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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Überraschung

Den Platz der fünf Sterne zu finden war nicht schwer, denn er war recht bekannt und erfreute sich an großer Beliebtheit. Ich konnte mich problemlos bis zu ihm durch fragen, fast jedem sagte er was und als ich dann endlich ankam, erkannte ich ihn sofort.

Es handelte sich um eine Art Mittelpunkt des Bezirkes von dem aus mehrere Straßen abgingen, befliest und sauber, hell erleuchtet und mit fünf Säulen verziert. Auf jeder Säule gab es einen großen, goldenen Stern und unter jedem dieser Sterne stand ein Satz, in eine Steintafel graviert. Ich betrachtete sie lange und ausgiebig und stellte für mich fest, dass diese Schilder wohl eine Art Erinnerung sein sollten:

Ich gedenke unserem Gebot, kein Lebewesen zu Unrecht zu verletzen oder gar zu töten, denn zu richten ist die Aufgabe des Herrn.

Ich gedenke unserem Gebot, nichts zu nehmen, was mir nicht gegeben wird, denn zu geben ist die Aufgabe des Herrn.

Ich gedenke unserem Gebot, keine ausschweifenden, sinnlichen Handlungen auszuüben, denn meine Liebe gilt stets nur dem Herrn.

Ich gedenke unserem Gebot, nicht zu lügen und wohlwollend zu sprechen, denn Ehrlichkeit ist mein Versprechen an den Herrn.

Ich gedenke unserem Gebot, nicht zu träumen von dem, was mir nicht zusteht, denn das Schaffen der Welt ist Aufgabe des Herrn.

Ob die Brehmser sich wohl an diese Worte hielten? Meine Vermutung war, umso öfter man die Schilder sah, desto weniger sah man sie wirklich und tatsächlich liefen die meisten Menschen einfach vorbei, ohne die runden Säulen mit ihren Tafeln zu beachten. Konnten überhaupt welche diese Worte lesen? Für einen kurzen Moment gab eine der Wolken die Sonne wieder frei und Boden und Häuser begannen in hellen Farben zu strahlen.

Ich starrte zu Boden und zog die Stirn kraus. Etwas schillerte bunt auf den weißen Fliesen und verwirrt sah ich mich um, woher das Licht kam. Wahrscheinlich war es eine Spiegelung von einem bunten Fensterglas, doch nirgendwo gab es Kirchenfenster oder ähnliches. Erneut sah ich zum Boden, anschließend wich ich einige Schritte zurück. Die Farben waren keine Reflexion, sie waren auf dem Stein und es verschlug mir fast den Atem.

Man hatte mit heller Pastellfarbe eine heilige Maria mit Gottes Sohn im Arm mitten auf den Boden gezeichnet. Das Bild war so alt, man sah es kaum noch, sondern nur, wenn die Sonne hinauf schien und es zum Leuchten brachte. Noch nie zuvor hatte ich etwas so wunderschönes und etwas so außergewöhnliches gesehen. Ich sah auf und erkannte, dass auch an den umliegenden Wänden solche Zeichnungen waren, zwischen den Fenstern der oberen Stockwerke, zu jedem der Sterne ein eigenes Bild. An den Rändern waren rote Vorhänge gezeichnet, als würde man auf eine Art Bühne sehen.

Auf einem der Bilder erkannte ich blass einen Mann mit Schwert, hoch erhoben und bereit, damit einen Hund zu erschlagen. Ein Engel hielt die Klinge und hob ermahnend den Finger.

Auf dem zweiten Haus waren zwei kleine Kinder, ein Mädchen und ein Junge. Sie wollten gerade einen Apfel stehlen, doch ein Engel hielt sie auf und gab ihnen stattdessen zwei.

Auf dem dritten Bild, ein besonders altes, sah man eine Frau in ein weißes Tuch gewickelt, mit sinnlichem Blick. Zwei Engel verdeckten die sündhaften Stellen ermahnend mit einem Tuch und sahen einen jungen Soldaten mit tadelndem Blick an, zum Himmel zeigend.

Das vierte Bild war ein besonders schönes, in hellen Farben. Rechts stand ein junges Mädchen, es hielt den Mantel eines jungen Kerls und dieser wiederum war einem weiteren Weib zugewandt. In jeder Hand hielt er eine Blume und zwischen den dreien waren zwei Engel die wie auf den anderen Bildern die Finger hoben, um ihn daran zu erinnern, dass Ehrlichkeit weitaus wichtiger war, als jugendliche Liebeleien.

