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Die Chroniken von Khad-Arza - Das Blut der sterbenden Welten

Erstes Buch
von

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Pflichten

Puran Lyra war eigentlich ein imposant wirkender Mann, er hatte viel Macht und Ansehen im Lande Kisara; er war kein Tyrann und es niemals gewesen, aber man konnte ihm seine Autorität normalerweise aus dem Gesicht lesen und erkennen, dass er eine Person von hohem Rang und mit großem Einfluss war. Im Moment hatte er nichts mehr übrig von seinem Stolz und seiner Autorität und glich mehr einem eingefallenen Greis, plötzlich scheinbar um Jahrzehnte gealtert und mit einem Bein im Grabe. Eigentlich waren seine Beine auf der Erde, während er auf einem Schemel hockte, der im Foyer des Senatsgebäudes von Taiduhr stand... es fühlte sich eher an, als stünde er samt dem Schemel irgendwo im Abgrund einer bodenlosen Finsternis, die jetzt über ihn hereinbrach und nicht zulassen wollte, dass er jemals wieder Fuß fasste in der Welt der Lebenden. Vor seinen Füßen stand Dasan Sagal auf seinen edel verzierten Gehstock gestürzt, an seiner Seite seine Tochter Chitra, die im Übrigen nicht besser aussah als ihr Vater oder der Senator im Moment.

„Lorana ist an die Horde gefallen.“

Der Satz war so simpel gewesen, den Sagal gesagt hatte, als er das Senatsgebäude betreten hatte; und er war nicht überraschend gewesen. Puran hatte das Schicksal seines Heimatdorfes bereits von den Geisterstimmen erfahren gehabt, während er noch mit den anderen Senatoren debattiert hatte, was sie am besten tun sollten, um die Halunken aus Kamien aufzuhalten ganz zu schweigen von der nahenden Bedrohung durch Ela-Ri. Und dennoch hatte es ihm so einen Schlag versetzt, die Worte noch einmal aus dem Mund eines Sterblichen zu vernehmen... seit Jahren, seit Karanas Geburt hatte er diesen Ort seine Heimat genannt, und er hatte es immer gern getan... jetzt daran zu denken, nie wieder in Lorana zu wohnen, schmerzte irgendwie. Dabei hatte er gar keine Zeit, zu trauern...

„Die Verluste sind erstaunlich gering.“, versetzte Dasan Sagal vor ihm und klopfte gedankenverloren mit seinem Gehstock auf den Boden, „Aber es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden. Habt Ihr mit dem Senat gesprochen?“

„Die übrigen Männer kümmern sich um die Provinz. Meine Aufgabe ist es wie immer, nach Vialla zum König zu fahren, und das so schnell wie möglich...“, murmelte der Senator ermüdet, „Ich kann nur... nicht aufstehen... es ist, als würde mich Loranas Verlust auf den Boden drücken wollen... ich hätte da sein sollen. Ich hätte... meine Familie und meine Heimat beschützen sollen.“

„Ihr habt getan, was Eure Pflicht ist, Herr.“, sagte der alte Telepath dumpf, „Ich habe meine Späher ausgeschickt, die erledigen dann den Rest – also, die, die noch übrig sind nach den Angriffen der schwarzen Vögel, heißt das.“ Puran stöhnte.

„Schwarze Vögel...?“

„Die Bestien, die meine Grenzposten nieder gerissen haben. Darauf hätte ich gefasst sein sollen... Ihr seid nicht der Einzige, den die Geister an der Nase herumführen wollen, Herr. - Steht auf, rasch. Chitra und ich begleiten Euch zum Palast in Vialla, wenn es recht ist, per Teleport geht es auch schneller als per Kutsche. Ich fürchte, der Radau in Thalurien wegen der Männer aus Kamien ist ein kleiner Staubwirbel verglichen mit dem Wirbelsturm, der uns... aus dem Osten droht.“

Der Herr der Geister hob das Gesicht wieder und schenkte erst dem inoffiziellen Herrscher der Provinz und dann seiner Tochter einen Blick. Chitra sah verstört aus...

„Habt Ihr was gehört von Ela-Ri?“

„Ich habe ein schlechtes Gefühl. Und ein Gefühl, dass wir jetzt in Vialla am besten aufgehoben sind. Hier gibt es nichts, was Ihr tun könnt, und wenn wir nicht wollen, dass es bald die Streitmacht von Ela-Ri ist, die die Barbaren aus Kamien von hier verjagt, sollten wir uns beeilen.“ Der Telepath sah jetzt zu seiner jüngsten Tochter, die zusammenfuhr und das Gesicht keuchend wegdrehte. „Sieh mich an, Tochter. Jetzt.“

„Meine Niarih... ist verschwunden...“, stammelte die Heilerin und Puran fuhr von seinem Schemel hoch, um sie erschrocken anzustarren, und ihr Vater gab ein herzloses Zischen von sich.

„Wir finden das Mädchen. Das habe ich dir versprochen. Die Geister würden mich nicht derart betrügen mir zu verschweigen, wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Ich bin sicher, sie ist wohlauf... wir können sie jetzt nicht suchen, Chitra.“

„Dann verurteilst du meine Tochter zum Tode...“, keuchte die Heilerin zitternd, „Wo immer sie ist, sie ist sicher allein oder in der Gefangenschaft dieser Bastarde...“

„Niarih ist Telepathin und sie ist nicht dumm.“, erklärte der Vater in aller Ruhe und Puran sagte sich, es wäre besser, zu schweigen und sich da nicht einzumischen. Ja, sie war Telepathin... und sie war begabt, wie ihr Vater es war, der niemals öffentlich zugeben dürfte, dass er ihr Vater war. „Sie ist am Leben und sie wird wohlauf sein, Chitra. Nimm meine Hand... je schneller wir nach Vialla kommen, desto besser.“ Chitra zitterte, als sie tat, wie ihr geheißen, und der Herr der Geister schenkte ihr einen dumpfen Blick und seine Anerkennung für ihre Tapferkeit. Sie wich seinem Blick schweigend aus und senkte das Gesicht wieder, während sie unruhig nach Luft schnappte.

„Was ist mit Eurer Familie, Senator...?“, wisperte sie dann, „Sind Eure Frau und Eure Kinder in Sicherheit...?“

„Das hoffe ich stark... ich habe sie nach Yiara zu meiner Cousine geschickt, ehe ich ging. Ich hoffe, sie sind rechtzeitig weggekommen... ich werde... die Geister wohl um Gnade bitten müssen, wenn ich nachher mit ihnen spreche.“

„Tut mir einen Gefallen.“, sagte Sagal zu ihm, als Chitra schwieg, und der Senator blickte den Älteren schweigend an, als dieser unschlüssig den Blick senkte, dann wieder aufsah und leise seufzte. „Bittet für meine... Enkelin mit, wenn Ihr schon dabei seid.“
 

Vialla war die Hauptstadt des Zentralreiches, nicht nur des Landes Kisara. Dementsprechend pompös und mächtig waren die Mauern, die Straßen, der Palast des Königs und selbst die Tore. Puran war oft in Vialla als Vertreter aller möglichen Räte im Senat des Königs, und dennoch vermittelte der Anblick der Stadt noch immer eine faszinierende, schützende Macht... im Krieg gegen Zuyya hatte Vialla alle Angriffe überstanden und war eine uneinnehmbare Festung gewesen. Er konnte nur beten, dass die Brandung aus dem Osten nicht die vom letzten Krieg noch etwas bröckeligen Mauern niederreißen würde...

Der König von Kisara war untröstlich über die Lage in seiner westlichen Provinz Thalurien. Er hatte keine Probleme damit, mitten in der Nacht durch den überraschenden Besuch seines Vertreters aus jener Provinz und des alten Sagal aus dem Bett gescheucht worden zu sein. Das war das Praktische daran, dass der kleine Monarch so begeistert von Magiern war; er war garantiert nie böse, solange Puran es war, der ihm die schlechten Nachrichten brachte.

„Fürchterlich!“, kommentierte er das gerade, während er in seiner Schlafkleidung durch seinen Thronsaal tigerte, sich die ergrauten Haare raufte und dann irgendetwas Unverständliches vor sich hin murmelte, während Senator Lyra nebst Sagal und dessen Tochter mitten im Raum herum stand und nicht wagte, sich viel zu bewegen. „Meine Herren, ich weiß nicht, wohin ich mich hier wenden soll!“, meckerte der König, „Da kommen die einen Säbel rasselnd aus dem Osten, dann kommen die nächsten aus dem Westen und schwingen ihre Knochenkeulen, sagt einmal, Senator Lyra, haben sich denn alle guten Geister gegen uns verschworen?!“

„Ich muss zu meiner Schande gestehen, mein König, dass ich in den letzten Tagen etwas erfolglos war mit den Gesprächen... ich habe versucht, die Himmelsgeister zu besänftigen, aber alles, was ich zu hören bekomme, ist das Ende der Welt.“ Er murmelte kleinlaut vor sich hin, während der Monarch weiter vor ihm hin und her eilte: „Ganz zu schweigen von der lüsternen Seherin aus Fann, die mir mit ihren elenden Blicken die Hosen vom Leib reißen will...“

„Was?“, machte der König, da plötzlich hellhörig, und Puran errötete perplex, als der kleinere Mann sich zu den dreien aus Thalurien umdrehte, „Ihr habt die Seherin gefunden? Ich habe sie suchen lassen am Nachmittag...“

Sie hat mich gefunden, Majestät. Eigentlich bin ich aber nicht schlauer als vorher geworden.“

„Und wo habt Ihr sie jetzt gelassen? Oh nein, sie ist doch nicht in Lorana verbrannt? Das wäre ja ein Jammer, ich habe gehofft, von ihr vielleicht noch genauere Details über unsere Zukunft erfahren zu können – meine Herren, wir stecken bald im nächsten Krieg, und ich bin mir nicht sicher, ob dieser nicht fürchterlicher wird als der gegen das zuyyanische Imperium... normalerweise fürchte ich die Zuyyaner ja mehr als die Ostländer... jetzt bin ich mir aber nicht mehr so sicher. Ich habe wahrlich grausliche Geschichten gehört über die Herrscher des Ostreiches und über die monströse Streitmacht, die Dhimorien zerschlagen hat...“ Puran Lyra seufzte.

