamer wurde.

„Können wir... kurz Pause machen?“, murmelte er dumpf, als die Frau neben ihm auftauchte, und sie schnaubte.

„Weichling. Schon müde oder erzählen deine Geister wieder Scheiße?“ Er zischte – eigentlich wollte er irgendetwas Giftiges erwidern, eigentlich wollte er sie zu Boden schlagen, aber er konnte sich nicht rühren, als er ihr einen nichtssagenden Blick schenkte und sie nichts weiter sagte. Der Wunsch in ihm, sie zu erschlagen, verblasste, als sie leise seufzte und den Kopf senkte.

„Gut, rasten wir. Hast du überhaupt eine Ahnung, ob wir richtig sind?“ Ohne eine Antwort zu erwarten ließ sie sich vor ihm ins feuchte Gras fallen und er hockte sich schweigend neben sie, sich murrend die Schläfen reibend.

„Na ja, Norden ist immer gut, weg von Dobanjan. Ich denke, alle Straßen führen nach Vialla... wir werden schon ankommen.“ Er hörte die Geister in seinem Kopf flüstern und zischte, als er einen schmerzhaften Stich verspürte.

Demut, Karana... solltest du zeigen, wenn du ein Herrscher der höchsten Geister sein willst.“, sagten sie und er japste, sich die Schläfen reibend. Die Geisterstimmen waren so vertraut, er hörte sie, seit er klein gewesen war... und dennoch jagten sie ihm noch immer einen Schauer aus Furcht und Argwohn über den Rücken, wenn er sie hörte.

Die Geister, die wir beherrschen, sie sind es, die in Wahrheit uns alle beherrschen, Karana.“, hatte Saidah ihn einst gelehrt, als er bei ihr in Minh-În gewesen war. Er erinnerte sich an die Zeit, als wäre sie nicht schon mehr als ein Jahr her, sondern erst wenige Tage. „Sie leihen uns ihre Macht, sie kooperieren zeitweise mit uns, aber das ist alles nur relativ und wir zahlen mit Demut, damit sie uns gehorchen. Die wahre Macht eines Herrn der Geister ist nicht die Schlagkraft seiner zerstörerischen Zauber... sondern seine Fähigkeit, mit den Geistern zu kommunizieren und letztendlich zu kooperieren. Du musst nicht lernen, wie du die Geister am besten unterwirfst, sondern wie du mit ihnen eine perfekte Einheit bilden kannst, Karana. Das ist... sehr viel schwerer als einfache Unterwerfung, weißt du? Und deshalb ist es so viel mächtiger...“

Er drehte den Kopf in Ianas Richtung, während er an Saidah dachte, seine Mentorin, seine Flamme – seine Seele, wenn er so wollte, denn sie hatte seinen Geist nie losgelassen seit der Zeit, in der er bei ihr gewesen war.

„Demut... hm...?“, stöhnte er und fixierte apathisch Iana, die die blauen Augen weitete. „Findest du, ich bin nicht demütig genug, Iana?“

„Soll das ein Witz sein?“, machte sie vor ihm, „Du bist ein Tyrann, das ist das Gegenteil von demütig, falls es dich interessiert.“ Er erzitterte und senkte hastig atmend den Kopf, den Blick von ihr abwendend, während er dumpf die Geister in seinem Kopf kichern hörte. Es klang, als läge noch immer ein dicker, schattiger Schleier über seinem Geist, der ihre Stimmen so stark dämpfte, dass er kaum etwas verstehen konnte... der Schleier, den die Schattenvögel über ihn gelegt hatten, die Zoras gerufen hatte.

Schattenvögel... knirschte er in Gedanken und ballte unmerklich die Fäuste so fest, dass die Knöchel hervortraten, Wieso ruft Zoras... die Vogelgeister und hetzt sie mir auf die Seele, um sie zu fressen? Wieso... kann er das? Die Macht über die Todesvögel ist ein Familienerbe... das er nicht haben kann!

Als er das Gesicht wieder hob und zu seiner Wegbegleiterin blickte, in dieses Gesicht, das dem von Saidah so ähnelte, verspürte er plötzlich eine ungeahnt heftige Lust, sie zu erschlagen, ihr die Kehle zuzudrücken oder sie auf irgendeine andere Art zu zerreißen.

„Du... Saidah!“, zischte er, „Du hast sie ihm gegeben, oder nicht?! Diese verdammte... diese Macht, mit der Zoras mich fast umgebracht hätte, du hast sie ihm gegeben, du Heuchlerin, du Verräterin! Die Schattenvögel... die Kondorgeister, die deinem Willen folgen! Ich... bringe dich verdammt noch mal um... wie du mich umbringst, seit ich dich nicht mehr sehen kann!“ Ehe die Frau vor ihm eine Chance bekam, wegzulaufen, stürzte er sich auf sie und riss sie gewaltsam zu Boden.
 

Iana fragte sich, was geschah. Mit einem kräftigen Schubs seinerseits lag sie plötzlich auf dem Rücken am Waldboden. Schmerzhaft schlug ihr Kopf auf der Erde auf und sie schrie, als er ihre Handgelenke packte und sie nieder drückte, sich wie ein geiferndes Raubtier über sie beugend. In seinen grünen Augen stand der pure Wahnsinn und sie schrie erneut, lauter, als sie mit einem Mal die Panik ergriff, er könnte sie tatsächlich umbringen. Sie wand sich mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, versuchte, ihn von sich zu treten oder ihre Hände zu befreien, während er sie anschrie und plötzlich vollkommen außer sich zu sein schien. Was zum Geier war denn jetzt wieder mit diesem Spinner passiert? Irgendein Dämon beherrschte seine Seele, da war sie sicher – das war nicht normal.

„Karana!“, schrie sie ihn an, „Karana, lass mich sofort los! Du tust mir verdammt noch mal weh, du Hurensohn! Lass mich los!“ Er fauchte sie an wie eine wilde Bestie und Iana schrie ihm ins Gesicht, so laut sie konnte: „Du elender Teufel, verschwinde!“ Die Lautstärke ihres Schreis scheuchte sogar die Tiere im Wald auf und für einen winzigen Moment stutzte der Mann über ihr – den Moment nutzte sie, um ihre Hand mit aller Kraft aus seinem Griff zu reißen und ihm mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen. Der Hund bellte. Karanas Kopf flog zur Seite und er schnappte keuchend nach Luft, während Iana ihre Hand hinab schnellen ließ und in Windeseile ihr Kurzschwert aus ihrem Gürtel zog. In dem Augenblick hatte sie damit gerechnet, dass er noch etwas länger verblüfft wäre, umso entsetzter war sie, als Karana plötzlich wieder zu ihr herum fuhr, die jetzt freie Hand empor hob und ihr etwa mit derselben Kraft, mit der sie sich befreit hatte, die Waffe aus der Hand riss. Und in dem Augenblick, in dem er plötzlich ihre heiligste, wichtigste Waffe in der Hand hielt, veränderte sich sein Blick so schlagartig, wie er sie gerade überfallen hatte.
 

Er hielt augenblicklich inne, sobald er das Kurzschwert in der Hand hielt, empor gerissen und bereit, der Frau unter sich, auf der er rittlings saß, die Kehle aufzuschneiden. Doch er rührte sich nicht... in dem Moment, in dem er da saß und in ihr vor Schreck erbleichtes Gesicht starrte, schoss der Schmerz zurück in seinen Kopf, als hätte ihm plötzlich jemand eine Flasche über die Rübe gezogen und als würden sich deren Scherben jetzt ungehemmt in seine Kopfhaut bohren. Der junge Mann schnappte nach Luft und starrte fassungslos auf das Schwert, das er in der Hand hielt – die Schattenklinge, eine todbringende Waffe, die weit gefährlicher war, als sie aussah.

