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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil

Das Tagebuch eines Gesuchten
von

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Einleitung (v2)

Einleitung
 

Ich hatte ein langes Leben, wenngleich auch nicht immer ein Gutes.

Lange habe ich überlegt, wo ich die hier nieder geschriebene Geschichte beginnen soll, mein Leben, mein Geständnis. Nun habe ich mich entschieden und beginne mit einem besonderen Ereignis, das ich sehr oft durchlebte, welches mich jedoch prägte bis zum letzten Tag.

Wenn ich daran zurückdenke, spüre ich noch immer die Schmerzen in meinem Kreuz. Wie die Peitsche meine Haut zerschneidet, wie meine Arme vor Schmerz an den Eisenketten reißen, wie mein Kopf in den Nacken geworfen wird und wie mein Hirn aussetzt, als würde mich jeder weitere Hieb um den Verstand bringen.

Als die Züchtigung für mein sündiges Verhalten beendet war, sackte ich zusammen wie ein totes Tier und spürte die kühlen Fliesen unter meiner Haut. Wie Balsam wirkte der kalte Boden auf mich und hätte ich Kraft gehabt, hätte ich mich auf den Rücken gedreht, um meine Wunden zu kühlen.

Aber ich hatte keine Kraft.

Also schloss ich die Augen, zitternd vor Schwäche und Schmerz und biss die Zähne zusammen, um nicht zu wimmern, während die zwei Mönche meine Ketten lösten und mich hinaus schliffen, leise Gebete für meine unreine Seele murmelnd. Was danach kam, war etwas, was ich besser kannte, als alles andere dieser Welt.

Man schliff mich, schlaff wie ich nun war, in die untersten Gänge des Klosters, zu den Lagerräumen und Kellern. Dort zog man mir ein altes, recht kratziges Leinenhemd an, das die Mönche zuvor mit einer harten Bürste schrubbten, so dass die Fasern mir nun schmerzhaft in alle Poren stachen. Sie banden meine Hände auf den Rücken und ließen mich allein zurück.

Und so lag ich da und lauschte. Die Tür wurde verschlossen, dann herrschte Dunkelheit. Leicht nahm ich den Geruch von Urin wahr und vom salzigen Boden, um Durst und Schmerzen zu steigern. Am liebsten hätte ich mich aufgerichtet, aber ich tat es nicht, sondern beruhigte meinen Puls. Die Schwärze um mich herum machte mich nervös. Es gab keinen Lichtpunkt und ein beengendes Gefühl machte sich in mir breit. Meine Augen hatten keinen Punkt, den sie fixieren konnten, egal wie oft ich blinzelte. Es würde noch dauern, bis sie sich an das tiefe Schwarz gewöhnten, letzten Endes kannte ich das Bußzimmer zur genüge. Man könnte fast behaupten, dass ich die Hälfte meiner Klosterschülerzeit hier verbracht hatte und das waren immerhin gut zwölf Jahre. Um mich vom starken Juckreiz abzulenken, abgesehen von den rauschenden Schmerzen die meinen Kopf einnahmen, überlegte ich, wie lange ich nun büßen musste.

Dies war zum Großteil launenabhängig. Wenn der Abt schlechte Laune hatte, kam es manchmal vor, dass man eine Woche lang in solch einem Zimmer zubrachte, vielleicht auch zwei.

Aber größtenteils hing es von der Art der Sündtat ab. Ich hatte nichts Schlimmes getan – positiv ausgedrückt – sondern lediglich geflucht. Nun gut, vielleicht ein oder zwei Mal geflucht... auf Gott und Teufel, milde ausgedrückt. Ich war wütend gewesen und mit Sicherheit glich es Ketzerei, aber noch nie zuvor hatte mich so der Zorn gepackt.

Gewiss, wir alle sind Würmer Gottes und leben in Demut und Unterwürfigkeit.

Mönchsregel des heiligen Benedikt zur Demut: Der Mönch erniedrigt sich und spricht mit dem Propheten: "Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet."

Das lehrte man mich bereits in jungen Jahren, aber dafür war ich einfach nicht geschaffen. Ich konnte nicht demütig leben und es widerstrebte mir, mich selbst Wurm zu nennen, weniger noch. Genauso widerstrebte es mir Bruder Markus, einer der wenigen Männer dieses Kloster mit Denkvermögen, der Ketzerei zu bezichtigen. Und das hatte man von mir verlangt.

Bruder Markus war ein guter Mann gewesen. Er tat stets seine Arbeit, folgte gehorsam den Gebeten, sprach nur wenn gefragt – oder heimlich mit mir hinter der Kapelle. Bruder Markus und ich teilten die Faszination für die Kulturen anderer Länder, für ihre Religionen, für ihre Bräuche. Wir liebten es gemeinsam darüber zu sinnieren, was geschehen würde, wenn unsere, rein katholische Glaubensrichtung, mit jener der Napajer oder jener der Ächaten zusammentraf. Ich sprach unheimlich gern mit ihm, wenngleich er gut über dreißig Jahre älter war als ich – ich war derzeit etwa dreiundzwanzig, er weit über vierzig. Aber dann fand man bei ihm ein Buch über eine solche, heidnische Kultur.

Bruder Pascal, ein widerlicher Mann, die Nase stets erhoben und ein Kriecher beim Abt, klagte ihn der Ketzerei an und man forderte von mir, es ihm gleich zu tun. Ich weigerte mich, fluchte, schrie, wütete und als man Bruder Markus dann letzten Endes abführte, um ihn in den Kerker zu bringen, sah ich rot und beschimpfte Pascal, den Verräter von einem Bruder, als alles, was mir spontan einfiel.

Tja... Und dann landete ich hier.

Ich beginne diese Geschichte genau an diesem Punkt, da ich der Meinung bin, dass dieses Ereignis mein restliches Leben grundlegend veränderte.

Während ich da lag und langsam abdriftete in die zweite Welt aus Träumen und Fantasien, beschloss ich, dem allem ein Ende zu bereiten.

Ich war im Waisenhaus groß geworden, ich hatte stets in Brutalität, Disziplin und Demütigungen gelebt, aber es reichte mir. Als ich ins Kloster geschickt wurde, um die Kasse des Heimes zu entlasten und stattdessen später als religiöser Mann dorthin zurückzukehren, um die Kinder mit Rohrstock und Gottes Wort auf den richtigen Weg zu führen, drehte sich mir innerlich der Magen um. Ich hatte mit den heiligen Worten nicht viel zu tun gehabt, nur ein Mal die Woche ein wenig, durch einen Mann, den wir alle Vater Antonius zu nennen hatten. Er unterrichtete uns in Gotteslehre und Christentum, aber all die lateinischen Zeilen die er uns vorlas und die keiner von uns Kindern verstand, ergaben keinen Sinn für mich und die Züchtigungen nahmen kein Ende. Ich beschloss, wenn ich das Heim verlasse, niemals wieder etwas mit dem Christentum zu tun zu haben. Stattdessen erzog man mich zum Mönch und ich stellte fest, auch jetzt wo ich Latein konnte, ergab alles noch genauso wenig Sinn, wie zuvor.

Stattdessen wurde der Rohrstock durch einen Lederriemen ersetzt. Statt mich zu ermahnen, dass ich nicht frech sein sollte, verbot man mir das Reden nun ganz und gar. Statt mich anzuweisen, ich solle mir mein Essen selbst verdienen, wenn ich Hunger hätte, bestrafte man mich dafür und bezichtigte mich der Völlerei.

Ich fühlte mich nicht wohl, weder die Zehn Jahre im Heim, noch die über zehn Jahre im Kloster. Ich fühlte mich nicht geliebt vom heiligen Vater, gehasst aber genauso wenig. Man könnte sagen, so viel wie der Herr in allem und jedem war, so wenig war er in mir.

Während Sonntags die Messetexte gelesen wurden, überlegte ich häufig, ob Gott mich überhaupt je bemerkt hatte oder ob es mich für ihn überhaupt gab. Ob meine Erschaffung ein Versehen oder ob ich von irgendeinem anderen, geschaffenen Wesen unbemerkt abgefallen war. Vielleicht hatte Gott mich im Schlaf geschaffen und wusste gar nichts davon?

Tatsächlich stellte sich heraus, dass ich eine Woche lang im Bußzimmer eingesperrt wurde. Am nächsten Tag kam ein Mönch, wies mich an mich trotz meiner Fesseln in einem Holzeimer zu erleichtern und ließ mich dann allein zurück. Bereits am ersten Tag fühlte ich mich dreckig und verspürte das Bedürfnis, mich zu waschen. Entnervt und wütend saß ich allein auf dem kalten Boden und lauschte dem Fiepen der Ratten. Am zweiten Tag verschlechterte sich meine Laune zunehmend, am dritten war sie nicht mehr zu halten. Aus Frust und Trotz heraus zischte ich alle Flüche und Ketzerswörter vor mich hin, die ich kannte, verfluchte jeden der Mönche, den Prior, den Abt, ja sogar den Papst, bis hin zu Gott persönlich. Ich forderte ihn heraus und verlangte, dass wenn er mich strafen wollte, er das doch tun solle. Ich nannte ihn einen Hurensohn und spuckte sogar demonstrierend auf den Boden. Am dritten Tag dann kam erneut ein Mönch und brachte mir dieses Mal endlich etwas Brot und Wasser. Ich lachte so stark, dass mir der Bauch schmerzte und man einen Arzt rief.

Das war also Gottes Strafe? Er gab mir zu Essen?

Und so hatte ich meine Entscheidung gefasst… Ich würde das Kloster verlassen.

Endgültig.

Die Stadt Annonce

Da Gott mir, statt mich zu strafen, Essen schenkte, kam ich zu dem Entschluss, dass es ihn wahrscheinlich gab, er aber selbst keine große Lust auf das Machen und Tun der Inquisition hatte. Weitergehend könnte man sogar behaupten, ich sinnierte einige Minuten darüber, ob es ein Zeichen des Herrn war, dass man doch etwas verändern sollte; dass ich vielleicht eine Art Auserwählter war, eine Art Messias, dazu auserkoren die Menschheit von der Inquisition zu befreien und wieder auf den rechten Weg zu führen. Allerdings wäre das zu weither gegriffen und ich interessierte mich schlichtweg zu wenig für das Leid der anderen, als dass ich mich mit der größten Macht des gesamten Großen Kontinents angelegt hätte, nur, damit ich am Ende auf dem Scheiterhaufen stehe.

Ich hatte noch gut eine halbe Woche Zeit gehabt, mir meinen weiteren Werdegang genaustens zu überlegen und so saß ich abends allein in meinem Gefängnis, versuchte den Ausschlag vom Juckreiz zu ignorieren und malte mir meine Chancen aus. Bereits nach einem halben Tag war mir klar gewesen, dass diese nicht besonders groß waren.

Ich war ein gelehrter Mann, ich sprach Latein, konnte lesen, schreiben, rechnen, ja hatte sogar Ahnung von der Weltwissenschaft und verschiedenen Kulturen. Aber mit meinen dreiundzwanzig Jahren war ich kein Narr gewesen.

Was brachte es einem Lesen und Schreiben zu können, wenn die Bewohner der Stadt scheinbar auch gut ohne dies auskommen? Ich beherrschte kein Handwerk, verstand nichts von Feldarbeit oder ähnlichem. Die meisten Mönche arbeiteten auf den Feldern des Klostergebietes, ich jedoch hatte mich davor weitgehend gedrückt. Ich bevorzugte die Arbeit in der Bibliothek, das Abschreiben von Werken und das heimliche Schlafen hinter Bücherregalen. Mir wurde klar, dass mein zukünftiges Leben mit viel Arbeit verbunden sein wird und ein wenig Missmut kam schon in mir hoch, als ich mir vorstellte, wie ich in einem Stall Mist zusammen schaufelte oder Kühe molk.

Dennoch reizte mich die Vorstellung. Nicht mehr lange und ich würde verbrannt werden. Ich war ungehorsam und den meisten ein Dorn im Auge. Man wartete scheinbar nur noch auf den letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Also was hatte ich zu verlieren?

Als man mich aus dem Bußzimmer befreite wies man mich an, mich zu waschen und wieder in meine alte, oftmals geflickte Kleidung zu schlüpfen. So wurde ich dann entlassen, man nahm mir eine Beichte ab, sprach den Segen und weihte mich in der Hoffnung, die Dämonen nun endlich von mir genommen zu haben. Noch am selben Tag begann ich meine Arbeit, als sei nie etwas gewesen.

Die Brüder des Klosters sahen mich meist nur missmutig oder mit gespaltenen Meinungen an. Einerseits tat ich einigen mit Sicherheit leid – viele kannten mich seit ich ein Rotzlöffel war. Andere wiederum hatten gehofft, ich wäre nun endlich ernsthaft bestraft worden, ich, der Sündenbengel mit der dämonischen Zunge und dem Wesen eines kleinen Teufels, der nur Schabernack trieb und Gott lästerte. Ich ließ mich nicht davon unterkriegen, im Gegenteil:

Ich spielte den frommen Schüler, folgte anständig den Gebeten und merkte mit Genuss, dass man meinte, ich sei bekehrt worden. Man fasste so viel Vertrauen zu mir, dass man mir irgendwann sogar auftrug, einkaufen zu gehen. Eine Aufgabe, die nicht jedem zuteil wurde. Schnell verstand ich, dass es ein Test des Abts war. Ich hatte den Auftrag Kerzen für das Kloster zu kaufen und ich wusste aus meinem früheren Leben als Straßenkind genau, dass auf dem Weg dorthin ein Bordell lag. Man wollte testen, ob ich fromm war oder ob ich hielt um zu glotzen. Aber zu solch einer Kontrolle wollte ich es nicht kommen lassen.

Als ich diese Neuigkeiten vernahm hüpfte mein Herz mir bis zum Hals, darauf hatte ich gewartet und am liebsten wäre ich gesprungen und hätte gesungen auf dem Weg in den zweiten Stock zu Vater Mauritius, unserem Vater.

Nur zögernd öffnete ich die Tür, ein wenig mulmig wurde mir schon zumute. Mauritius war ein strenger Mann, stets ruhig und gelassen, aber bei Gott, er hatte es in sich! Wenn ihn die Wut packte, war er nicht zu bremsen und er hasste nichts mehr, als Vergehen gegenüber Gott oder der heiligen Mutter Kirche. Manchmal überlegte ich, ob er sich die Inquisition ausgedacht hatte, denn er war durchaus der Charakter dafür und sah so alt aus, dass er durchaus bei ihrer Entstehung dabei gewesen sein kann. Als ich eingetreten war, schloss ich die Tür und senkte demütig den Blick, darauf wartend sprechen zu dürfen, wie man es mich gelehrt hatte. Dennoch hatte ich das Bild des Mannes direkt vor Augen. Graue Haut, dünne, knorrige Hände und tiefe, in Falten verloren gegangene Augen die einerseits eiskalt, andererseits alt und wässrig waren. Er erinnerte ein wenig an einen alten Baum, der nicht merkte hatte, dass er gestorben war und vergessen hatte, daraufhin umzufallen.

Manchmal, wenn er mitten im Satz anfing zu schweigen, überlegte ich, ob er nun endlich gestorben sei. Stattdessen sprach er nach einigen Sekunden einfach weiter, als sei nie etwas gewesen.

So tat er es auch jetzt:

„Oliver, da…“, hier die betonte Pause von etwa zehn Sekunden in denen ich darauf warte, dass es klatschte und der alte Körper tot zu Boden knallte. „…bist du ja.“, er stand langsam und mühsam von seinem Schreibtisch auf und kam mit winzigen Schritten auf mich zu. Zum Gehen benötigte er einen alten, knorrigen Stock, genauso alt wie er selbst, aber das täuschte. Sowohl er, als auch der Stock täuschten die Menschen in ihrer Umgebung. Man hielt sie für schwach, zerbrechlich und dachte, sie bersten sobald man sie nur berührt, aber dieses Großväterchen mit seinem Stab war unvergleichlich stark, wenn es ums Schlagen oder Treten ging.

„Richte dich auf, mein Sohn, lass dich ansehen…“

Ich tat wie verlangt und sah dem alten Mann ins Gesicht. Ein wenig Ekel überkam mich bei seinem Anblick und ich stellte fest, er roch sogar so, als wäre er bereits tot. Wann war ich zuletzt in diesem Zimmer gewesen? Und hatte er beim letzten Mal auch so gerochen?

Und viel schlimmer: Wenn er nun tot umfiel, würde man mir die Schuld geben?

Ich beschloss, ihn so wenig wie möglich aufzuregen. Wenn er stirbt, werde ich mit Sicherheit dafür verantwortlich gemacht, dachte ich immer wieder. Dieser Mann gehörte schließlich zum Inventar! Nichts wäre Entschuldigung genug, wenn er nun einfach umfiel!

„Du bist groß geworden, mein Sohn, erwachsen.“, stellte er wie immer fest. Wahrscheinlich sagte er das zu jedem, um ein Gefühl von Nähe aufzubauen, aber diesem Mann wollte ich nicht einmal zehn Meter nahe sein.

„Ich danke Euch, Vater.”, sagte ich stattdessen freundlich und mit dem liebevollsten Lächeln, das ich beherrschte. „Ihr habt nach mir gerufen?“

Nun nickte der Greis und tappte zurück zu seinem Schreibtisch. „Oh ja, das habe ich.“, der Schreibtisch war aufgeräumt wie immer. Ein paar Pergamente, ein Tintenglas, eine Schreibfeder, mehr nicht. Mauritius öffnete eine Schublade und holte ein kleines Zettelchen hervor, dann überreichte er es mir feierlich. „Ich habe eine Aufgabe für dich.“, verkündete er dabei, als wäre ich zum Weltretter ernannt worden und fügte hinzu: „Du sollst für das Kloster einige Besorgungen machen.“

„Sehr wohl, Vater.“, ich betrachtete das Schreibgut, aber nicht sonderlich ernst. Ich hatte nicht vor, zurückzukehren. Dann, als hätte ich gelesen, sah ich auf. „Verzeiht, ich brauche Geld.“

Er lächelte mit zusammen gelegten Händen, dann, nach einigen Sekunden erst, schien er zu verstehen, was ich gerade gesagt hatte. „Gewiss, natürlich.“, Mauritius ging erneut zum Tisch und holte einen ledernen Geldbeutel hervor. Anschließend drückte er mir väterlich drei kleine Münzen in die Hand. „Hier, mein Sohn, passe gut darauf auf. Den Menschen ist heutzutage nicht mehr zu trauen…“

„Oh ja, wem sagt Ihr das?“, pflichtete ich bei. „Man muss sich vor allem und jedem in Acht nehmen. Allein wenn ich an Bruder Markus denke…“, mein Herz verkrampfte sich leicht beim Gedanken an meinen nun toten Freund, aber äußerlich war ich schockiert und tief berührt. „Zu viele Menschen geraten auf Abwege. Man ist nirgends mehr sicher, nicht einmal mehr im Kloster. Die heidnischen Gedanken lauern überall, nicht wahr?“

Mauritius nickte. Ich hatte seine Gunst gewonnen, er mochte mich, wie nicht anders zu erwarten. „Ich war bestürzt, als ich von seinem Vergehen erfuhr. Gott sei seiner Seele gnädig…“, er bekreuzigte sich.

Ich tat es ihm gleich. „Gott sei seiner Seele gnädig…“

„Hüte dich davor, ihm solche Schandtaten gleich zu tun, Oliver. Die Verführung ist groß, aber Gott wird seine Kinder lohnen, wenn sie widerstehen. Und nun geh und erfülle deine Aufgabe gewissenhaft und gehorsam.“

„Sehr wohl, Vater.“, ich verneigte mich leicht, dann sah ich auf die Münzen und entschuldigend den alten Mann an. „Vater Mauritius, verzeiht, aber das Geld wird nicht reichen, fürchte ich.“

„Wird nicht reichen?“, unsicher sah der alte Mann mich an.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich hörte, dass die Preise stark gestiegen seien aufgrund der Unruhen auf dem Festland. Wenn Ihr mir bitte etwas mehr geben würdet, nur für den Fall? Gewiss bringe ich sämtliches Restgeld zurück. Die Besorgungen sind doch sicherlich dringend.“

„Aber natürlich, natürlich.“, naiv wie er durch mein höfliches und gehorsames Verhalten war, legte er mir noch einmal gut die Hälfte hinzu. Dann schloss er den Beutel wieder und nickte zufrieden. Ich verbeugte mich tief, sprach Gottes Segen und verließ den Raum. Auf dem Weg zur Klostermauer konnte ich mir das Grinsen kaum noch verkneifen. Ich hatte den Schutz des Klosters im Rücken – bis sie merkten, dass ich vorhatte auszubüchsen – ich hatte Geld und in meinem Beutel zum Tragen des Einkaufes hatte ich genug Essen für die nächsten zwei Tage. Zwar war ich fleißig und gehorsam gewesen, hatte pflichtbewusst sämtliche Arbeiten, auch in der Küche, getan, aber nebenbei hatte ich stets den einen oder anderen Apfel, das eine oder andere Stück Brot unter meiner Robe verschwinden lassen. Als ich die Klosterfelder und die zwei Windmühlen, die Wassermühle und den Pferdestall passier hatte, verließ ich das Klostergebiet durch die riesige, steinerne Mauer, die bereits seit gut über hundert Jahren dort stand. Vor mir lag nun die Hafenstadt Annonce. Ich überquerte den Fluss über die alte Holzbrücke und kam vom Sandweg auf die gepflasterten Straßen der Stadt. Sofort überschwemmte mich reges Treiben und während ich durch die Straßen lief, ohne Ziel und Verstand, überfiel mich ein Hauch von Nostalgie.

Es war über zehn Jahre her gewesen, dass ich diese Wege passiert hatte und immer wieder erinnerte ich mich an Dinge oder Häuser meiner Kindheit. Ich erkannte den alten Schmied, den Fleischer und auch kleinere Nischen und Ecken, in denen ich mich mit anderen Kindern des Heimes versteckt hatte, um zusammen mit ihnen unsere Opfer heraus zu suchen. Diese bestahlen wir dann und raubten sie aus. Sofort fielen mit unzählige Dinge ein, die ich als kleiner Junge getan und gelernt hatte. Ich wusste wieder, wie man sich als Taschendieb durchs Leben schlägt, hinter welchen Häusern man stets zu Essen fand und wo man Obdach suchen musste, wenn die Nächte kühl waren. Ohne es zu merken erhob ich meinen Demut angelernten Kopf und begutachtete alles mit großes und staunenden Augen.

O’Hagan, der Gouverneur und Stellvertreter der Inquisition hatte einiges in dieser Stadt verändert, das war mir bewusst, aber eine so große Veränderung hatte ich mir - bei Gott - nicht ausgemalt.

Wie immer war die Stadt überfüllt. Umso näher man dem Hafen kam, desto mehr verwandelte sich der Geruch von Exkrementen und verwesendem Fleisch in jenen von Teer, Fisch und verfaulendem Obst. Die Marktplätze waren überfüllt von Menschen aller Art, von Reichen Adligen, die mit Taschentüchern auf der Nase oder Fächern in der Hand herum liefen, aber auch von Armen, die dreckig und verlaust versuchten Blumen oder Armbänder zu verkaufen. Ein paar Taschenspieler versuchten mit zahnlosen Gesängen oder jonglieren die Gunst der Passanten zu erwerben, die Verkäufer schrieen wild durcheinander. Wanderhuren drängten sich an betrunkene Matrosen, Betrüger und Heuchler boten flüsternd ihre Geschäfte an und Scharlatane und Zigeuner verzauberten die Menschen mit Magie oder Heiltränken. Als ich den Hafen endlich erreichte verschlimmerte sich das Treiben zunehmend.

Die rechtschaffenen Läden und Geschäfte wurden von etlichen Kneipen und Wirtshäusern ersetzt und es gab so viel Gemenge, dass ich kaum Gelegenheit hatte das blaue, glitzernde Meer zu betrachten. Endlose Schiffe tummelten sich im Hafen, stachen mit weißen Segeln hervor oder mit alten, herunter gekommenen Masten. Die Möwen kreischten und flogen wild durcheinander, so dass es von weitem wirkte, als sein im Himmel ein Schwarm riesiger Bienen und weiter am Horizont, innerhalb der Saladon-Bucht in jener Annonce lag, patrouillierten die Schiffe der Inquisition, um zu kontrollieren, wer den Hafen betrat oder verließ.

Ich lief gemütlich und langsam den Kai entlang und genoss das Gefühl von Leben um mich herum. Wenngleich alles stank und überfüllt war, dreckig, voller Krankheit und Tod, so hatte ich dennoch ein Gefühl der Lebendigkeit und fühlte mich wohl. Die Tatsache, dass die Inquisition überall vertreten war, blendete ich vorerst weitestgehend aus. Mir wurde viel zu sehr bewusst, dass ich während meiner Klosterzeit diese Art des Lebens vermisst hatte. Wenngleich es als Kind schwer gewesen war, so hatte ich dennoch gelernt in diesen Abgründen der Stadt zu leben und zu bestehen, hatte gelernt, es zu vermissen. Ich passierte etliche Boote und Schiffe, Jollen wie Windjammer und betrachtete zwei oder drei Wasserleichen derer, die in den Kai gefallen waren und die man am Abend – wahrscheinlich - heraus gefischte. Irgendwann blieb ich stehen und sah die am Hafen entlang gehende, fünfstufige Treppe hinauf zu den endlosen Ständen. Oberhalb der Treppen standen im Abstand von etwa dreißig Metern Käfige, davor je zwei Soldaten postiert zur Überwachung. Sie waren mir bereits am Anfang aufgefallen, aber ich hatte ihnen zuerst kaum Beachtung gezollt. Nun wurde ich neugierig und trat die Stufen hinauf, wobei ich zwei Krähen erschreckte, die sich gerade am Hinterkopf des Mannes zu schaffen machten, der in einem der Käfige saß. Ich betrachtete das Gestell etwas genauer, es war aus Metall und recht klein. Der Mann – ich denke was war ein Mann – hockte darin, auf den Knien, gebeugt und mit gesenktem Kopf. Seine Haare hangen ihm zaus ins Gesicht, seine Haut war entstellt und verbrannt. Ich lief neugierig und unter düsteren Blicken der Wachen einmal um den Käfig herum und erkannte, dass diese armselige Gestalt gefoltert worden war. Seine Finger hatten keine Nägel mehr, ebenso seine Füße keine Zehen und sein leicht geöffneter und von Schlägen geschwollener Mund war voller Blut und zahnlos. Der Mann war über und über voller blauer Flecken und alles was er trug, war ein altes, viel zu großes und recht schäbiges Leinenhemd. Ein Gefühl der Übelkeit überkam mich und ich wich einen Schritt zurück. Es roch stark nach Exkrementen und Urin, so wie nach Erbrochenem und Verwesung und hätte der Mann nicht leise vor sich hin gestöhnt, hätte ich geglaubt, er sei tot.

Dass die Wachen da miese Laune hatten, bei dem Gestank, war nicht verwunderlich. Ich bekam mit wie man eine alte Frau, scheinbar die Mutter des Angeklagten, mit Schlägen und Tritten davon jagte. Mich ließen sie gewähren, ich war ein Mönch, ich hatte freies Geleit und so studierte ich das abstoßende, aber zugleich irgendwie faszinierende Bild vor mir ganz genau.

Am Gitter des Käfigs hang ein Schild:

Name: Noel Beverly

Vergehen: Überführt des Diebstahls im Wert von 5 Hellern.

Urteil: Tod durch Gottes Hand, während der Öffentlichkeitsstellung

Vollstrecker des Urteils: Richter Fulligan

Der Herr wird ihn erlösen, dann, wenn seine Buße getan ist.

„Im Wert von 5 Heller.“, wiederholte ich leise und versuchte dem Mann ins Gesicht zu sehen, jedoch war er scheinbar blind. „5 Heller entsprechen gerade mal einem Leib Brot. Dafür erhält man das Todesurteil?“ Diese Frage galt den Wachen und einer der Männer nickte nur knapp, scheinbar durfte er nicht sprechen.

Ein Gefühl der Schwäche überkam mich. Dieses Gesetz war neu, dass man für so wenig öffentlich hingerichtet wurde und dann auch noch so qualvoll, an Hunger oder Krankheit sterbend. Ungewollt malte ich mir aus, wie ich in einem solchen Käfig saß, Krähen mir die Augen auspickten und Menschen die ich nicht einmal kannte mir aus Spaß Salzwasser über den wunden Rücken schütteten. Lange würde das wenige Geld von Vater Mauritius nicht reichen und als Taschendieb hatte man scheinbar schnellere Gelegenheit zu sterben, als ein Mörder der durch die Straßen rannte und wahllos irgendjemandem den Kopf abschlug. Früher war alles anders gewesen, vor O’Hagan.

Seufzend wandte ich mich ab. Ich fühlte mich dumm und einfältig. Zwar war ich belesen, aber mehr als das Schild am Käfig entziffern zu können oder jenes des Wirtshauses das ich ansteuerte – Beim Gehängten – hatte ich davon nicht. In einer solchen Stadt, mit solchen Gesetzen und solch herunter gekommener Lebensweise hatte ich als Mönch nur wenige Chancen.

Das Wirtshaus betrat ich nur zögernd. Als kleiner Junge hatte ich ein, zwei Mal ein solches Gebäude betreten, wurde jedoch meist bereits nach wenigen Minuten hinausgejagt. (Was mehr an meinem Geldmangel, als an meinem Alter lag.) Nun übermannte mich die laute Musik eines Fiedelspielers, zusammen mit dem Gestank und der dicken Luft, da kein Fenster geöffnet war. Als ich mich umsah, registrierte ich, dass jeder mich anstarrte. Ja, sogar ein Seemann, der gerade eine Hure mitten auf dem Tisch nahm, hielt einfach inne und die Frau an seinen Hüften sackte unsanft auf die Tischplatte zurück. Der Fidelspieler war verklungen und der Wirt, der gerade Bier in einen Krug liegen ließ, registrierte nicht, dass dieser längst voll war.

Es war scheinbar ungewöhnlich, einen Mönch in solch einem Gebäude vorzufinden, aber ich ließ mir so gut es ging nichts anmerken, suchte mir einen freien Platz und rief laut: „Wirt! Ein Bier!“ Einige Sekunden geschah nichts, dann verstand man scheinbar, dass ich es ernst meinte und brachte mir meine Bestellung. Der Fidelspieler setzte wieder die Musik ein und langsam flüsternd, da ich von der heiligen Kirche war, fuhren alle in ihren Gesprächen fort. Mich kümmerte es nicht. Weder das Gerede der Menschen, noch ihre unsicheren Blicke. Ich versuchte so wenig wie möglich aufzufallen, ich wollte auf keinen Fall in Streit mit einem Inquisitionsfeind geraten, davon abgesehen musste ich nachdenken. Ich starrte in das pampige und leicht dickflüssige Bier und blendete so gut es ging alles einfach aus. Sowohl die nach Urin riechende Flüssigkeit, die vom Obergeschoss herunter tropfte, noch den feuchten Boden unter mir, da jeder sich scheinbar einfach unter dem Tisch erleichterte. Grübelnd schob ich den Krug etwas beiseite, damit keiner der Tropfen ins Schwarze traf und sah ein paar Stücken zu, die darin herumschwappten. Der Gestank nach Kotze und Rum benebelte mir leicht die Sinne, ebenso wie der Alkohol des Bieres, den ich in diesem Ausmaß nicht gewohnt war und nur langsam kam ich mit meinen Zukunftsplänen vorwärts. Ich schlug so stark auf das alkoholische Getränk an, dass ich kaum merkte, dass der Wirt mir zwei weitere Male nachgoss und als ich dann, unter starker Übelkeit, ein Zimmer verlangte, war bereits die Hälfte meines Geldes nicht mehr da, so viel hatte ich ungewollt verbraucht.

Angekommen im schimmligen Bett, voller kratzender Wanzen und Spuren meiner – männlichen – Vorgänger, starrte ich zur Decke und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Ich überlegte, wie ich mein neues Leben beginnen sollte. Sollte ich die Mönchsrobe ablegen? Mir die Haare schneiden? Das war das Beste. Danach sollte ich zusehen, dass ich Annonce verließ. Vielleicht sollte ich irgendwo anheuern, das war der schnellste und einfachste Weg die Stadt hinter mich zu lassen und während ich überlegte und im Dämmerlicht dahin glitt, spürte ich die Hände einer Frau auf meinem Körper. Ich öffnete die Augen, ich hatte sie unbemerkt geschlossen, und registrierte wie im Halbschlaf eine recht junge und rothaarige Frau auf meinem Körper sitzen. Sie küsste und liebkoste mich und ungewollt reagierte ich entsprechend darauf. Es für einen Traum haltend glitt ich in die zweite Welt und genoss es mit jedem Atemzug.
 

Bis ich dann ganz woanders wieder zu mir kam.

Nachtleben

Als ich aufwachte, durchzuckte mich ein unheimlicher Schmerz im Kopf und gequält hielt ich mir den Schädel. Dann wurde mir schlecht und ich erbrach mich unmittelbar neben mich. Der Kater, den ich zwangsweise hatte, übermannte mich ungemein und es dauerte, bis ich mich erinnerte, was geschehen war und ich registrierte, wo ich mich befand. Verwirrt sah ich mich um und erblickte die Rückseite des Wirtshauses „Der Gehängte.“

Was war passiert...?

Man hatte mich hinaus geworfen und tatsächlich erinnerte ich mich schemenhaft daran, dass der Wirt mich anwies, für die Getränke, die Hure und das Bett zu zahlen. Selbstverständlich konnte ich unmöglich Geld für eine Prostituierte aufbringen! Und betrunken wie ich war, verstand ich nicht einmal, was er von mir wollte. Alle meine Knochen schmerzten, es war später Abend und mir war eiskalt. Mit pochenden Schläfen kam ich schwankend und zittrig zum Stehen. Verwirrt registrierte ich eine Platzwunde, hatten sie mich nieder geschlagen?

Ich sah mich nach meinen Sachen um, doch neben mir lag lediglich mein Tuch und dieses war leer – sie hatten sogar sämtliches, zusammen geklautes Essen an sich genommen. Unbewusst griff ich an meine Brust und mit Erleichterung registrierte ich, dass ich zumindest noch meinen Rosenkranz bei mir trug. Als würde der mir nun weiterhelfen.