„Ich weiß leider nichts über den Verbleib der Seherin, aber... bei allem gebührenden Respekt, mein König, ich weiß auch nicht, ob ihre Worte uns... wirklich helfen könnten jetzt.“ Dieser esoterische Kram mit dem Wahrsagen hatte ihn noch nie wirklich fasziniert – die Tatsache, dass Ryanne der Yalla nicht nur eine dämliche, kostümierte Hochstaplerin war, sondern eine wahrhaftige Seherin mit einer mächtigen Gabe, tat hier wenig zur Sache... sie verlor ja ohnehin immer dann, wenn es spannend wurde, ihr Gedächtnis. Er wusste immer noch nicht wirklich etwas über die Sieben, von denen sie gesprochen hatte...

„Was machen wir jetzt, Majestät?“, hörte er dann Sagal neben sich fragen und schrak aus seinen Gedanken, als der Monarch vor ihnen zum Stehen kam, sich abermals die Haare raufte und dann seufzte.

„Wenn ich das wüsste, Herr...“

„Wenn ich mir erlauben darf, das einzuwerfen, so fürchte ich, mein König, dass die Bedrohung aus dem Osten die weitaus größere sein wird. Schatten bringen... die Geister in meinen Träumen, wenn sie vom Ende der Welt sprechen. Sagal hat zu mir gesagt, er würde den Politikern in Thalurien unter die Arme greifen und die Meute aus Kamien verjagen. Worum Ihr Euch kümmern solltet, Majestät, ist, die Grenzen zu sichern. Überdies wäre ein Kurzschluss mit unseren Verbündeten im Reich gut, für den Fall, dass Ela-Ri tatsächlich angreift, wäre es von Vorteil, wenn wir uns zusammentun.“

„Um Himmels Willen, Senator Lyra!“, jammerte der König entsetzt, „Sie haben Dhimorien plattgewalzt, ehe jemand eine Chance hatte, sich zu wehren!“

„Dhimorien ist auch etwas mittelloser als wir es sind.“, behauptete Puran scharf, „Ich bedaure Dhimoriens Fall, aber ich fürchte, die Zeit, den Kopf in den Sand zu stecken, haben wir jetzt nicht, mein König. Wenn wir uns rasch genug wappnen, haben wir vielleicht eine Chance.“ Er warf einen Blick auf Sagal, der ihn offenbar in Gedanken unterstützte, als er den Blick flüchtig erwiderte.

„Wenn ich mich einmischen darf, Majestät.“, sprach der Telepath darauf ernst, „Ihr wisst um meine Kontakte, sie sind eben überall und für solche Zeiten ist das schließlich gut. Lasst mich Botschaften senden nach Janami, nach Senjo und nach Intario; wenn die vier großen Länder des Reiches sich zusammentun, können wir dem Schattenreich vielleicht die Stirn bieten, Majestät.“ Der König musterte ihn und nickte dann.

„Das klingt mir einleuchtend. Was wird aus den kleineren Reichen wie Kuyala und Westfann?“

„Sie sollten auf jeden Fall in Kenntnis gesetzt werden von dem Unheil, das droht.“, murmelte Puran Lyra dumpf, „Sie sind am dichtesten am Ostreich dran... ganz zu schweigen von Ostfann, das direkt an Westfann grenzt. Die Grenze von Sul-Mirr sollte besonders scharf bewacht werden.“

„In der Tat.“ Mit diesen Worten schritt der Herrscher erhobenen Hauptes an den Besuchern vorbei zur Tür und öffnete sie rasch. „Wachen!“, rief er laut, „Rasch! Schickt nach dem Heerführer, er soll noch vor Sonnenaufgang Befehle in die provinzialen Hauptstädte schicken, wir müssen unsere Streitmacht zusammentrommeln! In Dobanjan und Noheema sollen sie besonders die Grenzen bewachen. - Sagal, am besten brecht Ihr umgehend auf und sendet Eure Botschaften in unsere Nachbarländer. Und Ihr, Senator Lyra, solltet Euch mit Euren Kollegen, den Geisterjägern, zusammensetzen; ich denke, ich werde Euren versammelten Rat hier bitter nötig haben in diesen schwarzen Stunden.“ Der Senator verneigte sich ehrfürchtig, als der Monarch aus dem Saal schneite und draußen nach seinen Ministern rief.

Ja, dass der Rat einberufen werden musste, war unvermeidbar. Puran seufzte resigniert und raufte sich ermüdet die braunen Haare, ehe er sich an Sagal wendete, der noch zur Tür starrte, aus der der König gerade verschwunden war. An ihm klammerte noch immer die bebende, blasse Chitra. Sie sah furchtbar aus...

„Wollt Ihr aufbrechen, Herr? Ich bin sicher, dass für die Sicherheit Eurer Tochter hier im Palast gesorgt wird. Kann ich von Euch einen Gefallen erbitten, wenn Ihr Botschaften nach Janami schickt...?“ Der Telepath räusperte sich kurz und wand sich dann aus dem Griff seiner jüngsten Tochter, die den Blick zu Boden senkte und erzitterte.

„Sprecht nur.“

„Bringt mir Saidah. Und richtet ihr am besten sofort aus, dass sie die anderen benachrichtigen soll... sie ist hier die Botschafterin.“ Dasan Sagal verneigte sich ehrfürchtig und hinkte dann mit seinem Gehstock ebenfalls zur Tür.

„Dann werde ich tun, wie Ihr verlangt. Ich habe sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen... die Erbin der Chimalis und Herrin... der Schattenvögel.“
 

Der Herr der Geister hatte die schöne Tochter seines verstorbenen besten Freundes auch eine Weile nicht mehr gesehen. Da sie aber Mitglied im Rat der Geisterjäger war und der Rat sich viermal im Jahr traf, sah er sie vermutlich öfter als Sagal es tat. Und obwohl Puran Saidah seit dem Tag ihrer Geburt kannte, konnte sie ihn immer noch zu Tode erschrecken, wenn sie plötzlich aus dem Nichts bei ihm auftauchte, wie sie es am folgenden Morgen unverhofft tat. Da der König so gejammert hatte und nicht hatte zulassen wollen, dass der Senator großartig von seiner Seite wich, hatte er ihm prompt Gemächer im Palast herrichten lassen, ebenso im Übrigen der armen Chitra; der Mann war kaum halb angezogen, als die Tür des Schlafzimmers plötzlich ohne Vorwarnung aufsprang und seine Kollegin schon im Türrahmen stand.

„Du bist noch im Bett?“, fragte sie wenig beeindruckt, während er hüstelte, „Na, dann aber rasch, du bist ja genauso ein fauler Langschläfer wie dein vermaledeiter Sohn, den ich unterrichtet habe. Und da beeile ich mich extra. Aber einen schönen guten Morgen, Puran.“ Der Senator schnaufte, während er seine Hose zuknöpfte und nach seinem Hemd angelte, während er es bereute, keine Wechselkleider von daheim mitgenommen zu haben.

„Wie kommst du bitte hierher, Saidah?!“

„Du hast vergessen, die Tür abzuschließen. Naiv von dir, ich hätte jetzt auch ein Attentäter sein können. Dir trachten sicher viele Männer nach dem Leben, weil du der allerliebste Liebling des Königs bist...“ Puran errötete genervt.

„Attentäter? Na, wenn mein Mörder so aussieht, lohnt es sich ja beinahe schon.“ Er knöpfte sich das Hemd zu und eilte an ihr vorbei ins Badezimmer, das an das Schlafgemach angrenzte. „Vergib mir, dass ich noch nicht so früh auf den Beinen war wie du offenbar, ich habe gestern mein Heimatdorf verloren und meine Familie irrt durch die Pampa auf dem Weg zu meiner Cousine. Ich sehe absolut scheiße aus und meine Haare sind eine Katastrophe, also halt einmal die Luft an, junge Dame, bevor du anfängst, mich zu tadeln.“ Er sah aus den Augenwinkeln, dass sie gluckste, während er im Bad begann, seine Haare zu richten, oder es zu versuchen.