Zuletzt betrachtete ich das fünfte Bild. Ich blieb lange stehen, um es mir anzusehen und dachte mit krauser Stirn einige Minuten darüber nach. Die Witterung hatte den Putz an manchen Stellen zum abblättern gebracht und bei den meisten der Bilder war nur noch schwach etwas Blattgold zu erkennen.

Man sah einen Mönch, der auf dem Boden kniete und verträumt in den Himmel starrte. Vor ihm gab es einen Tisch voller Obst, eine gut aussehende Frau und einige Kinder. Hinter ihm jedoch war der Raum völlig leer, bis auf einen düster aussehenden Engel, der auf ein Kreuz an der Wand zeigte. Zweifelnd wiederholte ich das Gelesene:

Ich gedenke unserem Gebot, nicht zu träumen von dem, was mir nicht zusteht, denn das Schaffen der Welt ist Aufgabe des Herrn.

Dann schüttelte ich den Kopf und wandte mich ab. Was haben denn Träume mit der Erschaffung einer Welt zu tun?

Ich fand das Gebäude, das Nevar mir empfohlen hatte schneller, als mir lieb war, denn es befand sich tatsächlich nur wenige Schritte weiter. Über dem Eingang hing ein großes, hölzernes Kreuz und in die Türen waren wunderschöne Ornamente geschnitzt. Was mich irritierte waren die Gitterstäbe an den Fenstern in Erd- und Obergeschoss, so wie an den Kellerfenstern. Zögernd stieg ich dann die drei Stufen hinauf und griff nach dem schwarzen Türklopfer. Ein ungutes Gefühl beschlich mich und ich bekam mit einem Mal das Bedürfnis, weg zu rennen, ohne zu verstehen, wieso. Es knallte, als das Metall das Holz traf und anschließend, nach einigen Sekunden, ging die Tür auf.

Ich wich ungewollt etwas zurück. Eine sehr alte und finster aussehende Nonne öffnete mir, mit einem goldenen Kreuz auf der Brust und hellblauen, hervorquellenden Augen. Ihr Gesicht war knochig, ebenso wie ihre Hände und ihr Blick verriet mir, dass mit ihr nicht zu spaßen war. „Der Herr wünscht?“, fragte sie mit noch sehr jung klingender Stimme und erhob den Blick abschätzig.

Ich stockte kurz. Zwar wusste ich, dass dies ein katholisches Gebäude war, aber mit einer Gottesdienerin hatte ich wahrlich nicht gerechnet. Nach kurzem Räuspern suchte ich die passenden Worte.

„Nun, ich suche Arbeit, so wie einen Schlafplatz und-...“

„Dies ist ein Gotteshaus und Anlaufstelle für Obdachlose und arme Geschöpfe, die all Ihr Hab und Gut verloren haben. Wenn ich Euch so betrachte, dann wirkt Ihr auf mich äußerst wohlhabend. Alles Gute.“, und schon schlug sie die Tür zu.

Etwas übereilt stellte ich den Fuß dazwischen und zischte eindringlich: „Aber Raphael sagte mir, dass ich hier Hilfe finden würde!“

Zögernd öffnete die Nonne wieder und musterte mich erneut, diesmal noch misstrauischer als zuvor. Ich gab mir Mühe besonders vertrauenswürdig und ärmlich zu wirken, aber irgendwie ließ sich beides nicht unter einen Hut bekommen, denn schließlich hatte sie Recht: Meine Stiefel, mein Umhang, mein Hemd, einfach alles sprach dafür, dass ich Geld besaß, vom gefüllten Geldbeutel mal ganz abgesehen.

„Raphael? Ihr kennt ihn, verstehe ich das richtig?“

Unsicher kratzte ich mir den Hinterkopf. „Also... Ich soll mir Obdach suchen und er meinte, hier wäre ich richtig. War das eine falsche Information?“

„Bruder Raphael meinte das?“, dass sie eine Augenbraue zweifelnd und sehr kühl hoch zog, verunsicherte mich, denn ich wusste nicht einmal, ob Raphael Nevars Name war oder nur ein guter Freund von ihm. „Ihr dient also der Deo Volente?“, hakte sie nach.