Ich habe sie von meinem Vater bekommen. Sie ist mir sehr wichtig.

Er stöhnte, als der Schmerz heftiger wurde und er spürte, wie das Schwert in seiner Hand drohte, ihn zu verbrennen, ihn zu Asche zerfallen zu lassen, ohne dass er äußerlich eine Veränderung bemerkt hätte. Mit einem Schlag war seine Mordlust verschwunden, mit einem Schlag waren Zoras, Saidah und die Todesvögel vollkommen egal – er hielt die todbringende Waffe der Hühnerdiebin und sie lag unter ihm, sie starrte ihn fassungslos an und er schnappte hysterisch nach Luft, als mit einem Mal die Geister und die Bilder zu ihm zurückkehrten. Und sie sprachen alle auf einmal, so viele Stimmen, wie er noch nie zugleich vernommen hatte. Vor seinen Augen war so viel Dunkelheit... und der blutige Himmel, der ihn zu ertränken drohte.

„Du würdest nicht wagen, mich zu töten...“

„Schatten wird kommen, Karana... und wenn das Reich fällt, werden sie kriechen.“

„Warum hast du deine Waffe weggegeben? Ist das dein Ernst, Königin?“

„Am Ende... wird diese Tat etwas entscheiden.“

„An welchem Ende?“

„Vermutlich... am Ende der Welt.“

„Ihr werdet nach Yiara zu meiner Cousine gehen, Leyya. Noch heute... im Norden seid ihr sicher. Fort von Kamien... fort von den Schattengeistern aus dem Ostreich.“

„Demut sollen sie dich lehren, Karana... die Schattengeister, vor denen du dich fürchten solltest. Und am Ende werden die Schatten fallen, wenn du demütig bist.“ Karana schauderte und erzitterte so heftig, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte, noch immer die Augen fassungslos auf das Schwert und die Frau gerichtet. In dem Moment, in dem ihm Ianas Waffe aus den Fingern zu gleiten begann, weil er so zitterte, sprach er mit bebenden Lippen zu den Geistern, die in seinem Kopf zischten und verschwommene Bilder zeigten, die er nicht verstand.

„An welchem... Ende...?“ Er sah, wie Iana die Augen weitete, obwohl er sie nicht wirklich ansah; das Schwert fiel ihm aus der Hand und mit einem dumpfen Klang auf die Erde, während er bebend auf der Frau sitzen blieb und wie erstarrt in ihr Gesicht blickte, das zum ersten Mal so gar nicht nach Saidah aussah... sie sah nach Iana aus. Und er begehrte sie mehr, als er sie jemals zuvor begehrt hatte, wenn er sie mit Saidah verglichen hatte.

Die Geister sprachen, während er vorne über kippte und spürte, wie die Macht aus seinem Geist wich, zusammen mit allem Zorn, der eben noch da gewesen war.

Vermutlich... am Ende der Welt, Karana.
 

Er küsste sie; Iana verstand weniger als jemals zuvor, was mit diesem Kerl kaputt war, dass er sie erst umbringen wollte und dann plötzlich küsste, aber sie wehrte sich nicht, als er plötzlich seine Lippen gegen ihre presste und ihre Hände los ließ, um stattdessen durch ihre schwarzen Haare zu streichen. Von einem Moment zum anderen war die Spannung einfach verschwunden, plötzlich war der Wahnsinn in seinem Gesicht weg, als sie zitternd den Mund öffnete, um seiner Zunge den Einlass zu gewähren und er den Kuss intensivierte. Sie wusste nicht, ob sie sich fürchten sollte oder nicht... da reiste sie so lange schon mit diesem Spinner durch das halbe Land und dennoch war ihr sein Verhalten noch immer unbegreiflich... oder ihr eigenes, kam ihr, als er kurz von ihr abließ, um sie dann sofort erneut zu küssen, fordernder, heftiger als zuvor. Und sie wollte nicht, dass er aufhörte... sie hatte plötzlich das verwirrende Verlangen, zuzulassen, dass er tat, was er augenscheinlich im Sinn hatte, als seine Finger ihre Haare verließen und an ihrem schlichten Hemd zu nesteln begannen, dabei mit ungeahnt sanfter Intensität ihre Brüste drückend... sie hatte noch nie dieses seltsame Gefühl in sich gespürt, das sie jetzt überkam, ein fremdartiger und gleichzeitig vertrauter Schauer, der ihren Körper ungewollt in Flammen setzte. Keuchend riss sie sich aus dem Kuss los und schnappte nervös nach Luft, als sie sein Gewicht über sich spürte, wie er sich auf sie legte und wie seine Finger unter ihr Hemd wanderten und ihre nackte Haut darunter berührten. Es fühlte sich an, als wären sie glühende Stangen, die ihre Haut zu Brennen brachten, sobald sie sie berührten, und sie lehnte japsend den Kopf in den Nacken, ihm ihre blanke Kehle hin streckend, während er über ihr vor Erregung stöhnte und mit den Lippen zu ihrem Schlüsselbein wanderte. Zitternd spürte die Frau, wie eine seiner Hände sich ihren Weg hinab zwischen ihre Beine zu suchen begann, und in dem Moment war es, in dem sie dem Feuer in ihrem Leib verbot, sich weiter auszubreiten und sie in die Knie zu zwingen. Mit einem Keuchen stieß sie ihn von sich herunter und schlug ihm ins Gesicht, sodass er zu Boden stürzte, während sie sich heftig atmend aufsetzte und ihre Kleidung zurecht rückte.

„H-hast du mich nicht verstanden, Karana?!“, bellte sie ihn an und versuchte, die Verwirrung über ihre eigenen Gefühle mit Schreien zu überspielen, indem sie ihn beobachtete und er sich japsend ebenfalls aufsetzte und sich die feuerrote Wange rieb. „Ich sagte, lass mich los! Schwein!“

Sie kam sich ungerecht vor, ihn zu beschimpfen... auch wenn er es verdiente, er hatte sie töten wollen... aber was er danach getan hatte, war nicht wirklich gegen ihren Willen geschehen. Sie schauderte bei dem Gedanken und errötete heftig, den Kopf weg drehend, um ihm ja nicht ihre Verlegenheit zu zeigen.

Zu ihrer Verblüffung schien er nicht einmal wütend zu sein darüber, dass sie es beendet hatte.

„Yiara...“, keuchte er atemlos, „Wir... ich muss nach Yiara, meine Familie ist dort. Die Geister... sie haben gesprochen, mein Vater hat zu meiner Mutter gesagt, wir sollten nach Yiara.“ Verblüfft starrte Iana ihn an.

„Was? Wie jetzt, ich dachte, nach Vialla oder Taiduhr!“

„Nein... da ist mein Vater, aber der Rest meiner Familie ist in Yiara. Meine Tante lebt dort, es ist eine Stadt weit oben im Norden Kisaras.“ Blinzelnd sah sie zu, wie er sich erhob und seinen nervös winselnden Hund beruhigte, indem er ihn streichelte und ihm gut zu redete.

„A-aber... wie, auf einmal? Das verstehe mal einer.“

„Die Himmelsgeister sprechen wieder.“, erklärte er gut gelaunt, „Ich glaube, was immer Zoras angerichtet hat, jetzt ist... es weg.“ Er sah stirnrunzelnd auf Ianas Schwert, das noch immer am Boden lag, und schwieg kurz, ehe er murmelnd fortfuhr: „Der Schatten über meinem Geist... ist verschwunden.“

„Wie kannst du sicher sein?“, fragte sie irritiert, und er ließ seinen Hund los und räusperte sich, ehe er die Hand nach rechts streckte und mit einem kurzen Zischen eine kleine, harmlose Flamme in seinen Fingern entstehen ließ. Ungläubig starrte sie ihn an.