„Ich habe Sagals Anweisung befolgt und bin so schnell wie möglich gekommen.“, versetzte sie, „Und so dankst du mir das nun? - Soll ich einen Jungen nach Haarwachs schicken lassen?“

„Nein... obwohl... ach, nein, Himmel. - Sagal, ah, ja, dann hat er dich erreicht. Hast du den anderen Botschaften geschickt?“

„Natürlich.“, sagte die Frau und er sah sie flüchtig an, während sie sich auf den Bettrand fallen ließ und neben sich etwas sehr langes, schmales, das in ein Stofftuch eingewickelt war, auf den Boden legte. „Ich denke, heute Mittag müssten alle hier eintreffen, ich habe gesagt, sie sollen sich teleportieren lassen, wir haben in der Tat wenig Zeit.“

„Sehr schön, ich danke dir, meine Liebe. Dann hast du dich auch teleportieren lassen von Minh-În aus? Es ist unmöglich, so schnell von da nach hier zu kommen... man fährt mehrere Tage, Himmel!“ Er gab es fürs Erste auf, seine Haare bändigen zu wollen, und kehrte zu ihr zurück ins Zimmer, um sie kurz zu mustern. Sie trug ihre langen, schwarzen Haare zu einem komplizierten Zopf geflochten, er hatte noch nie so richtig verstanden, wie Frauen das mit ihren Haaren machten... Er hatte wenig Zeit, sie genauer zu betrachten, obwohl er es an sich immer gerne tat, wenn er sie sah. Saidah war von dem niedlichen, zierlichen Mädchen, das sie einmal gewesen war, zu einer bildschönen, jungen Frau herangewachsen. Mit ihren knapp über zwanzig Sommern war sie die Jüngste im Rat, aber sie war definitiv begabt. Ihre Familie war ein Clan seit jeher angesehener und gefürchteter Schamanen, deren Furchtsamkeit und Macht sie im Blut hatte; und sie war die letzte Tochter des Chimalis-Clans... die letzte Person auf Tharr, die die Macht über die Geister der Aasgeier besaß.

„Du bist hübsch geworden.“, sagte er dumpf, während er sie betrachtete, und sie musste leise kichern.

„Du tust, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Schleimer.“

„Aber es ist doch schon fast ein Begrüßungsritual, dass ich das sage und im Anschluss wie jedes Mal anmerke, dass du deiner hübschen Mutter ähnelst.“

„Soll ich mich gleich ausziehen und die Beine breit machen oder wollen wir erst mal Kaffee trinken?“ Er hustete empört.

„Saidah! Hüte deine Zunge, ich bin dein Vorgesetzter und außerdem älter als du, rede keinen Blödsinn!“ Sie gluckste offenbar amüsiert über seine Aufregung und schenkte ihm ein familiäres Lächeln.

„Ist doch schon gut, Vatilein. War doch nur Spaß. Du bist ja nicht Karana.“ Er seufzte und senkte den Blick, als sie ihn Vater nannte. Das tat sie mitunter, wenn sie alleine waren... es ehrte ihn, wenn sie so sprach. Dabei war ihr wirklicher Vater ein sehr viel weiserer, wundervollerer und besserer Mann gewesen als er selbst es war... Puran vermisste ihn schrecklich, wenn er jetzt daran dachte.

Sein Blick fiel auf das komische, lange Ding zu Saidahs Füßen am Boden.

„Was ist das eigentlich?“, wollte er wissen, „Ein Besenstiel?“

„Du wirst im Staub kriechen vor Demut, wenn du es siehst.“, sagte sie prompt, „Besenstiel! Das, mein lieber Puran, ist mein Familienerbstück. Ich habe die letzten drei Jahre damit verbracht, danach zu suchen, tatsächlich gefunden habe ich sie in einem Kuhkaff im Osten von Janami. Du weißt, das Studium der Geschichte meiner Ahnen beschäftigt mich ziemlich... das hier ist tatsächlich ein Durchbruch. So in der Art...“ Während sie sprach und er sie nur nichts verstehend anstarrte, hob sie das Objekt vom Boden auf und wickelte den Stoff ab, um eine Waffe zu Tage zu fördern; eine lange, messerscharfe und blitzblank polierte Klinge, die an einem in der Tat monströs langen Stab befestigt war. Der Mann zog die Brauen hoch bei diesem Anblick.

„Du lieber Himmel!“, rief er aus, „Das – das ist ja riesenhaft, welchen Bären willst du denn damit erstechen?! Ich habe noch nie einen solchen Speer gesehen – irgendwie ist es mehr schon ein Schwert... am Stiel...“ Sie schnaufte.

Hellebarde, wenn ich bitten darf. Das ist eine Hellebarde, Puran. Kein Speer.“

„Vergib mir, ich kenne mich mit Waffen nicht so aus, ich beherrsche bloß Schwerter.“

„Sagal war weniger überrascht als du.“, räumte sie mit einem kurzen Blick auf die Waffe ein, „Nun, du wirst dich in der Geschichte meines Clans wohl auch wenig auskennen. Das ist nicht irgendeine Hellebarde. Es ist die legendäre Hellebarde von Yamir, die einer meiner Vorfahren vor über dreihundert Jahren erschaffen hat. Sie war lange im Schatten verschollen... und jetzt habe ich sie von dort wieder zurück ans Tageslicht gefördert.“ Sie senkte den Kopf und murmelte dumpf: „Das hat mich... etwas Arbeit gekostet.“ Puran blinzelte und sah abwechselnd die Frau und das Ding in ihren Händen an.

„Hellebarde? Das ist ja fürchterlich – Familienerbstück also? Meoran hat nie davon gesprochen... woher weißt du denn dann davon?“

„Mein Vater mag sie nie erwähnt haben, aber gekannt hat er sie auch. Glaube mir, jede Generation meiner Vorfahren nach besagtem Yamir hat nach diesem Ding gesucht. Sie ist mächtig... es ist ein Magiemedium, das bedeutet, ein Magier kann seine Magie auf sie übertragen und mit ihr die Macht seiner Zauber enorm verstärken. Das gilt nicht nur für die physischen Zerstörer, Puran... dieses Medium hat Einfluss auf die Geister von Himmel und Erde.“ Er räusperte sich bestürzt.

„Willst du mir meinen Posten als Ratsführer streitig machen oder warum strebst du... auf einmal nach so viel Macht?“

„Eigentlich hatte ich vor, Karana damit zu verprügeln, wenn ich ihn das nächste Mal sehen sollte.“ Er hustete.

W-wie bitte?! Ich dachte, ihr beide wärt ein Herz und eine Seele gewesen, als er bei dir war... wenn du verstehst, was ich meine...“

„Oh, ja. Und das ist ja das Problem. Du weißt genau, warum er und ich niemals ein Liebespaar sein dürfen. Dummerweise hast du wohl vergessen, das deinem halbwüchsigen Sohnemann zu erzählen, und für den Fall, dass er mich nicht versteht, kann ich ihm jetzt eins über die Rübe hauen.“ Der Senator seufzte theatralisch.

„Jetzt führst du dich auf wie eine übers Ohr gehauene Ehefrau, die bemerkt hat, dass ihr Mann fremdgeht. Wer sagt, dass du ihm demnächst begegnen solltest?“ Ihr Blick wurde jetzt erstaunlich ernst; aber was ihn mehr beunruhigte als das war, dass auch ihre Stimme denselben Argwohn mit sich führte... einen Argwohn, den er selten an ihr erlebte.

„Die Geister sagen das. Und ich fürchte mich vor der Begegnung... weil Karana denken wird, es wäre gut, wenn wir uns sehen. Und das... ist es definitiv nicht.“
 

Die Geister von Himmel und Erde waren launisch. Puran war an ihre Launen gewöhnt... selbst er als Herr der Geister brauchte ein gewisses Maß an Überzeugungskraft, um sie zum sprechen zu bringen... aber im Moment war es mehr der Schatten, der aus dem Südosten herauf zog, der sie alle beunruhigte. Der Himmel war verhangen im Süden... es war nichts Gutes, was auf sie zukam. Plötzlich wünschte der Senator sich die komische Seherin aus Fann zurück – solange sie ihr Gedächtnis nicht verlor, konnte sie vielleicht nützliche Dinge erzählen, die sie alle tangierte. Und sie wusste eine Menge... das spürte er instinktiv. Sie wusste um den Schatten... und sie wusste, was dem Zentralreich bevorstand.

„Der König von Ela-Ri ist Schamane wie Ihr und ich. Und er ist ein furchtbarer Schamane, er kann die Geister von Himmel und Erde zu seinen Knien zwingen, wenn ihm danach ist... das flüstern die Himmelsgeister in meinen Träumen. Ich habe ihn gesehen. Er ist groß und furchtbar. Er wird kommen und Euer... Schicksal wird er besiegeln... Puran Lyra, Erbe des Ruferclans.“
 

Und er wird kommen und mein... Schicksal besiegeln. Und dann kommt... das Ende der Welt.
 

Puran Lyra fasste stöhnend nach seinem Kopf, während er die Ellenbogen auf dem hölzernen, edlen Tisch vor sich abstützte. Das Ende der Welt... davon träumte er schon so lange. Immer wieder, sprachen die Geister davon... er fragte sich, ob Ela-Ri das Ende der Welt bringen würde...