Ich zog scharf den Atem ein, als hätte ich Angst, etwas Falsches zu sagen. „Ähm... ja, sozusagen.“

„Ihr seid also gläubig.“, es schien fast, als wäre dies das Einzige an mir, das ihr irgendwie zusprach. Die alte Frau sah erst rechts, dann links an mir vorbei, als müsste sie sicher gehen, dass niemand mich bemerkt hatte, anschließend forderte sie mich auf:„Folgt mir.“

Ich trat ein und kaum war ich drin, schloss sie ab, machte auf dem Absatz kehrt und ging, dabei rufend: „Fasst nichts an! Sprecht mit niemandem! Und benehmt Euch!“, unsicher folgte ich ihren Anweisungen. Sie geleitete mich durch einen schmalen Flur, der direkt auf eine Treppe zuführte, zuvor gab es links eine offen stehende Tür. Es roch nach Kamin und Suppe, so wie nach alten Menschen und Schweiß. Ich warf im Vorbeigehen einen Blick hinein und erkannte eine Art großen Raum, mit einem riesigen Tisch, bestehend aus vielen kleinen. Etliche Stühle und Hocker standen drum herum und auf ihnen saßen Männer wie Frauen, jeder bereits ergraut, in ärmlicher Kleidung. Sie nähten irgendwelche Dinge wie Hosen und Hemden, scheinbar reparierten sie diese und wurden dabei von zwei weiteren, jüngeren Nonnen unterstützt.

Dann ging es die Treppe hinauf. Sie knarrte gefährlich unter meinen Füßen und ich fürchtete, sie würde einstürzen, während ich der kleinen Frau hinterher ging. Am Ende der Treppe bog sie ab und ging weiter in die entgegengesetzte Richtung hinauf auf das zweite Geschoss. Auch hier gab es einen Flur, diesmal mit mehreren Türen, scheinbar Zimmern. Sie führte mich durch diesen hindurch auf das am weitesten entfernteste Zimmer zu, griff einen großen Schlüsselbund und öffnete die Tür, danach traten wir ein.

Es handelte sich um eine Art Arbeitszimmer. Auf dem Boden lag ein alter, verstaubter Teppich, an der Wand hing ein Kreuz und in der Mitte stand ein Schreibtisch. Die Nonne deutete mir, mich zu setzen und gehorsam tat ich es, nachdem ich die Tür geschlossen hatte. Sie nahm mir gegenüber Platz und ich sah zu, wie sie sich eine kleine Brille auf die Nase klemmte und in einigen Unterlagen zu blättern begann.

Geduldig ließ ich meinen Blick etwas kreisen, doch bis auf ein vergittertes Fenster gab es wirklich nichts, nicht einmal ein Bett. Nur hinter der Tür standen etliche Regale mit Papier in Hülle und Fülle, teilweise bereits so gelb, dass die Stapel wie riesiger Käse wirkten.

„Name?“

Ich zuckte zusammen. „Bitte?“

Düster sah sie mich über ihre Brille hinweg an. „Euer Name. Ich will Euren Namen wissen.“

„Falcon O'Connor.“

„Falcon O'Connor.“, sie sah wieder auf ihr Papier und trug meinen Namen mit der Feder auf eine schwarze, kleine Linie ein, dabei leise murmelnd: „Scheint ja nicht der Hellste zu sein.“, dann sah sie mich wieder an. „Herkunft?“

Ich stockte abermals, unsicher, ob sie nicht wusste, dass ich sie hören konnte. Ich empfand es als sehr unhöflich, ignorierte es aber weitestgehend. „Wofür genau ist das?“

Gereizt richtete die Nonne sich ganz auf und ließ die Feder sinken, als hätte ich sie persönlich angegriffen. „Wollt Ihr nun unsere Hilfe oder nicht?!“

Abermals atmete ich tief durch. „Natürlich.“

„Herkunft?“, wollte sie abermals wissen, mehr als nur aggressiv, aber dennoch mit sehr ruhiger Stimme. Sie war scheinbar eine Frau, die es gewohnt war, sich durchsetzen zu müssen. Ich schaffte es nicht, ein Knurren zu vermeiden, als ich zur Antwort gab: „Annonce.“

Ein verächtliches Schnauben, dann schrieb sie auch dies auf. Sie murmelte dabei leise vor sich hin und ich versuchte, die Sticheleien zu überhören:

„Ihr solltet aufhören, Euch so in den Vordergrund zu spielen, junger Mann. Es ist kein Wunder, dass der Herr Euch in so jungen Jahren bereits zu uns schickt, um Hilfe zu finden. Ihr bringt es nicht weit, wenn Ihr so widerspenstig seid. Na ja, Annonce.“

Schweigend sah ich zu, wie sie mit flinken Handbewegungen mein geschätztes Alter eintrug, so wie, dass ich gläubig wäre und dann zu guter Letzt unterschrieb, sowohl für sich, als auch für mich. Ich überlegte, ob ich anmerken sollte, dass ich selbst unterschreiben könnte, behielt es dann aber doch für mich. Sie hielt nicht viel von mir und ich wollte mich nicht noch mehr aufspielen. Viel lieber zog ich es vor, so zu tun, als wäre ein ich verirrtes und recht verblödetes Schaf, so hatte ich wenigstens mehr Freiraum, denn was sollte sie schon kontrollieren? Es war mir lieber, als in Diskussionen verstrickt zu werden oder das Gefühl zu wecken, sie müsste mich ganz besonders stark unterdrücken.