„Siehst du? Zaubern kann ich auch wieder. Dein Schwert ist einmalig, es hat mir das Leben gerettet.“

„Das... halte ich für übertrieben!“

„Aber als ich deine Waffe berührt habe, verschwand der Schatten. Schattenklinge... hm? Das ist sein Name... habe ich recht?“ Die Schwarzhaarige blicke konfus auf ihre Waffe und dann wieder zu dem jungen Magier, ehe sie die Schultern zusammenzog.

„Ja... das hat mir mein Vater... auch gesagt.“

„Ich wage nicht, es noch mal anzufassen...“, murmelte Karana und zog die Stirn in Falten, das Erbstück musternd, „Aber es ist... ganz sicher kein einfaches Schwert. Wieso trägst du als Nichtmagierin ein Schwert, das ganz offensichtlich eine Waffe der Schamanen sein muss...?“ Sie sah auf die Waffe und schwieg lange – als sie sich endlich aufrappelte und ihr Kurzschwert wieder aufhob, blickte sie ihren Begleiter kurz nichtssagend an.

„Ich bin keine Nichtmagierin, du Penner.“, erklärte sie, „Ich bin immerhin Halblianerin.“ Sie erntete einen verdutzten Blick von ihm, ließ ihn aber keine weiteren Fragen stellen. „Wenn es dir wieder gut geht, können wir ja weiter. Ich werde dich nach Yiara begleiten und dann kann deine Tante oder wer auch immer mich dafür entlohnen, dass ich dir dreimal das Leben gerettet habe, wenn nicht viermal. Nein, fünfmal mit dem von eben.“ Ohne ihm einen Blick zu schenken schritt sie davon, sich darauf verlassend, dass er ihr folgen würde. Als sie hörte, dass er es tat, senkte sie grimmig den Kopf und schielte ihr Kurzschwert erneut an, das jetzt an ihrem Gürtel hing.

Halblianerin war sie... dass das mit dem Schwert nichts zu tun hatte, verschwieg sie dem Spinner lieber. Ebenso, dass ihr Vater, von dem sie es bekommen hatte, kein Magier gewesen war, soweit sie wusste... das war nur die Frau gewesen, von der er die Schattenklinge einst bekommen hatte.

„Du siehst ihr so ähnlich... Akada... deswegen nennen wir dich ja Himmelskind.“
 

Der Weg nach Yiara war weit. Jetzt, wo er seine Instinkte zurück hatte, konnte Karana ziemlich schnell in etwa orten, wo sie sein müssten und wie weit es noch war. Sie waren schon ein gutes Stück nach Norden gekommen... sie mussten östlich an Vialla vorbei gegangen sein, stellte er fest, als sich vor ihnen die Berglandschaft des Hochlandes auftat. Am Fuße der zerklüfteten Berge machten sie nach Einbruch der Dunkelheit Rast. Aus spärlichem Reisig, das sie aufgetrieben hatten, konnte Karana mit Hilfe von Vaira ein kleines Lagerfeuer machen, an dem sie sich wärmen konnten. Jetzt, im Herbst, wurden die Nächte zunehmend kälter und ohne Decke oder andere Wärme ließ es sich nur sehr unangenehm draußen schlafen. Als sie schweigend am Feuer saßen, Karana neben seinem Hund, der an den Knochen eines Karnickels kaute, das sie zuvor gejagt und gebraten hatten, nahm der junge Mann sich die Zeit, Iana wieder zu betrachten. Diese Frau... was ritt die Geister, ihn auf so eigenartige Art an sie zu binden? Er war verwirrt... jetzt, wo er seine Macht zurück hatte, war der Zorn in ihm verschwunden. Die Momente, die sein Vater so verabscheute, Momente, in denen Karana die Kontrolle über seine Zunge und seine Hände verlor, waren plötzlich vorbei. Zumindest für den Augenblick... wer wusste schon, was geschah, wenn er das nächste Mal seinen eigenen Geist nicht richtig festhalten konnte? Es verwirrte ihn... und das hatte es immer getan, er hatte immer diese Momente purer Boshaftigkeit gehabt, eine Seite an ihm, die niemand belächelte und niemand gern sah... nur seit er mit der Hühnerdiebin unterwegs war, war es schlimmer geworden... die Verwirrung. Der Wechsel zwischen den bösartigen Momenten und denen, die es nicht waren.

Hühnerdiebin...

„Warum hast du nicht im Lianerdorf gelebt, obwohl du zur Hälfte selbst eine bist?“, fragte er sie prompt, und sie drehte abrupt den Kopf zu ihm; offenbar hatte er sie aus den Gedanken gerissen. Iana zischte. Grimmig wie immer.

„Wie du kluger Weise selbst gesagt hast – zur Hälfte. Das reicht nicht. Im Lianerdorf leben nur richtige Lianer. Halbe dürfen nicht hinein.“

„Ist doch hirnverbrannt.“, behauptete er, „Nichtlianer sehe ich ja ein, aber du bist es doch immerhin halb! Hast du deswegen Hühner geklaut, weil... sie dich nicht hinein gelassen haben?“ Sie seufzte. Nach einer Weile sprach sie.

„Lianer tun immer so, als wären sie die Opfer der Nation, weil sie gejagt und versklavt wurden. Die paar, die hier auf Tharr leben, sind frei und werden wie geschützte Tierarten behandelt. Und damit sind sie etwas Besonderes und bilden sich darauf viel ein. Ich habe in dem Dorf gelebt, bis meine Mutter starb. Aber auch die Zeit dort war nicht schön. Ich war immer anders. Ich habe schwarze Haare und keine weißblonden, meine Haut ist nicht so blass wie die anderer Lianer und meine Augen sind von einem kräftigeren Blau. Ich war anders, anders ist grundsätzlich schlecht bei einem Volk, bei dem alle dieselben äußerlichen Merkmale haben.“ Karana schauderte.

„Das ist Diskriminierung, kann man dagegen nichts tun?“

„Wie denn? Wenn einer der Politiker in Thalurien es wagt, die Lianer zu kritisieren, gilt er doch sofort als Rassist, jeder Idiot würde sich davor hüten, sich da einzumischen, wenn er sein Ansehen behalten will. Wir wurden damals ja geduldet, aber eben nicht akzeptiert.“ Er sah sie schweigend an, während sie ins Feuer starrte und ein verbiestertes Gesicht machte.

„Und als deine Mutter starb... seid ihr von dort weg?“

„Sie war Lianerin – mit ihrem Tod haben wir das Recht verloren, im Dorf zu wohnen. Sie haben uns rausgeschmissen und dann haben wir draußen gelebt. Und es war so viel schöner als in diesem beschissenen Dorf mit diesen behinderten, rassistischen Bleichgesichtern... wir haben uns wohl gefühlt.“ Karana nickte nur stumm und sagte nichts weiter, weil sie den Kopf weg drehte und nicht den Anschein machte, als wäre sie bereit, mehr von sich zu erzählen.

„Das tut mir leid... Iana.“, sagte er schließlich, „Dass dir sowas passiert ist, meine ich. Das verdient kein Mensch.“

„Spare dir dein Gejammer. Das macht es nicht ungeschehen. Aber danke... für deine gespielte Anteilnahme.“ Er brummte.