Die Gasse in der ich mich befand war dunkel, dreckig und noch herunter gekommener als das Wirtshaus selbst. Links von mir lag eine Sackgasse mit gestapeltem Müll und Schutt, einer toten Katze und einem dutzend Ratten, die sich daran zu schaffen machten. Rechts von mir führte ein Gang zurück zu den Straßen von Annonce. Ich begann langsam die Stadt zu hassen.

Zumindest hatte keiner mich liegen sehen, denn meine Robe war durch das unsanfte Landen verrutscht gewesen und hatte mein Hinterteil bloß gestellt – aber wirklich trösten tat mich dies auch nicht. Langsam und mit leichtem Schwindelgefühl – ich ließ meinen Kopf nicht los, aus Angst er fiele herunter – tappte ich zur Straße. Immer wieder verschwamm kurz meine Sicht, als würde die Welt mir Streiche spielen wollen.

Und was nun? Zum Wirt gehen und klar stellen, dass ich, ein Mönch, niemals eine Hure gewollt hätte? Gewiss war der Wirt ein Betrüger und zog diese Masche bei vielen seiner schwächeren Gäste ab. Aber nun wo ich wieder einigermaßen klar denken konnte, verdeutlichte mir dies nur umso mehr, dass ich mein Dasein als Mönch ablegen musste, wenn ich in dieser Stadt überleben wollte. Die Inquisition war gleichermaßen gehasst wie gefürchtet, ein einsamer Mönch in den dunklen Gassen von Annonce war gefundenes Fressen für Rachegelüste. Zu viele hatten durch die Kirche ihre Familien verloren und nur die wenigstens sahen es als Reinigung und Hilfe an, wenn man ihre Männer erhängte oder Frauen erschlug.

Die Tatsache, dass mir nun Essen und Geld fehlten, beunruhigte mich vorerst nur unterschwellig. Ich war es gewohnt tagelang zu hungern und wusste, dass es immer Mittel und Wege gab, an Geld zu kommen. Zudem blendete ich das Geschehen im Wirtshaus weitestgehend aus. Ich hatte gesündigt, mehr noch und das war etwas, über das ich nun bei Gott nicht nachdenken wollte. Sollte ich nun etwa in eine Kirche gehen, um bei einem Pater zu beichten?

„Pater, ich habe das Kloster heimlich verlassen, getrunken wie ein Schlot und eine rothaarige Ketzerin genommen, bis ich zwischen ihren Brüsten zusammen sackte – und Herr Gott noch mal, es war wunderbar!“

Meine Ohren liefen rot an, als ich daran zurückdachte und ich war erschrocken über mich selbst. Stimmten Mauritius’ Warnungen, die er mir immer und immer wieder gepredigt hatte? War es wahr, dass, wenn man einmal der Sünde verfällt, es auch ein zweites Mal tun wird und ein drittes, wenn man sich nicht sofort bekehren lässt, Buße tut und beichtet?

Ohne es ernsthaft zu beabsichtigen steuerte ich tief in meinen verzweifelten Gedanken an Hölle und die Strafe des Herrn das Waisenhaus an und als ich davor zum Stehen kam, überlief mich ein Schauer, der meine Nackenhaare aufstellte. Es hatte sich nicht verändert und mit einem Mal kam ich mir unheimlich klein vor.

Vor mir stand ein sehr großes, zweistöckiges Haus. Nirgendwo, außer unten links in einem winzigen Fenster – das Zimmer der Hausmutter – brannte Licht und es herrschte Totenstille.

Daneben, rechts und links, waren zwei weitere, solch komplexe Gebäude angebracht:

Das Krankenhaus und das Arbeitshaus.

Vor mir tauchten Unmengen Bilder aus meiner Kindheit auf. Wie wir alle mucksmäuschenstill auf den Betten und Böden saßen, uns dicht aneinander drängten und schwiegen, bis wir irgendwann einschleifen, um den Zorn der Mutter nicht zu wecken. Ich ging langsam um das riesige, aschgraue Gebäude herum, mit dem flachen und leicht kaputten Dach, den unheimlichen Grimassen unter den Fenstersimsen, den schiefen Fensterläden und erreichte dann den Vordereingang. Es war lediglich eine kleine Tür und sah nicht anders aus, als jede andere dieser Stadt. Aber über der Tür hang groß und breit ein Schild, das ich als Kind niemals lesen konnte. Aber nun tat ich es, das erste Mal:

„Katholisches Armenhaus St. Marianne von Annonce

Waisenhaus – Gefängnis – Krankenhaus – Arbeitshaus

Der Herr wacht über jeden von uns, jeder Zeit.“

Ich ließ meinen Blick schweifen und meine Erinnerung wurde klarer. Im zweiten Stock, oben, lebten getrennt die Kinder des Waisenhauses: Rechts die Jungen, links die Mädchen. Direkt darunter waren die Behinderten und Schwachsinnigen untergebracht. Ich meinte Schreie und Stöhnen zu hören, wie früher oft, wenn einer der Idiotischen versuchte sich zu befreien oder grundlos anfing zu toben und es überlief mich eiskalt.

Rechts vom Waisenhaus lag das Armenhaus. Auch dort herrschte reine Dunkelheit, nur die Zimmer der Aufseher waren hell erleuchtet. Dort waren die Bettler untergebracht, um sie von der Straße zu holen.

Aus den Augen aus dem Sinn, schoss es mir durch den Kopf. Sie wurden zur „Arbeit ermuntert“ und von den Katholiken wieder auf den rechten und frommen Weg geführt – Man erhängte ungern Bettler aufgrund ihrer Unfrömmigkeit. Wenn ich mich nicht bald in Gang setzte und meine Zukunftspläne in den Griff bekam, dann würde ich mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls dort landen und mit dem Rohrstock aufs Feld geprügelt werden, für einen Heller am Tag. Bis ich genug hätte um auf eigenen Beinen stehen zu können. Und das dauerte meist Jahre bis dem so war, denn man musste nebenher für Essen, Obdach und andere Verpflegung aufkommen. „Schlage deinen Sohn mit der Rute, so rettest du sein Leben vor dem Tod.“, so hieß es in der heiligen Schrift.

Innerlich war ich der Meinung, dass es auch anders möglich ist, solchen Menschen zu helfen, aber natürlich sagte ich das niemals laut. Ich war doch nicht verrückt.

Dann sah ich nach links, zum dritten Gebäude neben dem Armenhaus: Das Krankenhaus.

Ich hatte es nie betreten. Es war selbstverständlich ebenfalls ein katholisches Gebäude und ich erinnerte mich dumpf daran, wie etliche Menschen von dort entweder zur nahe gelegenen Kapelle – meist tot – gebracht wurden oder ins Armenhaus, zu den Schwachsinnigen.

Generell litt das Armenhaus am meisten an Zuwachs und Neuankömmlingen. Man ernannte jemanden schnell für Schwachsinnig, ob er nun Selbstgespräche führte oder taub war.

Ich hatte gehört, dass, seit O’Hagan Gouverneur und für die Ordnung und das katholische Wohlbefinden der Menschen in Annonce verantwortlich war, die Gesetze und Regeln bei weitem verschärft wurden. In wie weit es stimmte, wusste ich nicht, aber ich wusste, dass das Gesetz bereits zu meiner Zeit sehr unangenehm mit dem Volk umging. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passierte, wenn man bemerkte, dass ich ohne Obdach, Hab und Gut war, ohne Geld und während der Ausgangssperre durch die Stadt lief.

Würde man mich ins Krankenhaus bringen? Oder ins Tollhaus, aus dem man meist nie mehr hinaus kam? Oder etwa ins Arbeitshaus, um mich zu bekehren? Oder in mehrere Gebäude?

Tatsächlich wurden viele Kinder aus dem Waisenhaus ins Arbeitshaus gesteckt, wenn der Platz nicht mehr ausreichte und so arbeiteten die Kinder dann in Schmieden, Bäckereien oder Minen.

Beim Anblick der Gitter vor jedem Fenster, besonders jener im Kellergeschoss der drei Gebäude, in welchem das Gefängnis lag, schüttelte es mich. Schnell ging ich weiter.

Niemals würde ich freiwillig in Arbeitshaus gehen und mich in eine Kohlemine prügeln lassen. Niemals!

Die sonst so volle und lautstarke Stadt war nun totenstill und menschenleer. Es wirkte wie eine Totenstadt und der Tumult des Tages erschien mir wie ein Fiebertraum. Ich passierte den Hafen. Die großen Steinlaternen waren angezündet und Unmengen Mücken und anderes tummelten sich an den Scheiben. Das Wasser am Kai klatschte leise gegen die Steinmauer und die Schiffe und Boote knarrten und schwankten vor sich her. Ein wenig unwohl fühlend erinnerte mich an einige Geschichten, die mir mein Freund Bruder Markus erzählt hatte. Daran, dass manche Völker glauben, dass die Seelen von Verstorbenen Seeleuten niemals ihre Ruhestätte verließen, Rache suchen und die Menschen ins Meer ziehen wollen. Tatsächlich lagen noch immer die Wasserleichen im Wasser, beziehungsweise trieben umher oder waren eingeklemmt zwischen Boot und Kaimauer. Zu meiner Erleichterung trieben sie mit dem Kopf nach unten, außerdem war es sehr dunkel, dennoch war es kein schöner Anblick und ich wandte mich ab. Auf einigen Schiffen wurde gefeiert oder Matrosen starrten zu mir herunter. Ich musste wie ein Geist wirken, denn ich tauchte mal hier, mal da unter einer Laterne auf, ansonsten war alles schwarz.

Kurz ging die Tür eines Wirtshauses auf, schallendes Gelächter drang nach außen. Der Wirt kippte einen Topf Wasser auf die Straße, dann schloss er die Tür wieder und es herrschte Stille. Ich musste vorsichtig sein. Kein Wachmann durfte mich auf der Straße erwischen.

Ich wusste zwar nicht, was passieren würde, wenn einer es täte, aber ausprobieren wollte ich es auch nicht.

Oberhalb der Treppe stand noch immer hier und da ein kleiner Käfig mit jenen, die zum Tode verurteilt wurden. Einige Kerzen standen darauf um die Gestelle für jeden sichtbar zu machen, dass der Wachs auf den Insassen tropfte schien niemanden zu stören. Stattdessen ertönte manchmal ein grauenvolles Wimmern, dass der Wind davontrug und es noch unheimlicher wirken ließ.

Ich passierte im Abstand einige solcher Käfige, darauf achtend, dass niemand mich sah. Ich kam mir vor wie ein Verschwörer, ein Herumstreicher, ein Spion. Hier und da entzifferte ich einige Aushänge. Die meisten wurden wegen Diebstahls hingerichtet, im Wert von 6 oder 8 Hellern und ich konnte mir denken, dass sie aus Armut einen Apfel oder anderes gestohlen hatten. Aus den Augen, aus dem Sinn, schoss es mir erneut durch den Kopf. Dies war auch eine Möglichkeit, die Bettler von den Straßen zu holen und jene zu säubern. O’Hagan leistete wirklich ganze Arbeit. Manche der Gepeinigten, die Minderheit, wurden jedoch auch für ernstere Vergehen gestraft: Diebstahl im Wert von ganzen Silberlingen, Verleumdung Gottes, öffentliches Fluchen oder gar das Beleidigen von Männern der Kirche oder des Landes. Zwei oder drei wurden des Mordes bezichtigt. Umso länger ich dem Kai folgte, desto mehr Käfige gab es und als ich das Ende erlangte, zählte ich dreiundvierzig Stück. In einem der Gitter fand ich einen kleinen Jungen, in sechs von ihnen Frauen und Hexen. Als ich endete, war ich so an den Anblick gewöhnt, dass ich mir ausmalte, was für Strafen man für Vergehen wie Hochverrat erhielt. Ich erinnerte mich an Bücher aus der Klosterbibliothek, in denen in Bilder vom Schinden, Ausdärmen, oder Enthäuten gesehen hatte und fragte mich, was man dafür tun musste, wenn selbst Mord lediglich zu solch einem Käfig führte. War das Leben eines Menschen wirklich nur 5 Heller wert? So viel wie ein Leib Brot?

Ich musste verrückt sein, alleine durch eine solche Stadt zu laufen, nachts, nach der Ausgangssperre. Noch konnte ich ins Kloster. Ich könnte sagen, ich wäre niedergeschlagen worden, überfallen. Jeder würde mir glauben, noch immer hatte ich eine kleine Platzwunde am Hinterkopf. Wahrscheinlich sah man sie nicht, aber tastete man, war sie spürbar.

Aber damit würde ich mir ohne Frage jegliche Chance verbauen, jemals wieder das Klostergebiet verlassen zu dürfen, schließlich hatte ich mich dem Heim verpflichtet und somit dem Mönchstum.

Nein, nein, – und hier machte ich es mir besonders leicht –

„Jedem wurde soviel zugeteilt, wie er nötig hatte.“ und so brauchte ich mir keine Sorgen machen. Weder über Essen, noch über anderweitiges.

Aber ich begann zu zweifeln, als ich nach mehreren Stunden noch immer am Kai herum lungerte und ernsthaft überlegte, mich auf eines der Schiffe zu schleichen. Meine Robe war alt und gewiss hatte ich nie eine Beschwerde geäußert – das stand mir gar nicht zu – aber nun war sie eindeutig zu kalt. Es fröstelte mich, als es mit jeder Stunde kühler zu werden schien und der Wind, der ohnehin am Hafen stärker ist, lies meine Haare hin und her flattern. Ich wollte jedoch nur ungern in die Stadt zurück. Dort patrouillierten Wachen, um zu überprüfen, ob jemand, so jemand wie ich zum Beispiel, nachts herum schlich und mir wahrlich nicht danach, die Nacht in einem Kerker zu verbringen. Und was sollte ich Vater Mauritius sagen? Mit Sicherheit würde er mir vergeben, wenn ich Rechenschaft ablegte, mich zu Boden warf und für meine Taten Buße tat, aber eben das wollte ich nicht mehr. Ich war es leid, Hiebe zu kassieren oder zu hungern. Ich wollte frei sein, kein Wurm mehr, weniger noch. Sondern mehr, viel mehr.

Ich suchte mir einen Haufen Kisten, der mit einem Fischernetz umworfen war und ließ mich daran nieder, auf der windgeschützten Seite. Frustriert und vor Kälte schlotternd, mit Kopfschmerzen und laut knurrendem Magen schlang ich die Arme um die Beine und zwang mich wach zu bleiben. Ich würde warten, bis man die Straßen wieder passieren darf, dann versuchen irgendwie an neue Kleider zu kommen. Ich musste diese verfluchte Robe loswerden und meinen Haarschnitt ebenfalls. Welches Schiff würde einen Mönch an Bord nehmen? Nicht einmal die Inquisition tat das.

Dann hörte ich leises Summen und neugierig sah ich auf.

Ein älterer Mann ging humpelnd am Kai entlang, richtig sehen konnte ich ihn jedoch nicht, dafür war es zu dunkel. Ich hörte lediglich ein regelmäßiges Klack, Klack… Er schien langsam auf mich zuzukommen. Nach einigen Minuten passierte er mich und ich vernahm ein leises „Yoo-Hooo…“, es klang schräg, tief und sehr angetrunken. Ein wenig konnte ich ihn nun erkennen. Er hatte ein großes, rundes Gesicht, einen schwarzen Vollbart und um seinen Kopf hatte er zwei Tücher gewickelt, ein rotes und ein grünes. Darüber trug er einen großen, schwarzen Hut. Im Wind wehte leicht sein herunter gekommener, roter Mantel, den er sich achtlos über die Schultern geworfen hatte und am roten Stoffgürtel trug der Seemann seinen Säbel und zwei Pistolen. Ein Pirat., dachte ich und folgte ihm mit den Augen. Er hatte nur ein Bein, sein linkes endete knapp über dem Stumpf, doch um laufen zu können, hatte er sein Hosenbein fest verschnürt, einen Holzstab hinein gestickt und alles mit einem Strick gefestigt. Jedes Mal, wenn sein Holzbein auf den harten Boden schlug ertönte ein regelmäßiges ‚Klack’, gefolgt von dem Schaben seiner Krücke. Er sah alt und zerschlissen aus und mir kam der Gedanke, dass ich früher oder später keine andere Wahl hatte, als mich mit solchen Leuten zusammen zu tun. Sogar als Kind war ich dieser Gruppe von Menschen ausgewichen, da ich wusste, dass man so nur tiefer im Sumpf der Gosse versank.

Mit Schrecken bemerkte ich, dass er direkt ins Sichtfeld der Wachen kam, die am letzten der Käfigreihe standen. Ich war unsicher. Sollte ich ihm helfen? Hinter her rennen? Er war betrunken, vielleicht würde er Streit anfangen und dann kämen wir beide in Schwierigkeiten und eigentlich ging dieser Man mich nichts an. Aber desto näher er dem Käfig rückte, desto unsicherer wurde ich. Im Grunde war ich doch nicht besser, als er. Gut, vielleicht war er ein Trinker und Mörder, aber eigentlich lebten wir momentan auf der gleichen Ebene.

Letzten Endes sprang ich auf, packte ihn am Arm und zerrte ihn torkelnd und schwankend mit mir hinter die Kisten. Es krachte leise, als wir unsanft landeten und ich dachte ein kurzes Stoßgebet, dass uns keiner gehört hatte.

„Seid Ihr wahnsinnig?!“, fuhr ich den Fremden zischend an und sah ängstlich zu den Wachen, aber keiner hatte uns bemerkt. Wütend wandte ich mich wieder ihm zu. „Ihr wärt beinahe vor die Wachen gerannt!“

Der Seemann glotzte mich an, mit großen und wässrigen Augen. Ich erkannte, dass sein linkes Auge ein Glasauge war, dann begann er zu grinsen und entblößte ein unvollständiges Gebiss.

„Aye.“, grinste er mir entgegen. „Jetzt hat er zu viel gesoffen, so viel ist klar.“

Mathew Hullingtan Black

Das „Aye…“ brummte er so tief und rau, dass ich dachte, dieser Mann kam direkt aus der Unterwelt. Er starrte mir dabei ins Gesicht und sein Grinsen machte mir fast Angst. „Aye, ein Mönch allein, nachts, mitten in Annonce? Da hol mich doch der Klabautermannn, was zur Hölle war in dem Gesöff?“

Ein Wahnsinniger…, dachte ich und sah ihm unsicher entgegen. Um meine Fassung bemüht zischte ich noch immer leicht wütend über seine Naivität: „Es herrscht Ausgangssperre, Ihr könnt hier doch nicht herumlaufen, als wäre das nichts!“

„Aye, da hat er wohl Recht.“, brummte er wieder und zog leicht den Hut. „Mathew Hullingtan Black mein Name, stets zu Diensten, Bruder. Ich danke ihm von ganzen Herzen für meine Rettung.“, und dann machte er mit seiner Kopfbedeckung eine umfassende Geste und verbeugte sich so tief vor mir, dass ich Angst hatte er stürzte, aufgrund seines Beines. Als Black sich wieder aufrichtete grinste er mir entgegen und zeigte mir dabei erneut sein Gebiss und einen Goldzahn, der geheimnistuerisch glänzte. „Das hätte wahrlich ins Auge gehen können.“, und während er auf sein Glasauge zeigte fuhr er fort: „Und ich weiß wovon ich rede, so wahr ich hier stehe und das tue ich ja wohl? Hat der alte Hullingtan Black nicht selbst einst fast die Flagge gestrichen und schon so einiges erlebt? Gewiss hat er, das sage ich ihm und da haben so einige den Draggen am Grund geküsst, mit Mann und Maus, mein Wort drauf!“

„Wenn…Ihr das sagt?“, nun stand ich da. Ich hatte einen Betrunkenen gerettet und nun wurde ich ihn nicht mehr los. Sollte ich einfach gehen? War das zu unhöflich? Und spielte das bei einem verrückten Seemann überhaupt eine Rolle?

„Oh ja, das sage ich. Und noch etwas sage ich ihm: Mit alten Teerjacken hatte ich gerechnet, hier unten, am Kai, aber mit einem Christenbruder? Bei weitem nicht. Darf der alte Black ihn auf einen Rumfustian einladen? Ich bin neugierig.“, Black legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich mehr grob als sanft mit sich, mich brüderlich schüttelnd. „Aber nein, aber nein, verzeiht einem alten Seemann. Ein trinkender Mönch? Bei Gott, verzeiht den Fluch wenn es denn einer war, niemals würde ich ihn verführen wollen!“, und er lachte so laut, dass ich mich ängstlich nach den Wachmännern umsah.

Black und ich steuerten unbemerkt eines der Wirtshäuser an mit dem Namen „Der dicke Charlie“ und ehe ich mich versah, saßen wir an einem Tisch in der hintersten Ecke und Black schrie lautstark nach dem Wirt. Wahrscheinlich war er Charlie, denn er war dick und sah durchaus aus, wie ich mir einen Charlie so vorstellte. Ein rundes Schweinsgesicht mit Halbglatze und schweißnasser Stirn trotz kühlem Wetter.

Mir wurde Wein gebracht, ihm ein Krug Rum zusammen mit einem Bier. Und so saß ich da und verfluchte mich innerlich dafür, dass ich schon wieder in einem Wirtshaus saß und es nicht wagte, Black einfach fort zu jagen. Viele Gäste gab es nicht aufgrund der Ausgangssperre, nur einige des Hauses oder jene, die bis zum Morgengrauen anwesend sein würden. Es war ungewohnt still, aufgrund der Schlafräume im oberen Stockwerk spielte man keine Musik und der Wirt war mürrisch und mies gelaunt.

Black nahm einen deftigen Schluck und spülte ordentlich mit Bier nach und ich fragte mich, wieso er diesen „Rumfustian“ trank, wenn er den Geschmack scheinbar nicht mochte. Zeitgleich nippte ich an meinem Glas, aber nur ein wenig. Ich hatte auf alles Lust, aber keinen erneuten Kater. Viel lieber wäre mir etwas zu essen gewesen, aber ich hatte kein Geld für solches.

Als er sich geschüttelt hatte und den Krug donnernd zurück auf die Tischplatte befördert grinste er mir offenherzig entgegen. Im Dämmerlicht erkannte ich sein pockennarbiges Gesicht und dass in seinem schwarzen Vollbart einige, weiße Haare waren. Seine großen, dunklen Hände zeugten aufgrund der vielen Narben vom Leben eines Seemanns und seine Fingernägel waren schwarz und dreckig. Sein roter Mantel mit den goldenen Knöpfen wirkte nun noch zerschlissener als ohnehin schon. Er verfolgte meine Blicke ganz genau und grinste immer breiter.

„Aye, ein Mönch.“, begann er dann und legte die Krücke auf den Stuhl neben sich.

„So scheint es.“, entgegnete ich nur knapp und sah in mein Glas. Wenn er Seemann war, vielleicht konnte er mir helfen ein Schiff zu finden? Aber ihn direkt zu fragen erschien mir unangemessen. Eine Weile würde ich wohl mit ihm plaudern, der Höflichkeit wegen und es konnte gewiss nicht schaden, ein wenig mehr über die andere Seite der Klostermauer zu erfahren.

„Bei meinem Bart, ich habe noch nie einen so herunter gekommenen Geistlichen gesehen.“, lachte er.

Ich errötete leicht. „So?“

„Nun entspanne er sich doch ein wenig. Der alte Black tut keiner Fliege was zu leide. Na ja…“, er lachte. „Meistens jedenfalls.“

„Ihr seid Seemann?“

„Das bin ich, bei Gott, wenn es ihn denn gibt, so wahr ich hier sitze.“, und Black klopfte anerkennend auf den Tisch. „Und einer der besten, mein Wort drauf!“ Wahrscheinlich war es eine dumme Frage, die ich ihm stellte, aber er war zu angetrunken, um das zu bemerken. Stattdessen erfüllt es ihn scheinbar mit Stolz, das von sich behaupten zu können. Ich muss zugeben, dass er mein Interesse weckte. Ob er wohl zugab, dass er Pirat war? Neugierig hakte ich nach:

„Unter wem segelt Ihr?“

Er sah mich verblüfft an, dann begann er zu lachen. „Aye, er interessiert sich für die Seefahrt?“

„Ein wenig.“

„Ein wenig?“

„Nur ein bisschen…“

„Er will aufs Meer?“

„Vielleicht?“, ich sah ihn an und versuchte undurchschaubar zu wirken, aber es misslang mir ganz und gar. Sein Grinsen wurde breiter und er schüttelte den Kopf, als hätte er etwas vor sich zu sitzen, von was er nie zuvor etwas gehört hatte. „Ein Mönch will Seemann werden? Aye, wieso nicht…?“, dann nahm er wieder einen tiefen Schluck. Ich war erstaunt wie viel er vertrug im Vergleich zu mir und registrierte, dass dies wohl eine Gewohnheitssache sei.

„Weiß er, wo er anheuern wird?“

Ich senkte beschämt den Blick. Natürlich wusste ich das nicht und aufgrund der Peinlichkeit vergaß ich meine Frage nach der Piraterie.

Er lachte. „Also weiß er es nicht. Eine Landratte und was für eine, von hissen und pönen keine Ahnung, aber will Seemann werden? Beim Herrn Jesu’, wenn es ihn denn gibt! Und da wundern sich die Reeder, dass ihre Nussschalen den Grund küssen gehen!“

Meine roten Ohren begannen nun richtig zu glühen und tatsächlich kam ich mir ein wenig dumm vor. Black merkte es und beugte sich zu mir vor, wenngleich auch sehr schwerfällig, und freundschaftlich zischte er mir entgegen: „Aber nun gut, darunter soll er nicht zugrunde gehen, der alte Black hilft gern.“, ein unheimlich starker Geruch von Alkohol und Verwesung machte sich über dem Tisch breit. Als er sich wieder aufsetzte grinste er mich wieder an. „Wohin will er denn?“

Ich zuckte unsicher mit den Schultern, darüber hatte ich mir wahrlich noch keine Gedanken gemacht. Wohin eigentlich? Irgendwohin, aber nicht ins Kloster! Allerdings erschien mir diese Antwort eher unpassend. „Weg, raus aus Annonce.“

„Weg? Raus aus Annonce? Ah, ein Flüchtling, aye?“, aber noch ehe ich widersprechen konnte winkte der Seemann ab. „Mir soll’s gleich sein. Als würde der alte Black jemanden anklagen und das in Annonce? Niemals würde er sich mit dem alten O’Hagan zusammen tun!“, verschwörerisch sah er sich um und erneut zischte Black mir seine Alkoholfahne entgegen: „Und beim Allmächtigen Herrn, wenn es ihn denn gibt, der bringt sogar einen Kirchturm zum zittern, nur wenn er damit droht, diesen zu betreten! Er ist der Teufel, niemals würde ich mit ihm gemeinsame Sache machen…!“, dann richtet er sich wieder auf und nickte viel sagend. „Niemals, Bruder, sollte er sich mit dem alten Kreuzkriecher zusammentun. Aber was rede ich? Er ist Mönch und weiß mit Sicherheit, wovon ich rede…!“

„Nein, das weiß ich nicht.“, gab ich zu und interessiert sah ich ihn an. Entweder er war vollkommen verblödet, oder Black war zu angetrunken, um zu registrieren, dass er gerade mit einem Mönch negativ über den Gouverneur der Inquisition sprach. „Erzählt mir mehr über O’Hagan. Was ist so schlimm an ihm?“

„Was schlimm ist an ihm, fragt er!“, der alte Black rang die großen, rauen Hände und sah sich um, doch keiner schien ihm beipflichten zu wollen. Dann stütze er sich auf den Tisch und zischte: „Ein Bastard ist er, der wahre Satan, bei meinem Holzbein! Hüte er sich vor ihm, Bruder, wenn ihm sein Leben lieb ist…! Der größte Feind aller Glücksritter!“

„Also seid Ihr Pirat.“, stellte ich fest.

Er begann unsicher zu lachen und nervös rückte er seinen Hut zurecht. „Piraterie? Meine Person? Der alte Mathew Hullingtan Black? Er beliebt zu scherzen, niemals würde ich…! Gegen die Hakenhand des Gesetzes…?! Ganz unmöglich…!“

Er winkte ab, ein wenig übertrieben, gluckste noch einmal unsicher und nahm einen weiteren, deftigen Schluck. Ich schwieg und sah ihm zu. Machte er sich über mich lustig?

Als er getrunken hatte schüttelte er sich abermals und fuhr fort, um meine Feststellung zu überspielen: „Wie dem auch sei: Wenn er ein Schiff sucht, dann wendet er sich am Besten an den alten Blackborn unten im Kai. Der weiß immer Rat und kennt jedes Boot hier im Hafen, ganz gleich ob Jolle oder Gig. Er sitzt oft im Reichenviertel, aber ist öfter noch am Kai unten. Bei Gott, wenn es ihn gibt, der kennt sich aus. Sicher kann der weiter helfen, aber Hand leg ich nicht ins Feuer für.“, es folgte ein Schluck Bier, dann brummte er: „Der alte Black hat mit dem nix am Hut, kennt ihn nur vom Hörensagen. Aber Gerüchte redet man so viel, wie es Sand im Meer gibt. Doch fragen kostet nix, aye? Na ja, meistens.“, er grinste mich an.

Ich nickte nur. „Da habt Ihr Recht, ich werde mein Glück versuchen, habt Dank. Und woran erkenne ich ihn? Und wieso denkt Ihr, könnte er mir helfen?“

Black hob abwehrend die rauen Seemannshände. „Was er treibt weiß ich nicht, aber Adliger ist er nicht. Aber Gesetzesdiener gewiss auch nicht. Da fragt er mich zu viel.

Doch er wird ihn leicht erkennen: Hat meist einen blauen Brokatmantel, Galoschen und einen schwarzen Gehstock. Schaut fein aus der Kerl. Ansonsten fragt der Bruder am besten die Männer am Kai, das kann er öffentlich tun ohne Scheu zu haben. Keiner wird ihn deswegen jagen.“

Ich nickte lächelnd. „Ich danke Euch, ich stehe tief in Eurer Schuld. Ich-…“, aber noch ehe ich den Satz beenden konnte, hob Black erneut abwehrend die Hände. „Keiner steht in Blacks Schuld, denn wenn was schief läuft, hat der Alte auch nix damit zu tun, aye?“, er lachte aus vollem Halse und ich stimmte mit ein.

„Aye!“, grinste ich dabei.

Dann trank er mit einem Zug den letzten Rest seines Gebräus, kippte das Bier nach und legte laut einige Münzen auf den Tisch. Sich mühsam erhebend zog er seinen Hut.

„Nun dann, nun muss der Alte aber los, ehe sie die Schoten dicht machen und ohne mich fahren. Mit meinem Käpt’n ist nicht zu spaßen, das kann er mir glauben!“, und demonstrierend hob er sein fehlendes Bein. „Wenn der Sir wütend ist, geht die Welt unter, mein Wort drauf!“, lachte er.

Ich stand auf und verneigte mich leicht vor ihm und aus Gewohnheit leicht demütig, aber als ich mich wieder aufrichtete, um mich zu bedanken, hatte er mir bereits den Rücken zugekehrt um aus dem Wirtshaus zu humpeln. „Danke!“, rief ich unsicher nach.

Black beachtete es jedoch gar nicht, sondern rief dem Wirt zu: „Charlie, auf dem Tisch liegt genug Geld, servier meinem Freund das fetteste Schweinestück, dass du zu bieten hast und wehe dir, ich höre Beschwerden! Der Bengel weiß genau, wo er mich findet!“, dann war er verschwunden.

Unsicher sah ich ihm nach und zweifelte, ob es eine gute Idee war, so stark angetrunken in die Nacht zu humpeln, aber er war ein erwachsener Mann und ich wollte gewiss keine Probleme wegen ihm. Tatsächlich kam der Wirt mit einem Stück Fleisch und etwas Suppe, nachdem er die Münzen getestet und eingesteckt hatte.

Ob Black merkte, dass ich kein Geld besaß? Ich ließ es mir munden und spürte richtig, wie das Essen meine Magenwände hinunter glitt und fühlte mich mehr als nur wohl.

Der Wirt fragte, ob ich ein Zimmer wolle – Das Geld würde reichen, sagte er – und ich bejahte, mehr als nur glücklich. Als ich mich dann schlafen legte, schwor ich mir, Black eines Tages alles zurückzuzahlen. Dann, wenn ich Seemann war und meine erste Heuer erhalten hatte.

Der geheimnisvolle Blackborn

Die Nacht war kühl gewesen und ich hatte es genossen, in einem warmen Bett mit einer weichen Decke zu liegen. Die Wanzen hielten mich zwar eine Zeit lang wach, aber als die Müdigkeit zu groß gewesen war, schlief ich letzten Endes ein.

Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich erfrischter, als je zuvor. Meine Waden schmerzten ein wenig vom vielen Laufen am Vortag, ansonsten ging es mir gut.

Ich trat an die Waschschüssel, säuberte mich und registriertem dass es bereits Mittag war. Laut drangen die Laute der Gäste aus dem Erdgeschoss zu mir herauf und auch jene von draußen am Hafen.Annonce war wieder lebendig, die Geisterstadt der Nacht kam mir vor wie ein Traum und ebenso die Begegnung mit Black.

Da ich mit Sicherheit sämtliches Geld aufgebraucht hatte, welches Black mir am Vortag lieh, verließ ich das Wirtshaus ohne zu frühstücken. Ich verabschiedete mich nickend vom Wirt und trat nach draußen. Ein wenig mulmig war mir schon, wieder plötzlich unter so vielen Menschen, ganz ohne Gebete, oder gemeinsamem Frühstück mit den anderen Mönchen.

Ob sie mich bereits suchten? Oder wussten sie, dass ich nicht zurückkehren würde?

Ich beschloss mich auf die Suche nach Blackborn zu machen. „Unten am Kai“, hatte Black gesagt, würde ich ihn finden oder im Reichenviertel. Da ich ohnehin am Hafen war, entschied ich mich, dort als erstes nach ihm Ausschau zu halten, doch ich wagte es nicht, die Leute nach ihm zu fragen. Ich wusste nicht, was für ein Mann er war, es war zu riskant. Wer weiß, mit was für Menschen man mich in Verbindung brächte?

Es dauerte nicht lange, ein, oder zwei Stunden, dann fand ich ihn.