„Schläfst du ein? Wir können den Rat auch morgen halten, wenn es dir lieber ist!“

Er fuhr aus seinen Gedanken hoch und warf einen mürrischen Blick in die Runde seiner Kollegen, die vor ihm am Tisch saßen. Der Mann, der gesprochen hatte, schenkte gerade allen gut gelaunt Wein in Gläser ein.

„Was...? Nein, schon in Ordnung, Neron. Vergib mir, mir geht das nur alles etwas zu rasch gerade.“

„Trink ein Weinchen mit uns, das muntert auf. Der ist gut, der kommt aus Janami!“, erwiderte sein schwarzhaariger Kollege grinsend und schob ihm ein Glas über den Tisch, „Wenn wir ja sowieso alle draufgehen, können wir ja vorher noch die guten Seiten des Lebens auskosten, oder nicht?“

„Idiot.“, schimpfte die blonde Frau neben ihm und linste ihn an, „Und wer versorgt dann unsere Kinder, wenn du sturzbetrunken auf der Straße einschläfst? Ich hoffe, hier im Palast sind sie erst mal gut aufgehoben.“ Puran schenkte ihr einen blöden Blick.

„Ihr habt eure Kinder mitgebracht?“

„Nun, die Zeichen stehen schlecht.“, erwiderte der Mann namens Neron und nippte zufrieden an seinem Glas, „Wir werden... vermutlich nie wieder nach Skelrod zurückkehren, denke ich. Wenn der König uns schon jetzt alle zusammentrommelt, bevor es richtig losgeht... der schiebt sicher Panik, oder, Puran?“

„Natürlich tut er das, ich tue das auch, mein Heimatdorf ist in Schutt und Asche gelegt, meine Familie rennt durch das ganze Land nach Yiara, aus dem Westen kommen die Hurensöhne aus Kamien und aus dem Osten kommt der Schatten von Ela-Ri. Nenne mir einen Grund, jetzt keine Panik zu schieben, Neron.“

„Na ja, hier in Vialla sind wir ja relativ sicher. Nicht mal die Zuyyaner haben die Mauern einnehmen können.“

„Und warum war das so?“, mischte sich der nächste Kollege am hinteren Ende des Tisches ein, den darauf alle ansahen, „Weil wir, die Geisterjäger, fröhlich in erster Reihe gestanden und alle Zuyyaner erschlagen haben. - Sind wir jetzt etwa aus einem anderen Grund hier, oder was? Kannst du deinem Lieblingskönig nicht mal erklären, dass wir nicht seine Sterbestatisten sein wollen, Puran?“ Der Herr der Geister zischte kurz.

„Und wenn es so wäre. Dann ist es unsere Pflicht, das hier ist unser Heimatland. Willst du das bestreiten, Emo?“

„Keinesfalls, großer Häuptling...“, feixte der Angesprochene und gluckste amüsiert über die Aufregung; und Puran spürte wie jedes Mal, wenn er diesen Hanswurst sehen musste, das Verlangen, ihm einfach mal alle Zähne auszuschlagen, damit ihm sein dämliches Grinsen verging. Er verabscheute den Kerl einfach... er sparte sich jetzt einen Blick in Saidahs Richtung, weil er genau wusste, dass sie in diesem Punkt seiner Meinung war. Aber Henac Emo war Mitglied des Rates... vor den Augen der Himmelsgeister hatte er erfolgreich die Prüfung bestanden, die ihn dazu gemacht hatte, schon bevor Puran zum Rat gestoßen war. Sie konnten ihn nicht einfach raus werfen, nur, weil ihn keiner leiden konnte. Er war eine arrogante Nervensäge... Puran versuchte manchmal, sich damit das Gewissen rein zu reden, dass die Geister ihn nicht zu dem gemacht hätten, was er war, wenn er absolut unnütz und abgrundtief schlecht wäre. „Aber vom Ende der Welt träumen wir... alle, oder? Das hat selbst mein Großvater schon getan. Jetzt wird es Zeit... und ich empfinde es als reine Zeitverschwendung, ein Reich zu retten, das auch so untergehen wird.“

„Wenn man es so betrachtet, ist es auch völlig sinnlos, Kinder zu bekommen, sie sterben ja auch eines Tages.“, schnarrte Saidah in die Richtung des älteren Mannes und der grinste gehässig.

„Ah, schön, dass du so denkst, da du ja sowieso nie welche bekommen wirst. Praktisch, Prinzessin.“

„Nenne mich nicht so und hüte besser deine Zunge, Meuchler.“ Puran stöhnte und rieb sich mit den Händen über das Gesicht; deshalb hasste er die Zusammenkünfte seines Rates von Mal zu Mal mehr. Er kam mit seinen Kollegen – abgesehen von Emo – gut aus, aber alle zusammen waren sie eine Katastrophe. Neron, der immer nur von Wein faselte, dann seine Frau, Saja, die dann mit ihm schimpfte, der Zyniker Henac Emo war der Schlimmste von allen; dann waren da noch seine quasi Schutzbefohlene Saidah, die eigentlich von niemandem Schutz nötig hatte, und Tare Kohdar. Puran verehrte Tare Kohdar, den ältesten der sechs amtierenden Geisterjäger, denn er war die Ruhe selbst, er war erfahren und weise, auf ihn war Verlass. Tare Kohdar war schon über fünfzig, hatte weder Frau noch Kinder, aber er war ein begnadeter Feuermagier, wie es in seinem Clan seit jeher Tradition war.

„Wir wissen nicht, ob es Ela-Ri ist, das uns das... sogenannte Ende der Welt bringt.“, warf eben jener Ratsälteste jetzt ein und Puran sah ihn kurz dankbar für die Unterbrechung von Emos süffisantem Geschwafel an. „Vielleicht kommt nach Ela-Ri noch etwas Fürchterlicheres, das wir erdulden müssen.“

„Wenn wir noch leben, nachdem der König von Ela-Ri uns plattgewalzt hat, versteht sich.“, gackerte Emo, und Neron warf ihm jetzt brummend den Korken der Weinflasche an den Kopf.

„Was soll an dem eigentlich so fürchterlich sein? Emo labert Scheiße, Puran, ich habe es immer gesagt.“

„Das ist keine Neuigkeit.“, sagte Saidah dumpf und linste den schwarzhaarigen Emo an, der ihr ein lauerndes Grinsen von solcher Abscheulichkeit schenkte, dass der Herr der Geister kurz davor war, ihm mit bloßen Händen den Kopf abzuschlagen. Er zwang sich, jetzt einen kühlen Kopf zu bewahren; es gab jetzt wichtigeres. Er versuchte krampfhaft, sich an die ominösen Worte der Seherin zu erinnern, ehe er sich räusperte und die Aufmerksamkeit wieder auf sich zog.

„Zumindest ist er Magier und, das habe ich gehört, eine ziemliche Schreckensgestalt. Keiner von uns wird ihm je begegnet sein... und wir alle kennen die Schauermärchen über das Ostreich, das Reich der Blutsonne und der Schatten. Sie werden nicht von ungefähr sein und ich würde... die Gerüchte über den fürchterlichen König lieber zu ernst nehmen als ihn zu unterschätzen. Ich fürchte, wenn es wirklich hart auf hart kommt, haben wir... düstere Zeiten vor uns. Die Zeichen... stehen schlecht, wie Neron schon sagte.“

Darauf hatte niemand mehr etwas zu sagen.
 

Der Himmel grollte über der Reichshauptstadt, als die Dunkelheit am Abend heraufzog. Puran Lyra warf einen besorgten Blick aus dem Fenster und zu den großen, schattigen Wolkenbergen, die sich am Himmel auftürmten. Die Schatten kamen... die Gedanken an das, was ihnen bevorstand, waren ernüchternd. Er vermisste seine Frau... hoffentlich ging es Leyya und den Kindern soweit gut. Die ganze Hektik hatte dafür gesorgt, dass der Mann den Tag über seine privaten Sorgen hatte verdrängen können; die Gedanken an das Dorf Lorana, das jetzt zerstört war, kamen erst jetzt mit dem Einbruch der Dunkelheit zurück, als er nichts anderes mehr tun konnte, als in den ihm zur Verfügung gestellten Gemächern auf und ab zu gehen und darauf zu warten, dass es Neues gab. Das alles war so niederschmetternd... er hatte in dem Moment, in dem er so am Fenster stand und hinaus starrte, das Bedürfnis, sich einfach rückwärts fallen zu lassen und nicht mehr aufzustehen. Er seufzte tief und stützte sich ermüdet an der schmalen, edel verzierten Fensterbank vor sich ab, während er resigniert den Kopf senkte.

„Es tut mir leid... um Lorana, Puran.“

Er drehte den Kopf in Saidahs Richtung und betrachtete die junge Frau, die in der Stube auf dem Kanapee saß und offenbar konzentriert die seltsame Waffe zu studieren schien, die sie mitgebracht hatte. Mit einem weiteren Seufzen löste Puran sich vom Fenster und begann, in der Wohnstube auf und ab zu gehen.