„Sie war nicht gespielt, grimmige Hühnerdiebin. Hörst du dich eigentlich mal reden? Kennst du eigentlich so etwas wie Vertrauen? Ich meine, du... du hältst mich die ganze Zeit für ein absolutes Arschloch, vielleicht bin ich das manchmal, aber ich bin irgendwo auch ein Mensch.“ Sie lachte hohl.

„Was hat mein Schwert mit dir gemacht, dass du plötzlich wieder so herum schleimst? Vorhin warst du noch der Tyrann, der mich unterwerfen und töten wollte... hast du das vergessen?“ Er starrte sie nur an, während sie ihm ein kaltes, herzloses Lächeln zeigte. „Ich vertraue niemandem, Karana Lyra. Und dir schon gar nicht, du wankelmütiger Rammler. Ich schlafe jetzt... wenn du auf die Idee kommst, mich im Schlaf anzurühren, töte ich dich.“
 

Da nahm er sie lieber beim Wort; obwohl ihn der Gedanke zunehmend reizte, sie anzufassen... wie am Ufer des Sees oder im Wald, nachdem die Schatten verschwunden waren. Karana dachte manchmal schaudernd an die flüchtigen Momente, in denen er sie berührt hatte, und es schürte das Verlangen in ihm, es wieder zu tun. Sie reizte ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit, mehr als alle anderen Tussen aus Thalurien es jemals vermocht hatten, sogar mehr als Niarih... so wie Saidah, seine erste Flamme, der sie so ähnelte.

Karana knurrte innerlich, während er Tage später hinter ihr ging und sie betrachtete, während sie versuchte, Aar loszuwerden, der hartnäckig an ihrer Seite gehen wollte. Der Hund schien auch einen Narren an ihr gefressen zu haben... Karana wusste, dass das gut war, denn Aar mochte nicht jeden grundlos. Er gehorchte ihm zwar und tat niemandem etwas, aber so hartnäckig neben einem Menschen gehen tat der schwarze Wolfshund selten.

Es war kalt geworden. In den Bergen war es kühl und je weiter sie nach Norden kamen, desto kälter und unangenehmer wurden die Nächte. Yiara zu finden war nicht sonderlich schwer... es war die nördlichste Stadt des Landes, wenn man immer weiter nach Norden ging, musste man irgendwann ankommen.

„Musste deine Familie gerade in die am weitesten entfernte Stadt im Land fliehen?!“, fragte Iana ihn irgendwann, als sie das Hochland quasi hinter sich gelassen hatten und sich langsam der kalten, nördlichen Halbinsel Dokahsan näherten, der Provinz, aus der der Lyra-Clan ursprünglich stammte, in der Yiara lag. Karana schnaubte in ihre Richtung und rieb sich die Arme.

„Also rein vom Klima her wäre mir Dobanjan auch lieber gewesen!“, erklärte er, „Diese Kälte ist grauenhaft, im Süden ist es so schön warm. Aber meine Tante lebt nun mal in Yiara, schon ewig!“

„Ich hoffe, du bist dir da sicher, nicht, dass wir wieder umsonst herum gelatscht sind, langsam zahlt sich die Belohnung, die ich für dich bekommen könnte, nämlich nicht mehr aus. Ich latsche seit Wochen mit dir durch die Gegend, wir haben sicher bald den elften Mond!“ Karana hielt an, als Aar, der voraus gerannt war, laut bellend stehen blieb. Neben dem Mann kam auch die Hühnerdiebin zum Stehen und er sah sie schmollend an. Sie trug kaum mehr Kleidung als er, dennoch machte sie nicht den Eindruck, als wäre ihr kalt.

„Ich habe dich nicht gezwungen, mir nachzurennen, Hühnerdiebin. Frierst du nicht?“

„Ich habe jahrelang in einer Erdhöhle gelebt, ich bin Kälte gewohnt. Du etwa?“ Er zischte, ohne wirklich zu antworten. Natürlich war ihm kalt, sein dämliches, dreckiges und zerrissenes Hemd hatte kurze Ärmel und vom Regen der vergangenen Tage waren seine Kleider so feucht, dass sie ohnehin kaum warm hielten. Es wurde dringend Zeit, dass sie ein Dorf fanden...

Bei dem Gedanken fiel ihm sein Hund wieder ein, der vor ihnen auf dem Hügel stand und jetzt aufhörte zu bellen, als Karana zu ihm aufschloss und dem Blick des Tieres folgte. Am Fuß des letzten Ausläufers des Hochlandes lag eine kleine Siedlung mitten in der Einöde. Es musste ein sehr kleines Dorf sein – aber besser als nichts, sie könnten vielleicht für die Nacht eine Unterkunft bekommen und etwas richtiges zu essen...

Iana trat neben ihm, als er samt Aar begeistert herab starrte, und er sah zu ihr, als sie den Kopf in seine Richtung drehte.

„Dieses Mal bleibt dein Köter draußen. Ich lasse mir nicht noch mal von dieser Bestie mein Dach über dem Kopf versauen, Karana.“
 

Iana hatte das Gefühl, dass der verwöhnte Prinz aus Thalurien ihrer Bitte tatsächlich nachgekommen wäre. Das Problem war nur, dass es nirgendwo einen Wald gab, in dem sie den Hund hätten verstecken können... und als sie beim Pförtner ankamen, der das Dorf bewachte, hatte der den Hund längst bemerkt.

„Wilde Tiere haben keinen Zutritt, Fremde. Wer seid ihr und was begehrt ihr zu dieser Tageszeit? Die Nacht kommt bereits, um diese Zeit trifft man hier selten Passanten.“ Iana warf ihrem Begleiter einen grimmigen Blick zu, als er schon ansetzte:

„Der Hund gehorcht meinem Willen, ich schwöre Euch, dass er niemandem ein Haar krümmen wird...“

„Der Köter bleibt draußen.“, fiel die Frau ihm barsch ins Wort und knurrte, als er sie verblüfft anstarrte und Aar mitleiderregend winselte. Der Pförtner runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden Menschen hin und her.

„Ähm...? Also, hinein kommt das Tier nicht. Und eigentlich lasse ich ohnehin ungern Passanten ein um diese Tageszeit. Versucht es morgen wieder.“

„E-es ist doch noch nicht mal dunkel!“, empörte Karana sich, „Kuhkaff hier, wir würden gerne hier übernachten, Herr!“ Iana verdrehte die Augen – er konnte es einfach nicht. Höflich mit Menschen zu reden war offenbar nicht sein Ding... wobei er sich verbessert hatte.

„Wir sind auf der Durchreise nach Yiara.“, erklärte sie dem Wächter ruhig, „Wir sind weit gereist und sind sehr müde... wenn der Hund draußen bleibt und und wir angemessen bezahlen, könnten wir dann vielleicht in Eurem Dorf um Unterkunft bitten für eine Nacht?“

„Bezahlen?“, fragte der Mann und musterte sie von oben bis unten, „Womit wollt ihr bezahlen, Fremde? Ihr seht aus, als kämet ihr geradewegs aus einem Schweinestall! Und so riecht ihr auch.“ Karana brummte.

„Wage es nicht, sie anzustarren, Alter. Iana bezahlt nicht mit ihrem Körper. Mein Vater ist Senator, wenn ich bei meiner Familie angekommen bin, werden wir Euch entsprechend entschädigen, das verspreche ich.“ Iana fuhr verblüfft herum über seine ersten Worte, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen, weil der Pförtner ihr lachend ins Wort fiel.