Als alles gut in der Schublade verstaut war, stand sie wieder auf. „Wir haben keine Zimmer mehr, Ihr werdet mit der Besenkammer Vorlieb nehmen müssen.“

Auch ich stand unsicher auf, leicht lächelnd. „Das macht doch nichts.“ Und das meinte ich ernst. Umso schneller ich Arbeit und Obdach fand, desto besser, denn umso schneller war ich Domenico erst einmal los.

„Das habe ich auch nicht angenommen.“, die alte Frau legte die Hände auf ihre Stuhllehne und ich meinte sehen zu können, wie ihr gerader Rücken noch mehr an Haltung gewann. Bei jedem ihrer Sätze nickte sein ernst und langsam, wie zur Verdeutlichung und bereits binnen einer Minute begann ich, diese dauerhafte Angewohnheit von ihr zu hassen. „Mein Name ist Schwester Anneliese und ich bin die Hausmutter dieses Gebäudes. Wenn Ihr Fragen habt, wendet Euch an mich, bei Problemen ebenso. Ich werde Euch nun Eure Kammer zeigen, dann in Eure Arbeiten einweisen.“

Unsicher sah ich ihr entgegen. „Ehrlich gesagt würde ich gerne erst wissen, was ich machen soll, ehe ich irgendetwas tue, was ich nicht möchte.“

Die Nonne erhob etwas ihr Kinn, ihre Stimme wurde kühl und bestimmend. „Nun, ich denke, wir sind uns alle einig, dass vorerst Eure Gesundheit im Mittelpunkt liegt, so wie Eure Gottesfürchtigkeit. Nicht wahr?“

Meine Antwort klang mehr wie eine Frage: „Äh, ich denke schon?“

„Sehr schön. Dann folgt Ihr mir nun, wie ja bereits gesagt und lasst Euch Euer Zimmer zeigen. Ihr werdet mit dem Boden Vorlieb nehmen müssen, aber ich denke, bis ein Bett frei ist, ist das aufgrund Eurer Frömmigkeit und Eurer unendlichen Demut kein Problem, denn auch Ihr seid nun vorerst Teil unserer Gemeinde, Bruder Falcon.“

„Bruder-...?!“

Sie unterbrach mich kalt: „Ihr redet, wenn Ihr aufgefordert werdet, ansonsten schweigt Ihr und tut Eure Arbeit. Wenn Ihr diese erledigt habt, steht es Euch zu, zu gehen wohin immer Ihr wollt. Allerdings verbitte ich es mir, weltliche und abtrünnige Dinge wie Alkohol oder sündhafte Weibsbilder mit in dieses Haus zu bringen. Gibt es noch Fragen?“

Fassungslos starrte ich sie an, dann atmete ich tief durch. Ich musste das Gehörte erst einmal verarbeiten und blinzelte verwirrt. „Ja, ich würde gerne wissen, wie viel ich verdiene und was genau ich machen soll, wie lange ich hier arbeiten soll am Tag und-...“

„Bis Eure Arbeit beendet ist und je nachdem, wie viel Arbeit Ihr habt.“, sie setzte sich in Bewegung und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzugehen. „Dies ist eine Anlaufstelle für alle Verirrten dieser Stadt, sofern wir sie aufnehmen können. Vorwiegend für alte Menschen, die keine Arbeit mehr finden, da sie zu alt sind, aber nicht alt genug, um sie an ein Krankenhaus weiter zu leiten. Wir helfen ihnen, weiterhin zu arbeiten, wie der Herr es für sie vorsieht, indem wir mit ihnen Näharbeiten im Auftrag der umliegenden Armen- und Waisenhäuser entgegen nehmen. Je nachdem, wie viel Ihr näht, werdet Ihr entlohnt, aber bitte bedenkt, dass Unterkunft so wie zweifache, tägliche Mahlzeiten kosten.“

Wir gingen die Treppe wieder hinunter und stotternd erwiderte ich: „Ich brauche nichts zu essen, vielen Dank, ich sorge für mich-...“

Sofort drehte sie sich herum und ich stolperte fast in sie hinein. „Das gemeinsame Mahl zur Morgenstunde, so wie zum Abend, ist eine Pflicht für alle hier Untergebrachten, Falcon und ich bin nicht gewillt diese lang erhaltenen Regeln, die allen sehr viel bedeuten, für jemanden wie Euch zu unterbrechen.“

„Für jemanden, wie-...?!“, doch sie ließ mich abermals nicht aussprechen.