„Ich danke dir. Irgendwie ist es immer noch nicht richtig angekommen... in meinem Geist. Vorgestern Abend bin ich noch nach Hause gekommen und alles war gut. Ich... ich habe einfach geglaubt, im Leben oft genug meine Heimat verloren zu haben.“

„Wie pathetisch.“, sagte Saidah dazu und er blieb hinter dem Kanapee stehen, um ihr einen sanften Klaps auf den Kopf zu verpassen.

„Veräppelst du mich, meine Liebe?! Du lebst ja noch in dem Haus, in dem du größten Teils aufgewachsen bist!“ Er sah, dass sie den Kopf drehte und ihn anlächelte.

„Vergib mir, Puranchen. Ich wollte dich nicht ärgern... wir... haben aber doch schon genug Ärger vor uns. Denkst du, Sagal kriegt seine Leute irgendwie dazu, deinen Barbaren in Thalurien mal die Meinung zu geigen?“

„Sagal ist ein guter Kerl. Ich würde dem mein Leben anvertrauen, wenn es sein müsste. Mach dir da keine Sorgen... ich hoffe nur, dass meine Familie heil nach Yiara kommt. Bei meiner Cousine sind sie erst mal gut aufgehoben.“ Saidah nickte neben ihm, während sie noch immer apathisch die Hellebarde in ihren Händen ansah. Der Herr der Geister brummte. „Was ist mit dem Ding? Warum starrst du es eigentlich den ganzen Abend so an?“

„Es war Wille der Geister, dass ich sie finde... denke ich. Oder... das dachte ich bis vor kurzem, jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, was die Zeichen bedeuten sollen.“

„Was für Zeichen?“

„Dieses Familienerbstück wurde vor mehreren Jahrhunderten geschaffen. Als sein Schöpfer starb, verschwand es nach kurzer Zeit aus einem einfachen Grund; niemand, abgesehen von Yamir selbst, dem Schöpfer der Hellebarde, konnte sie benutzen. Klar, du kannst damit Holz hacken, aber zaubern... konnte niemand damit. Es gab, so habe ich in überlieferten Schriften gelesen, eine Prophezeiung damals, in der hieß es... Der letzte Erbe des Chimalis-Clans wird einst wieder fähig sein, sie zu tragen. Das war der Grund, Puran, aus dem ich sie eigentlich zu suchen begonnen habe. Du weißt... wer ich bin.“ Er sah sie eine Weile schweigend an.

„Du hast keine Geschwister, dein Vater hatte auch keine und du wirst niemals Nachkommen haben... das heißt, du bist... der letzte Erbe deiner Familie.“

„Das dachte ich.“, sagte sie, legte jetzt die Waffe zur Seite und fuhr sich nachdenklich durch die Haare.

„Wie... wie, dachtest du?“

„Ich kann sie nicht benutzen.“

Puran schenkte seiner jungen Kollegin einen langen, blöden Blick.

„Du hast dir die Mühe gemacht, das Ding zu finden, und dann geht es nicht? Vielleicht ist es eine Fälschung?“

„Ausgeschlossen. Die Geister haben es mir bereits bestätigt... es ist tatsächlich das Erbstück des Yamir. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten, das ist es, was mich nachdenklich stimmt. Entweder hat diese Prophezeiung gelogen oder ich bin nicht die letzte Erbin.“ Jetzt räusperte sich der Mann und schnaubte.

„Wen soll es denn da geben außer dir? Wobei euer Clan natürlich mehrere Zweige hatte, gerade in Janami drüben.“

„Nein, von denen kann es niemand sein. Es muss ein Nachfahre des Yamir sein, und der lebte bereits wieder in Dokahsan, ebenso alle seine Nachkommen. Ich habe gesucht... ich habe überall gesucht nach irgendeinem Hinweis auf entferntere Verwandtschaft. Mein Vater hatte eine Cousine. Natürlich hat sie geheiratet und hieß dann nicht mehr Chimalis, aber sie ist vom selben Blut wie ich. Leider verliert sich ihre Spur im Norden... soweit ich gehört habe, ist sie schon ewig tot, und ich habe weder den Nachnamen ihres Mannes noch irgendetwas über mögliche Kinder herausfinden können... aber das ist der einzige Zweig, der es sein kann... wenn ich nur diesen verfluchten Namen herausbekäme, diesen albernen Namen ihres Mannes... das würde mir wirklich helfen.“ Puran runzelte angestrengt die Stirn und sah auf die monströse Waffe. Er versuchte, sich an die Cousine seines Lehrmeisters und Freundes Meoran zu erinnern, aber so sehr er sich auch bemühte, nichts kam. Er hatte die Frau mit großer Sicherheit nie gekannt, und erst recht nicht ihren Ehemann oder ihre Kinder... Meoran hatte sie niemals erwähnt.

„Warte einen Moment, Saidah.“, sagte er scharf, als sie sich seufzend erhob und ihre Waffe schnappte, „Wenn es außer dir noch Nachfahren des Clans gibt, gibt es auch keinen letzten Erben und demzufolge niemanden, der dieses Ding benutzen wird, oder liege ich falsch? Denn der letzte Erbe beinhaltet für mich, dass es keine anderen neben ihm gibt... irgendwie ergibt das keinen Sinn so.“

„Aber die Geister haben mich zu ihr geführt.“, entgegnete sie, „Sie wollten, dass ich sie finde. Es ist nicht nur irgendein Familienerbstück, es ist eine legendäre Waffe. Irgendeine Bedeutung wird es haben, dass ich sie habe. Und mein Instinkt sagt mir, die Zeit... der Prophezeiung ist jetzt gekommen.“ Sie machte eine Pause, in der sie zur Tür ging und er sich auch erhob. „Soweit ich gelesen habe, hat die Hellebarde von Yamir quasi einen Bruder. Es gibt eine zweite legendäre Waffe aus derselben Zeit, die genauso verschollen ist und für die dieselbe Legende gilt. Hast du schon einmal vom Schwert von Mihn gehört, Puran?“ Er zog die Schultern hoch.

„Höre ich zum ersten Mal.“

„Das ist erstaunlich... dieser Mihn, der das Schwert damals geschaffen hat, war offenbar ein Freund meines Vorfahren Yamir. Und er war ein Mann aus deinem Clan, Puran.“ Er konnte sie nur anstarren, als sie ihm ein Lächeln und einen gemurmelten Abschiedsgruß schenkte, ehe sie das Gemach verließ, vermutlich, um selbst ins Bett zu gehen.
 

Saidah Chimalis war keine Närrin. Als letzte Erbin ihrer altehrwürdigen, machtvollen Familie hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, dann wenigstens einen würdevollen Untergang für ihren Clan zu bestimmen. Mit ihrem Vater war der letzte männliche Nachkomme der Chimalis verstorben... so hatte sie zumindest geglaubt. Sie hatte geglaubt, sie wäre die letzte ihres Zweiges – und als letzte direkte Nachfahrin des großen Magiers Yamir somit die legendäre Person, die diese todbringende Waffe tragen könnte. Die junge Frau betrachtete das Stück erneut von oben bis unten, als sie über den nur schwach erleuchteten Korridor in Richtung des Zimmers ging, das der König ihr für den Aufenthalt im Reichskapital zur Verfügung gestellt hatte. Es bestand kein Zweifel daran, dass es die echte war... es musste an ihr liegen.

Wenn es tatsächlich noch jemanden außer ihr gab, der ein Nachfahre des Yamir war, änderte das ihre Situation grundlegend – nicht nur ihre. Sie war mit dem Wissen aufgewachsen, einmal die letzte Erbin des Clans zu sein; als ihre Mutter gestorben war, war sie noch klein gewesen. Und ihr Vater war eine treue Seele gewesen, eine neue Frau und damit mehr Kinder wären niemals in Frage gekommen. Aber wer war dann außer ihr noch da, rannte irgendwo auf Tharr herum – möglicherweise nicht mal auf Tharr, immerhin gab es auch vereinzelte Auswanderer – und hatte vielleicht nicht mal eine Ahnung von seinem – oder ihrem – Schicksal?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder diese Person weiß wirklich von nichts, sonst hätte sie mich ja längst kontaktiert... das hätte ich zumindest sofort getan, hätte ich von einem Verwandten erfahren... oder aber sie weiß es sehr wohl und will gar keinen Kontakt.

So etwas gab es auch... allerdings unter den Schamanen eher selten, denn soweit die Schwarzhaarige es wusste, war bei ihrem Volk der Zusammenhalt der Clans, insbesondere bei den so alten und mächtigen wie ihrer einer war, recht groß. Ausnahmen bestätigten natürlich die Regel...

„Ach.“, brummte sie und stampfte verbiestert den Rest des Wegen zu ihrem Zimmer, dabei die Hellebarde umklammernd, „Darüber zu grübeln bringt mir jetzt gar nichts. Das wird wohl warten müssen, bis der Krieg gegen das Ostreich vorbei ist. Sofern wir den überleben.“

„Oder, bis das Ende der Welt eintritt... nicht wahr?“, neckten sie die Geister und sie fuhr keuchend vor der Zimmertür zusammen, als sie plötzlich einen schmerzhaften Stich in ihrem Kopf spüren konnte. Das Kichern der gehässigen Geister verstummte langsam in ihrem Kopf und aus einem Grund, den sie nicht benennen konnte, musste sie plötzlich an Purans Sohn denken, den sie vor über einem Jahr noch unterrichtet hatte.