„Dein Vater ist Senator?! Senator von wo, dem Schweineland? Oder von Dreckshausen? Genau, und morgen seid ihr über alle Berge und wir sehen kein Geld von euch... solche Typen wie dich kenne ich zur Genüge, Bursche. Verschwindet, macht, dass ihr weg kommt!“

„Wagt es nicht, so über meinen Vater zu sprechen!“, zischte Karana und Iana schlug sich gegen die Stirn – jetzt ging das wieder los. „Mein Vater ist Senator in Thalurien und ich verlange, verdammt noch mal, eingelassen zu werden!“

„Thalurien?“, kicherte der Mann, „Und was hat ein... Sohn eines Senators aus Thalurien hier in Dokahsan zu suchen? Nenne deinen Namen, du Knilch, vielleicht hast du Glück und ich kenne dich.“

„Karana Lyra.“, sagte er düster, „Sohn von Puran Lyra, der Name sollte dir etwas sagen, du Knilch.“ Der Wächter machte ein nachdenkliches Gesicht und musterte den erbosten jungen Mann vor sich, der grimmig die spitzen Eckzähne fletschte – dann zog er die Schultern hoch.

„Nö. Hab nie von ihm gehört. Ich kenne keine Leute aus dem Süden, du Idiot. Verschwindet, aber sofort.“ Iana sah die Lage schon eskalieren, als Karana tief Luft holte und wutentbrannt die Arme empor hob – doch in dem Moment, in dem sie panisch fürchtete, er würde den armen Kerl am Tor mit einem Zauber grillen, bekamen die beiden unerwartet Unterstützung.

„Dummkopf, dass du seinen Namen nicht erkennst... gerade hier in Dokahsan. Sie können bei mir übernachten, ich übernehme die Verantwortung für sie und den Wolf.“

„Hund.“, korrigierte Karana perplex und all sein Zorn schien dahin, als er und Iana am Wächter vorbei ins Dorf blickten – dort stand eine alte Frau, die sie ernst musterte. Der Pförtner drehte sich zu der Dorfbewohnerin um und keuchte.

„W-wie bitte?! Ich wusste nicht, dass du Leute aus dem Süden kennst... Wie kannst du sicher sein, dass er nicht lügt, Namah?“ Die alte Frau schnaubte.

„Ich bin Magierin und kann es sehen, Hornochse. Und falls es dir entgangen ist, habe ich viele Jahre im Süden gelebt, ehe ich herkam. Jetzt lass sie schon durch, oder ich ziehe andere Saiten auf.“ Iana runzelte die Stirn bei dem boshaften Ton, den die Alte an den Tag legte, und sie fragte sich, ob sie das Dorfoberhaupt war oder warum sie sich sonst so einen Ton einem Mann gegenüber erlauben durfte. Dort, wo sie herkam, war das absolut unmöglich...

Der Wächter stöhnte, als er wieder zu ihnen sah und dann zur Seite trat.

„Die alte Namah ist so freundlich, euch aufzunehmen!“, knurrte er, „Sogar den Wolf.“

„Hund!“ empörte Karana sich und Aar bellte.

„Seid dankbar, ihr Gesindel... einmal lasse ich es durchgehen.“ Er drehte sich wieder zu der Alten: „Auf deine Verantwortung, du alte Schachtel! Wenn du morgen tot und beraubt am Boden liegst, werden wir dich nicht bestatten!“ Iana sah Karana neben sich erschaudern bei den Worten, die Alte jedoch war ganz gelassen und machte eine schnippische Handbewegung.

„Schnabel halten. - Folgt mir, Fremde... in meiner Hütte könnt ihr nächtigen und bekommt etwas zu essen. Bindet euren Wolf vor der Tür an, da ist ein Pflock.“

„Hund!“, knurrte Karana kleinlaut, Iana war froh, dass er nicht weiter protestierte.
 

Die Hütte der alten Magierin war klein, aber gemütlich, stellte Iana erfreut fest – die Wärme, die sie umgab, als sie eintraten, war wahnsinnig angenehm und der Gedanke, am nächsten Tag wieder hinaus zu müssen, war absolut fürchterlich. Es gab einen Kamin, in dem ein Feuer brannte, über dem in einem Kessel Suppe gekocht wurde. Die alte Frau bot ihnen beiden schweigend Suppe in hölzernen Bechern an, ehe sie zu dritt um dem Fell eines Bären am Boden vor dem Kamin hockten und ihre Brühe tranken. Letztendlich war es Karana, der zuerst sprach.

„Danke für die Unterkunft, gute Frau. Ich dachte schon, wir müssten wieder draußen schlafen... dass diese Pförtner sich immer so anstellen, Himmel.“ Die Alte zeigte ein flüchtiges Lächeln.

„Mein Name ist Namah Manha.“, stellte sie sich vor und Karana zog die Brauen hoch.

„Namah Manha? Das ist aber ein komischer Name.“

„Nun, Manha war der Name meines Ehemannes, als man mir meinen Vornamen gab bei meiner Geburt, konnte man ja nicht ahnen, dass ich einmal im Nachnamen dieselben Buchstaben hätte.“

„Das ist wohl wahr, das kann mir als Mann nicht passieren.“, gluckste Karana und nickte ihr zu, „Ihr habt meinen Namen ja schon gehört, glaube ich, ich bin Karana Lyra.“

„Ich weiß. Aus diesem Grund habe ich euch ja hergebeten. - Wie ist dein Name, Frau?“ Sie wandte sich an Iana, und die Schwarzhaarige trank ihre Suppe aus und räusperte sich.

„Ak-... ich meine, Iana Lynn.“

Ich meine?“, fragte Karana, „Heißt du gar nicht Iana?!“

„Doch, das ist mein richtiger Name.“, sagte sie dumpf, „Ich stelle mich mitunter versehentlich mit dem Spitznamen vor, den mein Vater mir immer gegeben hat, Akada.“

„Davon wusste ich noch gar nichts.“, machte er verdutzt und sie seufzte, ohne weiteres dazu zu sagen. Galant wechselte sie das Thema und richtete sich an die Alte. „Dann kennt Ihr seinen Namen also, obwohl er aus dem Süden stammt?“

„Natürlich kenne ich den Namen Lyra. Und aus dem Süden stammen ist die falsche Bezeichnung, ursprünglich stammen die Lyras schließlich aus Dokahsan. In dieser Provinz zu leben und den Namen nicht zu kennen grenzt ja beinahe an Blasphemie.“ Karana hustete.

„W-wie bitte?! Das – ist aber etwas übertrieben. Ich weiß, dass meine Vorfahren von hier waren, selbst mein Vater ist hier noch aufgewachsen... aber...?“ Iana wusste nicht, worüber sie sich mehr wundern sollte – dass seine Familie hier oben so etwas wie heilig zu sein schien oder dass er plötzlich so unterwürfig war.

„Was genau meint Ihr denn mit Blasphemie?“, wunderte sie sich und die Alte sah sie kurz an.

„Der Clan der Lyra war ein wichtiger Bestandteil dieser Provinz, ehe die Zuyyaner kamen. Sie sind der mächtigste und älteste Clan der Schamanen dieser Gegend, sie sind bekannt als mächtige Rufer und Beschwörer der Himmelsgeister... einstmals gehörte dieser Familie ganz Dokahsan. Das ist nicht so lange her, dass dieser Trottel von Pförtner das einfach übersehen haben kann... es ist knapp über vierunddreißig Jahre her, dass die Provinz noch Lyrien geheißen hat, benannt vom damaligen Herrn der Geister, Kelar Lyra.“

Jetzt stellte Iana ihren Becher lieber weg und starrte abwechselnd die Frau und Karana an – Moment. Sein Vater war Senator in Thalurien und seine anderen Vorfahren hatten... eine ganze Provinz besessen? Wo war sie bitte, war das ein Witz? Sie sah ungläubig auf ihren Begleiter, der die grünen Augen geweitet hatte und schauderte.