„Die meisten Menschen hier sind alt und haben keine Angehörigen mehr, wir sind nun ihre Familie. Und ob es Euch passt oder nicht, Ihr gehört von heute an auch dazu, also behandelt alle mit Respekt und wagt es nicht, unsere Hausordnung mit Füßen zu treten. Wenn Ihr mir also bitte folgen würdet?“, demonstrativ ging sie weiter hinunter. Langsam wurde ich wütend. Diese Frau regte mich auf und ich fragte mich ernsthaft, wie Nevar nur auf die Idee kam, mir Maria's Obhut zu empfehlen. Gut, nähen war vielleicht besser, als ein Tretrand irgendeiner Mühle, aber das?!

Schwester Anneliese brachte mich wieder ganz hinunter, die ganze Zeit über weiter redend. „Und bitte bedenkt, dass dies eigentlich nicht für Menschen Eurer Altersklasse ist, also bringt diesem Haus gefälligst Dankbarkeit entgegen.“

„Es ist nur, bis ich etwas Besseres finde.“, ich konnte mir diese Bemerkung nicht verkneifen, doch sie überging sie einfach und führte mich an die Seite der Treppe, wo sie eine kleine, oben dreieckige Tür öffnete, die in die Treppe hinein führte. Ich starrte ungläubig erst sie, dann die winzige und verstaubte Kammer an, brachte aber keinen Ton heraus. Ich hatte mit einem Raum gerechnet, ähnlich wie bei Francesco, nicht mit einer Einbuchtung in der Größe eines Schrankes.

„Nun, Euer Zimmer, bis die Betten repariert sind. Das dürfte nur drei oder vier Tage dauern.“

„Wie viel soll mich das kosten?“, ich steckte den Kopf hinein und schätzte die Höhe ab. Wenn ich Glück hatte, konnte ich gebeugt stehen, aber zumindest war es möglich, die Beine komplett auszustrecken. Ich konnte mir schon denken, wie es polterte, wenn jemand die Treppe darüber entlang ging. Hoffentlich gab sie nicht nach, während ich darin lag. „Also, wie viel soll ich dafür arbeiten?“

Schwester Anneliese schnaubte leicht. „Mit allem Respekt, dies hier ist kein Gasthaus und es ist ja nicht lange. Nur bis die Betten repariert sind.“

„Und wenn ich die Betten repariere?“, ich wandte mich wieder der Hausmutter zu.

Mein Angebot schien sie leicht wütend zu machen, denn ihre Stimme wurde etwas lauter, als sie bemüht beherrscht erklärte: „Mit allem Respekt, Falcon, aber dafür gibt es die vorgesehenen Menschen! Meint Ihr nicht, Ihr solltet erst einmal mit Eurer eigenen Arbeit fertig werden, ehe Ihr Euch auf die Arbeiten anderer stürzt?!“, herrisch verschränkte sie die Arme. „Wenn ich Euch dann bitten dürfte, mir Euer Hab und Gut zu überlassen? Wir übernehmen keine Garantie für Diebstahl, aus diesem Grund nehme ich alles an Besitz entgegen. Zudem verbietet unsere Hausordnung, dass die hier Untergebrachten eigene Dinge in ihren Zimmern aufbewahren. Wenn Ihr das Haus verlassen wollt, könnt Ihr es jederzeit bei mir abholen.“, fordernd hielt sie ihre Hand auf und ich schluckte schwer, als mir bewusst wurde, dass sich noch immer die zwei Bücher in meiner Tasche unter dem Umhang befanden.