Karana, den sie nicht wiedersehen durfte, wenn sie sich nicht in Schande stürzen wollte. Es tat ihr leid darum... er war ein mächtiger Schamane, genau wie sein Vater. Aber wo sein Vater ein wundervoller, aufopfernder Mensch war, den sie wie einen zweiten Vater zu lieben gelernt hatte, war Karana ein Ungeheuer. Ein Ungeheuer, das auf eine bestialische, verbotene Weise mit ihrer Seele vereint war, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Sie zitterte, riss sich von den Gedanken los und öffnete ruckartig die Tür – und schrie vor Schreck auf, als sie sich plötzlich einer wildfremden Frau gegenüber sah, die mit überschlagenen Beinen auf dem Stubentisch saß und in dem Moment, in dem die Magierin herein kam, ein blitzendes Licht in ihrer Handfläche verschwinden ließ.

„Was in Himmels Namen?!“, fuhr Saidah schon auf, da hob die Fremde das Gesicht und schenkte ihr ein ganz offensichtlich antrainiertes Lächeln, das nie im Leben echt sein konnte. Und Saidah erkannte sie auf den zweiten Blick sofort an den seltsam gelben Augen. Sie hatte die Frau schon mehrmals getroffen, allerdings war das letzte Mal sicher einige Jahre her – damals hatte sogar ihr Vater noch gelebt. Sie entspannte sich und schloss die Tür hinter sich, ehe sie kurz seufzte. „Ich erinnere mich an Euch... könnt Ihr mir verraten, was Ihr um diese Tageszeit in diesem Zimmer verloren habt... wo Ihr doch die oberste Beraterin und rechte Hand des zuyyanischen Kaisers seid, Herrin?“
 

Zuyyaner waren eigenartig, hatte Saidah gelernt. Als Kind hatte sie sie nur als Feinde gekannt, weil Krieg geherrscht hatte zwischen Tharr und dem Imperium des blauen Mondes Zuyya. Die meisten Zuyyaner waren äußerlich sofort erkennbar an den für Tharraner unnatürlichen Haar- und Augenfarben... und die Beraterin des Kaisers persönlich war mit ihren gelben Augen und den eisblauen Haaren ein sehr gutes Beispiel dafür. Jetzt schlug sie sich gerade die schwarze Kapuze vom Kopf und entblößte jene sehr langen, aber sauber gepflegten Haare. Der Umhang, zu dem die Kapuze gehörte, verdeckte des Großteil ihres Körpers, abgesehen von ihren Unterschenkeln und ihren Armen, die sie jetzt aus den Stoff schälte.

„Vergib mir, Tochter von Meoran. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich fürchte, der König hätte mich ungern oder gar nicht zu dir gelassen.“

„Dann habt Ihr Euch hier herein geschlichen? Wie unzivilisiert für eine Dame des zuyyanischen Hochadels.“

„Keine Sorge, ich habe keine bösen Absichten. Ich verstehe das Misstrauen, schließlich sind wir Zuyyaner grundsätzlich die Buhmänner. Was ich euch definitiv nicht verübeln kann.“ Saidah schauderte. Die Stimme der Beraterin war fürchterlich monoton, sie sprach zwar höflich, aber ohne jede Gefühlsregung. Zuyyaner waren nicht nur äußerlich seltsam... sie waren seelenlos, sagte man, zumindest wirkten sie, als wären sie Maschinen... Maschinen, deren Herren sie auch waren. Alles, was es auf Tharr an Technik gab, kam von Zuyya, wie Saidah wusste – so auch die Raumfähren. Die Zuyyaner waren ein hochintelligentes, gerissenes Volk, aber sie waren auch bekannt dafür, gnadenlos und brutal zu sein. Und sie waren hochnäsig – der Kaiser kam grundsätzlich nie selbst zu wichtigen Treffen der obersten Herrscher des Dreiweltenbündnisses Khad-Arza, er schickte stattdessen immer Vertreter; meistens seine oberste Beraterin. Sie sprach zwar monoton, war aber eigentlich eine ziemlich geübte Diplomatin... und diese Frau hatte etwas, das die Zuyyaner selten hatten. Eine andere Meinung als die des Kaisers, die sie – zweifelsohne ohne den Willen ihres Gebieters – auch ohne Umschweife kund tat.

„Wie seid Ihr herein gekommen?“, fragte Saidah langsam und betrachtete die Frau, die jetzt scheinbar interessiert die Hellebarde musterte.

„Ich bin geflogen. Eure Wachen auf der Mauer sind unaufmerksam, vielleicht solltet ihr sie mal härter ran nehmen, jetzt, wo etwas Schlimmeres auf euch zukommen wird als eine einzelne Frau, die sich offenbar problemlos ins Schloss schleichen kann.“

„Das ist nicht meine Aufgabe, sagt das dem König. Ich bin – wie Ihr als Weise Frau und Seherin der Zuyya ja wohl wisst – bloß eine Gesandte in Janami.“

„Du musst mich nicht im Plural ansprechen.“, erwiderte die Zuyyanerin monoton und Saidah schürzte grimmig die Lippen – sie hatte kein Problem mit der Tante, aber diese Monotonie fing an, ihr auf die Nerven zu gehen. Da konnte sie sich ja gleich mit einem Garderobenständer unterhalten.

„Warum seid... bist du gekommen? Extra den Weg von Zuyya hierher...? Hat dein Kaiser etwa etwas zu sagen?“

„Er ist nicht mein Kaiser.“ Oh, da war tatsächlich so etwas wie ein Hauch einer Emotion gewesen in ihrer Stimme... und es war definitiv keine Freude. Das Gesicht der Beraterin verzog sich für den Bruchteil eines Momentes und Saidah überlegte sich, das besser nicht jetzt anzusprechen. „Nein, der alte Hornochse weiß nicht, dass ich hier bin. Das ist auch besser so. Ich bin hier, um dich zu treffen, Saidah Chimalis. Und zwar genau wegen... dieses Objektes.“ Sie zeigte auf die Hellebarde und Saidah lachte hohl.

„Ah, tatsächlich? Wie kommst du darauf, dass ich sie habe?“ Die Zuyyanerin hob wortlos ihre Hand und ließ darin eine leuchtende Kugel erscheinen, und die Schwarzhaarige senkte den Blick. Die Seelenkugel... das für aktive Magier der Zuyya wichtigste und für alle anderen tödlichste Werkzeug, das dieses Volk überhaupt besaß. Mit der Seelenkugel konnten sie quasi alles machen. Andere hypnotisieren, sogar Erinnerungen ändern, Kraftfelder erzeugen und die Vergangenheit und Zukunft sehen. Und die Beraterin des Kaisers trug nicht umsonst den Beinamen Weise Frau – selbst Saidah als Nichtzuyyanerin wusste, dass ihr Gegenüber vermutlich die begabteste und mächtigste Seherin und Magierin des ganzen Imperiums war. „Was ist mit der Hellebarde?“, fragte sie jetzt ernst und die Blauhaarige schenkte ihr einen flüchtigen Blick.

„Du kannst sie nicht benutzen.“

„Das ist richtig, bist du gekommen, um mich mit Tatsachen zu nerven, die ich schon weiß?“

„Ungeduldig bist du. Dein Vater als Militärhauptmann hat wohl zu viel im zackigen Ton mit dir geredet. Ich weiß, wer sie benutzen kann.“

Das war schon interessanter. Saidah blinzelte einmal und überlegte sich gut, wie sie jetzt weiter fragte – Zuyyaner waren furchtbare Gegner im Diskutieren.

„Ich nehme an, das hast du in deiner Kugel gesehen. Ist es für dich in irgendeiner Art von Belang, das zu wissen? Ich meine, könnte es dir nicht egal sein?“

„Ich bin ihm schon begegnet vor mehreren Jahren. Damals war er noch ein kleiner Junge, aber jetzt ist er ein Mann und es wird Zeit, dass er sie bekommt... die Waffe, die ihm zusteht.“ Saidah räusperte sich.

„Bevor du mich missverstehst – ich bin gewillt, das Erbstück demjenigen anzuvertrauen, dem es zusteht. Mich verwirrt nur, warum du dich da jetzt einmischst.“

„Weil es meine Aufgabe ist, weil der Junge mich kennt und mir mehr glauben wird als dir, die er noch niemals im Leben gesehen hat.“

„Das heißt, er hat keine Ahnung?“

„Keinen Schimmer. Ich wusste es auch nicht von Anfang an. Ich habe ihm damals einen kleinen Schubs zur Tür hinaus gegeben, damit er das wird, was er heute ist... und es ist wichtig, dass er das ist. Es ist wichtig... dass er das Erbe bald antritt. Das Erbe, das die Schicksalsgeister... ihm vorherbestimmt haben, schon lange, bevor er geboren wurde... schon lange, bevor seine Mutter ihm seinen verhängnisvollen Namen und damit seinen Lebensgeist geschenkt hat.“ Die Magierin hob die Brauen, als sie die Geister wieder kichern hörte, und sie schnappte flüchtig nach Luft, bevor sie zur Frage ansetzte.