„Kelar Lyra?“, japste er, „Das – den Namen habe ich schon mal gehört, er war der Großvater meines Vaters! Aber diese Geschichte habe ich bisher nicht zu hören bekommen... ganz Dokahsan hieß einst Lyrien nach meinen Vorfahren?!“

„Ganz recht.“, kicherte die alte Namah guter Laune, „Es waren keine leichten Zeiten damals, aber meiner Familie ging es zu Kelars Lebzeiten hier sehr gut. Ich bin etwas weiter nördlich von hier geboren und aufgewachsen, ich habe die Blüte von Lyrien miterlebt, als ich jung war. Der König von Lyrien selbst kam mitunter meine Familie besuchen, ich erinnere mich noch genau. Du...“ Sie zeigte dabei verschwörerisch auf Karana, der erstarrte, „Hast ein wenig von seinem Gesicht. Er war ein sehr hübscher Mann... meistens hatte er schlechte Laune, aber er hatte ein bildhübsches Gesicht. Ach, das ist lange her.“ Karana blinzelte konfus und Iana runzelte verhalten die Stirn. Was war das denn, wollte die alte Schachtel jetzt den Rest des Abend von Karanas Urgroßvater schwärmen? Na toll.

„Mein Vater hat mir nie viel von ihm erzählt... eigentlich gar nichts.“, murmelte der Schamane neben ihr und kratzte sich am Kopf, „Ich habe nur seinen Namen mitunter fallen gehört, wenn Vater wütend war und geflucht hat.“ Die Alte kicherte etwas behindert vor sich hin und Iana schauderte – offenbar schien Karanas Vater nicht so angetan zu sein von seinem Großvater wie diese Alte hier... es war aber etwas anderes, das die Schwarzhaarige stutzen ließ, als sie sich das Gesicht der alten Namah genauer ansah – es waren die verdammten Zähne. Sie hatte die gleichen, dämonischen Fangzähne wie Karana sie hatte.

Verblüfft fuhr sie zurück und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Die Frau hatte dasselbe, markante Merkmal wie Karana, war das Zufall? Sie wagte nicht, die beiden darauf anzusprechen, und behielt es sich lieber im Hinterkopf.

„Warum... gibt es Lyrien heute nicht mehr?“, wunderte Karana sich gerade, und die Alte blinzelte.

„Na ja, Kelar starb. Sein Sohn hat das Königreich, das sein Vater geschaffen hatte, wieder aufgelöst, soweit ich weiß, und es wurde wieder zu der Provinz Dokahsan, zu einem unbedeutenden Landstrich in Kisara. Was für ein Tor, dieser Knilch. Und seit die Zuyyaner uns überfallen haben, ist das Schloss der Lyras oben im Norden gefallen und die Familie ist verschwunden. Du bist doch in Thalurien aufgewachsen... oder nicht?“ Er nickte dumpf.

„Ihr sagtet vorhin, Ihr kämet auch aus dem Süden...?“

„Wir haben lange in Kamien gelebt. Die Zuyyaner töteten meine Familie und nahmen mich gefangen... aber ich konnte fliehen und kam hierher zurück, in den Norden, in dem ich geboren wurde. Leider habe... ich in Kamien meinen Mann und meine Kinder verloren im Krieg.“ Sie senkte dabei den Kopf und Iana tat es ihr gleich, als sie sich fest an ihren Becher klammerte und ihr die Erinnerung an ihre Familie wehzutun schien.

„Es... tut mir leid.“, sagte die Halblianerin dumpf, und die alte Frau sah versonnen in ihre Tasse und lächelte ein dämonisches Lächeln, als sie leise fortfuhr.

„Mein Ältester war ein so hübsches, kluges Kind... manchmal... träume ich noch von ihm... weit, weit weg hinter den Schatten des Mondes.“
 

Als die Alte ins Bett ging, das sich in der Schlafkammer neben der Stube befand, überließ sie den beiden Gästen das Wohnzimmer und die Wärme des Kamins. Beide bedankten sich noch einmal für die Freundlichkeit der alten Frau, dann herrschte lange Zeit Stille. Karana sprach erst wieder, als er der Meinung war, die Alte würde inzwischen schlafen oder zumindest so kurz davor sein, dass ein Gespräch in gedämpfter Lautstärke sie nicht weiter stören würde.

„Schon seltsam. Meine Familie hatte hier oben ein richtiges Schloss und mein Urgroßvater war König. Ich meine, das ist wirklich... verblüffend. Und da wachse ich unwissend in einem Kuhkaff in Thalurien auf...“

„Dein Vater hatte sicher Gründe, nicht darüber zu sprechen.“, murmelte Iana dumpf, während er sich gegen die Mauer des Kamins lehnte und gähnte. „Frag ihn einfach, wenn du ihn wieder siehst.“ Ja, das nahm er sich vor – wenn er seinen Vater denn demnächst überhaupt sehen würde, der war schließlich im Süden des Landes geblieben und würde vermutlich dank seiner Stellung auch nicht einfach quer durch das Land zu seiner Familie reisen können. Es geschahen schlimme Dinge... er erinnerte sich flüchtig an das Desaster in Dobanjan an der Küste, das sie mit angesehen hatten. Das Ostreich schien tatsächlich einen Krieg vom Zaun zu brechen... und was war mit den Idioten aus Kamien? Wobei die ihm im Augenblick weniger furchtbar erschienen als die Armada aus Ela-Ri. Es hieß, im Ostreich hausten Bestienzüchter, die Dämonen und Monster zähmten und auf die Menschen hetzen würden, Kannibalen, die sich vom Fleisch ihrer Opfer ernährten und Schlächter, die in falschen Ritualen Menschen zerstückelten, um irgendwelche Götzen zu befriedigen, die sie verehrten... so hieß es zumindest. Karana war nie dort gewesen – kein noch lebender Mensch des Zentralreiches war jemals dort gewesen, es war ein Land des Schreckens und des Todes.

Wenn das Reich fällt, werden sie knien...“, hatten die Geister gesagt, und er runzelte nachdenklich über diese Worte die Stirn. Wer würde fallen? Und wer sollte knien? Er würde sich eher den Kopf abschlagen lassen als vor dem Bestienkönig aus Ela-Ri zu kriechen. Es war nicht zum Kriechen geboren... er war ein Erbe der Lyra.

Unruhig beobachtete er seine Begleiterin, die sich auch gegen den Kamin lehnte und ihren Zopf auflöste, um sich mit den Fingern kurz durch die offenen, schwarzen Haare zu fahren, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er schauderte, als er so neben ihr saß, obwohl es einen beachtlichen Abstand gab... im Schein des langsam verglühenden Feuers leuchtete ihre Erscheinung in bizarren Farben und die Schatten, die sie an die Wand warf, waren skurril und dennoch auf seltsame Weise berauschend. Schatten... die sie zähmte mit dem Schattenschwert an ihrem Gürtel. Er warf einen Blick auf die Waffe.

„Dein Schwert... das ist doch keine Waffe der Lianer. Dein Vater hat es dir vermacht, sagst du, aber deine Mutter war die Lianerin. Wenn dein Vater also ein Nichtmagier war... wie kommt er an dieses Ding, das nicht in die Hände eines Nichtmagiers gehört?“ Sie drehte das Gesicht ungläubig zu ihm, sah kurz auf die Klinge und zischte.