Blackborn war genauso, wie Hullingtan Black ihn mir beschrieben hatte, ich erkannte ihn sofort. Er stach förmlich hervor, umgeben von Unmengen herunter gekommenen Gestalten:

Ein Mann Anfang dreißig, helle, reine Haut, zu einem Zopf gebundenes, schwarzes und lockiges Haar, ein langer, blauer Brokatmantel mit silbernen Knöpfen und Verzierungen und dazu schwarze, edel aussehende Galoschen. Unter seinem Arm trug er ein Holzbrett mit Pergamenten, dazu Schreibfeder und ein verschließbares Tintenfass. Immer wieder schaute er nach hier und da, dann schrieb er etwas auf, sprach mit Passanten und schrieb dann weiter.

Einige Minuten stand ich unschlüssig in der Menge der stark riechenden Matrosen und Fischverkäufer und wusste nicht recht, wie ich ihn ansprechen sollte. Zwar hatte Black mir geraten, mich an ihn zu wenden, aber ich wusste nicht einmal wohin ich eigentlich wollte und Geld besaß ich auch keines mehr. Ich versuchte heraus zu finden, was er da tat, aber mit keiner Minute wurde ich schlauer. Als ich mich dann endlich überwand ihn anzusprechen, drehte er sich herum und sah mir entgegen, als hätte er mich bereits erahnt.

„Ich grüße Euch.“, begann ich scheu und bemüht, entschlossen zu klingen, dann verbeugte ich mich vor dem Mann.

Er nickte mir nur unhöflich zu. „Ich Euch ebenfalls. Kann ich Euch helfen?“, Blackborn war sichtlich verwirrt, was ein Mönch denn von ihm wollte.

Unschlüssig starrte ich ihm entgegen.

„Nun… Man sagte mir, dass Ihr dies könntet, ja.“

Er sah sich um, als würde er damit rechnen, dass mehr meiner Sorte sich näherten, doch scheinbar fand er keinen, also sah er mich wieder an. Ziemlich missbilligend, wie ich fand. „Ich?“, seine Stimme wurde spöttisch und verächtlich. „Einem Gottesdiener helfen? Wie käme ich dazu? Last mich in Frieden, ich habe mit der Inquisition nichts am Hut.“, und mit diesen Worten wandte er sich ab.

Eine solche Abwehrhaltung hatte ich bei Weitem nicht erwartet. Mir fehlten die Worte und unschlüssig, was ich tun sollte, hob ich den Kopf.

Sollte ich nun aufgeben? Ihn in Frieden lassen?

Und was dann? Zurück ins Kloster? Niemals!

„Herr.“, als ich mich gefasst hatte ging ich um ihn herum und suchte Blickkontakt, aber er hatte nur Augen für sein seltsames Geschreibsel. „Verzeiht, aber man sagte mir, Ihr würdet mir helfen können.“

„Das sagtet Ihr bereits.“, entgegnete Blackborn desinteressiert.

„Ich suche ein Schiff.“

Mein Gegenüber hob den Blick, als hätte ich einen unheimlich schlechten Witz gemacht.

„Ein Schiff? Ihr? Wollt Ihr mich veralbern? Ich habe keine Zeit für solche Spielchen. Wie Ihr seht, bin ich ein viel beschäftigter Mann.“

„Aber ich bin nicht von der Inquisition.“

„Es ist mir gleich, von wem oder was Ihr seid. Lasst mich in Ruhe oder ich rufe die Wachen, Geistlicher hin oder her!“

Verzweifelt starrte ich in seine hasserfüllten Augen. Weswegen war er so unfreundlich? Weil ich ein Mönch war? Waren Katholiken wirklich so unbeliebt?

„Aber ich bin kein Geistlicher!“, kam es aus mir, wie aus der Pistole geschossen und ich glaubte, ein wenig Aggressivität in meiner Stimme zu hören. „Ich-…“

„Ich habe keine Zeit.“

„Bitte, ich-…“

„Ihr belästigt mich!“, wütend starrte er mir in die Augen. „Geht woanders hin!“

„Ich bitte Euch, ich brauche dringend-…“

„Seid Ihr taub?! Ich habe keine Zeit! Verschwindet endlich!“

„Herr, bitte, ich-…“

Er drehte sich weg.

„Hört mich doch an, ehe Ihr Euch abwendet, verdammt noch mal!“, fuhr ich Blackborn lautstark an. Erschrocken drehte er sich zurück. „Ich habe das Kloster verlassen und nun will ich raus aus Annonce! Ich bin kein Mönch mehr! Verflucht sollt Ihr sein, dass Ihr mir nicht zuhört, zum Teufel noch mal! Ist das so schwer zu verstehen?! Man sagte, Ihr könnt mir helfen, also gebt mir doch wenigstens eine Chance, mich zu erklären! Ist das etwa zu viel verlangt?!“

Er war sichtlich überrascht, wie ich mich plötzlich aufrichtete, zu meiner vollen Größe und fluchend die Fäuste ballte. Ich wollte nicht zurück ins Kloster, ebenso wenig ins Armenhaus und von seinem Gehabe ließ ich mich gewiss nicht dorthin drängen!

Blackborn glotzte mich an, den Mund leicht geöffnet, seine Schreibutensilien hatte er hinab sinken lassen. Ungläubig starrte er mir ins rote Gesicht, welches noch stärker errötete, als ich merkte, dass einige der Passanten mich ebenfalls anstarrten. Mit Schrecken registrierte ich, was ich getan hatte. Ich hatte geflucht, laut, gegen Gott und das mitten auf der Straße, als Mönch!

Sofort sank ich wieder in meine demütige Haltung zurück und räusperte mich verlegen, das Gesicht in meiner Kapuze verborgen. Meine Knie wurden weich und nervös schluckte ich einen schweren Kloß hinunter. Blackborn rang um seine Fassung und räusperte sich ebenfalls.

„Nun…“, sichtlich verlegen griff er mich freundschaftlich am Arm und zog mich etwas abseits der starrenden Passanten. „Dann ist das natürlich etwas anderes…“, begann er besänftigend.

„S-so…?“, ich lief unsicher mit und wagte es nicht, den Blick zu heben. Ich schämte mich, als hätte ich etwas unheimlich Schlechtes getan, aber ich weigerte mich, um Entschuldigung zu bitten.

Wir gingen näher an den Kai, etwas abseits der vielen Stände und unsicher sah Blackborn mich an. Er musste das Gefühl haben, ich sei irgendein Mann, welcher sich als Mönch verkleidet hatte, mehr nicht. Und das zeigte er auch. Er musterte mich von oben bis unten, während er leise sagte:

„Ich kann Euch helfen, aber flucht nicht. Wollt Ihr uns etwa vor den Richter bringen?“, ich schüttelte nur den Kopf und wagte es nicht aufzusehen. Selbstverständlich wollte ich das nicht. Dumm fühlte ich mich, dumm und einfältig. Als hätte ihn meine Antwort beruhigt, atmete er auf. „Also? Wohin wollt Ihr?“

Sofort fuhr mein Blick wieder hoch. „Raus aus Annonce.“

„Ja, aber wohin?“

„Raus, weg, woanders hin. Dorthin, wo es keine Kirche gibt.“, er begann zu lachen. Blackborn lachte so stark, dass ich die Sätze, die ich gesagt hatte, im Kopf noch einmal durch ging, aber mir fiel nichts auf, was so lustig gewesen wäre, dass er so laut los lachte.

„Dorthin, wo es keine Kirche gibt? Guter Mann, die Kirche ist überall. Gott ist überall, jederzeit, habt Ihr das nicht als erstes gelernt im Kloster?“

„Natürlich.“, ich senkte erneut den Blick und fuhr etwas leiser fort: „Ich meine, ich möchte dorthin, wo ich neu anfangen kann…“, und hoffnungsvoll starrte ich wieder in seine tief blauen Augen. „In ein Land, wo es nicht solch harte Gesetze gibt. Wo man auch nachts hinaus kann und nicht angeklagt wird, sollte man die Sonntagsmessen nicht besuchen.“

Blackborn dachte nach und strich eine schwarze Locke hinter sein Ohr, welche sich scheinbar aus seinem Zopf gelöst hatte. Von Nahem sah er noch edler aus, bemerkte ich. Seine Haut war auffällig glatt und hell gepudert und seine Lippen schmal und lang. Ein wenig verschlagen, dennoch höflich und vornehm. Er zeigte mir seine Liste.

„Seht… Ich schreibe auf, welche Schiffe anlegen und ablegen, welche Waren im- und exportiert werden, welche Kapitäne den Hafen verlassen und betreten.“, dann schaute er selbst wieder hinauf, blätterte kurz und tippte nickend auf einen der Namen. „Nun, tatsächlich weiß ich einen Kapitän, welcher Euch mit Sicherheit als Matrosen an Bord nehmen würde…“, über sein Pergament hinweg sah er mich an und bemerkte mit einem Lächeln mein wachsendes Interesse. Er schlug das Tafelbuch zu. „Sein Name ist Keith Clayton. Er fährt die Constanca.“

„Die Constanca.“, wiederholte ich und nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte.

Er tat es mir gleich. „Genau. Dies ist sein Schiff. Er ist ein alter Freund von mir und ich weiß, dass er noch Matrosen, sowie einen Schiffsjungen für die nächste Fahrt sucht. Als nächstes steuert er Chichao an. Chichao ist eine Stadt, etwa einen Monat von hier, in Otori.

„Otori?“ Ich wurde unsicher. Zwar hatte ich vorgehabt, die Stadt Annonce zu verlassen, aber gleich das ganze Land? Ich hatte noch nicht viel vom Land St. Katherine gesehen, nicht einmal ihre gleichnamige Hauptstadt. War es richtig, gleich das Land, gar den Kontinent zu wechseln? Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben vom Land Otori gehört und schon gar nicht von einer Stadt, die dort angeblich liegen sollte. Ich wusste weder, wie es dort war, noch wie man dort lebte, aber das konnte ich Blackborn unmöglich sagen. Schließlich war ich ein gebildeter Mann…

Entschlossen nickte ich. Ich hatte nicht vor, einen Rückzieher zu machen. Auf keinen Fall!

„Das wäre wunderbar, ich danke Euch.“, sprach ich stattdessen, bemüht selbstbewusst zu klingen.

Abwehrend hob er die Hände, die Holztafel unter den Arm geklemmt. Sein Tintenfass baumelte an einem kleinen Faden herum. „Noch ist nichts entschieden, also dankt mir nicht. Ich werde Euch ihm vorstellen. Er wird Euch mustern und dann entscheiden, ob er Euch anheuert. Dazu kommt, dass Ihr einen Heuervertrag unterschreiben müsst und mit diesem müsst Ihr schließlich einverstanden sein, nicht wahr? Alles Weitere liegt also nicht in meiner Hand… Aber gern stelle ich ihn Euch vor.“, er lächelte abermals, als er bemerkte, wie meine Augen zu strahlen begannen. So viel Hilfe hatte ich bei Weitem nicht erwartet und wieder schwirrte in meinem Hinterkopf der Gedanke herum, dass ich all das nur dem Ungehorsam gegenüber Gott zu verdanken hatte. Hätte ich nicht geflucht, hätte er mich mit Sicherheit weiterhin ignoriert.

Um meine blasphemischen Gedanken zum Schweigen zu bringen, nickte ich abermals und verneigte mich leicht. „Vielen Dank.“

„Nein, nein. Ich danke Euch.“, er schien plötzlich viel freundlicher und aufgeschlossener als sonst zu sein und als ich mich wieder aufrichtete, strahlte er mich förmlich an. „Ich bin mir sicher, mein Freund Kapitän Clayton wird sich sehr freuen, endlich jemanden für seine Mannschaft zu finden. Ihr müsst wissen, er nimmt nicht jeden in seiner Crew. Er hasst Raubeine und Meuterer auf seinem Schiff.“

„Und Ihr meint, mich nimmt er auf?“, fragte ich ihn erstaunt.

Blackborn nickte. „Ihr seid ohne Frage nicht wie jeder. Nun gut… Ich werde ihn Euch vorstellen, geht ruhig schon einmal vor.“, und während er wieder ernst wurde zeigte er mit dem Finger auf ein unheimlich vornehm aussehendes Gasthaus, das etwas entfernter des Kais lag, als andere in diesem Gebiet. Ein Zeichen dafür, dass es auch normale Gäste, statt nur herunter gekommene Matrosen bediente und demnach ein hoch angesehenes Wirtshaus war. „Dies ist die Krone. Wartet dort.“

Beschämt senkte ich den Blick. „Ich habe keine Geld.“, doch der Mann lachte und legte mir unheimlich freundschaftlich die Hand auf die Schulter.

„Natürlich nicht, Ihr seid Mönch. Ich lade Euch ein, bestellt, was immer Ihr wollt. Sagt, Ihr kommt von mir, Blackborn. Der Wirt ist ein alter Freund und wird Euch gerne bedienen.“

Als ich ihn wieder ansah, war mein Blick ernsthafte Dankbarkeit, aber noch ehe ich es in Worten von mir geben konnte klopfte er mir auf die Schulter, verabschiedete sich und ging, um seinen Freund zu holen. Ohne zu zögern steuerte ich die Krone an.

Als ich sie betrat überfiel mich eine unheimliche innere Wärme. In einer Ecke spielte man angenehme Musik, die Räume waren hell erleuchtet von rötlich schimmernden Goldlampen, mehrere Holzpfähle standen herum, behangen mit einigen Pflanzen, Bildern oder anderem und es herrschte eine ausgesprochen positive und freundliche Atmosphäre. Mir fiel sofort auf, dass viele ähnlich gekleidet waren wie Blackborn und dass diese Schenke vorzugsweise von Adligen oder Menschen höherer Ränge genutzt wurde.

Ich setzte mich ein wenig zögernd in eine der Ecken und als der Wirt kam, grüßte ich freundlich von Blackborn. Sein skeptischer Blick wich Offenherzigkeit und er brachte mir Suppe und etwas Brot dazu.

„Gibt es oft Gäste, die Freunde von Blackborn sind?“, fragte ich, als er kam, um mir nachzuschenken. Er räumte ab und nickte dabei.

„Ja, Blackborn und ich machen seit langem Geschäfte. Ich verdanke ihm viel und er weiß meine gute Küche eben zu schätzen!“, lachte der Wirt herzhaft. Auch ich lächelte ein wenig, dennoch war mir nicht ganz wohl. Blackborn machte Geschäfte mit einem Wirt? Was konnten das für Geschäfte sein? Als er abermals zurückkehrte nahm er meinen Krug, um Wein nachzufüllen. Lächelnd setzte er sich ohne zu fragen vor mich.

„Aber was hat ein Mönch mit dem alten Blackborn zu tun?“, neugierig sah er mich an. Ich nahm dankend den Krug entgegen.

„Ach… Wir begegneten uns. Unten, am Kai. Wir-…“, er lachte, als er mein Stottern bemerkte.

„Ich versteh schon. Es wundert mich ohnehin, dass ein Mönch, fern von den weltlichen Dingen, in ein Gasthaus wie dieses hier kommt.“, und dabei deutete er mit einer großen Geste auf seine bescheidene Schenke. „Da wurde mir gleich klar: Da frage ich besser nicht nach. Dieser Mönch hier ist etwas Besonderes. Das geht mich alten Mann nichts an.“

Der Wirt grinste breit, nahm einen Krug Bier und prostete mir freundschaftlich entgegen. „Auf dass die Geschäfte gut verlaufen!“

Ich tat es ihm mit meinem Wein gleich, dann nahmen wir beide einen tiefen Schluck - wobei er den Krug fast vollständig leerte. Wir begannen ein Gespräch über das Dasein als Mönch und er erwies sich als äußerst interessiert am Leben im Kloster. Viele Dinge kannte er gar nicht, so dass er sie hinterfragte und im Hinterkopf zählte ich insgeheim die Minuten, denn sympathisch war mir dieser Mann nicht. Ich glaubte zu wissen, dass er nur noch mehr Gründe suchte, um zu trinken - wahrscheinlich auf Blackborns Rechnung - denn immer wieder fand er Gründe und Dinge, auf die es sich mit Sicherheit lohnte anzustoßen und ein Toast darauf auszusprechen. Während ich, ich hatte aus meinen Fehlern gelernt, noch immer an meinem ersten Wein nippte, hatte er mittlerweile bis zu fünf Krügen gelehrt. In mir waren gewisse Zweifel, dass Blackburn erfreut war, wenn er hörte, wie viel der Wirt auf seinem Namen trank. Davon abgesehen wurde er immer rauer und lauter und mir nur umso unsympathischer. Ich sehnte mich danach, dass die Tür aufging und Blackborn endlich eintrat, gefolgt von einem großen, stattlichen Kapitän mit edlem Hut und aufrechtem Kinn.

Aber Blackborn kam nicht.

Nach zwei Stunden etwa begann ich dann bereits das dritte Weinglas, die Stimmung hatte sich gelockert und die Schenke wurde leerer. Der Wirt, er hießt Marc, hatte sich noch immer nicht erhoben und saß mir gegenüber. Scheinbar wurde ich ihn nicht mehr los… Aber ihn weg zu schicken wäre mir zu unhöflich. Seine Nase war stark gerötet vom Alkohol und seine Augen benebelt und nuschelnd fragte er mich irgendetwas über das Schweigegelübde.

Zu meiner Verwunderung verstand ich ihn nicht, was gewiss nicht daran lag, dass er lallte. Ich sah ihn sprechen, aber seine Stimme kam erst wenige Momente darauf bei mir an, verzerrt und unverständlich. Scheinbar tat der Wein seine Wirkung, tatsächlich waren die letzten Schlucke viel leichter in mich hinein gegangen und mit krauser Stirn beugte ich mich vor, um ihn besser zu verstehen. „Wie… Wie bitte?“

„Ich sagte…“, Marc holte mit seiner rauen Hand zu einer weiten Geste aus. „…wie lange dauert so ein Gelübde denn?“, ich starrte ihn an. Gelübde? Was denn für ein Gelübde?

Dann dröhnte etwas unvorstellbar in meinen Ohren. Langsam drehte ich den Kopf und erblickte den Fidelspieler. Er hatte ein neues Lied angestimmt und einige Matrosen sangen fröhlich und durch Rum gelockert laut mit. Vor meinen Augen hob und senkte er sich in alle Richtungen und der Nebel der Pfeifen schlug Wellen um ihn herum, als würde er selbst ihn erzeugen. Gerade als ich mich wieder Marc zuwandte, um zu fragen, ob das Hexerei wäre stand dieser auf und begrüßte laut und herzlich seinen Freund Blackborn.

Zu meiner Verwunderung war er nicht in Begleitung eines Kapitäns, stattdessen hatte er seine Kleidung gewechselt. Nun trug er einen blutroten Mantel aus weichem Stoff mit Goldenen Knöpfen an denen abermals goldene Ketten zur Verzierung hingen. In seiner Hand trug er einen schwarzen Gehstock, an dessen Ende lediglich eine goldene, kleine Abrundung war. Mir fiel auf, dass er sein Gesicht neu gepudert hatte und sein erhabenes Aussehen wirkte nun noch stärker dadurch, dass er seine Haare streng nach hinten in einem straffen Zopf enden ließ.

Er klopfte Marc auf den Rücken, dann nickte er mir freundlich zu und mir erschien sein Grinsen unheimlich breit, fast wie verzerrt. Langsam, ganz langsam setzte er sich und mir war, als würde das Wirtshaus schwanken. Unbeholfen hielt ich mich an der Tischkante und starrte ihn an, bemüht ihn zu begrüßen, aber ich schaffte es nicht, mich zu erheben. Mein Inneres wurde heiß, unglaublich heiß und ich begann zu schwitzen. Die Welt um Blackborn herum verzerrte sich und sein Lächeln wich Besorgnis. Er sprach mit mir. Aber was er sprach, verstand ich nicht. Die Bank unter mir erhob sich und krachte zurück und verwirrt durch diese Halluzinationen klammerte ich mich keuchend an den Tisch. „Ist Euch nicht gut?“, drangen Stimmen zu mir hervor. „Bruder?“

„I-ich-… Mir-…“, dann wurde mir schwarz vor Augen, aber nur einen Moment.

Als ich wieder sehen konnte, zogen die beiden mich unter dem Tisch hervor. Viele der Gäste waren aufgestanden und ich nahm wie im Fiebertraum ihre Gesichter wahr. Etliche fragten, ob alles in Ordnung sei und die Stimmen wurden für mich zu einem lauten und tosenden Sturm. Hilflos klammerte ich mich an Marc und Blackborn fest, wimmernd durch die starken Kopfschmerzen und die näher rückende Übelkeit.

Diese schleppten mich ins Hinterzimmer. Mein Kopf schwankte, meine Augen verdrehten sich in den Höhlen unfähig sich irgendwo zu halten und das einzige was ich hörte, war mein eigenes Keuchen. Um in das Hinterzimmer zu gelangen durchquerten wir eine Tür, bedeckt mit einem violetten und sehr staubigen Vorhang. Es herrschte Dämmern und wenn ich mich heute an diesen Raum zurückerinnere, kommt er mir vor, wie aus einem Traum. Solche Träume, welche man hat, wenn man unter starkem Fieber leidet und das Gefühl hat alles wächst und schrumpft vor einem.

Es war eine Art kleine Küche, nur erhellt durch einen sanft glühenden Ofen. In der Ecke stand ein Tisch, das Messer darauf schien zu leuchten und das viele Gemüse ebenso, wie kleine Kobolde. Es gab ein Fenster verziert mit schwarzen Metallmustern über der Scheibe und vor dem Kamin saß ein riesiger, brauner Hund, der mich anglotzte. Seine Augen waren nur tiefe schwarze Höhlen, da das Licht in seinem Rücken lag, aber ich hörte sein Hecheln, als wäre er direkt neben mir.

Sie setzten mich auf einen Stuhl mitten im Raum und Blackborn hielt mich an den Schultern fest, damit ich nicht fiel. Ich war unfähig zu sprechen, meine Zunge glich einem dicken Lappen und in meinem Kopf spürte ich schmerzvoll meinen eigenen Puls. Zugleich lähmte mich die Angst.

Ich hatte das Gefühl, ich war mehr als nur betrunken und ich meinte, der Hund wäre kurz davor, mich anzufallen. Er war aufgesprungen und mit leicht offenem Mund starrte er mich unentwegt an.

Ich sterbe., dachte ich damals immer wieder, Das ist Gottes Strafe, jetzt sterbe ich!

Dann kippte mein Kopf vornüber und ich schloss die Augen, um das Gefühl zu Fallen zu vergessen.

Marc begann zu sprechen: „Und? Wie viel?“

„Nicht mehr als fünfzig…“, Blackborns Stimme erschien mir kühl und zerschneidend, bestimmend. Marcs hingegen aufgeregt und wütend, besonders als er zur Antwort zischte:

„Was?! Dafür die Mühe?!“

„Halt den Mund, Idiot, er ist noch wach.“ Man zog mich an den Haaren nach hinten, so dass mein Kopf im Nacken lag.

Ich meinte durch den Spalt meiner Augen erkennen zu können, wie Blackborn mich mürrisch ansah. Dann ließ er meinen Kopf wieder nach vorne fallen. „Kümmere dich darum, dass er richtige Kleidung kriegt, dann werden es mindestens achtzig… Los jetzt, wir haben keine Zeit!“

Seine letzten Worte hallten in meinem Kopf wieder, als gäbe es ein endlos langes Echo. Erst nach einigen Sekunden fiel mir auf, dass ich seine Stimme immer und immer wieder in meinem Hinterkopf wiederholte. Um dem ein Ende zu setzen und wieder eigener Herr meiner Gedanken zu werden sah ich auf. Wieder starrte mich der Hund an. Anschließend grinste Marc mir mit seinen schwarzen Zahnstummeln entgegen. Er hielt mir etwas unter die Nase und angewidert nahm ich einen unheimlich scharfen Geruch war. Dann wurde mir schwarz vor Augen.

Das war das letzte Mal, dass ich die beide je zu Gesicht bekam…

Der Brief (1)

Werter John Anderson O’Hagan, Beauftragter der heiligen Mutter Kirche und inquisitorischer Gouverneur der Bereiche Esas, St. Katherine und Otori ,
 

mit Freuden stellte ich fest, dass Ihr das Anliegen gegenüber meinem Richter geäußert habt, dieses Schreiben, welches ich in meinen letzten Lebtagen verfasse, selbst lesen zu können.

Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass Ihr dem nachgehen könnt, aus diesem Grund möchte ich an diesem Punkt meine kleine Lektüre unterbrechen, um Euch eine persönliche Mitteilung zu schreiben.

Wie verlangt schreibe ich mein gesamtes Leben nieder, damit das hohe Gericht sich ein besseres Bild von mir und meinem Handeln machen kann. Da ich nur noch eine Woche habe ehe mein Urteil vollstreckt wird, muss ich mich leider kurz fassen, aber Ihr kennt mich… (Keiner kennt mich besser, als Ihr!)

…ich kann nicht einfach in Stichpunkten nieder legen, was fünf Jahre meines Lebens ausmachten. Ich muss es ausschmücken, formulieren, verfeinern…

Wie Ihr sicherlich gemerkt habt, begann ich mit meiner; man könnte es so nennen; Biografie kurz nach meinem Verlassen des ehrenwerten Klosters. Das hat auch seine Gründe, denn um mein Handeln vor dreiunddreißig Tagen nachvollziehen zu können, ist es wichtig, mich und mein Wesen zu verstehen.

Werter Herr, ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass es Euch herzlich wenig interessiert, was ich dachte, fühlte, oder wollte, dennoch möchte ich Euch mit meinem bescheidenen Dasein ein wenig intensiver konfrontieren… (Das macht Euch doch nichts aus?"

Wie ich Euch kenne, werter O’Hagan - und ich meine, Euch sehr gut zu kennen, vielleicht besser, als Ihr Euch selbst - seid Ihr sehr intensiv dabei, dieses kleine Werk hier zu lesen und schreibt kräftig jeden der genannten Namen und Orte auf. Ja, ich kann es sogar nachvollziehen, denn ich bin mir sogar sehr sicher, dass all jene Namen niemals fielen. Weder irgendwann, noch während meiner peinlichen Befragung, welche Ihr glücklicherweise nicht mit ansehen musstet. (Ich möchte anmerken, dass diese Befragung durchaus kein schöner Anblick war. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich nicht zusehen musste. Wobei es fraglich ist, ob ich lieber zugesehen hätte, statt der Befragte zu sein… Ich denke, diese Frage beschäftigt mich heute noch eine Weile.)

Was ich damit sagen will, ehrenwerter Gouverneur von St. Katherine: Sowohl Blackborn, als auch Black selbst, so wie Charlie, als auch Marc, aber auch andere Charaktere, welche hierauf folgen werden, genannt Jim, Philipp, Jack, Mary und so weiter… Jeder dieser Menschen existiert zwar, jedoch habe ich ihr Aussehen und auch ihre Namen frei erfunden.

Seht es einfach als einen meiner letzten Streiche. Ich kann es mir bildlich vorstellen…

Wie Ihr nun wütend mit der Zunge schnalzt, die Feder auf den Tisch werft und Euer kleines, braunes in Leder gebundenes Notizbüchlein zuknallt. Zu gerne wäre ich dabei.

Doch auch heute, ehrenwerter Stellvertreter der heiligen Mutter Kirche, gilt jenes, was ich einst sagte:

Ein ehrlicher Handschlag ist das Zeichen für ein ehrliches Geschäft. Und ich bin ehrlich und habe nicht vor, jemanden mit in meine Probleme hinein zu ziehen. (Auch nicht gut fünf Jahre danach.)

Die folgenden Worte werden eine kleine Stellungnahme zum Geschehen sein, bitte seht es als weiter fassende Erklärung. Gern würde ich Fragen Eurerseits beantworten, aber mit Sicherheit wird es mich nicht mehr geben, sobald Ihr jenes hier anfangt zu lesen und aus diesem Grund gebe ich mir die größte Mühe, alles Unerklärte aufzudecken:

Wie Ihr bereits gelesen habt änderte sich mein Leben an jenem Punkt ganz und gar. Immer mehr hatte ich mich die letzten Tage der Blasphemie hingegeben und immer stärker begann ich die Inquisition von der Kirche in den Gedanken zu trennen.

Der plötzliche Stoß zurück in die Armut, welche - anders, als die der Mönche - nicht aus freiem Willen kam, hatte mich aufgeweckt. Das Kind in mir, jenes aus dem Waisenhaus ohne Hab und Gut, schrie danach, mehr zu bekommen, sich hoch zu arbeiten und in die reichere Gesellschaft überzugehen. Die Begegnungen mit dem reichen Blackborn und dem herunter gekommen Mathew Hullingtan verdeutlichte mir, wie ungerecht das Leben der Menschen unterteilt wurde. All die Dinge, die mir eingeredet wurden; dass es rechtens sei, dass jeder sein Schicksal verdient hätte; fielen einfach von mir ab. Ich glaubte zeitweise sogar, ich empfände Hass, auch wenn ich es mir wohl niemals hätte eingestanden. (Ja, ganz Recht. Bevor ich Euch kannte war ich ein sehr liebenswerter und aufrichtiger Mensch. Aber dies hier soll keine Anklage werden, sondern ein Geständnis, also fahre ich einfach fort…)

Ich fluchte immer öfter und weigerte mich immer stärker, es zurückzunehmen oder gar Gott um Vergebung zu bitten. Mir wurde klar, dass ich ungläubig geworden war, verdorben und mein Seelenheil mit großer Sicherheit nicht mehr in allzu greifbarer Nähe.

Aber zum beichten war ich zu stolz - ebenfalls eine gottlose Sache, ich weiß - denn Stolz und Würde waren Mönchen verboten. Wenn ich heute an die ersten zwei Tage außerhalb des Klosters zurückdenke, dann kommt es mir so vor, als wäre ich schon immer so gewesen:

Aufbrausend, direkt, laut.

Noch heute überlege ich häufig, wie ich vor der Zeit war, in welcher ich das Kloster verlassen hatte. Natürlich kam ich mir still vor, fromm und gehorsam, aber im Hinterkopf spukte mir immer wieder herum, dass ich fast jede Woche habe Buße tun oder Beichte abgeben müssen. Ich redete mir ein, dass ich der Heiligen Inquisition den Rücken zukehrte, da mein Freund und Bruder Markus im Namen Gottes geläutert und verbrannt werden sollte, aber Tatsache war es so, dass, selbst wenn dies nicht geschehen wäre, ich das Kloster mit Sicherheit früher oder später verlassen hätte.

Oftmals versteckte ich mich in der Bibliothek und hielt nach Büchern Ausschau, die mir mehr von der Welt zeigten, mehr von Völkern außerhalb der katholischen Kirche, mehr von anderen Göttern, Ansichten… Jedes Mal wurde ich enttäuscht, denn natürlich kontrollierte die Heilige Kirche jedes Buch, das veröffentlicht wurde oder sich in der Bibliothek befand.

Immer öfter lauschte ich an der Klostermauer, um etwas mitzubekommen von all den weltlichen Dingen, die mich nicht zu interessieren hatten. Sei es das Gespräch einer Wache, oder der Gesang eines Zigeuners.

Und mit wachsendem Erstaunen stellte ich fest, dass es dort mehr gab, viel mehr. Die Welt schien abgeschottet von mir oder ich von der Welt und immer öfters ging ich es in meiner heimlichen Fantasie durch, wie ich die Mauer erklomm und diese unvorstellbar interessante Welt erkundete.

Natürlich könnte man sagen, dass dies ein hohes Vergehen war, aber wenn wir ehrlich sind, besitzt mit Sicherheit auch Ihr eine Art kindliche Neugierde. Ich wage sogar zu behaupten, dass Ihr oft, sehr oft nachgeht. Wenn ich mich zurückerinnere, in jene Zeit, als ich als freier Mann lebte, dann scheint es mir, als wären wir oft zueinander gestoßen, eben aus dieser Neugierde heraus. Ähnlich ging es mir. Ich hörte etwas und ich musste dem nachgehen.

Meine Tage als Dieb und Straßenkind hatte ich hinter mir gelassen, man hatte mich förmlich genötigt sie zu vergessen, sie als schlecht abzutun, mich dafür gereinigt. Aber jedes Mal wenn ich Musik von außerhalb hörte oder das Rufen vom Markt, jedes Mal zog mich etwas magisch an und ich konnte nicht anders, als gottlos zu handeln.

Ich schreibe dies hier nicht nieder, um mich für mein Verhalten vor Gott; oder Euch, Gottes Rechte Hand; zu entschuldigen. Mit Sicherheit war ich des Öfteren blasphemisch, ja, man sollte anhand des hierauf folgenden sogar merken, dass sich meine Taten mit der Zeit sogar verschlimmerten.

Viel mehr möchte ich hiermit sagen, dass ich gelernt habe, zu akzeptieren, dass ich so bin.

Ich habe eingesehen, dass man nicht immer zu hundert Prozent demütig sein kann. (Oder zumindest ich kann das nicht.) Ich wage zu behaupten, dass ich heute, kurz vor meinem Ableben, ein ganz und gar gottloser Mann geworden bin. Aber es stört mich nicht.

Ich bin voller Zuversicht und denke, man wird verstehen, was ich hier äußere.

Ich bin Willens Strafe dafür erhalten und in die Hölle einzukehren, wenn es denn Gott so will, allerdings möchte ich betonen, dass es mir nichts ausmacht. Denn ich wage ebenfalls zu behaupten, dass ich ein sehr angenehmes, wenn auch sehr schmerzvolles und anstrengendes Leben hinter mir habe und ich jeden Tag als Buße für meine Sünden zähle und somit fest daran glaube, dass meine Seele ihr Heil erreicht hat. Besonders die letzten dreiunddreißig Tage nach meiner feierlichen Gefangennahme erscheinen mir als große Sühne für meine Schuld und ich möchte das hohe Gericht; und auch Euch, O’Hagan; darauf hinweisen, dass es wichtig ist, dieses Schriftstück zu Ende zu lesen, um alles, wirklich alles, verstehen zu können.

Mir ist klar, dass eine Freilassung oder gar Rettung vor meiner Verurteilung nicht mehr möglich ist. Ich habe mich damit abgefunden zu sterben und möchte abermals betonen, dass ich diese große Aufzählung aller Geschehnisse nicht nutze, um meine Unschuld zu belegen – eher, um sie zu widerlegen.

Ich spreche mich mit diesem Buch für schuldig, in vollem Ausmaß, für jedes mir nachgesagte Verbrechen.
 

Ich verbleibe hiermit,
 

Oliver Sullivan O’Neil.
 

Postscriptum:
 

Des Weiteren möchte ich mein tiefes Bedauern über den Tod Eures Ziehsohnes Sascha aussprechen, er war ein guter Junge und wird gewiss an Gottes Seite aufgenommen werden.