Entschlossen schüttelte ich den Kopf. „Ich denke nicht, dass es jemanden stören wird. Generell werde ich kaum auffallen und wie gesagt, ich bleibe ja nicht lange. Höchsten heute Nacht und vielleicht ein, zwei Tage mehr.“

Schwester Anneliese erhob die Hand und zeigte zur Tür. „Dort ist der Ausgang. Wenn Ihr mit den Hausordnungen nicht einverstanden seid, dann geht.“

Ich folgte ihrem Fingerzeig, dann seufzte ich und schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin einverstanden, aber ich sehe gern meine Sachen in meinen Händen.“

„Ihr werdet sie während Eures Aufenthalts nicht benötigen.“

Düster blickte ich sie an. Aus dem Zimmer einige Meter weiter drang leises Flüstern und ich erkannte, dass eine der Nonnen gerade jemandem erklärte, wie er die Nadel zu führen hatte. Es war eine Ruhe und Entspannung versprechende Arbeit, immerhin hatte ich durch meinen Aufenthalt bei Nevar das Nähen bereits gelernt und alte Menschen konnten kaum anstrengend sein. Obendrein überzeugte mich der Gedanke, dass ich Arbeit und Obdach in einem katholischen Haus hatte, ganz nach Domenicos Geschmack. Domenico wäre zufrieden und würde den Blick von mir abwenden, mir mehr Freiraum lassend. Für jemanden wie mich, jemanden aus Annonce, war es schwer, Arbeit zu finden. Lieber das, als nichts, ich hatte vorerst keine andere Wahl.

Nach einigem Schweigen löste ich widerwillig meine Tasche von meinem Gürtel und überließ sie Anneliese, mit ihr meine zwei Bücher. Die Nonne griff zu und ich hielt die Tasche fest, während ich die alte Frau ernst ansah und gereizt zischte: „Sie bleibt zu.“

„Wieso sollte sie das auch nicht tun?“, antwortete sie schnippisch und entriss sie mir. Ich brummte nur, dann löste ich auch meinen Geldbeutel.

Mein Vorteil war, sollte Anneliese die Bücher sehen, würde ich wissen, dass sie in meine Tasche gesehen hatte. Mein Nachteil:

Wenn die Inquisition mich als Ketzer hier abholte, brachte mir das auch nicht mehr viel.

Nachdem ich alles Geld nachgezählt hatte, erhielt die Nonne auch meinen Geldsack und ein Gefühl der Erleichterung überkam mich, als mir bewusst wurde, wie viel noch in der Rum-Marie war:

Meine Papiere, meine Dietriche, meine Messer, mein zweites Hemd. Von jenem, was in meinen Stiefeln versteckt war, verriet ich nichts und ich beschloss, auch von dem Rest nichts zu sagen. Wenn sie nichts davon wusste, konnte sie mir auch nichts abnehmen. Anneliese wollte als letztes meinen Umhang greifen, doch ich benannte ihn in Schlafdecke um und warf ihn gereizt in mein neues Zimmer. Im Umhang waren noch einige Münzen eingenäht, außerdem war er mir zu wertvoll. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich die meisten meiner Sachen ansonsten nie mehr wiedersehen würde.

Den Schüssel der Kammer zog Anneliese ab. Sicherheitsgründe, es würde mich schon niemand bei meinem Schläfchen stören. Während sie alles hinauf brachte, sollte ich mich etwas umsehen und in meinem neuen Schlafzimmer zurecht finden, ein sehr schlechter Witz. Mürrisch schloss ich die Tür und schlich mich nach nebenan. Noch immer waren alle mit Nähen beschäftigt und ich wagte es, in den Raum hinein zu treten und mich umzusehen. Schüchternheit machte sich in mir breit, so viele Fremde auf einem Haufen kostete viel Überwindung. Die zwei Nonnen, eine recht alte und eine auffällig junge, nickten mir freundlich zu. Ich nickte zurück und blieb in einer Ecke stehen, aufmerksam zusehend. Nun erblickte ich auch, dass in der anderen Ecke, vom Flur aus nicht sichtbar, ein weiterer kleiner Tisch war, so wie Regale mit verschiedenen Nahrungsmitteln wie Brot oder Gemüse. Scheinbar war dies nicht nur der Aufenthalts- und Arbeitsraum, sondern als drittes auch noch die Küche.

Versammelt waren etwa zehn alte Menschen und viele von ihnen erinnerten mich an den alten Esel. Sie saßen nur da, starrten vor sich hin und ließen sich dann helfen, einige Stiche zu tun. Kaum war die Hilfe wieder verschwunden, sanken sie wieder in sich zusammen und sprachen mit sich selbst. Es war ein beängstigender Anblick und ich fürchtete mich davor, mit ihnen sprechen zu müssen.