„Was schert es dich? Es gehört mir, meinem Vater ist es geschenkt worden, bevor ich geboren wurde. Du bist wohl besessen von dem Ding.“

„Nein, ich...“ Er stockte kurz, ehe er sich räusperte und fortfuhr: „Ich weiß nicht, irgendwie kommt es mir... so vertraut vor, dein Schwert. So... wie eine weit entfernte Erinnerung, an die ich mich gar nicht erinnern sollte. Aber mir ist, als hätte ich es schon früher gesehen. Vielleicht in einem anderen Leben.“

„Mag sein.“, zuckte die Frau desinteressiert mit den Schultern, „Keine Ahnung.“ Karana brummte.

„Warum bist du bloß immer so abweisend? Ich meine, statt jedes Mal möglichst schnell und teilnahmslos das Gespräch zu beenden, könntest du doch einfach zulassen, dass wir uns besser kennenlernen.“

„Wozu? Wir sind doch bald in Yiara, oder nicht? Da hole ich mir die Belohnung und verschwinde wieder. Danach werde ich dich vergessen, du bist mir egal, Karana. Und jetzt tu bloß nicht wehleidig. Du findest schon eine andere Schlampe, die für dich die Beine breit machen will.“ Er starrte sie fassungslos über ihre kalten Worte an und senkte schließlich grimmig die Brauen.

„Ich sollte dich fesseln und für immer mit mir herum schleifen zur Strafe...“

„Oh, jetzt wird der Herr wieder besitzergreifend. Willst du jetzt wieder, dass ich vor die knie und dir die Füße lecke? Vergiss es, Karana, ich bin nicht deine Sklavin und habe auch nicht die Absicht, etwas ähnliches zu werden.“

„Ich will nicht, dass du meine Sklavin bist!“, empörte er sich entsetzt und sie lachte hohl, bevor er herum fuhr und sie grantig anstierte. Dann wich der grimmige Blick einem dämonischen Grinsen, ehe er sich zu ihr vor beugte und sie finster angrinste. „Nein... eine Sklavin wirst du mehr sein... wenn du mir den Rücken kehrst... Iana. Denn ich werde dich nicht vergessen, grimmige Hühnerdiebin, und ich werde dafür sorgen, dass du... es auch nicht tust.“ Sie schnappte nach Luft und schlug nach ihm, aber er wich ihrer Hand glucksend aus.

„Du bist gestört, Karana. Du würdest nicht wagen... mich zu töten.“ Kaum hatte sie ausgesprochen, packte er sie mit plötzlicher Gewalt an den Oberarmen, rammte sie gegen die Mauer des Kamins und presste sie brutal dagegen, seine Hände bohrten sich in ihre Arme und er brachte sie zum Keuchen. Mit demselben, fatalen Grinsen beugte er sich herab zu ihrem Ohr, während er sich breitbeinig über sie kniete und sich gegen ihren Leib presste. Sie zitterte... er spürte jede Bewegung ihres schönen Körpers so dicht an seinem, und es schürte die grauenhafte Flamme in ihm, die ihn schon seit Nächten um den Schlaf brachte. Wie lange war es her, dass er zum letzten Mal eine Frau gehabt hatte? Viel zu lange... und je länger es dauerte, desto unangenehmer wurde der Druck, der sich in ihm aufbaute.

„Ich... begehre dich...“, raunte er ihr ins Ohr und spürte, wie sie schauderte, was seine Erregung nur steigerte.

„Daraus... hast du kein Hehl gemacht...“, keuchte sie und versuchte vergeblich, ihn wegzustoßen, worauf er sie fester packte. „Ich bin sicher nicht die Einzige.“

„Ich begehre dich mehr als irgendwelche Nutten in den Dörfern. Ich begehre... wie du mich verabscheust, wie du mich so voller Zorn anstarrst, wenn ich... dir zu nahe komme.“

„Ich töte dich, wenn du es wagst!“, japste sie und fuhr zusammen, als er gewaltsam ihre Hände packte, sie mit einer Hand über ihrem Kopf gegen die Steine pinnte und mit der anderen Hand ihr Hemd hinauf zog, bis es ihre mit einem Tuch zusammen gebundenen Brüste frei gab.

„Du kannst mich nicht töten... nicht, weil du körperlich nicht fähig wärst, sondern, weil du... es nicht mehr wollen wirst. Du spürst es... in deinem Inneren, oder, Iana? Ich habe es schon am Seeufer gesagt... du wolltest es. Und du willst... es auch jetzt, in diesem Moment. Du willst, dass ich über dich herfalle und dich berühre... wo dich kein Mann bisher berührt hat.“ Grinsend schob er sein Gesicht wieder vor ihres und sah mit Triumph in den Augen, wie sie erbleichte bei seinen Worten und sich ihre blauen Augen vor Panik weiteten. „Ah... wie ich sehe, habe ich recht... wie immer, hm?“ Er kicherte und beugte sich über sie, um sie verlangend zu küssen. Sie strampelte unter ihm, versuchte, ihm zwischen die Beine zu treten, was er aber vereitelte, indem er selbst das Knie anhob und es mit sanfter Gewalt gegen ihren Schritt drückte. Sie keuchte und versuchte, sich aus dem Kuss zu lösen, doch als es ihr gelang, flammte ihr Gesicht nicht vor Zorn, sondern vor Verlegenheit... und es gefiel ihm, wie sie zerbrach an der Intensität seiner Worte und Bewegungen, obwohl er noch nicht mal richtig angefangen hatte.

„Lass mich los.“, schnarrte sie kalt und bemühte sich scheinbar um Beherrschung, „Sofort, Karana. Ich werde dir... nicht vergeben, wenn du das tust.“

„Ich will dir nicht wehtun.“, amüsierte er sich, „Genau genommen tue ich nur uns beiden den Gefallen.“

„Gefallen?!“, keuchte sie, „Glaube ja nicht, es gefiele mir, wenn du mich benutzt.“

„Wer sagt, dass ich dich nur benutze?“, fragte er und seine Stimme erkaltete in dem Moment, in dem er ihr wieder in das harte Gesicht sah. In ihrem Blick war die Verlegenheit verschwunden.

„Sieh dich doch an. Du brauchst jemanden, an dem du deine Triebe ausleben kannst, weil du schon ewig keine Frau mehr geknallt hast. Armselig, zu denken, ich würde darauf stehen, Karana.“

„Darum geht es nicht.“, knurrte er, errötete jetzt selbst und addierte ehrlich: „Also, jedenfalls nicht in erster Linie! Das wäre bei irgendeiner anderen Schlampe so, du bist anders. Das ist Instinktsache, Iana.“ Sie zischte.

„Das erzählst du vermutlich jeder Nutte, damit sie denkt, sie wäre die Liebe deines Lebens, die du im Übrigen nicht verdienst für deine Arroganz. Du irrst dich, ich wollte es nie und ich will es auch jetzt nicht. Du bist in deinem Inneren so abscheulich wie dein Äußeres schön ist... Prinz Lyra. Fass mich... nicht an!“

Er starrte sie für einen Augenblick an und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Schließlich ließ er sie los, ohne noch etwas zu sagen, und erhob sich, um sich drohend vor ihr aufzubauen und ihr lange schweigend ins Gesicht zu starren. Sie wussten beide, dass sie gelogen hatte. Und es war nicht ihre Ablehnung, die ihn erzürnte, sondern ihre monotone Stimme, ihr ausdrucksloses, kaltes Gesicht und die Gleichgültigkeit darin.