Als ich von seinem Tod erfuhr wurde mein Herz schwer und ich dachte an jene Zeit zurück, die ich mit ihm verbrachte.

Es ist mir, als wäre es gestern gewesen. Ich sehe seine blonden Locken vor mir und sein breites, recht freches Grinsen. Ja, ehrenwerter Gouverneur, ganz Recht, ich befand mich einst in Eurem Haus.

Ein schönes Haus, muss ich sagen, große Fenster, hohe Türen, alles recht hell und teuer möbliert. Sicherlich seid Ihr erschrocken, nicht wahr?

Als kleine Nebenaussage möchte ich darauf hinweisen, dass Euer Sohn durch Fieber umkam, nicht durch mich, also klagt mich nun bitte nicht noch ein weiteres Mal an. Ich weise Euch eindringlich daraufhin, dass Ihr Euch zukünftig jene Diener, welche Ihr in Eurem Haus anstellt, näher betrachten solltet. Vielleicht wäre Euch dann ja sogar aufgefallen, dass ich es war, der Euch Euren teuren Kognak über den Schoß kippte? (Es war im Übrigen nicht schade um die Hose…)

Gottes Wege sind unergründlich, mein Freund.

Das Wiedersehen

Als ich zu mir kam, hatte ich das Gefühl, ich kehrte in eine völlig andere Welt zurück.

Niemals werde ich es vergessen, wie ich meine Augen öffnete und noch immer das Gefühl hatte, ich würde schwanken. Das erste, was ich registrierte, war, dass meine Robe sich in ein altes Leinenhemd und eine kurze, braune Hose verwandelt hatte.

Das zweite, was ich registrierte, war:

Ich schwankte wirklich.

Verwirrt setzte ich mich auf und merkte, dass man meine Hände auf den Rücken gebunden hatte und im Hinterkopf dämmerte es mir, dass diesmal nicht der Alkohol an meiner Bewusstlosigkeit schuld war. Ich sah mich um und erschrak:

Wände, Decke und auch Boden waren aus dunklem, recht rauem Holz. Es roch nach Teer, eine rote Sturmlaterne schwankte an einem Deckenbalken und mir gegenüber war ein rundes Fenster mit dem Blick auf die unendliche Weite des Ozeans. Ich sah zu meinen bloßen Füßen, dann ließ ich meine Blicke kreisen. Mein Herz raste ungemein und in den ersten Sekunden sandte ich Stoßgebete zum Himmel, dass ich träumte.

Aber ich träumte nicht.

Diese Tatsache donnerte auf mich ein wie der harte Schlag eines Hammers auf dem Hinterkopf und fast panisch sprang ich hoch. Das Schiff auf dem ich war machte eine leichte Krängung und ich drohte das Gleichgewicht zu verlieren und gerade, als ich es wieder erlangte, krängte es erneut und laut krachend stürzte ich in die Kisten und Fässer.

Selbst ein Tauber hätte mich gehört und es wunderte mich nicht sonderlich als, nachdem ich mich mühsam hochgerappelt hatte, die Tür aufging und ein großer, breit gebauter Seemann vor mir stand. Er starrte verwirrt zu jener Stelle, an der ich gelegen hatte, dann erblickte er mich und musste grinsen. Das Boot schwankte erneut und ehe ich fiel hielt er mich grob am Oberarm. „Aufgewacht, Landratte?“, seine Stimme war mehr ein Brummen und sein Atem roch nach verwesendem Fleisch. Angewidert schloss ich die Augen. Ich ekelte mich vor seinem Mundgeruch, aber auch vor seinen schwitzigen Händen, seiner Glatze und den kleinen Schweißperlen, die er überall hatte.

Als er mich zum Stützbalken in der Mitte des Raumes zog starrte ich wie gebannt auf seine silberne Narbe, die quer an seiner Kopfseite entlang lief, sein halbes Ohr fehlte und ich sah, sie ging noch weiter bis in den Nacken.

Schweigend ließ ich mich an den Pfahl stellen, ich war noch immer verwirrt und desto mehr wir hin und her schaukelten, desto stärker verspürte ich Übelkeit.

Der Matrose baute sich vor mir auf, er war verdammt groß, und grinste abermals.

„Hast ganz schön lange geschlafen. Wir dachten schon, du stirbst uns weg.“

„Wo bin ich? Was ist passiert, und wie komm ich hier her?“, ich starrte in seine hellgrünen Augen, sie wirkten fast unecht. Mein Hals begann zu kratzen und ehe ich meinen Schwall Fragen über ihn ergießen konnte begann ich stark zu husten.

„Auf der Caroline.“, er klopfte mir auf den Rücken und hielt mich abermals, als ich drohte, zu fallen.

„Caroline?“, verwirrt starrte ich ihn wieder an. „Aber, wie…?“

„Das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist erst einmal, dass du eine Landratte bist. Das wird dem Käpt’n nicht gefallen.“

„Kapitän Clayton?“, er sah mich verblüfft an, dann lachte er.

„Wer soll denn das sein?! Von dem habe ich ja noch nie gehört!“

Verzweiflung übermannte mich und noch immer verstand ich nichts. Er klopfte mir auf die Schulter und drückte mich sanft runter, damit ich mich setzte, dann ließ er mich allein. Verwirrt starrte ich ihm nach, glich das gleichmäßige Hin und Her mit meinem Oberkörper aus und begann zu zittern. Ich wurde entführt, ich war auf einem Schiff und scheinbar vertrug ich es nicht und zu allem Überfluss war es nicht die Constanca von Kapitän Clayton!

Ich beschloss ruhig zu bleiben und abzuwarten, was geschah. Ein Sklavenschiff, versuchte ich mir einzureden, wäre voller, würde anders aussehen und die Behandlung wäre nicht so freundlich. Früher oder später würde Blackborn merken, dass ich verschwunden war und mich vielleicht suchen lassen.

Vielleicht hatte ich etwas verbrochen und wusste es nicht?

Ich hatte schon oft Geschichten gehört von Menschen, die dem Alkohol verfielen und daraufhin Dinge taten, von denen sie am nächsten Tag nichts mehr wussten.

Und mit diesem Gedanken kam mit einem Mal die Erinnerung zu mir zurück und ich fuhr unwahrscheinlich in mich zusammen. Ich erinnerte mich an den Hund, an Blackborns Worte, an Marcs Gesicht und an den widerlichen und beißenden Gestank. Die zwei hatten damit zu tun und nicht der Alkohol hatte mich benebelt, irgendetwas in dem Weinglas war es gewesen. Deswegen hatte Marc so oft mit mir angestoßen! Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht, sie haben mich verkauft - war etwa ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt worden, weil ich das Kloster verlassen hatte? Wohl kaum…

…Oder doch?

Ich wurde aus meinen hektischen Gedanken gerissen und als zwei Gestalten die kleine Holztreppe von - wie ich glaubte - Deck hinunter kamen, raste mein Herz, als wäre ich meilenweit gerannt. Ich erkannte den stark riechenden Matrosen wieder, außerdem einen etwas kleineren, aber breiteren Mann.

Dieser trug einen großen, schwarzen Hut, darunter sichtbar ein rotes Kopftuch und einen großen, langen und blutroten Mantel. Seine Haare waren schwarz und zaus, mit einigen weißen Strähnen und endeten in einem wirren Zopf, ebenso kraus wie sein stoppeliger Bart. Als er mich sah stockte er. Gekonnt sprang er die Treppe hinab, dann hangelte er sich behände und flink wie ein Affe zu mir, mithilfe weniger Schlaufen an den Deckenbalken, die eigens für ihn angebracht worden waren. Als der Einbeinige dann vor mir stand starrte ich ihn an und konnte es kaum fassen.

„Mathew Hullingtan Black…“, flüsterte ich.

Verwirrt starrte der Matrose von einem zum anderen. „Sir, Ihr kennt den Kerl?“,

doch Black beachtete ihn nicht und trat etwas näher. „Bei meinem Holzbein!“, brummte er dann und nachdem er mich genau gemustert hatte baute er sich auf und lachte donnernd. „Wenn das nicht der Mönch ist! Aye, Finn, mach ihn los.“

„Los machen? Aber-…“, doch dann schwieg der Matrose und gehorchte.

Ich starrte Black nur an und als ich los war massierte ich mir die schmerzenden Handgelenke und stand unsicher auf. Mein Blick musste ein wenig düster oder misstrauisch gewesen sein, denn Black schwieg einige Sekunden, als müsste er sich seine Worte genau überlegen, ehe er sagte:

„Aye, dann lege er mal los. Wie, bitteschön, ist der werte Herr an die gute, alte Caroline geraten?“

„Durch Euch.“, stellte ich daraufhin fest und Finn musste die Spannungen zwischen uns spüren, denn er wich nicht von Blacks Seite. „Ihr habt mich an Blackborn verwiesen und er hat mich anscheinend verkauft. Aber wieso er das tat und warum ich nun hier bin verstehe ich nicht.“

Da musste Black lachen, wie es eben seine Art war und brüderlich zog er mich zu sich und legte grob den Arm um meine Schulter.

„Eines soll ihm gesagt sein: Hätte der alte Black gewusst, dass Blackborn Leute für Kapitäne schanghait, hätte er ihn nicht an den Gauner verwiesen, da hat er mein Wort drauf!“

„Schang…hait?“, er zog mich mit sich und gemeinsam gingen wir die Treppe hinauf.

„Aye, so nennt man das, wenn man Matrosen entführt für die Arbeit auf See, aber das wird er schon noch lernen.“ Das Schwanken des Schiffes erschwerte mir den Gang und sein Gewicht verstärkte dieses Problem nur noch mehr. Gemeinsam und dicht gefolgt von Finn erklommen wir das Deck und als wir mitten im Sonnenlicht standen, wurde ich fast ohnmächtig.

Wir waren mitten auf See und egal wohin ich mich drehte, ich sah Blau, nichts als Blau. Vorne, hinten, überall die weite, klare See, ansonsten nichts. Die Sonne brannte heiß auf uns herunter, die meisten Seemänner liefen oberkörperfrei aufgrund der Hitze und auf ihren Rücken und Schultern pellte sich bereits die Haut vom Sonnenbrand. Es roch nach Salz, ein angenehmer Geruch, aber der Gestank vom heißen Teer überdeckte ihn fast vollkommen. Unbeholfen folgte ich Black an die Reling und starrte hinunter. Es schwindelte mich, als ich sah, wie hoch das Schiff lag und wie stark die Wellen gegen das Holz krachten und eine unsichere Angst überkam mich.

Ich musste blass gewesen sein, wie ich da so stand, mit aufgerissenen Augen und an das Holzgeländer gekrallt, denn Black und Finn lachten laut los.

„Was ein Küstenschwimmer, da hol mich doch der Klabautermann!“, rief Black dabei aus und auch einige andere Seeleute stimmten mit in das Gelächter ein.

„Black, erklärt mir, was hier vor sich geht!“, verlangte ich. Einerseits, um das Lachen auf meine Kosten zu beenden, andererseits, um mich von meiner näher rückenden Panik abzulenken. „Wieso bin ich hier? Entführt worden, wozu? Und wo fahren wir hin? Wo ist meine Robe? Wer-…“

„Nun mal langsam“, der alte Seebär grinste breit und entblößte seinen Goldzahn. „Er ist ja schneller als die Flut beim Ordon-Kapp, und die ist verdammt schnell, das kann er mir glauben!“, dann lehnte er seine Krücke an die Reling und stützte sich leicht an ihr ab. Wie er da so stand, völlig ruhig und bewegungslos, wirkte es fast, als wäre er fest gewachsen am Schiff und ich kam mir noch unbeholfener vor. „Schanghait wurde er. Verschleppt, auf See gezerrt und nun ist er Matrose der Caroline, ob er denn will oder nicht. Ist billiger zu verschleppen, als anzuheuern. Aye, so sieht’s aus, Kamerad. Und das sind wir jetzt: Kameraden.“

„Verschleppt aufs Schiff? Kameraden?“, verwirrt starrte ich ihn an, dann verstand ich und wurde mit Sicherheit noch blasser. Ich merkte gar nicht, dass Finn uns allein stehen ließ.

„Oh nein…“

„Oh doch, dem ist wohl so.“, grinste er und stieß mir gegen die Brust. Es sollte wohl freundschaftlich sein, doch ich geriet ins Taumeln und konnte mich nur knapp halten.

„A-Aber ich habe doch gar keine Ahnung von der Seefahrt!“, stotterte ich, als ich meine Fassung wieder erlangt hatte. „Ich wollte zwar auf ein Schiff, aber doch mit Heuervertrag und Ausbildung und-…“

„Er wollte aufs Meer?“, unterbrach er mich.

„Ja, schon…“

„Aye, nun ist er auf dem Meer.“, wieder grinste er. Blacks Worte kamen mir im ersten Moment wie pure Provokation vor, aber dann, nach einigen Sekunden, wurde mir klar, dass er Recht hatte:

Ich war auf See. Ich war auf einem Schiff und noch besser: Keiner wusste Bescheid. Keiner konnte ahnen, dass ich entführt worden war, niemand wusste, wohin ich segelte - nicht mal ich selbst. Hätte meine Flucht vor der Inquisition besser verlaufen können?

Ich trug keine Mönchskleidung mehr, mein Rosenkranz war weg, niemand wusste meinen Namen. Nur mein Haarschnitt ließ noch vermuten, dass ich in einem Kloster war und selbst dieses Problem konnte man problemlos beseitigen. Und binnen dreißig Sekunden beschloss ich Matrose zu werden, meine neue Chance zu nutzen und im nächsten Hafen als reicher Mann an Land zu gehen.

Gewiss stellte ich es mir einfacher vor, als es war, dessen war ich mir jedoch zu vollem Ausmaß bewusst. Ich sandte in Gedanken ein Dankensgebet zum Himmel. Gott hatte mich - abermals - erhört und mir ein neues Leben geschenkt. Wenn ich an Land ging, beschloss ich, würde ich ihm vor einem Altar dafür danken. Aber vorerst galt es, mich in dieser für mich völlig neuen Welt zu behaupten.

Mit einer Entschlossenheit, welche meine Augen aufflammen ließen, ballte ich die Fäuste und nickte.

„Ja, Ihr habt Recht. Ich wollte zur See, nun bin ich da! Was kann ich tun?“

Black lachte wieder, jedoch leiser, freundschaftlicher und dann schüttelte er den Kopf. „Er sollte erst einmal mit dem Kapitän sprechen, denn der mag keine Landratten und hol mich doch der Teufel, wenn der Sir ihn nicht im hohen Bogen über die Planke springen lässt.“

Die Unsicherheit holte mich wieder ein. „Ihr seid also nicht der Käpt’n?“

„Ich? Der Alte Hullingtan Black? Nicht einmal im Traum würde er sich zum Käpt’n ernennen lassen! Unser Sir heißt Sir Oldfield McWilkinson, Käpt’n Wilkinson genannt.“

„Wilkinson?“, wiederholte ich.

Er brummte. „Aye. Ein strenger Mann, aber guter Käpt’n, dafür lege ich die Hand ins Feuer. Aber was rede ich? Er wird ihn ohnehin selbst kennen lernen müssen!“

Und genau in diesem Moment donnerte eine Stimme so laut und so stark über Deck, dass sowohl ich, als auch Black in uns zusammen fuhren und die Köpfe drehten.

„Mathew Hullingtan Black, verdammter Saufkopf, verflucht soll er sein und alle seinesgleichen! Wer hat ihm erlaubt den Gefangenen los zu machen und an Deck zu holen?!“

Ich kannte den Kapitän - Oldfield McWilkinson - drei Sekunden und sofort hatte ich Respekt vor ihm. Wilkinson war ein hoch gewachsener, schlanker Mann in blauem Seemannsmantel mit blauweißem Hut, schwarzem, edel wirkenden Bart und tiefen, blauen Augen. Er wirkte wie ein alter Marineoffizier, aber nur im ersten Moment und von weitem wie ein hoch aufragender Felsen, kühl, hart und unnahbar. Beim näheren Hinsehen erkannte man, dass sein Gesicht voller Narben war. Er trug keine Abzeichen und der Degen an seinem Gürtel sah zwar vornehm, aber dennoch stark benutzt aus. Als er näher an uns heran trat - direkt hinter ihm lief der Matrose Finn - machte Black eine tiefe Verbeugung und zog dabei den Hut.

„Käpt’n Wilkinson, Sir, welche eine Ehre, dass Ihr zu uns bescheidenem Haufen aufs Unterdeck-…“

„Ruhe!“, ich zuckte zusammen, als Wilkinsons Blick von Black auf mich hernieder raste und unbewusst nahm ich die demütige Haltung eines Mönches an. Wilkinsons Augen starrten kalt auf mich hinunter und kurz überlegte ich, ob ich über Bord springen sollte, ehe dieser Mann mich in Stücken riss. „Wie ich sehe, ist er aufgewacht?“, fragte er mich dann mit unheimlich kühler Stimme, dass einen die Gänsehaut befiel.

„Ja, Sir. Ich meine Käpt’n…“

„Hat er gut geschlafen?“

Unbeholfen verneigte ich mich leicht. „Ja, Sir, danke, Sir.“

„Sein Name?“

Ich zögerte. Mein Mönchsname lautete Oliver, Bruder Oliver, aber dies war hier gewiss Fehl am Platz. Und das erste Mal, nach etlichen Jahren, nahm ich meinen alten, wirklichen Geburtsnamen wieder in den Mund:

„Sullivan, Sir, Sullivan O’Neil.“

„Eine Landratte.“, stellte er fest und sah Finn über die Schulter an, als wäre ich nicht weiter von Interesse. „Über Bord mit ihm.“

„Aye, Sir.“

Geschockt starrte ich ihm entgegen und Finn wollte mich schon packen, da mischte Black sich ein.

„Aber Sir, mit Verlaub.“, ich registrierte, dass Black leicht gebeugt stand und fasste es ebenfalls als Demut auf, was er jedoch - wie ich später merkte - öfters mal bei diesem oder jenem tat, je nachdem, wann es ihn voran brachte und wann nicht. Ich lernte Black als jemanden kennen, welcher in der Lage war, mit Worten und Gesten zu spielen und sein Gegenüber so zu jenem zu bewegen, was ihm zu seinem Glück verhalf. Nun hatte er, alt wie er war, seine Krücke unter den Arm geklemmt, verbeugte sich tief, zog mit der freien Hand seinen Hut und grinste seinen Kapitän unterwürfig an. „Käptn, Wilkinson, Sir, wenn ich frei sprechen darf?“

Eher desinteressiert wendete sich Wilkinson wieder an ihn zurück. „Er darf, wenn er es denn nicht lassen kann.“

„Ich danke, Sir, ich danke.“, dann setzte er sich den Hut auf und schlang den Arm um mich. „Eine Landratte, Sir, das habt Ihr gut erkannt, dem will ich gar nicht im Wege stehen, aber Käpt’n, bei allem Respekt, dieser Mann hat Pfiff, so wahr ich hier stehe.“, und dabei rüttelte er so fest an mir, dass ich fast vornüber kippte. Zögernd starrte ich Wilkinson an, ich bekam keinen Ton heraus.

„So?“, fragte dieser nur. Seine Ungläubigkeit war fast spürbar. Black fuhr fort:

„Aber ja, Sir, aber ja! Der beste Schiffsjunge, den Ihr kriegen könnt, mein Wort darauf, Käpt’n.“

„Auf ihn, Black, ist Verlass, aber er sollte, könnte man meinen, wissen, dass ich keine Landratten an Bord dulde.“

„Aber Käpt’n, Sir, sicher habt Ihr Geld bezahlt für ihn, oder nicht? Und, wenn erlaubt, Sir, wäre es nicht klug, ihn zumindest so lange als Schiffsjungen zu nehmen, bis er wenigstens das Bezahlte wieder eingeholt hat?“

Wilkinson schwieg und starrte mich an. Ich hatte das Gefühl unter seinen Blicken zu schrumpfen. Sämtliche Vorsätze bezüglich meines neuen Lebens als reicher Mann waren von mir gewichen. Untergegangen, wenn man so wollte. Nach etwa drei Minuten dann regte er sich endlich wieder, straffte seine Haltung, erhob das Kinn und streckte seinen Rücken durch. Ohne seine Augen von mir abzuwenden sprach er:

„Er, Black, hat die vollste Verantwortung für unser neues Mitglied und sollte er auch nur den kleinsten Fehler machen, wird dies harte Konsequenzen für alle Beteiligten nach sich ziehen.“

Black verbeugte sich tief und zog abermals seine Kopfbedeckung. „Eine weise Entscheidung, Sir, einem Käpt’n mehr als nur würdig…“, schmeichelte er.

„Nun, dann an die Arbeit meine Herren, es ist noch viel zu tun bis zum Mittag.“, und damit drehte er ab und verschwand. Finn folgte ihm, ohne sich umzusehen.

Unsicher starrte ich ihnen nach. „Ein Hoch auf Kapitän Wilkinson!“, rief Black noch, wurde jedoch nicht gehört oder ignoriert, dann grinste er mir entgegen.

„Aye, ab nun ist er Schiffsjunge, so scheint’s mir?“

„Ja, scheint so…“, Hilfe suchend sah ich ihn an, aber mir blieb keine Zeit zum Fragen stellen. Er deutete mir zu folgen und ohne weiteres hang er sich die Krücke um die Schulter und hangelte sich schneller als die meisten anderen Matrosen an Bord waren quer über das Deck. Erstaunt starrte ich ihn an, wie er vorwärts kam und entdeckte auch hier etliche Schlaufen und Seile, die scheinbar nur für ihn am Schiff waren. Die Matrosen musterten mich fast schon aufdringlich, aber grüßen tat keiner und mein Unbehagen wuchs mit jeder weiteren Minute mehr. Desto weiter ich Black folgte, desto mehr sah ich vom Schiff. Es handelte sich um einen Dreimaster, eine Bark, von außen schwarz lackiert und mit blutroten Rah- und Gaffelsegeln. Sie hatte einen schmalen Bauch, an dessen Spitze ein graziöser Bug mit wunderschöner, rothaariger Galionsfigur. Nie werde ich vergessen, wie ihre Segel bei Sonnenauf- und Untergang in der Sonne glühten, als würde sie selbst die Sonne sein, oder ihre Segeltücher in warmen Flammen stehen. Dann war alles leicht rot getüncht auf dem Schiff und ein Hauch von Mystik lag über Allem und Jedem. In Stürmen und Kämpfen wirkte die rote Farbe über uns aggressiv und spornte uns an, an kalten Abenden wärmte sie uns, fast wie ein Kaminfeuer. Es fiel mir schwer die Augen von den ungewöhnlichen Segeln zu nehmen.

Wir gingen von achtern aus Richtung Bug vom Besan- zum Fockmast und passierten mittig den Großmast. Überall hingen Männer in den Wanden, hantierten hier herum, dort herum und ich schätzte die Zahl der Matrosen auf etwa sechzig. Dann erreichten wir den Zugang zur Kombüse und Black verschwand darin. Ich folgte ihm, eine dreistufige Holztreppe hinab und sah mich unsicher um. Es herrschte Dämmerlicht und ich musste einige Sekunden lang blinzeln, um etwas zu erkennen. Vor mir war eine Art Ofen aufgebaut, mittig, drum herum gab es etliche Ablagen und Schränke, behangen mit Pfannen, Töpfen, Kellen und anderen, wichtigen Dingen. Außerdem gab es Fässer, Säcke und Flaschen aller Art. In der Ecke stand ein winziger Tisch mit einem Schemel, extra klein, damit die Regale darüber passten. Black hatte sich auf die Ablage gestützt und seine Krücke in die Ecke gelehnt. Er hielt sich an einer Seilschlaufe, welche von der Decke hing und grinste mir entgegen, nicht ohne Stolz.

„Aye, das ist das Reich vom alten Mathew Hullingtan, die Kombüse. Ich bin der Smutje.“

Im Kopf machte ich mir klar, dass ‚Smutje’ wohl so etwas wie ‚Schiffskoch’ heißen musste und trat ein wenig näher. Ich ließ meine Blicke schweifen. „Hier wird er - Sullivan, aye? – mit seiner Arbeit als Schiffsjunge beginnen.“

Ich sah auf und erwartungsvoll in seine Augen, doch meine Erwartungen wurden sofort enttäuscht, als er mir deutete, mich an den Tisch zu setzen und mir einen Sack Kartoffeln brachte. Grinsend drückte er mir fast väterlich das Schälmesser in die Hand und mit den Worten: „Dann soll er dem alten Wilkinson mal zeigen, was er kann, aye?“, ließ er mich allein.

Mürrisch nahm ich die erste Kartoffel und begann mit dem viel zu stumpfen Messer zu schälen. Wahrlich, so hatte ich mir das nicht vorgestellt…

Unbeliebtheit

Ich gewöhnte mich an die rauen Befehle, lernte zu hören ohne Fragen zu stellen, zu salutieren wenn Wilkinson oder der erste Maat – Robert McGohonnay – mich passierten und vor allem alles zu kopieren, was Black tat. Ich ahmte ihn nach, in jeder erdenklichen Weise, und schon bald fand ich mich auf dem Segelschiff zurecht. Ich lernte, wie man starke Krängungen ausglich, ich lernte, wie man Knoten band und ich lernte auch, mich der Stimmung des Kapitäns perfekt anzupassen. Meine Haare hatte ich geschnitten, kurz und stoppelig, bis auf einen winzigen, abstehenden Zopf am Hinterkopf. Diesen hatte ich fest zusammen gezurrt, mit einem geteerten Bindfaden. Zu meiner Enttäuschung ließ sich nirgends ein Rasiermesser anfinden und so wuchsen mir einige, krause Stoppeln im Gesicht. Zwar hatte ich keinen Spiegel, in den ich sehen konnte, aber die Vorstellung, wie einer meiner Brüder auf mein Aussehen reagieren musste, brachte mich ungemein zum Lachen.

Die Tage auf der Caroline vergingen quälend langsam und schon bald spürte ich, wie aggressiv ich wurde, durch die Enge, die Hitze und die wenige Privatsphäre. Anfangs redete ich mir ein, dass es nicht anders sei, als im Kloster – besser sogar, denn es gab viel weniger Matrosen als Mönche. Aber im Laufe der ersten Woche bekam ich zu spüren, dass dem nicht so wahr. Ich schlief im zweiten Unterdeck bei den anderen Matrosen, es war stickig, warm und laut. Bereits am ersten Tag lernte ich, dass es zwei Wachen gab, bestehend aus zwei Gruppen. Die erste arbeitete tagsüber, die zweite nachts. So war es immer voll, nie konnte der Raum gelüftet werden und auch nie der Geruch von Schweiß und Ausdünstungen sich verringern. Kopfschmerzen und Übelkeit am nächsten Morgen wurden zum Alttag für mich. Man hatte mir eine Hängematte zugeteilt – ich liebte sie, das einzig Gute in diesen Räumen. Am liebsten wäre ich niemals mehr aufgestanden. Stundenlang konnte ich in ihr liegen, hin und her schaukeln und den Kanonen ein Deck über mir lauschen, wie sie wenige Zentimeter hin und her rutschten. Man hatte mir Nadel und Faden gegeben, womit ich meine Initialen in den Stoff nähen durfte „SON“. Mein erster Besitz außerhalb des Klosters und ich hütete sie wie meinen Augapfel.

Ich wusste noch immer nicht, wohin wir eigentlich fuhren. Wenn ich fragte, gab mir Black einen Schlag auf den Hinterkopf und wies mich in freundschaftlicher Strenge an, mit meiner Arbeit fortzufahren und eine andere Bezugsperson hatte ich nicht.

Am Anfang beachteten mich die Matrosen nicht, nur Black sprach einige Worte mit mir, der Rest warf mir düstere, missbilligende Blicke zu und auch vom Käpt’n kam nichts, als solches. Ich wollte mir den Kontakt mit Black nicht auch noch vermiesen, also richtete ich mich nach ihm und stellte keine Fragen mehr. Arbeiten verrichten durfte ich nur in der Kombüse und stets mit Blacks Augen im Rücken.

Irgendwann meinte ich zu merken, wie sie begannen, mich zu testen. Immer mehr verlangten nach mir. Ich sollte das Deck schrubben, dann jemandem beim Knoten helfen, bei der Reparatur der Seile… Immer mehr begannen meinen Namen – Sie nannten mich „Landratte“, „Neuer“, oder „Son“ aufgrund meiner Initialen - zu rufen und während ich die Aufgaben wie verlangt erledigte wichen sie nicht von meiner Seite, sondern starrten mich an, als wäre ich irgendetwas Außergewöhnliches. Mit jedem Auftrag wuchs das Interesse an mir und ich spürte, wie der Respekt ein wenig anstieg, als sie merkten, dass ich zwar eine Landratte war, aber durchaus zu etwas zu gebrauchen. Dann, nach genau einer Woche, passierte etwas, was Ihr Bild von mir für immer verändern sollte…

Ich erinnere mich daran, als sei es erst am gestrigen Tage passiert. Es war heiß, gegen Mittag und das Schiff war die Hölle auf Erden. Aus einer Laune heraus hatte man mir den Auftrag gegeben das Deck zu schrubben, eine verhasste Arbeit, welche man nur allzu gern auf mich abschob. Und so hockte ich auf den Knien wie ein Hund, schrubbte, dass mir die Finger bluteten und sah zu, wie das Salzwasser sich allmählich an meiner Haut zu schaffen machte. Meine Striemen waren größtenteils verheilt, nur rosige Narben zeugten noch von ihrem Dasein und so hatte ich es den anderen Matrosen gleich getan und mein Hemd an meine Hängematte gebunden. Oberkörperfrei wie ich nun war bildete meine Sonne nicht gewöhnte Haut die ideale Zielscheibe für Brände, aber ich ertrug die Hitze einfach nicht mehr. Der Schweiß lief mir in Bächen von der Stirn und es dauerte noch gut eine Stunde, bis jeder seine Ration Wasser erhalten würde. Ein wenig schämen tat ich mich schon für meine Narben, denn wenige waren es nicht. Mein gesamter Rücken war gezeichnet, die über zehn Jahre Klosterzeit haben ihre Spuren hinterlassen, aber viele der Männer an Bord hatten solche Rücken wie ich und dies beruhigte mich ein wenig. Zu meiner Erleichterung sprach mich keiner darauf an. Weder Black, noch der Käpt’n, noch jemand anderes. Als ich gerade mit der ersten Hälfte fertig war, erhob ich mich, band den Holzeimer wieder an das Seil und ließ ihn zu Wasser. Ich verrichtete die Arbeit monoton und in Gedanken versunken. Das ständige Schaukeln, das wenige Sprechen und die gleichmäßige und ruhige Fahrt hatten mich in meine alte Melancholie zurückversetzt, welche mich bereits im Kloster in ihrem Bann hatte. Die meiste Zeit sprach ich kein Wort, während die anderen sangen, Lieder pfiffen, oder sich unterhielten. Zu manchen Stunden war es sogar so stark, dass ich auf Blacks Fragen nur mit bejahendem, oder verneinendem Brummen antworte, als mit ganzen Sätzen. Die Tatsache, dass es hier keine Regeln gab, welche respektvolles Anreden verlangten – bis auf gegenüber Maat und Käpt’n – ließen mich in meiner Erziehung zurückfallen. Ich machte mir kaum noch etwas aus solchen Dingen. Allein diese wenigen Tage reichten aus, um mich Verlernen zu lassen „Guten Morgen“, oder „Gute Nacht“ zu sagen. Nicht einmal mehr das Tischgebet wollte ich sprechen. Wenn wir aßen wurde ausgeteilt und sofort gespeist, keiner verschwendete auch nur den geringsten Gedanken an Gott und es wurde so laut und stark geflucht, dass mir Tischgebete fast blasphemisch vorgekommen wären. Ebenso, wenn es hieß, schlafen zu gehen. Als erstes gab es kein Bett, vor welches ich mich knien könnte und als zweites musste ich so schnell in meine Hängematte schlüpfen wie möglich, damit die anderen sich unter und neben mich legen konnten.

Ich zog den Eimer wieder hoch, er war schwer und meine Oberarme schmerzten durch den Muskelkater, dann hievte ich ihn mit aller Mühe zurück zu meiner Bürste. Ächzend stellte ich ihn ab, ein wenig schwappte über, aber das machte nichts. Dann ging ich wieder in die Knie und gerade wollte ich beginnen, da krachte es. Ein lautes „Verfluchte Scheiße noch mal!“, dann rollte der Eimer mit voller Wucht quer über die Planken und das Salzwasser verteilte sich quer über den Boden. Ehe ich auch nur ansatzweise reagieren konnte spürte ich einen harten Tritt ins Kreuz. Ein Mann mit südländischem Akzent begann laut stark zu brüllen: „Verflucht sollst du sein, Elende Landratte, das war pure Absicht!“

Verwirrt rappelte ich mich auf die Knie und drehte mich um. Ich musste den Arm heben und mich vor der Sonne schützen, um den Mann zu erkennen, welcher sich wütend vor mir aufgebaut hatte. Er packte mich am Handgelenk und zerrte mich hoch. „Das war Absicht!“, wiederholte er lautstark dabei. „Du wolltest, dass ich lang liege! Über Bord gehe!“

Stotternd beteuerte ich meine Unschuld und wollte mich lösen, aber eine Ohrfeige ließ mich erneut zu Boden krachen. In meinem Kopf drehte es sich und als ich wieder klar denken konnte und ängstlich hoch sprang hatte sich bereits der Großteil der Mannschaft um mich versammelt. „Dafür wirst du büßen!“, zischte er wie im Wahn.

Nun erkannte ich ihn. Sein Name war Ian. Er hatte stark gebräunte Haut, trug ein orangefarbenes Kopftuch und einen großen Goldohrring im linken Ohr. Er war mir bereits mehrere Male wegen seiner aufbrausenden Art aufgefallen, öfters suchte er Streit und nun war ich an ihn geraten und wusste nicht, was zu tun war. Er rang die Hände, beschimpfte mich und machte einen hiesigen Aufstand. Schon nach wenigen Sekunden hatte er die Meute gegen mich aufgehetzt. Sie begannen mich zu schubsen, nannten mich Ratte und Verräter und als ich dann letzten Endes erneut zu Boden fiel ergossen sich weiße Speichelflecken aller beliebigen Formen und Größen um mich.