„Dann sag mir... wie ist sein Name?“ Die Beraterin lächelte kurz – als sie antwortete, weitete Saidah die Augen und wusste im selben Moment, dass die Zuyyanerin sie nicht anlügen konnte... sie kannte seinen Namen. Sie fragte sich, wie lange es her sein mochte, dass sie seinen Namen gehört hatte...
 

Im Osten grollte der Himmel tagelang ohne Unterbrechung. Senator Lyra war beunruhigt über die Dinge, die unweigerlich kommen würden; Dinge, die Kisara oder vielleicht das ganze Zentrum verändern würden.

„Nein, es ist... das Ende der Welt. Hast du das vergessen?“ Die Geister kicherten und Puran verfluchte sie innerlich über ihre Schadenfreude. Wie lange sprachen sie nun schon davon? Er träumte schon seit ewigen Jahren, so kam es ihm vor, denselben Traum... wieder und wieder. Den Traum vom Ende der Welt...

„Diese dämliche Seherin ist nie dann da, wenn ich mir gerade denke, ich könnte sie gebrauchen!“, meckerte der Mann mürrisch und erntete einen verblüfften Blick seines Kollegen Kohdar, mit dem er auf einer Terrasse des Palastes stand und rauchte.

„Die Seherin?“, fragte Tare Kohdar ihn verdutzt, „Die, die fast nackt vor dem Senat getanzt hat, wie du erzählt hast?“

„Ja, genau die! So eine Hure, aber jetzt könnte ich sie wirklich dringend gebrauchen!“ Der ältere Geisterjäger hüstelte.

„Na, wenn ich das deiner Frau erzähle...“ Puran trat ihm auf den Fuß und zog nervös an seiner Kippe.

„Doch nicht so ein Brauchen, du Trottel. Sie weiß Dinge, wenn sie nicht gerade ihr Gedächtnis verliert. Sie mag aussehen wie eine billige Amateurin, aber ich weiß genau, dass sie wirklich eine Seherin ist. Sagal hat gesagt, sie ist um Ecken mit dem Clan der Ekala verwandt, aus dem meine Großmutter stammte.“ Das schien seinen Kollegen mehr zu beeindrucken.

„Ich glaube, irgendwelche Krankheiten im Gehirn sind eine Sache der mächtigsten Seher, oder? Deine Großmutter mit ihrem Laudanum und diese hier mit ihrem Gedächtnis, aber irgendwie scheinen die, die etwas plemplem sind, ja die Mächtigsten zu sein.“ Puran schnaufte.

„Ich bin Vorstand des Rates und habe euch alle im Kampf fertig gemacht, willst du also gerade sagen, ich sei... plemplem?!

„Ich sagte, das ist eine Sache der Seher, bist du etwa einer?“, feixte der Ältere und musste leise lachen, als der Senator nur grantig das Gesicht verzog. Dann seufzte er und fuhr sich durch die wirren Haare.

„Vergib mir, Tare, ich bin einfach im Moment nicht sehr humorvoll... die Dinge sehen schlecht aus. Seit Lorana geplättet wurde, sind viele Tage vergangen, ich habe weder eine Botschaft von meiner Familie bekommen noch sagen die Geister mir irgendetwas, das mir helfen könnte bezüglich des Ostreiches. Es ist unruhig im Osten... die Geister sind nervös und das überträgt sich immer so fürchterlich auf mich.“

„Ich verstehe das gut, ich sorge mich auch. Wir hocken seit Tagen hier auf heißen Kohlen und nichts geschieht – hat Sagal denn wenigstens die Idioten aus Kamien aus Thalurien verjagt?“

„Ich vermute es, er hat dazu nichts weiter gesagt – seit er zurück aus Janami ist, versucht er meistens, seine arme Tochter zu beruhigen... er ist tapfer, ich bewundere diesen Kerl für seine Standhaftigkeit, immerhin ist es ja auch seine T-... Enkelin, die spurlos verschwunden ist.“ Er hustete entsetzt darüber, dass er sich jetzt beinahe verplappert und seinem Kollegen das wohl gehütete Geheimnis von Dasan Sagals Blutschande anvertraut hätte. Eigentlich sollte nicht einmal er es wissen... seine Frau hatte es von Chitra selbst erfahren und er hatte sie so lange genervt, bis sie ihm erzählt hatte, wer wirklich Niarihs Vater war... es war eine Sache, die niemals ausgesprochen wurde. Sie würde den gesamten Clan der Sagals zu Grunde richten... da hatte der Alte ganz schöne Scheiße gebaut. Puran verstand auch immer noch nicht so wirklich, wie man mit seiner eigenen Tochter ein Kind zeugen konnte, aber das ging ihn nichts an und er würde es vermutlich auch dann nicht verstehen, wenn Sagal es ihm selbst erklärte. Er hoffte, die arme Niarih war am Leben und kämpfte sich irgendwo tapfer durch die Wildnis, um eines Tages wieder bei ihren Eltern zu sein.

Die beiden Männer wurden in ihrem Gespräch unterbrochen, als hinter ihnen die Terrassentür aufging und ein dritter zu ihnen stieß. Beide drehten sich um und erkannten mit Missfallen ihren Kollegen Henac Emo, den niemand wirklich leiden konnte.

„Ach, hier steckt ihr!“, grinste der Schwarzhaarige da und suchte aus seiner Hosentasche ebenfalls eine Zigarette, „Mir war gerade langweilig und da dachte ich, ich nerve euch mal ein wenig.“

„Werd' erwachsen.“, sagte Tare Kohdar zu ihm, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Puran brummte.

„Ich sehe schon, ihr freut euch riesig, mich zu sehen.“ Emo kicherte, steckte sich die Kippe mit einem Feuerzauber an und sah dann zu Puran. „Was betrübt dich so, Häuptling Zitterhand?“ Den bescheuerten Spitznamen ignorierend brummte der Senator erneut.

„Lass mich mal scharf nachdenken. Es ist sicher wegen meiner Frisur, die sich einfach nicht richten lässt heute. Oder vielleicht auch, weil ich seit ewigen Tagen keinen Sex hatte. - Nein, jetzt fällt es mir wieder ein, vor unserer Tür steht ein verdammter Krieg gegen ein Reich, das wir nicht bezwingen können, sonst noch Fragen, du Lackaffe?!“ Emo brach in schallendes Gelächter aus, was den Herrn der Geister nur noch grimmiger machte. „Schön, dass du dich amüsierst...“

„Und das macht dir Angst?“, grinste der Kollege, „Wir haben die verdammten Zuyyaner geschlachtet. Ich halte das zuyyanische Imperium für weitaus fürchterlicher als diese Barbaren aus dem Schatten. Und der tattrige Kaiser hat vor uns kapituliert, erinnerst du dich?“

„Wir haben die Zuyyaner nicht besiegt, sie haben aufgegeben, weil ihre eigene Welt am Untergehen war.“, erklärte Tare Kohdar, „Hätten die weiter gemacht, wären wir erledigt gewesen, und du weißt das.“

„Aber wir reden ja jetzt gar nicht von den Zuyyanern, sondern von den Gruselgestalten aus dem Osten!“, sagte Henac Emo empört, „Sollen sie doch kommen, wir sind ein großes Bündnis vieler Länder hier im Zentrum.“

„Sie sind viele.“, sagte der Herr der Geister ernst, „Sie sind wahnsinnig viele, und sie sind mächtig. Und was das Wichtigste ist, sie sind aus dem Schattenland. Sie haben keine Skrupel, uns alle zu unterwerfen oder abzuschlachten. Sie haben keine Menschenrechte, sie werden uns mit Haut und Haaren fressen. Der König von Ela-Ri muss ein furchtbarer Magier sein. Die Seherin hat gesagt, er wird mein Schicksal besiegeln. Das mag jetzt egoistisch klingen, aber mir macht das schon etwas Sorge.“ Er hatte nicht erwartet, dass Emo ihn ernst nahm – der nahm nie jemanden ernst. Wie ihn auch niemand ernst nahm, denn Emo war ein geborener Lügner und Betrüger. Das war ja der Grund, warum er ihn so verabscheute... bei diesem Spaltzüngler wusste man nie, auf wessen Seite er wirklich stand. Puran hatte einmal geglaubt, Emo würde sich immer dahin wenden, wo er am meisten Profit für sich gewinnen konnte. Inzwischen war er der Meinung, dass die Gründe, weswegen der Mann nie klar und deutlich einer Partie angehörte, um einiges komplizierter sein mussten.

„Der König macht dir Angst, Häuptling? Na, du hast doch auch den zuyyanischen Kaiser geschlachtet.“

„Das war damals. Ich habe einen Eid geschworen, wie du weißt. Ich kann keinen Menschen töten, Emo.“

„Wozu musst du ihn töten?“, fragte sein Gegenüber verblüffend ernst und ohne das behinderte Grinsen auf seinem Gesicht, „Du musst ihn doch nur einlullen und nach deiner Nase tanzen lassen... wie du es mit unserem eigenen König doch auch tust.“ Puran zischte.