„Lügnerin...“, sagte er dumpf, „Wenn ich dich genauer ansehe, hast du recht. Du widerst mich auch an... du seelenlose Dämonenbraut.“ Er sah, wie sie erstarrte, und jetzt lächelte er böse. „Das kommt daher, dass du zwei verschiedene Namen annimmst, Iana und Akada. Niemand kann zwei Namen haben, der Name ist der Lebensgeist, der Name ist die Seele. Und du... hast keinen Namen, Frau. Du hast keinen Menschen, der dir etwas bedeutet, dir bedeutet nichts irgendetwas, oder nicht? Wie eine... geistlose Hülle, deren Zweck zu leben nicht existiert... ehrlich gesagt bedaure ich dich.“

Er sah ihr zu, wie sie auf die Beine sprang. Sie zitterte am ganzen Leib und sein Grinsen wurde breiter, als sie ihn voller Hass und Panik zugleich anstarrte, ehe sie die Hand hoch riss und ihm eine saftige Ohrfeige verpasste. Ohne weiteres zu sagen kehrte sie ihm den Rücken und rannte aus der Hütte, die Tür so heftig hinter sich zu schlagend, dass die arme alte Frau sicherlich aufgewacht war. Karana scherte sich nicht weiter um sie, setzte sich wieder hin und kicherte, ehe er sich die braunen Haare raufte und sich auf das Bärenfell vor dem erloschenen Feuer legte, um zu schlafen.
 

Die Nacht war eisig. Iana wusste nicht genau, wie sie die wahnsinnige Kälte ohne ein Feuer überlebt hatte, aber am nächsten Morgen war sie noch lebendig, sie spürte den Schmerz der Kälte in allen Gliedern und konnte sich kaum rühren. Sie zitterte am ganzen Leib vor Kälte, als sie es schaffte, sich hinzusetzen, weil sie Schritte hörte, die auf sie zu kamen. Kurze Zeit später kam der schwarze Hund zu ihr gewuselt, begrüßte sie hechelnd und wedelte dabei mit dem Schwanz, bis Iana es schaffte, sich das dämliche Tier vom Hals zu halten.

„Was zum Geier, Köter, lass mich leben...“ Als sie verspannt den Kopf drehte, sah sie auch des Hundes Besitzer aus dem nahen Dorf auf sie zu kommen, und sie schnaubte verbiestert, den Kopf sofort wieder weg drehend. Sie hätte weiter weg laufen sollen... oder nach Süden, irgendwo hin, wohin er ihr nicht folgen würde. Als sie noch darüber nachdachte, wegzurennen, war es schon zu spät und er hatte sie erreicht.

„Du lebst ja noch.“, sagte er grübelnd, „Na ja, ohne Seele friert man ja vielleicht nicht, wer weiß. Guten Morgen aber, Hühnerdiebin. Die Frau aus dem Dorf hat mir Proviant mitgegeben, das dürfte bis Yiara reichen. Warum bist du eigentlich noch da?“

Sie senkte grimmig den Kopf und wünschte sich zum zweiten Mal, sie wäre weggerannt. Aber sie war noch hier... warum war eine berechtigte Frage. Sie wusste es selbst nicht... irgendetwas in ihrem Inneren hatte verhindert, dass sie gänzlich davon lief. Sie wagte es, ihn kurz anzusehen, um festzustellen, dass der Triumph in seinem Gesicht sie anwiderte – was hatte sie anderes erwartet?

Sie fror und rieb sich fröstelnd die nackten Oberarme, während sie Karana wieder den Rücken kehrte.

„Ich will eine Belohnung. Ich renne doch nicht umsonst wochenlang mit dir herum, du Vollidiot.“

„Natürlich.“, versetzte er, „Die Pragmatikerin macht nichts ohne Zweck.“ Er ging an ihr vorbei und tätschelte ihr dabei den Rücken, wofür sie ihn am liebsten erschlagen hätte – sie schnappte nach Luft und zügelte ihren Zorn, als er sich zu ihr umdrehte, jetzt vor ihr, und sie schelmisch angrinste. „Soll ich dir sagen, warum du wirklich geblieben bist?“

„Nein.“, machte sie kalt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen und dann wiederum an ihm vorbei nach Norden zu gehen. Noch einen Spruch, der ihr beteuerte, dass sie nach ihm verlangte und an ihn gebunden war, konnte sie nicht gebrauchen... verblüffender Weise war seine Antwort nicht ganz das, was sie erwartet hatte.

„Ich kann dir... deinen Namen geben, wenn du möchtest... Iana Lynn. Deinen... Lebensgeist, der dich erst zu einem Menschen macht. Du weißt das... nicht wahr?“ Sie hielt inne – und in dem Augenblick, in dem sie es tat, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war.

Sie hätte nicht zögern sollen... ihm nicht schon wieder vor Augen halten sollen, dass er bis in ihr Herz zu sehen vermochte und jedes Mal recht hatte mit den abstrusen, perversen Dingen, die er sprach. Aber sie hatte es wieder getan...

Sie hasste sich dafür.

Verkrampft ballte sie die Hände zu Fäusten, ehe sie wütend zischte und ohne ihn anzusehen weiter geradeaus stampfte.

„Nein, kein Bedarf, Karana. Ich kenne meinen Namen.“

So behauptete sie grantig, während sie weiter ging und versuchte, die Anwesenheit des jungen Mannes hinter ihr zu ignorieren.
 


 

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Ähm. XD Karana ist bescheuert ♥ ich mag ihn XD



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Decken-Diebin
2011-01-01T16:50:12+00:00 01.01.2011 17:50
Ui, als Ulans Mutti aufgetaucht ist, fand ich das Ganze spannend... wie sie so toll von Kelar und Lyrien geredet hat, boah. Ging ja mal gar nicht xD
Und Tatsache ist, dass man Kelar-Karana sehr gut gesehen hat, siehe hier:
„Willst du weglaufen, Wachtel? Du... gehörst jetzt zu mir. Die Geister haben es gesagt, du spürst es auch... nicht wahr?“
Kelar hat Nalani ja immer Wachtel genannt, daran erinnere ich mich noch xD
Hm, diesmal hatten wir nur was von Karana und Iana... der Kerl ist so ein Depp, der würd sie ja am liebsten jetzt schon ficken xD So ein Spast... btw, ich frag mich, ob sie diesmal wieder ein Blutritual bekommen wird, hm, ich bin gespannt <3'
So, was ich noch anzumerken hab, wär folgendes: 'Es kam einen Kamin, ...' - Ich denke, das müsst heißen 'Es gab einen Kamin'? xD
Herz ♥
Von:  -Izumi-
2010-12-29T12:57:49+00:00 29.12.2010 13:57
Das fand ich interessant. o_o
Ich mag es sehr, wie du auf Iana und Karana und ihre seltsame Beziehung eingehst... und eben diese alte Verbundenheit, das ist irgendwie faszinierend. <3
Und ich liiiiiebe Kelar- Karana, er ist so herrlich böse. Insgesamt mag ich diese wahnsinnige Ader an ihm, das macht ihn so richtig interessant als Protagonisten, er ist schon lange nicht mehr der typische Held. XD
Ich meine, er ist eben nicht rein gut, er hat auch etwas ziemlich böses und das macht ihn total cool...
Iana auch... die mochte ich früher ja wie gesagt nie so besonders - sie ist auch heute nicht unbedingt mein absoluter Lieblingschara (außer, du hättest aus unerfindlichen Gründen plötzlich vor, sie zu töten, das würde das Ganze natürlich etwas ändern...) - aber ich lese richtig gern mit ihr, Karana hat schon recht, sie ist etwas komisch mit ihrer Art. XD
Ich finde es sehr cool, wie er sie so durchschaut hat... irgendwie. Und ihr Reaktion darauf. ^///^
Und da war Ülans Mama, yai <3. Sie ist Poser. Sie hat nicht viel gemacht, aber sie ist trotzdem Poser. Und Karana lernt etwas über seine Familiengeschichte und ist verwirrt... haha. XD
Mochte sehr!


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