„Es war keine Absicht!“, fauchte ich ihn an, sichtlich wütend. Dies kannte man von mir nicht, aber Ian war zu dumm um diese Veränderung zu bemerken und provozierte mich nur verächtlich weiter. Wütend trat er gegen den Eimer, so dass er mir entgegen flog. Nur knapp wehrte ich ihn ab.

„Du Ratte! Du wolltest, dass ich von Bord gehe!“, brüllte er mir entgegen, dass die Spucke nur so flog.

„Das ist Unsinn und das wisst Ihr so gut, wie ich!“

„Du wagst es, zu behaupten ich rede Unsinn?!“

„Ich sagte lediglich, dass Ihr etwas Unwahres sagt!“

„Einen Lügner schimpfst du mich?! Dir werd ich’s zeigen!“, Ian stürzte sich schnaubend auf mich. Ich schrie auf und fuhr herum, doch ehe ich weg kriechen konnte, packte er mich an den Beinen. Lautstark knallte ich mit Oberkörper und Gesicht auf den nassen Boden. Er zog mich zu sich und mit einem harten und schmerzvollen Ruck lag ich auf dem Rücken. Angsterfüllt starrte ich ihn an.

Er war wesentlich größer und auch schwerer und es dauerte nicht mal wenige Sekunden, da hockte er auf mir, mit seinen Fingern um meine Kehle. Wie ein Wahnsinniger zischte er: „Du wirst dafür büßen, du Bastard, darauf kannst du dich verlassen! Niemand beleidigt Ian McKeith ungestraft! Niemand! Nicht mal eine Ratte wie du!“, dann drückte er zu. Panisch umklammerte ich seine Finger und röchelte, doch es half nicht. Ich spürte, wie der Druck in meinen Schläfen stieg und meine Augen begannen, aus den Höhlen zu treten. Bewegungsunfähig, wie ich war, wandte ich den Kopf und zappelte hilflos mit den Beinen. Die Männer um uns herum begannen ihn lautstark anzufeuern. Vor meinen Augen begann ein Flimmern und wie gebannt starrte ich in sein abstoßendes Grinsen mit seinen schwarzen Zahnresten und der großen, dunklen Lücke dazwischen. „Das wird dir eine Lehre sein!“

Erst versuchte ich mich weg zu ziehen – eine dumme Idee, da ich weder vorwärts kam durch sein Gewicht, noch etwas zum greifen hatte-, dann ihn zu schlagen.

„Nein…! Nicht…! Ich…kriege keine Luft…!“, meine Hände griffen ins Nichts, denn er beugte sich leicht zurück und entkam meinen Halt suchenden Griffen. Dann fasste ich sein Hemd. Röchelnd und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren zog ich ihn an mich. Mit voller Wucht griff ich seine Wangenknochen an beiden Seiten und grub meine Zeige- und Mittelfinger tief in seine Augen. Niemals werde ich diesen Anblick und das Gefühl seiner Augäpfel unter meinen Fingerkuppen vergessen. Er schrie und sofort ließ er los. Ians Schrei musste schrecklich gewesen sein, denn sofort verstummten alle, jedoch bekam ich es kaum mit. Hustend und jappsend drehte ich mich herum und versuchte davon zu krabbeln, doch ich kam nicht weit. Direkt vor mir tat sich die Gruppe der Matrosen auf und zwei mir sehr bekannte Stiefel kamen unmittelbar vor mir zum stehen. Noch immer keuchend sah ich hinauf, erst jetzt nahm ich das Wimmern und Jammern Ians wahr, und sah in die kalten und fast schon hasserfüllten Augen des Kapitäns. Die Männer um mich herum salutierten, leicht eingeschüchtert da der Kapitän persönlich zu uns gestoßen war. Sie machten ein wenig mehr Platz für ihn, als hätte er die Pest, oder bräuchte mehr Luft zum Atmen, als alle anderen zusammen.

„Was ist hier los?!“, zischte Wilkinson. E sah erst Ian, dann mich an, ohne eine Miene zu verziehen. Unbewusst wich ich nun wieder zurück. „Was ist das für ein Geschrei?!“

„Sir?“, meldete sich ein Matrose und salutierte leicht. Wilkinson sah ihn an und so erklärte er: „Sullivan hat versucht Ian über Bord zu werfen, Sir!“

„Das ist nicht wahr!“, entfuhr es mir. Ich zuckte zusammen, als der Käpt’n sich wieder mir zuwandte. Leise fügte ich hinzu: „Sir…“

„Habe ich ihm erlaubt zu sprechen?“

Ich senkte den Kopf. „Nein, Sir, Verzeihung, Sir…“

„Bringt Ian zum Feldscher!“, und so geschah es. Zwei Matrosen lösten sich, griffen den jammernden Ian, welcher die Hände vor die Augen geschlagen hatte, an den Armen und führten ihn weg zum Schiffsarzt. Ich erschrak ein wenig, als ich merkte, dass ich keinerlei Mitleid für ihn hegte. Dann wandte ich mich wieder Wilkinson zu und mein Blick wurde finster. Ich war wütend. Wütend über mich, da ich mich nicht hatte richtig wehren können, wütend über die Mannschaft, da sie mir grundlos so dermaßen in den Rücken fiel und vor allem wütend auf Ian, da er mir einfach so Probleme machte. Ich hatte nicht vor auch noch für seine Frechheit bestraft zu werden! Ehe Wilkinson noch etwas sagen konnte erhob ich mich und baute mich bewusst zu meiner vollen Größe auf.

„Sir!“, sagte ich dann mit bemüht fester Stimme. „Ich bitte um Erlaubnis sprechen zu dürfen!“

Kalt sah Wilkinson mir direkt in die Augen und ich erkannte, dass er mir eine Strafe erteilen wollte und dann gehen. Er hatte scheinbar weder wirklich Zeit, noch ernsthaft Lust sich mit den momentanen Problemen auseinander zu setzen. Als er antwortete klang es fast so, als würde er sich zwingen müssen, mir seine Aufmerksamkeit zu schenken.

„Er soll reden.“

„Danke, Käpt’n… Sir, es ist gelogen, was man über mich sagt, ich habe Ian in keinster Weise auch nur irgendetwas getan!“

„Er will behaupten…“, Wilkinson lässt seinen Blick kurz schweifen, die Hände ehrenvoll hinter dem Rücken, dann sieht er mich wieder an. „…dass gut dreißig Matrosen lügen?“

„Ja Sir, das will ich, tue ich sogar. Ich habe nichts Verbotenes getan! Ich schrubbte das Deck, wie mir befohlen und da kam er und stolperte über den Eimer!“

„Und hat er, Sullivan, den Eimer dort postiert?“

Wut stieg in mir hoch, unbändige Wut und ich ballte die Fäuste. „Ja, das habe ich, Sir.“

„Also hat er Schuld an der Tat.“

„Käpt’n, Sir, mit allem Respekt, ich hatte Schuld an einem Unfall, nicht an einer Tat! Ian muss nicht gesehen haben, wo lang er ging, Sir, daran lag es, ich hatte nichts damit zu tun und-…“

„Hatte er, Sullivan, nun etwas damit zu tun, dass der Eimer dort stand, oder nicht?“, unterbrach er mich gelangweilt. Die Meute hörte gespannt zu, es war mucksmäuschenstill. Von irgendwo hörte ich leise das Klacken des Holzbeines von Black, er näherte sich der Traube aus Matrosen, aber ansonsten nichts. Sogar der Wind schien zu lauschen.

Zähne knirschend und leicht zitternd starrte ich in seine eisblauen Augen. „Ja, Sir…“, zischte ich dann. „Ich habe damit zu tun, Sir, dass der Eimer dort stand… Aber-…“

„Und war es ein Versehen, dass der Eimer dort stand?“

Schweigen, dann: „Nein, Sir… Es war kein Versehen, Sir…“

„Somit ist die Sache für mich klar. Mich interessiert nicht seine Meinung, denn es steht dreißig zu eins, und da muss er mir Recht geben, dass seine, Sullivans, Rechnung nicht auf geht. Meinem Wissen nach ist er ein gebildeter Mann und beherrscht Mathematik. Und nun soll er fort fahren mit der Arbeit, nach dem Mittag vierzig Hiebe mit der Katze.“

Nicht nur ich zuckte zusammen, auch die Traube um uns war ein wenig erschrocken über ein so hartes Urteil und jedem blieb die Sprache weg. Es dauerte einige Sekunden bis ich mich fasste. Er wollte schon gehen, als ich zu stottern begann:

„Aber Sir, Käpt’n, wieso-…? Ich habe nichts Unrechtes getan, verdammt!“

Wilkinson verharrte mit dem Rücken zu mir und ich erschauderte leicht. Als er sich herum drehte sah ich eine Zornesfalte auf seiner Stirn.

„Er wagt es erneut zu widersprechen und sogar mir, dem Kapitän, in den Rücken zu fluchen?“, fragte er dann betont ruhig.

„Ja, Sir, denn es ist nicht rechtens!“, protestierte ich.

Die Menge ließ Black durch, welcher eilig den Hut zog, salutierte und unbeholfen neben mich stolperte. Er verneigte sich tief und demütig, während er Wilkinson gewohnt schmeichlerisch entgegen grinste. „Käpt’n, Sir…!“, als er sich aufrichtete und sah, dass ich noch immer vor ihm stand, die Fäuste ballte und hasserfüllte Blicke mit ihm tauschte, packte Black mich grob im Nacken und zwang mich, mich ebenfalls zu verbeugen. „Verzeiht dieser Landratte, Sir, er ist neu und unbeholfen und weiß Euch nicht zu würdigen!“, ich wollte gerade hoch, da fasste er mich fester. Er drückte mich so stark hinunter, dass ich fast in die Knie ging. „Entschuldige dich beim Käpt’n, Son!“, zischte er mir zu.

Stille trat ein und Black lachte verlegen, als nach etwa einer Minute noch immer keine Reaktion von mir kam. Er ließ mich los, hob – die Krücke unter seinen Arm geklemmt – den Hut an und kratzte sich den Hinterkopf. Verlegen sah er den Kapitän. „Käpt’n Wilkinson, tja, was soll ich sagen? Mir fehlen die Worte, er ist eben noch völlig grün hinter den Ohren, aye?“, ich richtete mich auf und senkte den Blick. Der Zorn in mir wuchs. Am liebsten wollte ich erst Wilkinson und dann Black an die Kehle springen, aber die zwei ignorierten mich vollkommen. Black fuhr leicht lachend vor: „Aber vierzig Hiebe, bei Neptun, ist es nicht ein wenig viel für einen so jungen Burschen, wie er es ist? Er hat nicht einmal das Schwimmen gelernt, Sir und Ihr wollt ihn bereits im Fluss ertränken! Mit allem Respekt, Käpt’n, er-…“

„Wenn ich mich recht entsinne hatte er, Black, die Verantwortung für den Jungen?“,

der Smutje zuckte unwillkürlich zusammen. Wieder lachte er leicht und hielt unbeholfen den Hut vor seine Brust, als stünde er auf einer Beerdigung.

„Nun, aye, schon, also, ich meine-…“

„Also hat er ebenfalls Schuld an seinem Vergehen.“, unterbrach Wilkinson ihn gewohnt kühl.

Black setzte sich den Hut auf, aber noch ehe er etwas entgegnen konnte, wandte Wilkinson sich ab und ging desinteressiert. „Nun fünfzig Hiebe mit der Katze, auf zwei Tage verteilt und Black werden die nächsten Rationen Rum gestrichen.“

„Nicht der schöne Rum…!“, jammerte er, aber es half nichts und als die Traube sich auflöste – es gab nichts spannendes mehr zu sehen – gab er mir seinen gewohnten Schlag auf den Hinterkopf, nur diesmal fester und schmerzvoll. „Aye, wunderbar, Junge, ganz toll hat er das hinbekommen! Die Gig verkehrt herum ins Meer gefeuert und versenkt obendrein!“

Ich stolperte vor und fuhr herum. „Ich habe nichts getan!“, fauchte ich ihn an, doch ehe ich etwas sagen konnte, schlug er mir mit seiner Krücke auf den Kopf.

„Schoten dicht, Junge!“, befahl er rau, wie er es oft tat, wenn ich murrte oder jammerte. „Und er merke sich gut meine Worte: Der Kapitän ist Gott hier auf See! Er kann nicht tun und lassen, was ihm passt, Leute über Bord werfen wollen und dann auch noch meutern, dass der Mast krumm wird!“

„Aber ich habe doch gar nicht-…“, protestierte ich, doch eine weitere Kopfnuss brachte mich zum verstummen.

„Schoten dicht, Junge, oder ich trete ihn achtern, bis er’s sausen bekommt! Das weiß ich, aber das interessiert hier keinen ob er es war, oder nicht. Ian ist länger an Bord, er hat die Mannschaft auf seiner Seite.“

„Das ist ungerecht!“, ich stampfte auf und zeigte mit dem Finger zu Wilkinson. „Ein Idiot ist dieser Mann! Er weiß ganz genau, dass ich es nicht war und trotzdem lässt er mich auspeitschen?! Er-…“, doch weiter kam ich nicht.

Ich schrie auf, als Black mir mit voller Wucht sein Holzbein auf den bloßen Fuß gedonnert hatte und als ich herunter fuhr packte er meinen Nacken so fest, dass ich seine Nägel in meinem Fleisch spürte. Ehe ich mich versah landete ich mit dem Oberkörper über der Reling. Er schlug mich mit seiner Krücke so hart in den Rücken, dass mir die Luft weg blieb. „Schoten dicht, habe ich gesagt!“, donnerte seine Stimme über Deck. Black war wütend, mehr als das und ich überlegte, ob es an meinem Widersprechen lag, oder daran, dass ihm der Rum gestrichen worden war.

Ich fuhr abermals herum und hielt mich rücklings an der Reling fest, aber ich wagte nicht, ein weiteres Mal das Wort zu erheben. Finster und hasserfüllt starrte ich ihn an. Black beugte sich zu mir herunter, ganz nah heran, so wie es seine Art war, und zischte mir bedrohlich zu:

„Eines sollte ihm klar sein: Der Alte Black hilft gern, das hat er bereits am Anfang gesagt, aber er hilft nicht jedem und dass er gerade ihm, Sullivan O’Neil, hilft, liegt gewiss nicht an Langeweile und Haferschleim, oh nein! Der Alte Black war fest der Meinung, der Junge hat es verdient, aye und das glaubt er immer noch. Er hat Pfiff, meine Hand ins Feuer dafür und ab damit! Aber…“, seine Stimme wurde so rau und leise, dass ich das Gefühl hatte, sie dringe in meinem Kopf ein. „… wenn der alte Black nur Probleme bekommt wegen ihm, dann steht er bald alleine da und dann geht er unter, mein Wort darauf, mit Mann und Maus! Also tue er sich besser gut daran zu überlegen, ob er kuscht und macht, was verlangt, oder ob er den Meeresgrund küssen gehen will!“, einige Sekunden starrte er mir in die Augen. Sein Blick war so kalt und so finster, dass sich meine Nackenhaare aufstellten. Ich war wütend, mehr als das, aber diese Art von ihm kannte ich nicht und es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Dann richtete er sich auf, schob seinen Hut zurecht und grinste, als sei nichts gewesen. „Aye, und jetzt geht er in die Kombüse und hilft dem alten Black beim Kartoffeln schälen. Bald ist Mittagszeit und er sollte einigermaßen ausgeruht sein, wenn die Katze ihn nach dem Essen besucht.“

Als Black mir anschließend freundschaftlich den Arm um die Schulter legte und mich unter Deck führte, war ich unsicher und mir war mulmig zumute. Wie angekündigt begaben wir uns in die Schiffsküche. Ich widmete mich schweigend dem Gemüse, wie verlangt verlor ich kein Wort mehr darüber, aber immer wieder warf ich ihm heimliche Blicke zu. Black war vertieft im Kochen und Würzen, summte ein Lied, oder pfiff eine Melodie. Wie gewohnt war er fröhlich, aber meine Sicht hatte sich ihm gegenüber – und auch gegenüber dem Kapitän – verändert. Aus irgendeinem Grund vertraute ich ihm nicht mehr zu hundert Prozent. Und dies war erst der Startschuss für eine Reihe von Veränderungen, welchen ich hätte als Warnsignal nehmen sollen.

Als das Essen fertig war, teilten wir es aus und wir sammelten die Schüsseln wieder ein, als die Matrosen gegessen hatten. Black jammerte, da er keinen Rum bekam und nachdem ich das Nötigste an Arbeit verrichtet hatte, rief der erste Maat alle zusammen und man stieß mich unsanft nach vorn zu ihm. Zwei Matrosen waren sofort zur Stelle, packten mich und zerrten mich grob zu ihm aufs Oberdeck, so dass mich alle sehen konnten. Ich wehrte mich nicht, dennoch machten sie eine große Show daraus, mit Stößen und Gezerre. Als ich oben stand sah ich finster in die grinsenden Gesichter der Mannschaft. Während der Arbeit war ich völlig ruhig gewesen. Ich hatte kaum einen Gedanken an meine Bestrafung verschwendet, da ich es kannte, ausgepeitscht zu werden, aber in diesem Fall war es anders. Von einer Sekunde auf die nächste Wurde mir bewusst, dass mich jeder dabei sah. Dass jeder meine Schreie hörte und jeder meine Schwäche mitbekam. Es war keine Züchtigung im eigentlichen Sinne, es war eine öffentliche Demütigung und als ebensolche empfand ich es, noch ehe der Maat überhaupt mit meiner Strafe begonnen hatte. Er fesselte meine Hände vor meinem Bauch zusammen, dann warf er das Seil gekonnt über den Mast und band es fest. Mit den Armen nach oben blieb ich direkt vor allen stehen und senkte den Blick. Dennoch erkannte ich Ian, welcher mit einem Tuch um die Augen grinsend auf einem Fass saß, bereit zuzuhören, um mich innerlich auszulachen. Und ich erkannte auch Black, welcher die Zeit dafür nutzte unbemerkt durch die abgelenkten Matrosen ein wenig Rum in mehrere, kleine Flaschen zu füllen. Unmittelbar neben mir, nur zwei, drei Meter entfernt, stand Wilkinson und sah gleichgültig auf die Mannschaft herunter, bereit einzugreifen, sollte jemand durch den Alkohol Radau machen.

„Bitte macht schnell…“, zischte ich dem Maat zu. Dieser hatte die neunschwänzige Katze gezogen, eine Peitsche mit neun, geflochtenen Riemen daran und schwank sie demonstrierend, wie, um sich aufzuwärmen. Er klopfte mir aufmunternd auf das Schulternblatt.

„Aye, jedem sein Päckchen, ohne Wenn und Aber, Son.“

Dann kam bereits der erste Schlag. Noch nie hat mich ein Hieb so dermaßen geschmerzt. Ich schrie auf, der Schmerz war ungeheuerlich und mit einem Mal schossen mir Tränen in die Augen. Ich hätte niemals gedacht, dass man mit einer Katze so viel Schaden anrichten könnte, aber die Enden waren fest und hart und es knallte so laut, dass das Echo über die See flog. Ein Matrose zählte laut mit, aber mir schien es, als würde es Jahre dauern, ehe wir die fünfundzwanzig endlich erreichten. Zu meiner Erleichterung schlug er schnell hintereinander auf meinen Rücken ein. Mit jedem Hieb riss es meinen Oberkörper in die Höhe und meinen Kopf in den Nacken. Sobald ich wieder gebeugt und mit gesenktem Haupt dastand, folgte der Nächste. Als ich es mitbekam, bemühte ich mich, mich nicht zu rühren und verneigt zu stehen, aber es half nichts. Jeder Schlag raffte mich erneut hinauf. Er wollte gerade aufhören, da flehte ich wimmernd, die Strafe nicht auf zwei Tage zu teilen, denn die Angst vor der nächsten würde mich mit Sicherheit in den Wahnsinn treiben. Robert sah zum Käpt’n, dieser nickte nur und so fuhr er fort – keiner widersprach.

Als die Strafe beendet war und er das Seil los schnitt krachte ich zu Boden und schwankte. Durch das Auf und Ab war mein Kreislauf durcheinander, ich sah Flimmern und mein Rücken war so heiß, als würde er brennen. Jemand, ich weiß nicht wer, legte mir ein nasses, kaltes Tuch auf die Wunden. Dann hievten zwei Matrosen mich nach oben und unter Deck, wo sie mich mit dem Gesicht nach unten auf ein Lager legten.

Ich wimmerte und in meinem Kopf drehte sich alles. Ich war fest der Meinung ich sterbe und aus irgendeinem Grund meinte ich zu wissen, dass ich mich wieder im Bußzimmer befand. Ich murmelte Gebete jeder Art und hörte im Hinterkopf die Gesänge und Worte der Mönche, um meine Seele zu reinigen. Noch ehe der Arzt mich versorgt hatte schlief ich ein und glitt in den wahrscheinlich fürchterlichsten Albtraum meines Lebens…

Das Angebot

Es dauerte Tage, bis ich wieder auf den Beinen war. Am liebsten hätte ich mich beim Feldscher verkrochen, aber Wilkinson jagte mich mit seiner donnernden Stimme im hohen Bogen hinaus, denn er wünschte keine Faulpelze an Bord. Ich empfand tiefste Abscheu für ihn und mehr als nur Zorn. Ich schenkte ihm den nötigen Respekt, aber auch nicht mehr. Wenn er mich passierte, salutierte ich, aber ansehen tat ich ihn nicht. Dies war meine Art, meiner Wut über meine ungerechte Behandlung Luft zu machen. Jedoch war ich nicht der einzige, der gewisse Abneigungen gegen andere an Bord hegte.

Ich musste feststellen, dass der Umgang mit mir sich um einiges verschlimmert hatte. Ich hatte an Fieber gelitten, nur knapp entkam ich mit dem Leben und anscheinend hatte ich das eine, oder andere gesprochen in meinen Träumen – laut. Als ich das erste Mal den Fuß wieder über Deck setzte erntete ich missbilligende Blicke der Extraklasse, einige spuckten aus und ein anderer rempelte mich an, als er vorüber ging. Oder aber sie schimpften mich einen Pfaffen. Nach den lauten Beleidigungen herrschte Totenstille, als würde jeder darauf warten, dass ich anfing zu schreien und zu wüten, wie ich es vor meiner Strafe getan hatte. Stattdessen ging ich schweigend unter Deck, um mein Hemd zu holen und mit Ekel sah ich, dass meine Hängematte zusammen geknüllt in der hintersten Ecke des Raumes lag, nach Urin stinkend und triefend nass – mein Hemd ebenso. Einige Männer standen abseits an die Wand gelehnt und grinsten mich triumphierend an. Aber meine Wut sollte sich noch mehr steigern, bis hin zur Hilflosigkeit.

Nachdem ich mein Hab und Gut gereinigt hatte und mich abends zum Schlafen legte wurde ich ununterbrochen angestoßen, so dass ich fast hinaus fiel, rein zu fällig natürlich. Als ich in den Abortbereich ging, um mich zu erleichtern, klemmte die Tür und ich kam stundenlang nicht mehr hinaus und schon fast täglich musste ich meine Segeltuch-Hängematte zum Waschen hinaus tragen, ehe ich mich hinein legen konnte. Am liebsten wollte ich sie nie mehr aus den Augen lassen, aber ich konnte schlecht mein Bett mit mir herum tragen.

Ich schluckte all die Schikanen und Demütigungen runter, in der Hoffnung, sie würden den Spaß verlieren und aufhören, aber das geschah nicht.

Black hatte Recht gehabt, die Mannschaft stand auf Ians Seite und nun war ich ihre Zielscheibe geworden. So lange Ian lebte und mich hasste, für das, was ich ihm angetan hatte, würde dieses Treiben sich fortsetzen. Ich wusste weder ein nach aus und es gab Abende an denen ich mich im Lagerraum verkroch und es hätte nicht mehr viel gefehlt, ich hätte meine Tränen in einem der Mehlsäcke ersticken müssen.

Auch Black hatte seine Art verändert mit mir umzugehen. Er war schroff geworden, kurz angebunden und zurückhaltender. Ich verstand sein Handeln, aber gutheißen tat ich es nicht. Natürlich konnte er sich unmöglich die Beziehungen mit der Mannschaft verderben wegen jemandem wie mir. Es reichte mir aus, dass er mich regelmäßig in die Kombüse rief zum spülen, kochen, oder schälen und mich dort allein ließ, damit ich Atem holen konnte. Wenn wir allein waren, legte er mir die Hand auf die Schulter, klopfte mir auf den Rücken oder lächelte mir aufmunternd entgegen. Dennoch war es kaum Trost und meine Melancholie setzte sich fester als ohnehin schon. Unendlich müde fühlte ich mich, meine Reaktionen wurden langsamer und vieles musste man mir mehrmals erklären, ehe ich es begriff. Ich fürchtete schon, ich hätte mich noch immer nicht vom Fieber erholt, denn trotz Hitze war mir ununterbrochen kalt, es fröstelte mich und kalter Schweiß rann mir von der Stirn. Mein Appetit ließ nach. Black begann zu witzeln, dass ich blass sei und ein Geist wäre, den verschollene Seeleute uns als Fluch gesandt haben, aber lustig fand ich es nicht, im Gegenteil. Ich begann das Schiff zu hassen und das Meer zu verfluchen. Nichts wünschte ich mir sehnlicher als eine Heimkehr ins Kloster, oder wenigstens an Land.

Nach zwei Wochen auf See war ich nicht einmal mehr sicher, ob wir überhaupt vorwärts kamen, denn nie sah ich eine Küste und mein Zorn auf meine eigene Dummheit wuchs. Nur die Wolken veränderten sich, die Sonnenuntergänge und die Winde. Als mich dann noch Übelkeit überfiel, als die See etwas rauer wurde und diese auch noch anhielt, Tage danach, versank ich in meinem Elend und wurde völlig unbrauchbar.

„Aye, ohne Frage, da bist du die Geißel der See geworden, Son.“, hatte der Feldscher gesagt, als er mich auf Anweisung des Maats untersuchte. „Seekrank bist du, kein Zweifel.“ Aber Rücksicht nehmen darauf tat man nicht. Ich hatte mir scheinbar zu viel geleistet, jedenfalls hatte Wilkinson kein Erbarmen und prügelte mich eines Tages sogar höchstpersönlich an Deck. Mir war schwindelig, ich konnte kaum laufen und sie hatten wenigstens so viel Mitleid mit mir, dass ich die meiste Zeit in der Kombüse arbeiten durfte. Aber es half alles nichts. Mein Kopf dröhnte unwahrscheinlich und sobald Black auch nur ansatzweise zu kochen begann brach ich so lange in einen der Eimer, bis es nichts mehr zu brechen gab, und selbst noch minutenlang danach die Galle. Nur mit Ingwerwurzeln gelang es mir,dem allem ein Ende zu setzen, jedoch machte mich der Geschmack fast noch kranker, als das Erbrechen selbst. Die Müdigkeit nahm kein Ende und der Schlafmangel machte mich fast schon unberechenbar. Selbst als Wilkinson mir erlaubte einen ganzen Tag in meiner Hängematte zu verbringen, brachte mir das keine Erleichterung und mein Zorn und meine Aggressionen übernahmen bald die Überhand. Nach einer weiteren Woche erkannte ich mich nicht mehr wieder.

Ich begann mich gegen die Pöbeleien zu wehren. Rempelte mich jemand an, stieß ich ihn von mir und spuckte mir jemand vor die Füße, begann ich ihn zu beschimpfen und rang die Hände dabei, dass mein Gesicht puterrot wurde. Black versuchte mich zu beruhigen und sprach fast jeden Abend mit mir, aber nichts davon erreichte mich und dann wurde es so schlimm, dass ich nicht mehr konnte. Ich war gefangen in einem Strudel, welcher nicht mehr aufhören wollte. Mal war ich wütend, dann tieftraurig, dann wieder wütend und so weiter… Ich war wie im Wahn und es wurde von Tag zu Tag schlimmer.

Endlich begriffen auch die Matrosen was mit mir los war und einige, wenige, nahmen Rücksicht und wichen mir aus. Aber jene, welche noch immer Hass gegen mich hegten trieben mich in den Wahnsinn, denn sie wussten genau, was die Folgen von Seekrankheit sind - Man bricht zusammen vor Verzweiflung.

Und so geschah es, dass ich in einer Nacht in Streit mit einem von ihnen geriet. Wir standen an Deck, ich hatte Wache und er rempelte mich mit voller Absicht beim Vorbeigehen an, so stark, dass ich fast fiel. Ich folgte ihm und mit einem Tritt ins Hinterteil lag er blank.

Wütend fuhr der Matrose herum. Tom hieß er, eigentlich Thedore O’Mathew. Aber da wir bereits einen Mathew hatten und Theodore zu vornehm klang, nannte man ihn, wie mich, bei den Initialen: TOM.

Tom und ich waren bereits öfters aneinander geraten. Er war einer der besten Freunde von Ian und seit unserem Zusammenstoß ließ er regelmäßig seine Launen an mir aus. Das Anrempeln hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Den ganzen Tag schon war ich gepöbelt worden und nun auch noch nachts?

„Du wagst es, mich zu treten, Pfaffe?!“, schrie er mir entgegen und ehe wir uns versahen begannen wir eine Prügelei. Die meisten der Mannschaft sammelten sich auf Deck, feuerten an, oder jubelten. Dann erschien der Maat und sofort packte man uns, um uns auseinander zu reißen. Ich wehrte mich nach Leibeskräften, um zu ihm zu kommen, aber selbstverständlich war ich weitaus schwächer und als sich die Lage endlich beruhigt hatte übermannte mich der Zorn. Ich begann zu schreien und zu fluchen, beschimpfte ihn, Ian und seine Leute und spuckte vor ihnen aus. Jeden einzelnen der Mannschaft schrie ich an und mit jedem grinsenden Blick sah ich mehr Rot, bis ich fast zusammen brach vor unbändiger Verzweiflung. Ich bekam kaum mit, was ich tat, so außer mir war ich. Als der Maat mich beruhigen wollte wehrte ich sogar ihn ab und wollte springen. „Lieber ertrinke ich!“, schrie ich und kletterte unbeholfen in die Wanden. „Als dass ich länger auf diesem verfluchten Schiff bleibe!“

„Die Seekrankheit hat ihn nun ganz und gar!“, jammerte der Feldscher und auch ihn begann ich zu verfluchen. Dass er keine Ahnung hätte, was mich besaß und dass er zum Teufel gehen solle, mit seinen vermaledeiten Diagnosen.

„So haltet ihn doch!“, brüllte der Maat wie von Sinnen und verteilte Tritte und Schläge an die Matrosen, welche mich wie gebannt anstarrten. Es hatte nicht wenig gefehlt, dann wäre ich ins Meer gesprungen. Zwei Männer packten mich und rissen mich unsanft zurück auf Deck, wo ich laut krachend zu Boden gedrückt wurde. „Los lassen, Ihr gottverfluchten Bastarde, los lassen sage ich! Der Teufel soll euch holen, euch alle!“

Dem heiligen Vater mussten die Ohren abgefallen sein, als er mich hörte. Ich zappelte wie ein Fisch im Netz, schrie, spie Flüche der schlimmsten Art und biss einem von ihnen sogar in den Arm. Nach wenigen Minuten war die Lage wieder unter Kontrolle. Sie hatten mich gefesselt und an den Großmast in der Mitte des Schiffes gebunden, aber selbst dort wehrte ich mich noch, zappelte und schrie. „Macht mich los!“, forderte ich. „Sofort, ich will von Bord! Los machen, ihr Schweinehunde! Elende! Verdammte Mistkerle!“

„Beruhige dich, Son!“, forderte der Maat, Robert, streng, aber es half alles nichts und so befahl er zwei Männern mich zu bewachen und dem Rest unter Deck zu gehen. Keiner sollte mich ansprechen und keiner mich ansehen, bis er es erlaubte.

Es dauerte gut eine Stunde, bis ich mich einigermaßen fing und den Kopf hinunter hängen ließ. Hilflos wie ich war begann ich zu schluchzen und zu jammern, doch keiner beachtete es. Die zwei Männer taten ihre Pflicht, setzten sich auf zwei Fässer und glotzten mich teilnahmslos an.

Am nächsten Tag ging es mir immer noch nicht besser. Ich erbrach mich im Stehen, ein Mann musste den Eimer halten und mein Gesicht nahm eine weißgrünliche Färbung an. Die Ingwerwurzeln verweigerte ich, bis man sie mir hinein zwang und ich sprach selbst mit dem Kapitän kein Wort. Noch nie war es mir so schlecht ergangen. Ich wollte sterben, oder wenigstens an Land kommen, irgendwie, egal wie. Aber natürlich ging das nicht. Jeden Tag kam der Feldscher zu mir und musterte mich von oben bis unten, ohne mich los zu machen und ich brachte ihm meine Verachtung entgegen. Ich stellte sie öffentlich zur Schau. Jeden, der vorüberging und sein Sprüchlein bei mir ließ, verfluchte ich bis zur ohnmächtigen Wut. Und dann zerrte und schrie ich erneut, gefolgt von Weinkrämpfen bis spät ich die Nacht. Es dauerte etliche Tage, bis sie mich los machten und ich durfte nicht meiner Arbeit nachgehen, sondern wurde unter Arrest gestellt. Ich kam in einen kleinen Raum neben dem Ankerspill und dort saß ich dann gefesselt und trübsinnig. Allmählich kehrte Ruhe in meinen Geist ein. Die Übelkeit schwand, aber die Schwerfälligkeit und Melancholie hielt stand. Ich sinnierte über Gott und Teufel, über Bibel und Kirche, ja sogar über den Sinn des Lebens. Dass ich nun an Festgesetzter Melancholie, oder auch „Schwarzer Galle“ erkrankt war erkannte ein Blinder. Ich zwang mich, normal zu wirken, wenn ein Matrose mir Essen brachte, oder mich zum Abort. Es grauste mir davor, dass der Feldscher vielleicht auf die Idee kommen könnte, er müsste mich mit Drogen, oder meine Depression mit Hilfe von Lobotomie zu behandeln. Es grauste mir beim Gedanken daran, dass er mich betäubte und dann mit einem scharfen Skalpell meinen Schädel aufschnitt, um Teile meines Gehirns zu entfernen.

Wie erleichtert war ich, als mir klar wurde, dass ich an Bord war und nicht im Kloster. Denn Melancholie und Lebensunlust galten als Todsünde und den Verlust des christlichen Glaubens konnte man nur mit dem Scheiterhaufen bereinigen. Dennoch, dass der Feldscher in meinem Hirn herum dokterte erschien mir fast noch schlimmer!