Als Anneliese zurückkehrte, erklärte sie den zwei anderen Nonnen, dass ich neu wäre und eine Einführung bräuchte und ehe ich mich versah, befand auch ich mich auf einem Stuhl am Tisch. Man übergab mir sämtliche, erforderliche Gerätschaften, einen Stapel stinkender Hemden und überließ mich meiner Arbeit. Ich stürzte mich förmlich hinein und als die Hausmutter kurzzeitig erneut verschwand, erkundigte ich mich, wie genau die Bezahlung aussah. Die Antwort war schlechter, als erwartet: Drei Heller für jedes Hemd, zwei Heller für jede Hose.

Die junge Frau, an dich ich mich wandte, hieß Schwester Margret und war eine wahre Schönheit. Sie hatte blass rosa Wangen, ein strahlendes, gesundes Lächeln und die zartesten Hände, die jemals die meinen berührt hatten. Ein wenig schämte ich mich schon für mein Empfinden, trotzdem wusste ich das eine oder andere Mal nicht mehr, was ich tun sollte und ließ mir helfen. Es war ein geringer Trost, ihre Haut zu spüren, wenn sie meine Hände berührte, da sie mir den Stoff abnahm oder sich neben mich setzte und freundlich alles noch einmal mit mir durchging. Auch manche der anwesenden Männer wandten sich des Öfteren an sie und es brachte mich zum Schmunzeln, mit anzusehen, wie unschuldig sie war, denn sie merkte nichts davon.

Umso schrecklicher war es, wenn Margret mit dem Kochen begann und Anneliese sich zu uns gesellte, herrisch, düster und schroff. Die meisten alten Leute kuschten vor ihr und zogen die Köpfe ein und ich erwischte ab und an die dritte Nonne, Theresa, dabei, wenn sie genervt die Augen rollte.

Nachdem meine Arbeit dann beendet war, wurde alles überprüft. Die, die ihre Aufgaben nicht richtig erledigt hatten, mussten sie neu aufnehmen und der Rest der Gruppe saß schweigend und geduldig am Tisch, bis die jeweilige Person fertig war. Es dauerte teilweise gut eine halbe Stunde, ehe dann alles seine Richtigkeit hatte, anschließend folgte das Abendessen, begleitet von einem Tischgebet. Zwar war die Arbeit entspannend, doch sie war eintönig und die Luft stets drückend. Ich bekam schnell Kopfschmerzen und als wir dann zu Bett gehen durften, meinte ich, vor Schmerz zu sterben. Das Haus verlassen durfte ich nicht, mit der einfachen Begründung, dass andere mir folgen wollen würden: Die Hausregel.

Wenn ich Spaziergänge machen möchte, solle ich mich einen Tag zuvor abmelden und dann vor dem Frühstück gehen oder eben an Sonntag, denn dann wurde jeder von uns hinaus getrieben. Käme ich zu spät zurück, müsste ich den Tag draußen verbringen, inklusive darauffolgende Nacht, aber meinen Aufenthalt und das Essen dennoch bezahlen, denn schließlich machten sie dennoch Verluste.

Ich blieb mehrere Wochen in diesem Haus und bereits während der ersten vierzehn Tage begann ich es abgrundtief zu hassen, schon allein aus dem Grund, dass die Betten nicht ansatzweise repariert wurden. Als zweites kamen meine Samstage bei Francesco, bei denen ich nach der Näharbeit auch noch die Heilige Schrift kopieren musste und als drittes machten mir die sonntäglichen Kirchenmessen zu schaffen. Selbst wenn ich dieser Strafe von Domenico hätte ausweichen wollen, es war Pflicht von Maria's Obhut aus, ihr beizuwohnen und jedes Mal fühlte ich mich, als würde ich den größten Verrat aller Zeiten begehen. Die Messen, die Gesänge, die Figuren, die Fensterbilder, alles schien mich anklagen zu wollen und ich bekam es mit der Angst zu tun. Selten schaffte ich es, einen Ausflug zur Deo Volente zu machen und jedes Mal war Nevar nicht aufzufinden, es war zum verfluchen. Von Domenico hörte ich nichts und in anderen Geschäften bekam ich nicht die geringste Zusage. Ich überlegte sogar, wieder in das Skriptorium zu gehen, nur, um Marias Obhut irgendwie verlassen zu können, doch überlegte es mir aufgrund Domenicos anders.

Die Rum-Marie gab ich bereits nach drei Tagen auf, das Zimmer war einfach zu teuer, mein Verdienst zu gering und wenn ich noch etwas mit meinem Geld machen wollte, musste ich sparsam sein. Ich schaffte es, alles heimlich mit in mein Zimmer zu nehmen, doch als ich eines Morgens von einem Spaziergang zurückkehrte, war alles verschwunden. Anneliese machte mir eindringlich klar, dass dies gegen die Vorschrift verstoßen hätte und drohte mir sogar mit Schlägen, als wäre ich ein kleiner Junge. Oh ja, ich hasste es dort.