„Der König tut das alles aus freien Stücken, ich bringe ihn zu gar nichts. Ich kann nichts dafür, dass er wohl einen Narren an mir gefressen hat!“

„Du untertreibst etwas, oder? Einen Narren gefressen? Dieser Kerl vergöttert dich, ich warte immer noch darauf, dass er dich heiraten will.“

„Sehr witzig, Emo...“ Sie wurden abermals unterbrochen, als die Tür erneut aufflog und dieses Mal ein Diener des Königs zu ihnen kam.

„Senator Lyra!“, keuchte er außer Atem, „Rasch, der König verlangt nach Euch, es ist dringend!“ Henac Emo pfiff durch die Zähne.

„Also wirklich, und das am helllichten Tage, Puran.“ Der Senator brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, da fuhr der Diener schon panisch fort.

„I-Ihr sollt die anderen Geisterjäger mitbringen, er will Euch alle, jetzt sofort.“

„Ich stehe ja nicht so auf Gruppensex.“, behauptete Emo und Tare Kohdar neben ihm hustete. „Und Tare ist mir zu alt!“

„Idiot, folge mir einfach und mach den Mund nicht mehr auf, bis ich es dir erlaube!“, herrschte der Ratsvorsteher ihn wütend an, worauf Emo kicherte und sie dem Laufburschen durch den Palast zum Thronsaal folgten – dort fanden sie schon die übrigen Geisterjäger vor, sowie den König persönlich, ein paar der obersten Senatoren aus Vialla und den Heerführer.

„Majestät!“, rief Puran Lyra von weitem, als er den Haufen da stehen sah, und bestürzt schluckte er weitere Worte herunter, als er das aschfahle Gesicht des Monarchen sah, der den Eindruck machte, als wäre er gerade gestorben.

„Herr, die Zeit ist gekommen.“, japste der kleine König nur bitter, „Es geht los und es ist furchtbar. Sie haben die Küsten von Dobanjan überfallen vor zwei Tagen. Sie kommen mit Schiffen, zu Zigtausenden, es ist eine Armada von unvorstellbarer Gewalt und Größe. Die Späher haben es mit eigenen Augen gesehen... Ela-Ri greift uns wirklich ernsthaft an.“ Diese Botschaft musste man erst mal verdauen und der Senator strauchelte.

„S-sie haben – sie haben Dobanjan im Süden überfallen?!“

„Meine Herren, ich fürchte, wir stecken... wirklich im Krieg. Vialla ist das Herz von Kisara – das Herz des gesamten Zentralreichs. Wir vermuten, sie wollen hierher... und wenn Vialla fällt, sind wir alle verloren.“ Alle sahen einander bestürzt an und Henac Emo räusperte sich – Puran sah ihn nicht an, aber er spürte die wissende Schärfe in den schwarzen Augen des verhassten Kollegen genau, der in seinem Rücken stand. Er wollte nicht wissen, was der jetzt dachte.

„Und, Majestät, was... gedenkt Ihr also zu tun?“, fragte der Schwarzhaarige da und Puran Lyra schloss bebend die Augen, als die Unruhe der Geister in seinem Inneren ihm eine so heftige Übelkeit verschaffte, dass er sich beherrschen musste, um sich nicht zu übergeben.

Er sah es nicht mit den Augen, sondern im Geiste, als der Herrscher des Landes, dem er seit so vielen Jahren treu ergeben diente, vor ihm auf die Knie fiel. Der König warf sich vor ihnen auf den Boden... das hatte er schon einmal getan. Damals, als die Zuyyaner dabei gewesen waren, das Reich zu Fall zu bringen.

„Wir müssen sie aufhalten... koste es, was es wolle. Ich werde mich nicht in meinem Palast verschanzen und zusehen, wie mein Land zerstört wird von diesen Bestien aus dem Land der blutigen Sonne! Ich... weiß, es ist viel verlangt. Aber ohne Euch Magier sind wir verloren... Senator Lyra. Ich bitte Euch als Vorsteher des obersten, mächtigsten Rates der Schamanen um Eure Hilfe... nein, ich flehe Euch an. Ich flehe nicht für mich... das habe ich auch damals nicht getan, denn vor vielen Jahren.... habe ich genau so vor Eurem Vater gekniet, Puran Lyra, vor dem damaligen Herrn der Geister und Ratsführer. Ich bitte Euch nicht, mir zu helfen... sondern dem Reich, das uns allen Heimat und Frieden gibt. Dem Land, das unseren Nachfahren eine Chance gibt, erwachsen zu werden.“

„Sagt der, der weder Frau noch Kinder noch sonstige Verwandte hat.“, brummte Emo irgendwo hinter Puran, aber er ignorierte den Idioten gekonnt, als er die Augen wieder öffnete und zitternd einen Schritt zurück trat beim Anblick des vor ihm auf die Knie gefallenen Herrschers. Er war so winzig... er war im Stehen schon klein. Auf den Knien wirkte er nicht mehr wie ein erhabener König... sondern mehr wie ein verzweifelter, alter Mann. Das war er... er war wirklich alt geworden. Der Senator seufzte und spürte, wie seine Kollegen, die Senatoren und der Heerführer ihn anblickten. Sie alle warteten auf sein Urteil... auf seine Entscheidung, die sie alle zu Leben oder Tod verdammen konnte.

Nein... egal, wie er sich entschied, es gab auf beiden Seiten nur Tod. Und den gab es gewiss...

Er wünschte sich, sein Vater wäre noch am Leben, um ihm die Sache abzunehmen. Er vermisste ihn... Tabari Lyra war ein weiser Mann und ein mächtiger Herr der Geister gewesen. Und er hatte etwas besessen, das Puran leider nicht von ihm geerbt hatte... Optimismus.

„Das wird schon irgendwie, mein Sohn.“

Er schauderte, ehe er den Kopf senkte und nach Luft schnappte. Irgendwie...

Wenn es doch nur so einfach wäre, Vater.

„Ihr habt gehört, was seine Majestät gesagt hat.“, versetzte er dann scharf, „Dieses Land... ist unsere Heimat. Und wir als Schamanen, die wir mit den Geistern von Himmel und Erde kommunizieren können, deren Aufgabe es ist, für Gleichgewicht zu sorgen, sollten... nicht zulassen, dass diese geistlosen Bestien aus dem Schattenland uns das wegnehmen, was uns am teuersten ist! Unsere Freiheit, unsere Rechte, unser Land... unser Leben. Unsere Ahnen kämpften schon für unser Reich... wir sind es ihnen schuldig, es ebenfalls zu tun.“ Darauf erntete er von den meisten Nicken und Zustimmung, und als der König sich wieder erhob, war Puran es, der mit einem Räuspern vor dem Monarchen auf die Knien ging. „Wir werden dem Reich dienen, mein König... es ist unsere Pflicht, das zu tun. Ihr seid der König... der Herrscher des Landes. Verfügt über uns, Herr.“
 


 


 

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langweiliges gammel-kapi. Aber Emo, für seinen Fanclub XD Puran hat übrigens nicht wirklich was mit dem König... auch wenn sein letzter Satz irgendwie alles noch anrüchiger macht XD



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Decken-Diebin
2010-12-12T15:29:43+00:00 12.12.2010 16:29
Aw, die Gedanken an Tabari zum Schluss waren sehr schön! Irgendwie <3'
Ich weiß gerade gar nicht, was ich schreiben könnte, weil ich zwischendurch immer mal oanders war und nicht durchgängig gelesen habe >.< Aber ich mochte Puran hier, er war ja sozusagen Hauptcharakter des Kapitels... seine Gefühle waren toll, wie er Leyya und die Kinder vermisst... .o. Ein Herz für Puran! ♥
Und der König fiel wieder auf die Knie... daran sieht man mal, wie ernst die Lage wieder ist. Und Emo reißt immer noch seine tollen Witze x'D
Ach genau, und dann die Szene mit Saidah und Chenoa, den Poserfrauen... jetzt weiß man mal, wie es eigentlich dazu kam, dass sie so zusammen arbeiten xD
Mochte das Kapitel <3
Von:  -Izumi-
2010-12-11T20:07:12+00:00 11.12.2010 21:07
Herziiiiiiiiiiii <3333
XD
Voll sinnvoll. Sorry, das musste sein. XD
Also, Puran ist wieder da. ^^ Mal abgesehen von diesem Beschreibungs-Abschnitt hat Saidah mir auch gefallen in diesem Kapi.
Es ist komisch, irgendwie ist sie in meiner Vorstellung grundsätzlich anders als in den Kapiteln selbst... in letzteren ist sie viel cooler. oô
Ich will, dass sie Holz hackt. XDD
Und Chenoa war da. <333
Wenn auch nur kurz, aber immerhin. Ich fand es lustig, dass Saidah es nervig findet, dass sie so monoton ist... irgendwie verstehe ich sie da voll.
Ich liebe den König ja immer noch, er ist so putzig! XD Er steht so auf Puran... aber gut, wer tut das nicht? *gedanklich aufzähl...*
Emo rult auch. Ich will ja nichts sagen, aber ich finde die Witze, die er so reißt, echt lustig. XD
Ich weiß gar nicht, was die sich so anstellen!
Und am Ende Drama... ich fand diese Schlussszene irgendwie rührend. Besonders die Gedanken an Tabari... ._.


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