Als ich den Arrestraum wieder verlassen durfte herrschte betretendes Schweigen an Bord. Keiner sprach mich an, pöbelte mich, oder sah mir nur ansatzweise entgegen. Man behandelte mich wie einen schwer Erkrankten und wich zurück, wenn ich vorbei ging. Ich weiß noch, wie ich dachte: So muss sich ein Schwachsinniger fühlen, der an der Wutkrankheit leidet.

Ich bekam einfache Arbeiten in der Kombüse wie Spülen, oder Kochen. Messer und andere scharfe Dinge hielt man von mir fern. Ob es zur Sicherheit war, oder um mir den letzten Stolz zu nehmen, wusste ich nicht. Aber ich verstand es als Demütigung nur die geringsten Arbeiten wie Putzen und Waschen erledigen zu dürfen und empfand die Ignoranz der Matrosen als Verletzung und Missgunst ihrerseits. Scheinbar hatte ich den niedrigsten Rang an Bord bekommen und dementsprechend wurde ich auch behandelt: Wie Luft.

Nur Black sprach ab und an mit mir, heimlich, in der Kombüse. Auch an diesem Abend, welchen ich wie folgt beschreiben möchte:

Ich saß am Tisch in der Schiffsküche und schrubbte einen Topf, welcher aufs übelste beschmutzt war, da kam Black herein und sah sich um. Er ließ den Blick schweifen und hinkte um den Ofen herum.

„Sehr gut, Son, ganze Arbeit, bei meinem Holzbein, so sauber war die Kombüse noch nie!“, grinste er dann und lehnte sich an eine Ablage. Ich reagierte nicht, sondern blieb auf meinem Schemel und kratzte weiter am Grund des Silberbehälters herum. Ich war schweigsamer geworden, als ohnehin schon und sprach eher selten ein Wort. Da bemerkte ich eine angespannte Stille. Black starrte mich an, das spürte ich und als ich aufsah, wurde mein Verdacht bestätigt.

„Was ist?“

„Aye…“, er brummte und fuhr sich bescheiden über den Nacken. Dann brummte er erneut. „Aye, der Käpt’n ist zufrieden mit ihm, ab morgen darf er wieder an Deck arbeiten.“

Verwirrt tat ich weiter meine Arbeit.

„Ihr jedoch scheint nicht zufrieden damit, Black.“, stellte ich leicht desinteressiert fest.

„Doch, doch…“, erneut fuhr er sich durch den Nacken, dann lehnte er die Krücke in ihre Ecke, zog einen Schemel und ließ sich schwerfällig neben mich sinken. Er stöhnte und streckte sein Holzbein aus. Mir wurde ein wenig Unwohl bei dem Anblick und ich starrte konzentriert in den Topf. „Nun, die Sache ist die, Son, mein Junge… Nicht mehr lange, zwei, drei Wochen, weiß der Teufel wie lange genau, dann erreichen wir Land.“

Ich sah auf. „Land? Ich kann das Schiff endlich verlassen?“

„Aye, Land. Nun, Wilkinson ist nicht begeistert von ihm, dass kann er mir glauben und der alte Black ist in Zweifel, ob der Sir ihn von Bord gehen lassen wird.“

„Ich…verstehe nicht.“, als ich den Topf sinken ließ und ihn anstarrte schnalzte er mit der Zunge und seufzte.

„Nun, der Ankerplatz ist kein Hafen und gewiss bekommen einige Freigang und ohne Frage werde ich, der Alte Mathew Hullingtan Black, unter ihnen sein. Aber ob der Sir auch ihn…? Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Er hat sich viel zuschulden kommen lassen die letzte Zeit, die Arbeit nur mit Murren getan und gewiss hat der Sir kein Interesse daran, dies zu entlohnen.“

„Aber ich sollte doch von Bord!“, protestierte ich, wenn auch ruhig und sah Black weiterhin völlig verwirrt an. „Wilkinson meinte doch zu Beginn, ich sei ohnehin nicht zu gebrauchen, liege ich falsch? Wieso mich nicht absetzen und ohne mich weiter fahren?“

„Aye…“, sein Brummen machte mich wütend. Black wich mir aus und seine herzliche Art verwirrte mich. Es war mir lieber, er gab mir Befehle und Schläge auf den Hinterkopf, als herum zu drucksen wie ein alter Mann.

„Erklärt es mir.“, forderte ich kühl. „Ihr wisst, ich bin kein Matrose, ganz und gar nicht. Ich kann spülen und schrubben, mehr nicht! Wieso nicht mich absetzen?“

„Aussetzen.“, korrigierte er mich.

„Ich verstehe nicht.“, sagte ich abermals. Der alte Seebär wiegte den Kopf, als wäre er einer seiner Pfannen, welche mit der Krängung des Schiffes schwankten.

„Die Insel ist leer, Son und wir würden ihn nicht nur absetzen, sondern aussetzen.“

Nun war ich verblüfft. „Eine unbewohnte Insel?“

„Aye und er würde gewiss dort verhungern oder verdursten.“

„Aber wieso legen wir dort an?“, fragte ich verwirrt. Black zog seinen Hut und warf ihn achtlos auf den Tisch. Ich sah, dass seine zwei Kopftücher schweißgetränkt waren von der Hitze über Deck und fragte mich, wieso er seinen Mantel nicht auszog, wenn ihm so warm war.

„Nun, das hat ihn, Son, vorerst nicht zu interessieren. Worum es hier geht, ist: Er wird wohl nicht mit an Land können. Und der alte Black redet nicht aus Langeweile mit ihm, das kann er mir glauben. Guter Wille ist es, der mich zu ihm führt, denn ich kann es schon vor mir sehen!“, Black hob die Hand, als würde er das Gemeinte wahrhaftig vor sich in der Luft erkennen. „Wir, die arme Mannschaft, kaputt und erschöpft von langer Fahrt, endlich an Land und er…“, und dabei deutete er auf mich. „…allein an Deck, schimpfend, protestierend und ehe er sich versieht wieder unter Arrest.“, ernst drehte Black sich zu mir und beugte sich ein Stück vor. Ich roch, dass er bereits seine erste Ration Rum verbraucht hatte, als er weiter sprach: „Und das wollen wir nicht, aye? Er und ich?“

„Nein…“, antwortete ich, unsicher, worauf er hinaus wollte und zufrieden fuhr er fort.

„Aye, das dachte sich der alte Black. Und bei meinem Holzbein, auf eines kann er sich verlassen: Er will ihm nichts Böses! Bei Gott, wenn es ihn denn gibt, im Gegenteil: Tag und Nacht zu ihm gehalten hat der alte Black. Sogar, als es ganz arg um ihn stand und er unter ging wie eine Kanonenkugel! Selbst da habe ich zu ihm gehalten und seine Flagge niemals eingeholt, oder nicht? War es nicht so? Son?“

Ich zögerte ein wenig. „Doch… Ich denke schon…“

„Aber mit Sicherheit!“, entgegnete er eifrig nickend und legte mir väterlich die Hand auf die Schulter. „Und deswegen wird der alte Black ihm helfen an Land zu kommen!“

Nun war ich verwirrt. „Aber Black, ich verstehe nichts von dem, was Ihr redet…“

„Schoten dicht und Ohren auf, Junge. Zuhören soll er, dann erst reden!“, aber seine Strenge wich sofort wieder Offenherzigkeit und erneut legte er seine Hand auf meine Schulter und grinste mir freundschaftlich entgegen. „Wilkinson wird ihn nicht an Land gehen lassen, oh nein. Er war die letzten Wochen alles andere als eine Bereicherung an Bord und der Sir ist ein zu harter Käpt’n, als dass er ihn zur Belohnung einen Abend Freigang gäbe. Und wir alle werden an Land gehen und dort feiern und trinken. Uns in den Sand werfen, wie es eben unsere Art ist, oh ja. Aber er, Son, wird hier bleiben, allein an Bord und Wache haben. Das versichere ich ihm, so wahr ich hier sitze und dem ist ja wohl so, oder nicht? Oder nicht?“

Ich nickte unsicher. „Doch, sicher, Ihr sitzt hier, aber-…“

Black nickte ebenfalls. „Aye, das will ich ja wohl meinen und da kommen wir auch schon zum Punkt, er und ich:

Sitzen. Während wir alle an Land sind, sitzt er hier fest, beim Klabautermann, wie ein Windjammer, der bei Ebbe in einer Gezeitenbucht ankern wollte! Keine Jolle, keine Gig in Reichweite und das Wasser so kalt, dass ihm die Ohren abfrieren, mein Wort darauf. Dabei wäre es doch sicherlich schön für ihn an Land zu gehen, oder nicht? Ein wenig umher laufen, ein Spaziergang im Mondschein, Musik und Tanz, Vögel, Pflanzen. All jener Plunder, welchen die Landratten so besingen. Und denke er nur wie erleichternd es wäre, endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Kein Geschaukel, kein Geknarre: Sand und Kies, mein Freund, so weit das Auge reicht! Frisches Obst und Ziegenfleisch – denn Ziegen gibt es dort genug zum schießen, mein Wort darauf – kein Gepökeltes mehr tagein, tagaus. Zart und kross und ordentlich gewürzt mit Rum und vielleicht sogar Käse dazu! Wäre das nichts für ihn?“

Tatsächlich lief mir leicht das Wasser im Mund zusammen, als er begann von frischem Essen zu sprechen und mein Magen zog sich ungewollt zusammen. Ich nickte. „Doch, natürlich, aber-..“

„Aye, das dachte sich der alte Black.“, unterbrach er mich abermals und packte mich am Hemdkragen. Er zog mich zu sich heran, ganz dicht, so dass ich durch den Mund atmen musste, um seiner Fahne zu entkommen. Geheimnistuerisch begann er zu zischen, nachdem er einen kurzen Blick zur Tür geworfen hatte: „Und nun das letzte, mein Freund, er soll gut zuhören:

Alles davon soll er bekommen, Hand ins Feuer, wenn er so will, alles davon. Wenn er dem alten Black hilft, dann will der alte Black ihm helfen.“, In meinem Kopf schlug es Alarm und ich wollte mich lösen, aber er ließ mich nicht und ein harter Ruck brachte mich zum erstarren. Er fuhr bedrohlich fort: „Zuhören, Son, gut zuhören:

Der alte Black ist kein Meuterer, beim Allmächtigen – wenn es ihn denn gibt -, das weiß er so gut wie ich, oder nicht? Oder, Son? Bin ich ein Meuterer?“

„N-Nein, Black, Sir…“, stotterte ich und starrte in seine zwei verschiedenen Augen.

Er nickte.

„Aye, das dachte ich mir, dass wir da gleicher Meinung sind. Der Black hat nichts Großes vor, Son, kein Verbrechen, da sei er sich gewiss. War der alte Black nicht immer gut zu ihm? Hat ihn aufgeheitert und mit ihm gesprochen, wo alle anderen sich abwandten? Nun, Son, es ist an der Zeit zurückzuzahlen und dies ist kein Böses Wort von mir, darauf verlasse er sich.“, er ließ mich los und unsicher starrte ich ihn an. Blacks Blick war unheimlich ernst und ich erinnerte mich an jenen Tag, als er mich gegen die Reling gestoßen und mir in den Rücken geschlagen hatte. Mir schien es, als säße vor mir ein anderer, zweiter Mathew Hullingtan. Ein ernster, finsterer. Gefährlicher… „Black und ein paar andere, Namen sind einerlei mein Freund, wir haben große Pläne. Nichts Boshaftes, darauf sei Verlass, aber es wäre gelogen zu behaupten, der Käpt’n hieße es gut.“

„Meute-…?!“

„Nein, warte, er soll mich nicht unterbrechen. Erst einmal will ich fort fahren:

Ich will ihm helfen, wenn er uns hilft, ohne Frage und gewiss würde sich sein Leben hier verändern, da sei er sich sicher. Wenn er uns beisteht bei unserem Vorhaben wird er beliebt werden wie jeder andere hier an Bord. Kein ignorieren mehr, Son, kein Pöbeln. Er wäre willkommen und Teil der Mannschaft und ist das nicht sein Wunsch?“

„Doch, aber-…“

„Er sollte zu Ende zuhören, also:

Der Alte Black und die anderen die brauchen einen Schlüssel. Einen Schlüssel aus der Kajüte des Käptn’s. Und ich weiß, er hat Pfiff und weiß, dies ist eine heikle Sache. Aber wenn alle an Land sind, bis auf er und einige anderen, dann ist es ein leichtes – auch Wilkinson wird ohne Frage von Bord gehen für einige Stunden. Und wenn er in dieser Zeit den Schlüssel aus seinem Schreibtisch-…“

„Genug jetzt!“, fuhr ich Black an und er schwieg. Ruhig und düster sah er mir in die Augen, während ich um Fassung rang. „Ihr redet ohne Sinn und Verstand und wollt mich verwirren, aber ich bin kein Idiot! Ich verstehe Eure Lockrufe und ich sehe, womit Ihr mich blenden wollt, aber ich verstehe sehr gut, was hier vor sich geht, Black! Ihr wollt mich zur Meuterei anstiften!“

Bei dem Wort Meuterei fuhr er zusammen, packte mich und laut krachend stürzten mein Schemel zur Seite. Er hatte mich gepackt und auf den Tisch geworfen, seine behandschuhte Hand auf meinem Mund und sah zur Tür. Aber keiner war zu sehen, also fuhr er mich zischend an:

„Hat er denn den Verstand verloren, so laut das Wort der Verdammten in den Mund zu nehmen?!“, er ließ mich nicht los und ich war erstaunt, wie viel Kraft der alte Mann hatte. Mit einem Ruck riss er mich hoch, nur um mich erneut auf den Tisch zu knallen und fast panisch starrte ich ihn an. „Nun höre er mir mal ganz genau zu, Son! Dies hier war eine angenehme Sache, für wahr, aber er musste widerspenstig sein und nun wird es unangenehmer, mein Freund! Der Alte Black hat ihm kein Angebot gemacht, wenn man so sagen will! Und sollte er es noch einmal wagen es als verruchte Tat zu umschreiben, dann fliegt er, so wahr ich hier stehe, im hohen Bogen über die Reling! Aye?!“, ich starrte ihn noch immer an, dann nickte ich und zögernd löste er seinen Griff.

Ich fuhr hoch und wich zurück bis zur Wand, wo ich mir keuchend über den Mund wischte.

„Das nehme ich Euch übel, Black…!“, zischte ich dabei hasserfüllt. Aber er blieb ruhig und stellte den Schemel hin.

„Er sollte mir erst einmal zuhören, ehe er brave und unschuldige Männer wie mich solcher Taten beschuldigt.“, Black deutete auf den Schemel, aber ich rührte mich nicht und so seufzte er, nahm seine Krücke und stand unter Anstrengungen auf. „Aye, nun gut… Es tut mir leid, Son, aber wenn er der Meinung ist, mich, den alten Hullingtan, so abzuweisen, wird er mit den Konsequenzen leben müssen…“, und er nahm seinen Hut und klopfte ihn ab vom Mehl. Dann drehte er sich zu mir herum und setzte ihn sich auf.

Niemals werde ich seinen eiskalten Blick vergessen, wie Black da stand, mit seiner Krücke, seinem Hut und so kühl, wie aus Eis. „Ich gebe ihm noch drei Tage zu entscheiden. Drei Tage, Son, so leid es mir tut, ich habe keine andere Wahl. Er merke sich gut: Drei Tage. Und bis dahin...Schweigen.“ Und mit diesen Worten hinkte er schwerfällig zur Treppe und dann diese hinauf.

Kurz war es leicht dämmrig in der Kombüse, durch seinen Schatten, welcher das Sonnenlicht behinderte. Aber dann wurde es wieder hell. Ich sah die Staubteilchen im Licht herum wirbeln und spürte, wie meine Knie weich wurden. Langsam beruhigte sich mein Herz wieder und unsicher sank ich auf den Schemel zurück. Als wäre nichts passiert und wie in Trance nahm ich den Topf und fuhr mit meiner Arbeit fort, aber nach ein paar Sekunden wurde mir bewusst, was geschehen war. Ich hielt inne und sah zur Tür, doch Black war nicht mehr da. Das Schiff knarrte, die Pfannen klimperten, wenn sie gegen die Wand fielen und eine Erbse rollte hin und her, bis sie zwischen zwei Dielen verschwand.

Was sollte ich tun?

Misstrauen

Ich ging in meine Hängematte, nachdem ich meine Arbeit beendet hatte, aber diese Nacht fand ich keinen Schlaf. Die schnarchenden Männer um mich herum, die rutschenden Kanonen ein Deck über mir, die Mäuse, welche überall herum huschten, die Wellen… Einfach alles hielt mich wach und erschien mir unheimlich nervenaufreibend. Ich dachte an Black, an seine Worte, an seine Art und an das, was mir bevorstand.

Ich sortierte alles in meinem Kopf, warf es hin und her und hatte dennoch einfach nicht das Gefühl, dass ich vorankäme. Allem Anschein nach hatte Black mehrere Freunde an Bord und mit großer Sicherheit hatten diese mich im Auge, also konnte ich unmöglich zum Kapitän gehen und ihm von der Drohung des Seebären erzählen. Selbst wenn er dagegen vorgehen würde, mit Sicherheit würde ich es früher oder später bereuen.

Davon abgesehen wollte ich Blacks Auftritt mir gegenüber nicht melden, auch wenn es ganz sicher meine Pflicht als treuer Matrose war. Es stimmte, was Black gesagt hatte. Er war für mich da gewesen, immer, die ganze Zeit. Sogar, als die gesamte Mannschaft mir den Rücken zukehrte und ich Ziel ihrer Angriffe wurde.

Als zweites hatte ich die Idee an Land zu gehen, heimlich, irgendwie, notfalls mit einem Fass als Boot. Aber mir kamen Blacks Worte ins Ohr, dass die Insel unbewohnt sei. Es musste einen Grund geben, dass dort niemand lebte. Vielleicht herrschte dort eine Krankheit, Ödland, oder es gab wilde Tiere? Vielleicht kannibalische Wilde? Ich hatte bereits viel über solch gottlose Völker gehört, die über treue Christen herfielen und sie fraßen, um ihre Kraft und Stärke zu bekommen. Ich musste schmunzeln: Weder war ich stark und kräftig, noch war ich ein voller und ganzer Christ. Eigentlich konnte mir also gar nichts passieren.

Dennoch verwarf ich die Idee.

Die letzte Lösung, die somit ausblieb war jene:

Ich tue, was Black verlangt. Hole ihm diesen seltsamen Schlüssel aus der Kajüte des Käpt’ns, darf dann mit an Land und wenn wir wieder ablegen, wird niemand mehr mich attackieren und ich kann in Frieden vor mich hin träumen.

Aber diese Tatsache, dass, wenn ich gehorche, mich die Matrosen in ihren Reihen aufnehmen würden, weckte noch mehr Misstrauen gegenüber dem Seebären. Wenn er dafür sorgen kann, dass sie mich in Ruhe lassen, wieso hat er es nicht schon viel früher getan?

Oder waren etwa alle an diesem Vorhaben beteiligt?

Was überhaupt für ein Schlüssel? Was hatte Black damit vor? Und wie wollte er mich an Land bekommen, wenn ich ihn hätte?

All diese Gedankengänge und Fragen hielten mich wach, bis ich kaum noch Kraft hatte und nur halb abdriftete. Als es dann Sonnenaufgang war und man mich grob weckte stand ich nur mürrisch auf und mit starken Kopfschmerzen. Die Sonne schmerzte mich in den Augen und die lauten Stimmen der etlichen Männer machten mich aggressiv. Ich wollte an Land, das wurde mir von Minute zu Minute klarer. Allem Anschein nach war ich für die Seefahrt nicht geschaffen. Es war einfach zu anstrengend und laut, zu eng, zu stickig und vor allem zu unbequem. Als ich die Kombüse betrat, um das Frühstück vorzubereiten, war Black wie immer schon da. Er hatte den Zwieback auf der Ablage verteilt, damit man es hinaus tragen konnte. Die Küche war blitzblank vom gestrigen Abend, dennoch erkannte man, dass er bei der Arbeit war. Überall lagen Messer, Löffel, im Topf kochte Wasser und der Ofen war angeheizt. An diesem Morgen trat ich nur zögernd ein, fast, als würde ich schleichen. Dennoch bemerkte er mich.

„Aye, Morgen, Son.“, brummte er mir entgegen. Ich nickte nur und trat näher.

„Black, ich muss mit Euch reden.“, er grinste und drehte sich herum. Für einen kurzen Augenblick war ich unsicher, ob ich unsere Unterhaltung vielleicht geträumt hatte. Er stand da, freundlich, wie eh und je. Die Liebe in Person, könnte man sagen.

„Was kann der alte Black für ihn tun, Junge?“

Ich suchte nach den richtigen Worten. Auf keinen Fall wollte ich ihn beleidigen, oder wütend machen. Vor allem wollte ich nicht so wirken, als hätte ich vor, ihn zu verraten. Einige Sekunden schwieg ich, dann wiegte ich den Kopf und murmelte leise: „Nun, es geht um gestern Abend…“

„Aye…“, er brummte und fuhr mit seiner Arbeit fort. Von hinten sah Black gewaltig aus, stellte ich fest, aber vielleicht wirke es nur so durch die besonderen Umstände. Sein Rücken war breit, sein Hut gab ihm eine gewisse Größe und der Mantel tat den Rest dazu. Ich blieb bewusst auf der anderen Seite des Ofens stehen. Meine Gedanken kreisten darum, dass ein Küchenunfall nur normal wäre und gewiss würde keiner um mich trauern. Wenn er sich meiner entledigen wollte, wäre die Kombüse also der geeignete Platz dazu.

Auf keinen Fall wollte ich ihm zu nahe kommen. Als er ein wenig näher rückte, um an eines der Regale zu kommen rückte ich seitwärts etwas weg. Es erinnerte an ein schlechtes Fange-Spiel, wie ich es als Kind oft spielte. Aber selbst wenn Black mitbekam, was ich trieb, so ließ er sich nichts anmerken. Geduldig wartete er, dass ich mich ihm gegenüber öffnete, hantierte herum und klapperte mal hier und mal da.

„Nun…“, begann ich zögernd und spielte mit einem Zwiebackstück herum. „Es ist wegen diesem Schlüssel… Ich würde gerne wissen, was genau ich da tue.“, ich sah ihn zögernd an.

Der Smutje brummte abermals und begann einiges an Gemüse zu schneiden. Etwas, was ich an Black bewunderte. Denn bis heute habe ich niemanden gesehen, der so schnell und so gekonnt Gemüse schneiden konnte. Das Messer donnerte hintereinander weg auf das Brett, dass es wie ein Hammer wirkte.

„Er, Son, leiht sich einen Schlüssel, für eine Kiste, mehr nicht. Und ohne Frage, wir bringen ihn zurück.“, er grinste mich an. „Wir sind ja keine Verbrecher, aye?“, dann fuhr er fort.

Ich war nicht überzeugt.

„Aber, wenn wir ihn nur leihen, Black, Sir, wieso fragen wir den Käpt’n nicht einfach danach?“

Er schnitt weiter, dann schob er die etlichen Stücken in einen Topf, stellte ihn auf den Ofen und drehte sich zu mir. Black verschränkte die Arme und grinste mir entgegen. Seine Augen waren gerötet vom Rauch und sein Gesicht schweißgebadet durch die Hitze des Ofens.

„Hat er Angst?“, fragte er dann. Leicht spöttisch, wie ich fand.

Beleidigt entgegnete ich: „Nein, natürlich nicht! Ich würde nur gern wissen, was hier gespielt wird. Es ist nichts Böses, Black, aber ich bin sehr unbeliebt an Bord. Und gewiss würden mich gern so einige am Mast baumeln sehen, weiß der heilige Vater, wieso. Und wenn es auch nur ansatzweise etwas gibt, was man mir anhängen könnte, dann-…“

„Ich verstehe seine Bedenken.“, unterbrach er mich unheimlich freundschaftlich, wie sonst auch und nahm seinen Hut ab. Black wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Aber ihm wird nichts geschehen, mein Wort darauf. Weder durch den Käpt’n, noch durch die Mannschaft.“

„Also ist die ganze Mannschaft darin verwickelt?“

„Namen sind einerlei, mein Freund.“

„Also?“

„Also was, Son?“

„Was ist das für ein Schlüssel und wieso soll ausgerechnet ich ihn besorgen?“

„Son, würde der alte Black ihn jemals um etwas bitten, was ihm schaden könnte?“

„Sprecht, oder ich gehe und melde es dem Käpt’n!“, fuhr ich ihn wütend an.

„Junge, ruhig. Wer wird sich denn gleich so aufregen?“, er kam zu mir, aber ich wich zurück, bis wir die Plätze getauscht hatten. Dann blieb er stehen, mit dem Rücken zur Tür. „Solch Misstrauen?“, fragte er verwirrt. „Aber wieso? Niemals würde der alte Black ihm Salz ins Wasser tun, mein Wort darauf!“

Ich sah ihn ernst an und legte meine Hände auf den Rand des Ofens – weit genug entfernt von der Hitze. „Black, sprecht mit mir. Ich werde helfen, wo ich kann. Ich verdanke Euch viel, aber sprecht endlich!“

„Son, er brauch nicht misstrauisch sein. Niemals würde der alte Black ihm etwas tun!“, und erneut wollte er zu mir, hinkte und hüpfte mit Hilfe der Schlaufen, bis wir erneut getauscht hatten. Nun wurde er etwas hitziger. „Son, Junge, Misstrauen ist hier Fehl am Platz! Den alten Black hier herum hüpfen zu lassen, wo ich so ein armer Krüppel bin!“, und tatsächlich sah er plötzlich fürchterlich erschöpft und alt aus. Aber ich ließ mich nicht beirren. So sehr, wie er auch nur ein Bein hatte, so sehr war er auch ein guter Schauspieler.

„Ich fordere abermals, dass Ihr mit mir sprecht.“, sagte ich kühl, als hätte ich sein Gejammer nicht gehört.

Black klemmte sich die Krücke unter die Achsel und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. Dann schob er das Tuch wieder in seinen Mantel zurück und stöhnte gequält. „Nun genug mit dem Spiel hier, ich bin zu alt für solcherlei Getue! Son, mein Junge, lass uns zu dem Tisch gehen und beisammen sitzen, wie in alten Zeiten.“, aber ich ging nicht darauf ein und sah ihn nur finster an. Er wollte zur mir, ein drittes Mal drehten wir unsere Runde und abermals stand er mit dem Rücken zur Treppe hin. Mit jeder Sekunde die verstrich wurde ich nervöser und ich warf einen unsicheren Blick zur Tür. Zwischen mir und ihr standen nun er und der Ofen. „Son.“, fuhr er nach etwa zwei Minuten fort und nun war er gar nicht mehr so freundlich. Auf seiner Stirn war eine tiefe Falte und seine Augen funkelten bedrohlich. Wie, um zu zeigen, wie gefährlich Black ist, begann der Gemüsetopf vor uns zu kochen und zu zischen. „Der alte Black will mit ihm reden, in Ruhe, wie erwachsene Männer, aye? Setzen wir uns an den Tisch.“

„Nein.“, sagte ich kühl und sah ihm direkt in die Augen. Ich festigte meine Haltung etwas. „Ihr kommt mir nicht zu nahe, Black, ehe ich nicht bescheid weiß. Wieso setzen? Hier am Ofen ist es doch schön warm.“

„Er hat Pfiff, was hat der alte Black gesagt? Das hat der alte Black gesagt! Und mal wieder hatte er Recht.“, der Seemann hinkte ein wenig rückwärts und setzte sich stöhnend auf die Holztreppe. Nun war ich gefangen. Er hatte mich eingekesselt und ich war dumm darauf rein gefallen und hatte mich auch noch gerissen dabei gefühlt! „Aye, dann eben so…“, begann er dann und streckte sein Bein aus. Er lehnte seine Krücke gegen die Schulter und legte den Hut neben sich auf die Stufe. „Glaube mir Junge, ich drohe ihm nicht gern… Aber es ist besser für ihn, wenn er tut, was man will.“

„Was wer will?“, fragte ich schroff und sah düster auf ihn herunter, noch immer hinter dem Ofen. „Wenn Ihr sagt, Ihr wollt das nicht, dann seid gewiss nicht Ihr es, der diese Pläne schmiedet. Nicht wahr?“

„Er hat Pfiff.“, merkte er wieder einmal an und begann zu grinsen. Ich sah Blacks Goldzahn kurz aufblitzen. Doch so schnell, wie sein Grinsen erschienen war, so schnell wich dieses wieder seiner ernsten Miene. Es war ein Hin und Her, wie ein Theaterstück. Und ich wusste, dieses Stück würde er so lange aufführen, bis ich aufgab, oder durch drehte. „Er sollte seine Nase jedoch nicht in Dinge stecken, die ihn nichts angehen – vorerst. Wenn er uns den Schlüssel besorgt, wird er schon noch früh genug alles erfahren.“

Gereizt sah ich ihn an und seufzte. „Eine Art Mutprobe etwa?“

Er wiegte den Kopf. „Nein… So würde ich es nicht bezeichnen. Aber sicher ist es etwas Gutes, wenn die Männer sehen, wie mutig er ist, aye und mit Sicherheit bringt es ihm einigen Respekt.“

Am liebsten Hätte ich gefragt „Welche Männer?“, aber er würde ohnehin ausweichen. Stattdessen seufzte ich und bat ihn gezwungen höflich:

„Könnt Ihr mir wenigstens sagen, wie ich mit dem Schlüssel an Land kommen soll…?“

Black musste unwillkürlich grinsen, als er merkte, dass ich scheinbar tat, was er verlangte. Dennoch rührte ich mich nicht annähernd. Er lehnte sich etwas zurück, so dass er mit dem Rücken an der Treppe war und machte es sich gemütlicher.

„Aye… Ich erkläre es ihm.

Mannschaft und Käpt’n gehen an Land und er, Son, bleibt an Bord, Wache. Er geht in die Kajüte, besorgt den Schlüssel aus dem Schreibtisch, gibt uns ein Zeichen – wie, erkläre ich ihm später – und dann holt einer der Männer ihn ab mit der Jolle.“

„Und wenn er mich erwischt?“, fragte ich Black und sah ihn ernst an. „Wenn der Käpt’n das raus bekommt, bin ich tot, Black!“

„Er wird es nicht raus bekommen, dafür sorge ich, mein Wort darauf.“

Stille. Ich hatte aufgegeben. Ihn weiter zu befragen brachte nichts, das hatte ich eingesehen. Wir sahen uns an. Black wartend, freundlich, geduldig und ich ihn düster und mies gelaunt. Mir passte die Sache ganz und gar nicht. Vielleicht wollte man mich auch endlich loswerden?

Aber so schätzte ich Black nicht ein. Ich hoffte, dass ich wenigstens ihm vertrauen konnte. Mehr als mich darauf verlassen, dass er Recht hatte und mir nichts geschehen würde konnte ich nicht.

An sich war es zwar riskant und für mich ohne Sinn, aber er hatte Recht. Wenn ich mitspielen würde, würden die Matrosen mich mit Sicherheit respektieren. Wenn ich jedoch nicht mit machte... Vielleicht würden sie sogar versuchen, mich umzubringen.

Abgesehen davon erwachte tief in mir die Neugierde. Was war das für ein Schlüssel, wofür brauchten sie ihn? Nach einiger Zeit stand Black schwerfällig auf, nahm seinen Hut und wies mich an, auf das Gemüse aufzupassen. Wie sonst auch war er völlig normal und hinkte schwerfällig an Deck. Ich sah ihm zu. Erst verschwand sein Kopf, dann sein Holzbein.

Wieso hatte er eigentlich nur ein Bein?

Durch seinen Käpt’n, hatte er damals in der Kneipe vom Wirt namens Charly gesagt. Meinte er Wilkinson? Hatte er durch Kapitän Wilkinson sein Bein verloren?

Wenn ja, wie würde es mir ergehen, wenn er mich erwischte…?

Geflüster

Die nächsten Tage verliefen größtenteils ruhig.

Noch immer mieden mich die meisten Matrosen und Black tat, als hätte es diese seltsamen Gespräche über den Schlüssel des Käptn’s nie gegeben. Ich hingegen war unruhig. Ich schlief kaum und versuchte mir auszumalen, wie Blacks seltsamer Plan vonstatten gehen sollte, aber eine Idee hatte ich nicht einmal ansatzweise.

Eines Abends, an diesen Abend erinnere ich mich noch ganz genau, saß ich am Bug der Caroline. Gerade erst war die Sonne am Horizont verschwunden und der blutrote Himmel verwandelte sich allmählich in tiefes, gleichmäßiges Blau. Vereinzelte Sterne kündigten einen hellen, beschienenen Himmel an und der Mond glühte silbern, umgeben von einem dünnen, nebeligen Hof. Die See war ruhig. Ihre unendlichen Weiten erstreckten sich gleichmäßig und blau in alle Richtungen des Himmels, der allmählich die gleiche Farbe annahm, wie das Wasser, so dass alles nur umso gewaltiger wirkte. Das Schiff durchfuhr das Meer ruhig und gleichmäßig. Wie ein Messer durchtrennte es die See und nur vereinzelte, weiße Meeresschaumspitzen zeugten vom unruhigen Geschehen des Tages zuvor.

Den ganzen Tag über hatten die Segel gekillt, so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Die Caroline hatte hunderte Male stark gekrängt, dass die Kisten und Kanonen nur so rutschten und die Matrosen waren die erste Zeit nur damit beschäftigt gewesen, alles an Ladung sicherzustellen und die Taue zu laschen, damit nicht einer der Kolosse mit Karacho durch die Bordwand rammte. Etliche, schneeweiße Brecher hatten sich zu förmlichen Ungeheuern aufgebaut, sind zusammen gekracht und haben sich mit heftigem Sprühwind zerschlagen. Das Holz hatte geknarrt, Wasser war auf Deck geschwappt und feiner, salziger Sprühregen hatte sich überall verteilt. Er hinterließ eine Kruste aus Salz an Lippen und Haut und für kurze Augenblicke schien es, als würde die gewaltige See uns unter sich begraben wollen. Als würde sie nach uns greifen, den Bugspriet fassen und uns anschließend allesamt in die Tiefen des Ozeans reißen wollen. Der Bootsman, Scorfield, brüllte wie ein Besessener die Befehle des Käptn’s heraus. Ich erkannte seine Stimme sofort wieder. Er war auch derjenige gewesen, der bei meiner Auspeitschung gezählt hatte. Wieso er, der schließlich für Disziplinarstrafen verantwortlich war, nicht de Katze geschwungen hatte, war mir ein Rätsel. Und sogar Wilkinson persönlich hatte an Deck gestanden und gebrüllt, ebenso wie der erste Maat, Robert. Ein Zeichen dafür, dass die Lage mehr als nur ernst gewesen war, denn selten wandten die zwei sich direkt an die niedere Mannschaft. Aber selbst ihre gewaltigen Stimmen wurden von den Segeln und dem pfeifendem Sturm verschluckt. Die Matrosen waren umher gerannt, als stünde ihr Leben auf dem Spiel – Und so war es auch:

Überall an Deck zurrten sich Sicherungsleinen, hektisch wurden die Segel eingeholt und ich konnte mich unter Deck kaum auf den Beinen halten. Es krachte und donnerte, dann entstand ein Gewitter und jeder Blitz ließ uns zusammen zucken, dass man das Gefühl hatte, das Ende der Welt sei gekommen.