Wieso hatte Nevar mir empfohlen hier her zu kommen? Wieso?!

Ich bekam keine Antwort, woher auch? Francesco konnte mir nichts sagen und legte mir nur jedes Mal tröstend die Hand auf den Arm und am liebsten wäre ich gegangen. Ich spielte fast jeden Abend mit dem Gedanken, einfach zu fliehen, doch ohne meine Sachen aus dem Zimmer der Nonne war das schwierig. Um gehen zu können, brauchte ich erst mein Eigentum zurück und das zu bekommen stellte sich als sehr schwer heraus. In ihrem Zimmer hatte es keinen Schrank gegeben, nicht einmal ein Bett, also wo schlief sie und wo fand ich meine Sachen? Und während ich mir diese Frage immer und immer wieder stellte, beruhigte ich mich, indem ich mir Margrets wunderschönes Lächeln vorstellte. Das und noch mehr.

Ich würde es nicht als Verliebtheit bezeichnen, aber zumindest zog sie mich an und das tägliche, indirekte Zusammensein mit ihr machte mir zu schaffen. An jedem zweiten Tag nach Wochenbeginn war sie nicht da und dann kam mir das Arbeitshaus vor, wie die Hölle.

Dann, nach zwei Wochen, erwartete das Arbeitshaus Besuch und Anneliese riss meine Zimmertür auf, noch ehe die Sonne auch nur aufgegangen war. Ich musste aufstehen und mich waschen, unter ihren kritischen Blicken, denn alles hatte sauber und ordentlich zu sein, wenn der Besuch kam. Es war lange her, dass bereits mein Tag mit mieser Laune begann und das war sicherlich nicht verwunderlich, denn sie meinte, mich besser waschen zu können. Etwas, was ich ganz und gar nicht so empfand und ihr auch direkt ins Gesicht sagte.

Jeder wurde heraus geputzt, man kämmte den Alten sogar das Haar und die Arbeit blieb für den Tag aus, ganz gleich, ob es ein Mittwoch war. Wir hatten uns an den Tisch zu setzen und zu warten, schweigend und in sauberen Sachen.

Es dauerte, bis wirklich etwas geschah, dann hörte ich den Türklopfer. Anneliese zischte noch einmal: „Denkt daran, Höflichkeit!“, dann eilte sie zur Tür um zu öffnen. Neugierig drehte ich den Kopf, doch es war mir nicht möglich, etwas zu erkennen, also lauschte ich nur.

„Da seid Ihr ja.“, schmeichelte Anneliese freundlich. „Wir haben Euch bereits erwartet.“

„Ich habe mich verspätet.“, ertönte es als Antwort.

Ich zog die Stirn kraus und sah zur Tür, dann in die Runde, damit rechnend, dass alle sich wundern würden, aber niemand schien verwundert zu sein. Ich hätte schwören können, dass diese Stimme nicht die Stimme desjenigen war, den man erwartet hatte, doch scheinbar störte es niemanden.

Anneliese lachte leicht. „Ach, das macht doch nichts! Ich bitte Euch, tretet ein.“

„Vielen Dank.“, entgegnete Nevar, eher kühl, dann trat er in den Flur. „Und? Wie steht es um die Gesundheit? Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich.“, die Nonne führte den Mann zu uns in den Raum und mir fiel auf, wie übertrieben ihr Lächeln wirkte. „Seid unbesorgt, Bruder Raphael. Es ist alles, wie es sein soll.“

„Sehr gut, das freut mich zu hören.“, Nevar sah sich nickend um, ohne uns wirklich zu beachten, dann erblickte er mich und grinste leicht. „Ah, ich sehe, er hat Euch gefunden. Guten Abend, Bruder Falcon.“

Ich gab keine Antwort, sondern starrte ihn nur an, nicht einmal merkend, dass mein Mund leicht offen stand.

Anneliese lächelte und legte mir liebevoll ihre runzligen Hände auf die Schulter. „Selbstverständlich, der Herr hat ihn sicher zu uns geleitet.“

„Nun, dann wollen wir ihm danken.“, Nevar lächelte ebenfalls und stellte sich an den leer stehenden Stuhl an der Tischspitze. Ich wusste nicht, was mich mehr schockierte: Sein herzensguter Blick oder das, was er sagte?

„Lasst uns beten.“



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