Aber nun war es vorbei und man hätte es wohl als böses Omen nehmen sollen. Stattdessen hatte die Mannschaft erschöpft ein Hoch auf den Kapitän ausgerufen und war frohen Muts, dieses Chaos überstanden zu haben, weiter gesegelt. Fast die ganze Nacht saß ich im Freien und starrte in die Ferne. Man ließ mich gewähren, wenngleich ich keine Deckwache hatte. Dass ich allein irgendwo herum saß war nichts Neues und großen Schaden richtete ich ebenso wenig an. Vielleicht hoffte man auf ein neues Unwetter und dass ich dabei über Bord ging? Ich wusste es nicht.

Mit der Dunkelheit kam auch die Kühle der Nacht und so hielt ich es schon bald nicht mehr aus. Ich besaß immer noch nur Hemd und Hose und das war zu kalt. Ich mied dennoch den Schlafraum. Ich wollte nachdenken, Ruhe finden und das ging unter Deck zwischen schnarchenden und sabbernden Männern nicht, also zog ich mich an meinen zweiten Lieblingsplatz zurück: Das Proviantlager im zweiten Unterdeck.

Der Zahlmeister war nicht da, der Steward ebenso wenig. Also öffnete ich die Tür, schloss sie langsam und vorsichtig hinter mir und blieb eine zeitlang regungslos stehen. Im Lagerraum herrschte Dunkelheit. Ich kniff die Augen zusammen, damit sie sich schneller an die neue Umgebung gewöhnten und als ich sie wieder öffnete, meinte ich wage Umrisse erkennen zu können. Ich befand mich im Trinkwasserlager, genau neben dem unteren Ende des Großmastes. Überall standen Fässer über Fässer gefüllt mit Süßwasser vom Festland. Manche voll, andere nicht so voll. Einige Mücken hatten sich versammelt, sonst schien es völlig unbewohnt. Nicht einmal Mäuse hörte ich. Hinter mir, heckwärts, führte eine Tür zum Schiffslager. Dort fand man Holz und Werkzeug, gefolgt von der Pulverkammer. Diese Bereiche gehörten allein dem Büchsenmacher und dem Zimmermann, aus diesem Grund ging ich bugwärts durch die zweite Tür.

Nun befand ich mich in der Proviantkammer. Es roch nach Ratten, aber auch nach Getreide, Rum und gepökeltem Fleisch. An der rechten Wand waren einige fest genagelte, regalähnliche Käfige mit Hühnern, eng zusammen gepfercht, ansonsten gab es nur Kisten, Fässer und Säcke in Hülle und Fülle. Überall hatte man Ziegen- und Schweinefleisch eingelagert, eingesalzen und fest verschlossen, ebenso wie Fisch und Gemüse. Ich blieb einige Momente so stehen, bis ich der Meinung war, genug sehen und mich leise und unbemerkt bewegen zu können, ohne dass ich irgendwo anstieß. So begab ich mich fast völlig tonlos zum hinteren Ende direkt am Rumpf. Dort setzte ich mich auf eine kleine Kiste, die ich mir bereits zu Anfang meiner Reise dort hingestellt hatte, lehnte mich an einen Haufen aufgestapelter Säcke und schloss die Augen. Lauschend verharrend, mucksmäuschenstill.

Über mir befand sich die Segelkoje, direkt neben dem Ankerspill und so drang fast kein Laut zu mir ins unterste Deck. Ein wenig mulmig war mir schon, wenn ich daran dachte, dass sich hier das Wasser zuerst sammelte, sollte aus irgendwelchen Gründen welches ins Schiff dringen. Auch würde direkt hier die Wand aufbrechen, würden wir ein Riff rammen und jederzeit könnte eine starke Neigung einige Kisten auf mich werfen. Dennoch, diesen Ort mochte ich vom Schiff am meisten – bis auf meine Hängematte.

Es knarrte leise und gleichmäßig und wenn man sich darauf konzentrierte, konnte man spüren, wie das Schiff sich hob und senkte, als würde es von Welle zu Welle schweben. Diese fuhren weit über mir am Holz entlang und klatschten dagegen, so dass ich es nur als leises, weit entferntes Rauschen wahrnahm. Keiner würde hier her kommen und mich entdecken. Der Zahlmeister zählte nur einmal pro Woche den Proviant durch und dann stets am frühen Morgen. Und der Schiffskoch, Black, schickte aufgrund seines Holzbeines stets seinen Schiffsjungen, Waren zu holen – mich. Somit war es das Ideale Versteck um Atem zu holen und in Ruhe seine Gedanken kreisen zu lassen. Lange saß ich so da. Wie lange, weiß ich nicht, aber irgendwann schlief ich ein.

Als ich wieder zu mir kam musste es Morgen gewesen sein, denn weit über mir herrschte reges Treiben. Jedoch wurde ich nicht von diesem geweckt, sondern von Stimmen, unmittelbar neben mir. Ich fuhr unheimlich in mich zusammen, bereit, eine Predigt zu hören für mein unerlaubtes Betreten des Lagers. Aber dann merkte ich, dass man nicht mit mir sprach. Die Stimmen waren leise, angespannt und unruhig. Natürlich war es noch immer dunkel, es gab schließlich keine Fenster, aber hinter einem Kistenstapel, der mich glücklicherweise verbarg, erkannte ich Licht. Ich drehte den Kopf, angespannt und vorsichtig, dann ließ ich mich auf alle Viere sinken. Meine Neugierde war wie immer stärker als meine Vernunft und so krabbelte ich langsam und vorsichtig näher an den Stapel heran und schaute zwischen zwei Kisten hindurch.

Eine Kerze war angezündet worden und stand auf einem kleinen, runden Rumfass auf dem Boden. Um dieses herum saßen vier Männer, auf je einer kleinen Kiste. Drei von ihnen erkannte ich wieder. Im Kreis gezählt waren es:

Der blinde, dunkelhäutige Ian, der sein Oranges Kopftuch nun über seine Augen gebunden hatte; Tom, der eigentlich Thedore O’Mathew hieß; ein einfacher Matrose, der Ian half, dessen Namen ich nicht kannte; und als letztes der Smutje, Mathew Hullingtan Black.

Als ich ihn erkannte zuckte ich ungewollt leicht zusammen und ging weiter in Deckung. Er saß mit dem Rücken zu mir, aber sofort wusste ich, wer er war.

Ihre Stimmen waren nur ein Flüstern und es war sofort klar, dass niemand von ihrem Treffen hier unten wissen durfte. Ich erkannte, dass die drei Matrosen ein wenig hitzig wirkten, im Vergleich zum Schiffskoch, denn Tom zischte wütend:

„Es reicht! Morgen sehen wir Land! Wie lange sollen wir noch warten?!“

„Genau!“, stimmte der fremde Matrose zu und ballte die Fäuste. „Du führst uns an der Nase herum! Mit jedem Bein in einer Partei, sage ich!“

„Reden könnt ihr viel, aber denken könnt ihr wenig.“, stellte Black ungerührt fest, gewohnt ruhig. Dennoch erfüllte seine Stimme mich mit Schaudern. Er war nicht freundlich und auch nicht herzlich. Es erinnerte eher an jene Situationen, in denen er mich gepackt und bedrohlich angezischt hatte. Blacks Stimme war kühl, herrisch und verschlagen. „Habe ich nicht gesagt, wir warten, bis ich den Startschuss gebe? Aye, das habe ich und wer hält sich daran?! Niemand hält sich daran!“, er beugte sich vor und sah von einem zum anderen. „Ein Haufen Idioten seid ihr! Wartet, sage ich, wartet! Mein Wort darauf, ein wenig Geduld und wir sind reiche Männer. Ich segele lang genug unter Wilkinson, weiß ich nicht, was ich tue?“

„Genug!“, unterbrach der fremde Matrose ihn zischend und stampfte leicht auf. Er hatte rötliche Locken, die im Dämmerlicht bedrohlich glühten. „Genug Gerede, sage ich! Taten sollen zeigen, was deine Worte bringen, Black!“

„Taten, Taten, Taten!“, wiederholte Black hitzig und rang die Hände, dann beugte er sich abermals vor und flüsterte gereizt: „Du, Ian! Hast du nicht alles vermasselt mit deiner Ungeduld?! Und du, Tom! Warst du es nicht, der ihn fast um den Verstand brachte?!“, dann wandte er sich an den letzten und hob drohend den Finger. „Und von dir, Kai, wollen wir gar nicht anfangen! Wolltest du nicht gestern in die Kombüse und dein Unwesen treiben?! War ich es nicht, der dich aufhielt?! Der deiner statt hinunter ging?!“, als er sich wieder aufsetzte, war Black die Ruhe selbst und verschränkte die Arme. „Ihr drei seid mir ein Haufen, da fällt einem der Papagei von der Schulter, darauf könnt ihr euch verlassen, oh ja, das könnt ihr! Wir warten, sage ich und wer aussteigen will, der soll dies tun! Ja, geht nur, geht! Feiglinge seid ihr, allesamt! Ich sage ich regele das auf meine Art und das tue ich! So wenig Vertrauen habt ihr in den alten Black?!“

„Mit jedem Fuß in einer Partei!“, fauchte nun auch Ian und hob die Faust. „Du bist weich geworden! Der Pfaffe hat dich bekehrt!“

„Aye!“, stimmte Tom mit ein. „Dir kann man nicht mehr trauen! Mit Gewalt muss man diesen Bastard zwingen, sage ich!“

„Nein, ihr Idioten, verflucht!“, fauchte Black zurück und zeigte drohend mit seiner Krücke auf jeden von ihnen. „Ich habe ihn fast so weit, er hat schon fast zugeschnappt! Ihr ruiniert mit eurer Ungeduld den ganzen Plan! War ich es nicht, der euch von dem Geld erzählte?! Und war ich es nicht, der sich diesen Plan ausdachte?! Ohne mich seid ihr ein Haufen Meerschaum, mehr nicht!“

„Beweise, Black, Beweise!“, alle sahen Ian an, dann Black und Stille trat ein.

Ich duckte mich unbewusst noch stärker. Sie sprachen über mich, das war offensichtlich. Black schwieg und sein Blick machte eine langsame, bedrohliche Runde, bevor er kühl sagte:

„Ich sage euch: Hört auf meine Worte!

Wir warten, bis ich das Zeichen gebe und bis dahin: Schweigen! Morgen, wenn wir Land sehen habt ihr eure Beweise! Bis dahin haltet eure dämlichen Fressen in Zaum, ihr hirnlosen Idioten, sonst vermasselt ihr es ganz und gar! Und du, Kai!“, als Black sich nun zu ihm drehte, knirschte Kai wütend mit den Zähnen. „Du beherrschst dich! Wenn du Sullivan ein Haar krümmst, dann fressen dich die Fische du dämlicher Küstenschwimmer! Ich will so sehr wie ihr diese verfluchte Kiste haben, Teufel noch mal, aber ihr ruiniert es! Lasst den Jungen in Ruhe, wir brauchen ihn noch, ihr werdet sehen!“

„Mit jedem Bein in einer Partei!“, fluchte Tom, aber als Black zu ihm herum fuhr, verstummte er abrupt.

„Ruhe, sage ich! Denkt nach, Männer! Wäre ich weich gewesen, hätte ich ihn auspeitschen lassen?! Hätte ich mit Robert gesprochen, keine Rücksicht zu nehmen?! Nein, sage ich! Das Gegenteil habe ich getan, sage ich! Wir sind zu wenige, als dass ihr solch ein Theater machen könntet! Denkt nach… Wenn er wirklich Pfaffe ist, bedenkt nur die Vorteile! Wenn wir die Kiste haben wird O’Hagan nicht auf sich warten lassen, mein Wort darauf und was ist dann besser, als ein Pfaffe in unserer Runde?! Schweigen, sage ich, Männer und ab dafür! Bis zum letzten Mann!“, erneute Stille. Alle sahen düster vor sich. Einige Sekunden ließ Black seine Worte wirken, dann stampfte er mit seinem Holzbein auf und fuhr fort: „Und nun genug! Ich sage, wir warten, bis die Zeit reif ist, dann schlagen wir zu. Der Junge besorgt uns den Schlüssel, Hand ins Feuer dafür, wenn man so will, ihr werdet sehen. Habe ich nicht immer Recht gehabt? Ian? Tom? Kai?“

„Aye…“, knurrte Tom.

„Aye, das will ich meinen! Seht euch an! Seit fünf Jahren bei Wilkinson und keinen Silberling mehr im Beutel, und ich? Drei mal so viel, wie eure Heuer in fünf Jahren! Ihr seid Idioten, hirnlose Tölpel! Ohne mich bekommt ihr nichts auf die Reihe, das wisst ihr, hört auf meine Worte! Hört auf meine Worte! Und wenn einer aus der Reihe tanzt, dessen sei er sich sicher, er geht über Bord oder hat Gift in seiner Suppe! Und jetzt verschwindet, wer kam auf die dumme Idee, sich hier zu treffen?! Aye, Tom, das dachte ich mir! Dummer Idiot, Schwachsinniger, bis zur Hölle schimpfen sollte man dich! Kielholen bis zum geht nicht mehr, bei meiner Seele, wenn ich denn eine habe! Ihr ruiniert es, allesamt, Tölpel, Idioten!“

„Fluche uns nicht!“, fauchte Ian und stand auf. Auch die anderen zwei erhoben sich. „Vielleicht sind wir dumm, aye, aber ohne uns bist du allein, vergiss das nicht!“

„Beug dich nicht zu sehr über die Reling, Ian.“, knurrte Black. Auch er stand auf und klemmte sich die Krücke unter die Achsel. „Keiner bringt den alten Mathew Hullingtan Black zum Grund und du am wenigsten, verlass dich drauf. Keiner. Und jetzt genug, ehe man uns sieht! Verschwindet und wagt es nicht, mich heute auch nur ein einziges Mal anzusprechen, ihr dämlichen Hunde!“, und tatsächlich trollten sie sich hinaus. Black fluchte und verwünschte sie, nachdem Kai die Kerze ausgeblasen hatte und noch lange nachdem sie das Proviantlager verließen. Ich hörte, wie sie durch das Wasserlager gingen und die Treppe hinauf. Ich verharrte unsicher hinter meinem Kistenstapel, bis ich ganz sicher war, dass ich niemanden mehr hörte. Dann trat ich hervor und sah mich um.

Langsam wurde mir bewusst, dass ich mich in Gefahr befand, wirklicher Gefahr. Allem Anschein nach beschützte Black mich, wenngleich ich nicht verstand, wieso und mit großer Wahrscheinlichkeit planten sie eine Meuterei. Er hatte verhindert, das dieser ‚Kai’ zu mir in die Kombüse gekommen war. Was wollte Kai von mir?

Den Druck auf mich erhöhen?

Mich womöglich umbringen?

Ich fühlte mich unwohl im Lagerraum. Dieser Ort strahlte für mich keine Sicherheit mehr aus, im Gegenteil. Bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen und hatte das Gefühl, sie könnten jeden Moment wieder kommen. Ich beschloss das Lager zu verlassen und mich schlafen zu legen, oder in die Kombüse zu gehen, je nachdem wie spät es war. Auf keinen Fall wollte ich auffallen. Wenn sie herausfänden, dass ich gelauscht hatte…!

Ich eilte aus dem Proviantlager durch den Wasserspeicher an all den Fässern vorbei. Sogar die Hühner waren unruhig, denn sie gackerten leise, als ich an ihnen vorbei huschte und sahen mich aufgewühlt an. Als ich den Gang zur Treppe erreichte, griff ich nach der Türklinke und gerade, als ich zugreifen wollte, ging sie auf.

Ich taumelte zurück und für einen kurzen Augenblick setzte mein Herz aus.

Kai hatte vergessen, die Kerze mit zu nehmen. Nun stand er direkt vor mir, verwirrt und verdattert, aber dann erkannte er mich.

Noch nie habe ich einen so hasserfüllten und bedrohlichen Blick gesehen. Er baute sich vor mir auf. Dann schloss er die Tür.

„Sieh mal einer an, aye, wenn das nicht unser Pfaffe ist…“, grinste er mir gehässig entgegen.

In der Falle

Ich wich zurück und starrte Kai an. Dieser hatte die Tür geschlossen und ohne sich umzudrehen schloss er ab und steckte den Schlüssel in die linke Hosentasche. Die ganze Zeit über grinste er mir entgegen und ich hatte das Gefühl, sein Grinsen wuchs mit jeder Sekunde.

Nachdem die Tür verschlossen war, lehnte er den Kopf erst nach rechts, dann nach links und sein Nacken knackte vernehmlich. Zufrieden und gehässig sah er mich wieder an.

„Wie klein so ein Schiff doch ist, nicht wahr?“

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Der Matrose war sichtbar größer als ich und auch wesentlich stärker gebaut. Sollte es zu Handgreiflichkeiten kommen, würde ich ohne Frage verlieren. Ich bemühte mich, meine Stimme etwas zu festigen und baute mich etwas auf.

„Was soll das?! Ich habe nichts mit Euch zu schaffen! Lasst mich raus!“

So nah am Ausgang herrschte leichtes Licht durch den Türspalt, dennoch war es dunkel und dies verunsicherte mich ein wenig mehr. Ich konnte nur vage vermuten, wo er stand, durch jene Stellen an der Türschwelle, die schwarz statt beleuchtet waren. Aber zu meinem Nachteil wurde ich beleuchtet – er hingegen war für mich vollkommen unsichtbar.

Abermals wich ich einen Schritt zurück. Ich muss hier raus, schoss es mir durch den Kopf. Das ist der Mann, welchen Black von mir fern hielt! Und er wird Grund dazu gehabt haben…!

Doch zu meiner Erleichterung entzündete Kai ein Streichholz.

Ich zuckte zusammen, als das Feuerchen entflammte und den Raum flimmernd erhellte und das ließ sein Grinsen ansteigen. Er wandte sich von mir ab. In aller Ruhe entzündete er die Lampe, die am Deckenbalken hing. Als das Licht brannte, schloss er die Laterne und wedelte das Streichholz aus. Ich schwieg und sah ihm zu, misstrauisch und äußerst angespannt.

„So…“, brummte Kai dann leise und drehte sich zufrieden zu mir. „Nun kann ich dich wenigstens sehen, Pfaffe…“

„Ich bin kein Pfaffe.“, meine Antwort kam mir dumm vor, aber ich verstand nicht, was er von mir wollte. „Wieso nennt Ihr mich so?“

Doch Kai ging nicht darauf ein. Er warf das Streichholz zu Boden und kam auf mich zu. Mit jedem Schritt, welchen er in aller Ruhe näher rückte, wich ich einen Schritt zurück.

„Du kleiner Bastard… Seit du hier an Bord bist geht alles schief… Und nun wagst du es, hier unten herum zu schleichen und uns zu belauschen?“, zischte er dabei.

„Ich habe niemanden belauscht.“, knurrte ich wütend. Ich stieß ab und an gegen einige Wasserfässer, dann letzten Endes gegen den Türrahmen zum Proviantlager. Es dauerte nicht lange und ich befand mich im hintersten Raum. Die Hühner sahen auf und einige Federn fielen durch das Gitter zu Boden, als sie nervös begannen, sich zu bewegen. „Ich bin oft hier, um zu schlafen. Hinten, bei den Leinensäcken. Bei den Kojen ist es zu laut.“

Dann war es vorbei. Ich stand mit dem Rücken zur Wand und starrte ihn an, doch Kai blieb nicht stehen. Er trat an mich heran und lehnte seine Hände rechts und links neben mich ans Holz. Er war wirklich verdammt groß, ich ging ihm bis zum Kinn. Als er flüsterte, musste ich den Kopf leicht heben, um ihn anzusehen.

„Erzähl keine Märchen, du hast gelauscht…“, seine Stimme war weniger als ein Zischen, und sein Atem roch verwirrend süßlich, während er fort fuhr: „Verdammter Mistkerl…!“, dann löste er die rechte Hand und ich sah, wie er seitlich an seine Hose griff. „Ich will dich schon loswerden, seit der Sache mit Ian, aber der verdammte Alte hat sich vor dich gestellt…! Doch ich lasse nicht zu, dass er dich den Schlüssel holen lässt, niemals!“

„Ich habe mich lediglich gewehrt! Das mit Ian war nicht beabsichtigt und das mit dem Schlüssel würde ich am liebsten auch nicht-…“

„Halt den Rand! Du hättest deine Nase eben nicht in Angelegenheiten stecken sollen, die dich nichts angehen und nun wirst dafür bezahlen…!“

„Aber das habe ich nicht!“, fauchte ich ihn an. „Ich habe weder gelauscht, noch weiß ich etwas von Euren Angelegenheiten! Black bat mich, einen Schlüssel zu besorgen und das werde ich tun, ohne Fragen zu stellen, Ihr habt mein Wort! Aber ich-…“

Nur knapp entkam ich seinem Versuch, mir das Messer mitten ins Gesicht zu rammen. Blitzschnell schlug er zu. Ich schlüpfte seitlich unter seinem Arm hinweg und stolperte vor. Kai fuhr sofort herum und hastete mir nach. Er war außer sich, wie besessen, ein Gespräch würde nichts nutzen.

Ich stürmte Richtung Ausgang, aber noch ehe ich den Lagerraum zum Wasserspeicher verlassen konnte stürzte er sich auf mich und warf mich zu Boden. Es knallte und krachte und kurz blieb mir die Luft weg, als sein schwerer und riesiger Körper mich zu Boden presste. Kai saß auf meinem Rücken und ich kämpfte damit, aufzustehen, bis mir das Messer einfiel und ich mich panisch unter seinen Beinen wandte.

„Seid Ihr verrückt?! Lasst mich los!“, brüllte ich.

Ich schrie und zappelte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man mich hörte. Und das war auch ihm klar. Seine Angst, dass man sein Treiben bemerkte war so groß, dass er die Chance verpasste, mir das Messer in den Hinterkopf zu rammen. Stattdessen ließ er es neben sich fallen und riss mich herum. Er versuchte mich zu schweigen zu bringen, mit allem Mitteln. Kai hielt mir den Mund zu, dann würgte er mich, schlug mir ins Gesicht und letzten Endes riss er mich hoch. Meine Schläge und Tritte machten ihm kaum etwas aus, sie machten ihn lediglich noch aggressiver und wie im Rausch schlug er meinen Kopf gegen die Wand. Als er mich daraufhin los ließ, hielt ich mir die Stirn und schwankte. Verwirrt nahm ich eine rote Flüssigkeit wahr, welche von meiner Stirn über meine Nase hinunter lief, dann wandte ich mich um. Verständnislos starrte ich Kai an, aber dieser packte mich bereits wieder und warf mich hochkant in einen Stapel Kisten. Es krachte erneut, dann stürzte er sich auf mich und schlug auf mich ein. „Du verdammte Landratte!“, zischte er dabei. „Ich werde verhindern, dass Black dir diese Aufgabe erteilt!“ Immer wieder schlug er mir mit der Faust ins Gesicht, während er auf meinem Bauch hockte und nach jedem Schlag dachte ich „Jetzt ist es aus…! Ich sterbe…!“

Aber ich starb nicht. Als Kai fertig war sprang er hoch und fuhr sich mit dem blutigen Handrücken über den Mund. Er keuchte durch die Anstrengungen und schwitzte stark.

„Steh auf!“, befahl er mir. Ich stöhnte und drehte mich gequält auf die Seite. Hustend spuckte ich Blut und ein Stück Zahn aus. Mein Gesicht schmerzte fast so sehr, wie mein Kopf, oder meine Nase. Noch ehe ich reagieren konnte trat er zu. „Steh auf, sagte ich!“, brüllte er mich dabei an. Ich gab einen lauten Schmerzenslaut von mir, als seine Stiefelspitze mir mit voller Wucht in die Seite fuhr. Und schon trat er erneut zu. „Aufstehen!“, ehe ich reagieren konnte riss er mich hoch und stieß mich zu einer der Kisten.

Ich fiel mehr, als dass ich ging und landete unsanft mit dem Oberkörper auf einer großen, dunklen und hölzernen Kiste. Vor meinen Augen drehte sich alles und die klebrige Flüssigkeit lief mir aus der Nase. Mein Gesicht war so heiß, dass ich glaubte, es sei unheimlich geschwollen. Ich wollte mich aufrichten, ich wollte weg rennen, aber Kai hatte sein Messer genommen, packte mich am Nackenkragen und rammte mich aufs Holz. Hilflos sackte ich in die Knie und verharrte, keuchend und röchelnd. „Du hörst mir jetzt zu…!“, flüsterte er und setzte sich auf meinen Rücken mich. Ich stöhnte auf und hob den Kopf vor Schmerz. Die Kante der Kiste drückte mir schmerzhaft unter die Rippe, aber Kai nahm keine Rücksicht darauf, riss mich an den Haaren in den Nacken und hielt mir die Klinge an den Kehlkopf. Sofort erstarrte ich. Ich spürte das kalte Metall und atmete flach, aus Unsicherheit, eine falsche Regung könnte die Klinge meinen Hals durchtrennen lassen. Und tatsächlich spürte ich einen leichten und bedrohlichen Druck, welcher mich schneller und stoßweise atmen ließ.

Man könnte nicht sagen ich sei ängstlich, ich war lediglich unsicher. Ich wollte nicht sterben, auf keinen Fall. Auch war ich wütend auf ihn. Ich hasste das Gefühl von Schwäche, zu lange hatte ich darunter gelitten und jede neue Erfahrung mit diesem Gefühl verstärkte meine „Abneigung“. Ich verfluchte ihn in Gedanken, beleidigte ihn und wünschte mir, ihm alles zurückzuzahlen, aber nichts davon war möglich, oder klug. Kai beugte sich etwas runter und flüsterte mir ins Ohr:

„Ich werde dich jetzt windelweich prügeln, bis du den Auftrag nicht mehr machen KANNST. Black wird uns nicht an der Nase herum führen. Er macht gemeinsame Sache mit der Inquisition, du bist der Beweis dafür…!“, ich wollte widersprechen, doch er ruckte an meinem Schopf und ich verstummte sofort. „Aber erst einmal werden wir zwei uns amüsieren… Ich hatte seit drei Monaten kein Weib mehr.“ Er lachte.

Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Ich hatte mich binnen weniger Sekunden daran gewöhnt, dass Kai mich zusammen schlagen würde, bis ich halb tot war. Auch hatte ich mich daran gewöhnt, wahrscheinlich durch ein Messer in Kehle, Kopf oder Rücken zu sterben. Aber DAS kam unerwartet!

Als Kai mich los ließ und aufstand sackte ich zusammen und rutschte zu Boden. Hilflos wollte auch ich aufstehen, aber ich wurde nicht Herr meines Körpers. Die Schläge auf den Kopf hatten meinen Geist benebelt und es fiel mir schwer, meine Umgebung auch nur ansatzweise zu erkennen. Kai öffnete seine Hose und dies war eine Art Startschuss für mich.

Als ich sah, wie er hinein griff und sein Glied von seinem Käfig befreite – poetisch ausgedrückt – fuhr ich hoch und stürzte vor. Ich konnte nicht laufen, meine Knie gaben nach und ehe ich mich versah, landete ich wieder auf allen Vieren, jedoch gut zwei Meter entfernt. Es war schmerzhaft, als ich in den Stapel Kisten fiel und gewiss auch, als Kai mich packte und zu sich riss, laut fluchend und recht grob, aber nicht so schmerzhaft wie das, was danach geschah.

Er riss mich an den Beinen zu sich, packte mich von hinten an den Oberarmen und warf mich gegen einen Stapel Holzboxen. Er hockte auf den Knien, seine Hose rutschte ihm in die Kniekehlen, und dann riss er auch an meiner, jedoch drehte ich mich um und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht.

Noch nie in meinem Leben hatte ich jemanden so fest geschlagen.

Kai flog zur Seite und nun sah er rot. Es dauerte nicht mal eine Sekunde und als er sich wieder aufrichtete, stieß er einen lauten und tobenden Schrei aus. Er stürzte vor, das Messer in seiner Hand hoch erhoben und stach zu. Ich warf mich zur Seite und zwar viel zu spät.

Genau in diesem Moment krängte das Schiff. Etwas, wofür ich Gott danke, denn Kai taumelte nach rechts und seine Klinge durchschnitt jenes Tau, mit welchem die Waren gelascht waren. Es polterte, dann krachte es, dann schrie er auf. Ein Stapel aus Holzkisten gefüllt mit stark riechendem und mit weißlichem Schleim überzogenem Fisch ergoss sich über Kai, aber diese waren nicht das eigentliche Übel – das Übel bestand aus einer Gruppe von 3 Kanonenkugeln, welche den Fischen unmittelbar folgten. Ich hörte ein lautes Knacken, als sein Schädel brach und als ich mich aufrichtete und das Schiff sich wieder lang legte, rollten zwei Kanonenkugeln zu einer Gruppe Getreidesäcken.

Keuchend starrte ich ihnen nach, dann starrte ich zu Kai. Ungläubig, aber auch zugleich fasziniert, starrte ich auf seinen blutigen Kopf, auf welchem eine große, schwarze Kugel lag, als hätte man sie dort hinein gepflanzt. Rotes, dickflüssiges Blut, vermengt mit etwas durchsichtigem, leicht weißem lief aus seinem Hinterkopf und verteilte sich auf dem Boden. Die plötzliche Ruhe wirkte fast friedlich auf mich und nur mein Puls, welcher mir noch immer im Hals schlug, zeugte vom Geschehen wenige Augenblicke zuvor. Der Anblick von Kai, wie er dort lag, mit bloßem haarigen und rot gepunkteten Hintern inmitten von Holz und Blut betäubte mich und ich stand langsam auf, jedoch völlig ruhig. Ich bekreuzigte mich, fast aus einer Gewohntheit heraus und als ich merkte, was ich getan hatte, tat ich es vor Schreck gleich noch einmal. Ich erinnere mich nur noch schemenhaft daran, was ich damals dachte. Alles erschien mir irreal, wie ein böser Traum, was durch das Dämmerlicht enorm verstärkt wurde. Auf jeden Fall durfte man nicht mich für diesen Unfall verantwortlich machen, das war mir klar. Fast schon mechanisch trat ich an ihn heran. Die schwarze Kugel schien mich förmlich anzustarren und mich packte die Furcht, dass er sich noch regen könnte, wenngleich es vollkommener Blödsinn war. Ich packte das Messer und nahm es an mich, als würde seine Hand nach mir schnappen, würde ich zögern. Dann steckte ich es ein und nahm auch den Schlüssel des Lagerraumes an mich. Lange stand ich da und starrte Kai an.

Man wird denken, er wollte jemanden vergewaltigen. Vielleicht auch, dass er hier unten masturbiert hat. Ja, genau, keiner wird mich dafür verantwortlich machen. Warum auch? Was habe ich mit Kai am Hut? Wenn es Ian wäre… Oder Tom… Aber mit Kai bin ich nie zuvor aufgefallen. Nie. Aber meine Verletzungen, sie werden jedem auffallen…

Dann hockte ich mich hin. Ich dachte nach und ohne es wirklich wahrzunehmen, nahm ich die zerschnittenen Seilenden und kürzte einige, einzelne Fäden und zerfranste sie mit der Hand, so dass es aussah, als wäre das Tau gerissen. Als ich mit meiner Arbeit zufrieden war richtete ich mich wieder auf und starrte ihn weiter an. Das Schiff krängte. Die zwei Kanonenkugeln rollten zurück zu Kai und mit einem leisen „Plok!“ stießen sie an seinem Arm aneinander. Für einen Moment dachte ich an die Erbse, die ich nach dem Gespräch mit Black in der Küche gesehen hatte und fragte mich, was wohl aus ihr geworden war. Warum ich mich gerade jetzt an sie erinnerte wusste ich nicht, aber ich tat es. Ob ich verrückt geworden war?

Ich hatte von einigen gehört, welche den Verstand verloren haben, als sie mit ansehen mussten, wie Leute vor ihnen Augen starben. Ob das bei mir nun auch der Fall war? Und woran würde ich es erkennen?

Doch ich beschloss beim Thema zu bleiben. Unsicher sah ich mich um, dann erblickte ich ein Regal voller Krüge und anderem derartigen. Ich griff einen Silberteller, befreite ihn mit meinem Ärmel vom Staub und betrachtete mein Spiegelbild.

Es war verzerrt, aber zeigte mir, dass die Schläge von Kai lediglich blaue Flecken hinterlassen würden. Mir lief Blut aus der Nase und mein linkes Auge war stark geschwollen, so wie meine Wangen, mehr nicht. An meiner Stirn prangte eine kleine Platzwunde, aber darüber waren meine Haare und mit etwas Wasser konnte ich dieses Missgeschick problemlos verbergen. Die schlimmsten Wunden waren innerhalb meines Mundes. Mein Zahnfleisch und meine Wangen waren blutig geschlagen und aufgerissen. Mir fehlte ein Zahn und ein zweiter schien bedrohlich zu wackeln. Zufrieden legte ich den Teller zurück, sah Kai noch einmal an und schlich ins Wasserlager. Dort öffnete ich eines der Fässer und reinigte mich vom Blut. Das kühle Nass roch abgestanden, aber es erfüllte seinen Zweck und als ich meinte, mich völlig gesäubert zu haben, schloss ich den großen Behälter wieder.

Der letzte Vorfall war zwar lange her, aber man wusste, dass ich öfters mal mit jemandem aneinander geraten war. Keiner würde sich also über die blauen Flecken wundern.

Ein wenig mulmig war mir dennoch, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte und ich verharrte. Keiner würde in den nächsten Tagen den Lagerraum aufsuchen, außer mir, das war gewiss ein Pluspunkt. Jedoch, was wenn man Kai suchte?

Wenn es stimmte, was sie bei ihrem heimlichen Gespräch gesagt hatten, würden wir am nächsten Tag anlegen. So hatte man keinen Grund, das Lager zu betreten, außer vielleicht um Trinkwasser aufzufüllen und dann könnte man die Tür zum Proviantlager ja verschließen.

Und wenn Black es ernst meinte, was er sagte, dann würden sie alle den öffentlichen Kontakt vermeiden, um nicht aufzufallen. Also würde vielleicht niemand Kai suchen.

Aber was, wenn doch?

Unsicher sah ich zurück, wenngleich ich nichts sehen konnte, außer das Wasserlager und die Tür, welche zum Proviantlager und Kai führte.

Ich musste seinen Leichnam entsorgen, irgendwie. Ich hatte keine Wahl. Wenigstens so lange, dass niemand mehr mich mit ihm in Verbindung brachte. Ich steckte den Schlüssel wieder ein und ging zurück. Unsicher sah ich mich um. Hühnerkäfige, Kisten, Fässer… In einer Ecke stand eine besonders alte, längliche Kiste. Ich ging zu ihr und fuhr mit dem Finger an einer ihrer Ecken entlang. Anschließend betrachtete ich ihn, er war schneeweiß. Zufrieden nickte ich, diese Kiste schien unbenutzt. Hier könnte ich ihn verstecken. Und so öffnete ich sie und zog ein altes Leinentuch heraus, welches zusammengeknüllt darin lag. Ich wirbelte Staub auf und im Licht sah man dicke, weiße Flusen tanzen.

Dann wandte ich mich an Kai. Noch immer lag er regungslos da. Die zwei Kugeln hatten sich wieder auf Wanderschaft begeben, nur die dritte war noch immer, wo sie auch zuvor „gelegen“ hatte – in seinem Kopf.

Das konnte ich unmöglich so lassen. Ein wenig angewidert sank ich neben ihm auf die Knie, dann umfasste ich das kühle Eisen mit beiden Händen. Es war so eiskalt, dass es mich frösteln ließ und als ich das schwere Geschütz anhob, gab es ein leises und schmatzendes Geräusch von sich. Ächzend legte ich die Kugel behutsam in die Kiste, dann nahm ich das Tuch und legte es neben Kai auf den Boden. Mit einem Ruck drehte ich ihn seitwärts herum und rollte ihn auf das Leinentuch, dann schlug ich dieses zu und verband die Enden fest miteinander.

Ich versuchte seine aufgerissenen und verdrehten Augen zu ignorieren, während er so dalag und zur Decke starrte. Als er einem langen, eingewickelten Brot glich, wie jenes, welches wir im Kloster oft zubereiteten, zog ich ihn mit all meiner Kraft zur Kiste, mit dem Kopf zuerst, um keine Blutspur zu hinterlassen. Es war schwer, aber irgendwie schaffte ich es letzten Endes, ihn hinein zu bekommen. Kai war ein wenig zu groß und ich musste mich auf den Deckel setzen und ein wenig herum hüpfen, damit die Kiste zuging, aber als das geschafft war, war ich sichtlich erleichtert. Ich stellte einige Dinge auf die Kiste, nur für den Fall, dann schob ich etliche Fässer auf den Blutfleck, bis dieser nicht mehr zu sehen war.

Als ich fertig war musterte ich mein Werk.

Ich muss zugeben, dass ich nicht wenig stolz war, dieses Problem so meisterhaft gelöst zu haben und als ich diesmal zum Ausgang ging, war meine Nervosität etwas geringer. Zwar war sie noch da, aber als ich die Lampe löschte, die Tür aufschloss und hinaus trat musste ich ein wenig grinsen.

Wenn es Gott gab, dann war er auf meiner Seite, ohne Frage. Leise schloss ich die Tür, hängte den Schlüssel ins Schloss und schlich an Deck. Es war heller Tag, die Sonne versengte erbarmungslos die Matrosen und keiner nahm wirklich Notiz von mir. Alle waren müde und kaputt von der Hitze. Als ich die Küche betrat ließ mich die dicke, warme Luft fast taumeln. Black stand an einer der Ablagen und schnitt Gemüse. Er stand mit dem Rücken zu mir und bemerkte mich nicht. Ich musste mich zum Dienst melden, sonst wäre das vielleicht auffällig. Gerade wollte ich etwas sagen, ich öffnete schon den Mund und hob leicht die Hand, da ertönte von draußen ein lautes „Land in Sicht!“

Ein gut gemeinter Rat

Black hatte mich angestarrt, aber keinen Ton zu meinen Verletzungen gesagt. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass ich wieder mit einem der Matrosen Streit angefangen hatte.

Dann gingen wir an Deck. Es herrschte helle Aufregung. Alle standen an der Reling und starrten dem Land entgegen, das man im Krähennest gesichtet hatte. Ein paar Möwen sammelten sich über unseren Köpfen, kreischten laut nach Aufmerksamkeit und Brot und weit hinten am Horizont baute sich das ersehnte Ziel vor uns auf.

Eine kleine Insel ragte aus dem Wasser, als würde sie durch unser Näher kommen aus den tiefen des Ozeans empor steigen. Umso näher wir kamen, desto mehr erkannte ich die Umrisse etlicher Riffe und Klippen, die unglaublich weiß funkelten, durch die starken Brecher und Wellen, den Meeresschaum und den Gischt, der in alle Richtungen schlug und zerstäubte, wie Schnee. Meterhoch ragten die Wassersäulen hinauf, klatschten gegen die Felsen und stürzten hinab in die Tiefe, während sich bereits die nächste Wand auftat. Rechts und links ragten die felsigen Kolosse empor, in der Mitte lag eine Bucht. Mein Herz pulsierte und ich vergaß sogar Kai. Land...endlich!

Hinter den steinigen Klippen erstreckte sich eine Welt aus grün, bestehend aus Wäldern und stark bewachsenen Bergen, zwei Stück, der rechte größer als der linke. Ich erkannte, würde man den Klippen steuerbord folgen, würde man an einen riesigen, langen und schneeweißen Strand kommen. Steuer- und Bootsmann begannen wild umher zu rennen und die Männer vom Starren abzuhalten, damit sie die Segel einholten und dann setzten wir den Anker. Die Insel war noch immer weit entfernt, dennoch konnte ich das Toben der Wellen hören und das Getose, als würden tausende von Pauken schlagen. Es klang wie Musik in meinen Ohren.

Black stand unmittelbar neben mir und grinste, als er meine großen Augen sah. Tatsächlich hatte ich nie einen anderen Teil der Welt gesehen als Annonce und dieses riesige, neue Stück Land war völlig überwältigend für mich.

„Aye.“, brummte er und legte mir die Hand väterlich auf die Schulter, aber ich merkte es kaum, so sehr war ich in Erstaunen gesetzt. „Das ist Niemandsland.“

„Niemandsland?“, wiederholte ich verwirrt und sah ihn an. „Davon habe ich nie gehört.“

„Aye, davon hat nie jemand gehört.“, Black lachte, als hätte er einen Witz gemacht und selbst sein Lachen klang harmlos im Vergleich zum Getose und Donnern weit entfernt. „So nennt man jene Inseln, welche noch keinem Kaiser oder König gehören. Niemandes Land, Niemandsland.“

„Ich verstehe.“, flüsterte ich und starrte wieder zu der für mich völlig neuen Welt. Ein Land, das niemandem gehört. Nie hätte ich zu träumen gewagt, dass es so etwas überhaupt noch gab!

Als ich mich abwandte, um nach Arbeit zu fragen, stockte ich. Man hatte die Flagge St. Katherines, eine blutrote mit einem schwarzen Pferd umgeben von weißen Sternen, eingeholt. Zwei Matrosen kämpften gerade damit, sie zusammen zu falten, dann hob ich den Blick. Ungläubig öffnete ich den Mund, als ich erkannte, welche neue Flagge gehisst wurde: Der Jolly Roger. Wir mussten uns wirklich weit entfernt von anderen Inseln oder Schiffen befinden, wenn sie sogar dazu stehen konnten, dass sie Piraten waren. Als ich Black ansah lachte er nur und klopfte mir auf die Schulter, ehe er hinkend unter Deck in die Küche ging, um ein Festmahl vorzubereiten.
 

Wir blieben noch weitere, etliche Stunden an Bord und Black hatte Recht gehabt, ich konnte es kaum noch erwarten den Sand unter meinen Füßen zu spüren. Ich war in der Küche kaum zu gebrauchen. Die ganze Zeit über saß ich am Tisch und schälte Kartoffeln, so intensiv, dass die Schalen fast einen Zentimeter dick waren. Irgendwann nahm er mir das Messer weg und wies mich an den Topf zu beobachten, als sei ich ein kleines Kind, das beschäftigt werden musste, aber viel zu jung war für Küchenarbeit. Ich gehorchte ohne Murren, dennoch war ich nervös und zappelte ununterbrochen mit dem Bein. Ich wollte an Land, irgendwie. Eine völlig neue Insel, völlig neue Vegetation, ohne Frage mit neuen Tieren und vielleicht fremden Zivilisationen. Ich erinnerte mich an die Geschichten, die Bruder Markus und ich uns gegenseitig erzählt hatten. Von Kannibalen, Eingeborenen. Ob es im „Niemandsland“ solche Wesen gab? Man stelle sich nur vor, ich würde es schaffen dort zu leben. Ich könnte vielleicht eine Art Gemüse anpflanzen oder jagen oder fischen. Ich müsste gar nicht mit zurück an Bord, sollten sie mich ruhig dort aussetzen! Gott gibt uns jenes, was wir zum leben brauchen, ist es nicht so? Und tatsächlich malte ich mir im Kopf aus, wie ich eine Hütte baute, ein Netz knüpfte oder einen Speer anspitzte.

Aber nicht nur das machte mich nervös, ununterbrochen kreisten meine Gedanken um Kai und noch immer spürte ich ein leises Zittern in mir, denn allmählich wich die Aufregung wieder meinem Erlebnis. Der Schock lag mir tief in den Knochen und mich plagte die Furcht, was passieren könnte, wenn sie ihn entdeckten. Würden sie mich dafür verantwortlich machen? Und wenn ja, würde Black mich decken?

Ich hörte kaum zu, während Black mir Gemüse schneidend erklärte, dass wir warteten, bis der Tidenhub zu unseren Gunsten stand. Dann würden die Männer mit Booten an Land roojen, einiges an Waren abladen und anschließend gäbe es eine kleine Feier oben an den Klippen. Er ließ sich groß darüber aus, dass das ein Spaß werden würde und er eine köstliche Suppe machen wird, die wunderbar zu dem Ziegenfleisch passt. Irgendwann dann begann er ernster zu werden und sprach über den Schlüssel. Erst da wurde ich dann endlich hellhörig und drehte mich zu ihm.

„Er, Son, wird den Schlüssel besorgen und dann hiermit ein Zeichen geben.“, und mit diesen Worten warf Black mir etwas zu. Ich fing es erschrocken auf und zuckte zusammen, als ich einen leichten Schmerz in meiner Fingerkuppe verspürte. Verwirrt betrachtete ich die Spiegelscherbe, die mich geschnitten hatte.

„Eine Scherbe?“

„Aye.“, er brummte und widmete sich wieder seinem Gemüse. „Ich werd an der Klippe sitzen, er leuchtet mir zu. Und dann schick ich ihm einen Mann, der ihn an Land holt.“

„In Ordnung.“, ich musterte das dreieckige Glasstück abermals, dann steckte ich es mir in die hintere Hosentasche. Mir wurde mulmig. Wenn man mich erwischte, dann war es ohne Frage aus mit mir. Aber ich hatte keine andere Wahl und mittlerweile war es eine Sache des Stolzes. Kai hatte verhindern wollen, dass ich diese Aufgabe erledige und nun wollte ich es allein aus Trotz heraus dennoch tun. „Und dann?“, ich sah Black fragend an, aber er würdigte mich keines Blickes, sondern befasste sich nur mit seinem Schnittlauch. „Was mache ich dann?“

„Aye, dann ist er an Land. Man wird ihm den Schlüssel abnehmen, diesen zu mir bringen und ab dort hat er freie Fahrt.“

„Freie Fahrt?“, wiederholte ich. „Ich kann tun, was ich will?“

„Aye.“

„Aber wie komme ich zurück aufs Schiff?“, verwirrt sah ich ihn an und er blickte auf.

Das Schiff schwankte kurz und die Pfannen an der Wand klapperten laut und in verschiedenen Tönen, als wären sie ein altes und kaputtes Glockenspiel. Blacks Grinsen verunsicherte mich.

„Möchte er denn zurück?“

„Ihr sagtet, ich würde verhungern.“

„Aye, ein Mann würde verhungern, aber ein Mann wie er? Es ist Niemandsland, es gibt Süßwasser, Ziegen und Früchte. Selbst im Winter ist es warm und selten gehen Matrosen an Land. Er hat Pfiff, ohne Frage und vielleicht würde er dort leben können.“

Ich starrte Black an, dann sah ich zum Fenster hinaus, wenngleich ich nichts sehen konnte außer blau. Sogar Black war die Idee gekommen, dass ich dort allein leben könnte, also war es vielleicht doch keine unrealistische Träumerei gewesen.

Er schwieg und ließ mich nachdenken und so versank ich erneut in meinen Fantasien. Ich sah mich in meiner Hängematte zwischen zwei Bäumen liegen, neben mir eine Ziege, ein Krug Ziegenmilch, ein Korb Früchte… Hinter mir lag ein kleines Haus aus dessen Schornstein Rauch in den Himmel zog und nebenan lag ein Stall mit großen, dicken Schweinen.

Doch dann begann ich intensiver nachzudenken. Ich stellte mir vor, wie ich dieses Haus bauen musste und versagte bereits an der bloßen Vorstellung, Steine oder Baumstämme besorgen zu müssen. Dann dachte ich darüber nach, dass ich Krüge anfertigen müsste oder Obstkörbe, Ziegen fangen und zähmen, melken, ja sogar die Werkzeuge dafür musste ich selbst irgendwie bauen. Äxte, Hammer, Eimer, Hocker, Tische…

Ohne Frage war dies alles möglich, aber auch für mich? Und das erste Mal im Leben verfluchte ich meine Faulheit im Kloster. Hätte ich dort an der Arbeit teilgehabt, wüsste ich, wie man Ziegen molk und würde nicht in Gedanken vor spitzen Hörnern wütender Böcke davon rennen. Und wenn ich auf die Ziegenmilch verzichtete?

Doch bei dem Gedanken sie jagen, häuten und ausweiden zu müssen schüttelte es mich erneut und leicht angewidert starrte ich Black an. Wie kam dieser alte Idiot nur auf die Idee, ich würde allein auf einer Insel verrotten wollen?! Und genau das sagte ich ihm auch:

„Niemals, das kann nicht Euer Ernst sein! Ich! Allein auf einer Insel?! Nicht einmal im Traum!“

Und Black lachte, als hätte er meine Gedanken erraten, so dass ich leicht rot wurde.

Wir schwiegen eine Zeit und ich sah dem alten Smutje zu, wie er nach hier und nach da hüpfte und geschwind die zauberhaftesten Essen aus den widerwärtigsten Zutaten zustande brachte. Fast hatte er es schon wieder geschafft, mich zum schweigen zu bringen, doch da fragte ich erneut: „Black, wie komme ich wieder an Bord?“

Er lehnte die Krücke an die Wand und setzte sich mühsam auf einen der Schemel, dann ließ er seinen Hut auf den Tisch fallen. Unaufgefordert folgte ich und ließ mich auf den zweiten Hocker sinken.

„Aye… Nun, wenn er denn wieder an Bord will, dann soll es ohne Frage so sein. Gewiss werden wir mit mehreren Booten an Land gehen, mein Wort darauf. Soll er eben in eines jener ohne Wilkinson steigen.“

„Und das geht gut?“, ich sah ihn skeptisch an und wieder grinste er verschwörerisch.

„Es muss, sonst ist er Fressen für die Fische.“

Und diese Antwort musste mir wohl genügen. Eh ich ihn weiter befragen konnte kam der Bootsmann herein und befahl uns schroff an Deck zu kommen, für die weitere Planung. Seine miese Laune warnte uns bereits vor den Unruhen und als wir dem Befehl nachgingen standen wir einer Meute ungeduldiger und entnervter Matrosen gegenüber.

Wie verlangt sammelten wir uns um den Großmast herum und sahen hinauf zu Wilkinson. Dieser stand am Oberdeck, seinen mächtigen, blauen Hut fest auf dem Kopf und die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Unmittelbar neben ihm stand Robert und begann die Befehle hinaus zu brüllen. Sofort war es still.

„Wir sind derzeit 48 Männer, 12 haben auf dem Weg hier ihr Leben oder ihre Ehre verloren, wenn ihr verfluchten Hunde überhaupt jemals welche hattet! Selbstverständlich werden nicht alle gleichzeitig an Land gehen können!“, die Matrosen stöhnten auf oder stießen Flüche aus, aber als Robert laut aufbrüllte verstummte jeder sofort wieder: „Ruhe ihr verdammten Schweine! Wir werden euch aufteilen, die eine Hälfte übernimmt die Schiffswache, die andere, größere Hälfte, geht an Land und hilft beim Verlagern der Waren! Sechzehn Mann pullen mit den Booten, der Rest verstaut oder trägt zum Versteck! Und jetzt stellt euch in vier Reihen auf ihr vermaledeiten Bastarde und hört auf zu murren, sonst setzen wir euch aus!“, sein hasserfüllter Blick ging über Deck und leise flüsternd und knurrend taten die Matrosen, wie geheißen. Es dauerte einige Zeit, bis sich alle in Vier Reihen aufgestellt hatten. Auch Black und ich reihten uns ein, er direkt hinter mir, vor mir zwei, drei Matrosen und anschließend Tom. Ich erkannte ihn aufgrund seiner Größe und ich sah, wie er einem der Männer auf die Schulter klopfte. Es kam mir seltsam vor.

Robert kam vom Oberdeck und lief düster durch die Reihen. Wahllos tippte er einige der Männer an und befahl mal „Du an Land!“ oder „Du hast Wache!“ Er wies mehrere an, sich zu den Booten zu begeben, andere sollten ins Lager gehen und die Kisten rauf holen. Mir fiel auf, dass jene, die leise miteinander tuschelten an Land geschickt wurden, ebenso Tom und derjenige, welchem er auf die Schulter geklopft hatte. Robert hatte mit den Meuterern zu tun, das war offensichtlich. Als er bei mir ankam, dem Vorletzten, wandte er sich zuerst an Black.

„An Land.“, brummte er düster. Black zog den Hut und grinste breit.

„Aye, wenn der Käpt’n das so will?“, und seine Stimme wirkte höhnisch auf mich.

Dann wandte Robert sich an mich. „Du hast Wache, Son.“

„Aye.“, ich versuchte möglichst gleichgültig zu wirken. Niemand sollte merken, dass es mir etwas ausmachte.

Doch das war nicht alles, das der Maat zu mir sagte. Robert wollte schon abdrehen, da hielt er inne und sah mich noch einmal direkter an. „Was ist mit deinem Gesicht passiert?“

„Eine Prügelei, Sir.“

„Mit wem?“

Zögern. Ich registrierte, dass nicht nur Black und Robert mich ansahen, sondern auch einige umstehenden Matrosen mich beobachten – ebenso wie Wilkinson. Ich straffte die Schultern etwas und sah Robert bewusst gleichgültig in die Augen. „Ich weiß es nicht, Sir.“

Robert zog eine Augenbraue hoch und ich war unsicher, ob es ungläubig oder spöttisch gemeint war. „Du weißt es nicht, Mann?“

„Es war dunkel.“, da mir niemand meine Lügengeschichte abzukaufen schien fügte ich mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu: „Schade. Wenn ich nicht so ein Schwächling wäre, dann könnte man ohne Frage den Angreifer am blauen Gesicht erkennen. Aber leider komme ich ja nicht mal gegen einen kleinen Jungen an, wenn er betrunken ist.“

Das brachte Robert zum schmunzeln und mit dem Satz: „Lass dich vom Feldscher untersuchen.“, wandte er sich ab und ging.

Ich salutierte leicht und wollte bereits zurück in die Kombüse, als Black mir vertraut wie eh und je den Arm um die Schulter legte um mich zu begleiten. Ich konnte ihn nicht abweisen und so ließ ich mich als Stütze missbrauchen, während er hüpfte und hinkte und leise zischte:

„Es war dunkel, aye?“

„Aye.“, wiederholte ich lediglich. „Es war dunkel.“

Kopfschüttelnd und grinsend begab er sich geduckt zurück in die Küche.
 

Black und ich kochten die feinste und beste Suppe, die ich jemals in meinem Leben gegessen habe. Wir benutzten dafür allerhand Kräuter, die mir völlig unbekannt waren und wir kochten so viel, dass wir letzten Endes ein ganzes Fass damit füllen konnten. Dieses sollte später mit an Land genommen werden, ebenso wie mehrere Fässer Rum. Ohne Frage würde es eine sehr große Feier geben und ein wenig betrübt wurde ich schon, da ich nicht daran teilhaben konnte.

Während der ganzen Arbeit schwiegen wir, zu meiner Erleichterung, denn ich hätte ihn nicht belügen können. Black war der Charakter von Mensch, dem man nichts vormachen konnte. Selbst wenn ich lügen wollte, er hätte mir sowieso nicht geglaubt und mich durchschaut. Generell schien er stets den Überblick zu haben und zu wissen, was vor sich ging. Er wirkte stets wie jemand, der informiert war. Wenn es Streit an Bord gab, dann wusste er das. Wenn es Probleme im Lager gab, dann ebenso. Es wirkte fast, als wäre er stets überall, ein Teil des Schiffes. „Inventar“, wie Wilkinson zu sagen pflegte. Und genau das ließ mich in seiner Gegenwart nervös werden.

Jede Sekunde rechnete ich damit, dass er mich aus heiterem Himmel ansprach und nach Kai fragte. Grundlos, ohne jede Vorwarnung, wie es seine Art war. Und allein, dass er das nicht tat, verunsicherte mich noch mehr. Zudem stieg meine innere Angespanntheit. Würden sie auch die Kiste an Land bringen? Würden sie hinein sehen? Und wie würden sie auf Kai reagieren?

Robert hatte mein blau geschlagenes Gesicht gesehen und ich konnte nur hoffen, dass ich zu unwichtig für ihn war, als dass Kais Anblick mich in seine Erinnerung zurück rufen konnte.

Als wir fertig waren setzte Black sich wieder auf seinen Schemel und streckte sein Bein aus. Es wirkte für einen kurzen, winzigen Augenblick, als hätte er Schmerzen, aber ich ignorierte es und wollte die Kombüse verlassen: Zu Spät.

Die kurze Sekunde, diee ich benutzt hatte, um wie so oft über sein fehlendes Bein nachzudenken war mir zum Verhängnis geworden. Ein dunkles „Son.“ durchdrang die Stille und unwillig drehte ich mich zum Seebären zurück. Er deutete mir mit der Hand, dass ich mich neben ihn setzen sollte. Sein Blick war anders als sonst. Lächelnd, aber zugleich ernst und bestimmend.

Mit einem Mal begann mein Herz intensiv zu rasen und ich hatte das Bedürfnis hinaus zu rennen. Stattdessen blieb ich einige Sekunden stehen, nickte und setzte mich gehorsam zu ihm. „Was ist damit?“, er nickte zu meinem Gesicht und sah mich forschend an. Ich versuchte seinem Blick bewusst nicht auszuweichen.

„Eine Prügelei.“

„Aye…“, Black schwieg und sah vor sich auf den Tisch. Er musterte seine Hand, ich folgte seinem Blick. Da er gekocht hatte, hatte er den schwarzen Lederhandschuh ausgezogen und man sah gebräunte Haut, etwas heller jedoch als sein Gesicht und kaputte, dunkle Nägel. Wie die Hände jedes Seemanns waren auch die seinen vom Leben des Meeres gekennzeichnet. Etliche kleine Narben zogen sich über seine Handflächen, kreuz und quer, fast wie eine Landkarte. Unbewusst versuchte ich zu schätzen, wie viele es waren aber es war schwer, denn ich konnte nicht einmal mehr unterscheiden, welche der Furchen Spuren seines Lebens und welche ganz natürlicher Art waren. Als ich nach einigen Sekunden wieder aufsah zuckte ich leicht zusammen, denn er starrte mir direkt in die Augen. Es schien fast, als hätte er mich bei meinen neugierigen Blicken beobachtet und um seinen Mund zog sich ein leichtes Schmunzeln. Was dachte er, wenn er mich so ansah? Versuchte er meine Gedanken zu lesen oder hatte er sie bereits erraten? Black nahm seinen Hut ab und legte ihn zwischen uns auf den Tisch, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann nickte er und sah zur Tischplatte.

Ich folgte seinem Blick. Ich fühlte mich unwohl. Er hatte mich gebeten, mich zu ihm zu setzen und nun schwieg er mich an. Was sollte das? Wollte er, dass ich ihn frage? Den ersten Schritt mache? Oder sollte ich mich unsicher fühlen, nervös werden?

Ich beschloss direkt zu sein.

„Ihr wollt mit mir reden?“, er sah nicht auf und wiegte den Kopf.

„Aye, so könnte man es nennen.“, als er aufsah war sein Blick leicht traurig. „Son. Er muss vorsichtig sein. Der alte Black hat alles versucht und gewiss steht er vorne dran, darauf kann er sich verlassen. Aber auch der, der Herr der Segel ist, bestimmt niemals den Wind, mein Junge.“

„Ich verstehe nicht.“

„Aye…“, er sah wieder zum Tisch. Black schien nachzudenken. Als er wieder aufsah beugte er sich leicht vor. Ausnahmsweise roch sein Atem nicht nach Rum und das verunsicherte mich noch mehr. „Er soll vorsichtig sein, mehr will der alte Black nicht sagen…“, und dann schlug er mit der Hand zwei Mal sanft gegen meine blaue Wange. „Das passiert nicht grundlos im Dunkeln, aye?“

„Ich habe nichts getan.“, verteidigte ich mich und drehte den Kopf weg. „Und ich weiß wirklich nicht, wer das war.“

„Und wo ist Kai der bescheuerte Halunke?“, ich sah ihn düster an, aber sein Blick verriet weder Drohung noch Anklage. Black starrte mir in die Augen, dann fasste er mir an die Schulter und zog mich leicht zu sich. „Ich will ihm nichts Böses, mein Wort darauf, er weiß das gut genug, aber er weiß es nicht ernst zu nehmen, so scheint mir!“, ich wollte mich lösen, doch Black fasste mich fester und schmerzhaft. Widerwillig blieb ich vorgebeugt direkt vor seinem Gesicht und starrte ihn an. Seine Augen nahmen einen düsteren Ausdruck an, während er zischte: „Son, Junge, zuhören! Hinter mir stehen so einige und die meisten sind nicht gut auf ihn zu sprechen, oh ja, das kann er mir glauben. Aber der alte Black gibt sein Bestes, dass er und ich hier heil heraus kommen und er sollte auch sein Bestes dazu tun, statt dagegen.“

„Dass ich nicht lache…! Ihr habt mich in diese Sache hinein gezogen, Ihr allein tragt Schuld daran! Hättet Ihr mich nicht zu Blackborn geschickt, dann-…!“

„Nein, Son, nein.“, sein Griff wurde fester und schmerzverzerrt ruckte ich an meiner Schulter, aber er wollte einfach nicht los lassen. „Der alte Black wusste, dass Blackburn schanghait, aye, aber nicht, dass der alte Wilkinson ihn kaufen würde! Seit fünf Jahren segele ich unter diesem Mann, aber nie hat er Geschäfte mit dem Pudergesicht gemacht, das kann er mir glauben!“

„Ich glaube es aber nicht und jetzt lasst mich los!“, ich ruckte erneut und als ich los war, stand ich auf, doch er fasste mich so hart am Handgelenk und riss mich zurück auf den Platz, dass ich zusammen zuckte. Wieder umfasste er mich, kühl und drohend und völlig ruhig. Ich hielt seine Hand und wollte sie lösen, doch er weigerte sich den Griff zu lockern und riss mich wieder ganz nah an ihn ran. Es schmerzte.

„Er soll mir zuhören, verdammt noch mal!“, zischte er leise und verhängnisvoll.

„Sprecht, aber lasst mich los oder ich werde keines Eurer Worte beachten!“

„Das werden wir sehen…!“, ich stieß scharf die Luft zwischen den Zähnen aus, als Black fester zudrückte und seine Augen grinsten leicht höhnisch. „Er muss noch viel lernen, Son, sehr viel…“

„Was wollt Ihr?!“, zischte ich zurück.

„Aye… Ich werde an Land gehen, mit den anderen und er ist nicht dumm, er weiß was hier gespielt wird. Er lauscht nicht umsonst in Lagerräumen, dieman nicht betreten darf.“

„Ihr wusstet, dass ich-…?“, ich stöhnte vor Schmerz auf, als er mich ruckartig zum Schweigen brachte und zwangsweise musste ich gebeugt den Kopf heben, um ihn anzusehen. Noch ein wenig mehr und mein Handgelenk würde wohl knacken.

„Allein dafür sollte man ihn schon auspeitschen, aber der alte Black wird hier ja nicht gefragt!“, zischte er mir zu und sah kalt auf mich hinunter. „Er kann von Glück reden, dass keiner dieser Idioten ihn bemerkt hat! Dass Kai zurückgegangen ist, ist unpraktisch, aber nicht bedauerlich… Aber er sollte sich hüten noch mehr Probleme zu machen! Son, Junge, es ist nichts Böses, Hand ins Feuer dafür, wenn man so will. Aber der alte Black bürgt für ihn und sollte er etwas anstellen, liefert er uns beide ans Messer, ihn und mich!“

„Ich habe Euch nie gebeten, mich in diese Sache hinein zu ziehen…!“

„Es ist nur zu seinem Besten. Er ist hier nicht angesehen und diese kleine Unterstützung seinerseits wird ihm so einiges an Respekt einbringen.“

„Verkauft mich nicht für dumm! Ihr wart es doch, der die Matrosen auf mich gehetzt hat!“

Black grinste. „Er hat Pfiff.“, doch dann wurde er wieder ernst und damit sein Griff wieder deutlich fester. Ich wimmerte leise auf, sank zu Boden und umklammerte meinen Arm, ängstlich, dass er mir das Handgelenk brechen könnte. Black beugte sich vor und zischte mir drohend ins Ohr:

„Es tut mir leid, Son, und das sage ich ihm in vollem Ernst. Ich mag ihn, er ist mir sympathisch, aber sollte er uns weiter behindern, statt sein Bestes dazuzutun, dann wird das Konsequenzen für ihn haben, die ich nicht verhindern kann, selbst wenn ich wollte.“

„Lasst mich los, Ihr tut mir weh, verdammt…!“ Ich hielt den Schmerz kaum aus, aber er fuhr ungerührt fort:

„Er hat gehört, was die Idioten vom alten Black behaupten. ‚Mit jedem Bein in einer Partei’ sagen sie. Aye, wenn etwas schief geht, sind wir dran, er – Son - und ich. Und der alte Black hat nicht fünf Jahre seines Lebens mitgespielt, damit es aus ist wegen ihm, das soll ihm gesagt sein. Und noch etwas soll ihm gesagt sein!“, er zog noch fester an und verzweifelt legte ich die Stirn auf meinen Arm und kniff die Augen zu. Ich biss die Zähne so stark zusammen, um nicht erneut zu wimmern, dass mein Kiefer zu schmerzen begann. „Ich habe ihn im Auge, sehr gut sogar und ich sehe alles, was er treibt und er soll nicht denken, dass er allein auf dem Schiff ist. Ich passe auf Son, mein Wort darauf…!“

Dann, endlich, ließ Black mich los. Erleichtert sackte ich in mich zusammen und umklammerte meinen Arm. Er beachtete mich nicht, sondern setzte sich den Hut auf und griff nach seiner Krücke. Ächzend erhob Black sich und sah auf mich herunter. Ich sah nicht auf. Ich hatte Schmerzen und ich war so wütend, dass es mir fast Tränen in die Augen trieb. Wütend auf ihn und wütend über meine Schwäche. Gedemütigt und mit gesenktem Kopf blieb ich hocken und bekam mit, wie der Mann mir auf die Schulter fasste. Er schien einige Sekunden zu überlegen, ob er etwas sagen sollte, aber er schwieg, ließ mich und dann ging er hinaus. Ich hörte, wie sein Holzbein bei jedem Schritt klackte, dann wie die Treppe unter seinem Gewicht knarrte. Kurz wurde es dämmrig im Raum, als sein Körper das Sonnenlicht am Eindringen hinderte, dann war ich allein. Als ich aufsah war die Kombüse leer und die Pfannen klapperten leise unter den Bewegungen.

Ich wollte ihn verfluchen für dir Schmerzen die ich hatte und auch für seine grobe Art, mit mir umzugehen, aber ich tat es nicht sondern starrte ihm finster nach. Es war eine Warnung gewesen und vielleicht war sie gut gemeint – vielleicht hatte er aber auch nur Angst, ich würde ihn in Schwierigkeiten bringen. Die Tatsache, dass von meinem Handeln auch sein Leben abhing beruhigte mich etwas, wenngleich sie auch nichts Gutes verhieß. Denn wenn ich sterbe, dann war er ohne Frage ein Risiko los. Allerdings durfte ich erst dann sterben, wenn er den Schlüssel hatte, denn scheinbar hatte er sein Wort gegeben, dass ich ihm diesen besorgen würde. Somit konnte ich, zumindest bis die Sache mit dem Schlüssel erledigt war, ohne Angst leben, plötzlich ein Messer im Rücken zu haben.

Aber wie stand Black wirklich zu mir? War ich ihm wirklich sympathisch, oder wollte er mich nur benutzen so viel es ging?

Die Tatsache, dass er mich im Lagerraum nicht verraten hatte, sprach für ihn.

Dass er allerdings hatte Kai zurück gehen lassen gegen ihn.

Ich richtete mich auf und rieb mir das Handgelenk. Es schmerzte stark, wenn ich die Hand bewegte und ich konnte nur hoffen, dass dies mit der Zeit wieder nachlassen würde. Jede noch so kleine Schwäche könnte mir in den nächsten Tagen zum Verhängnis werden und ich hatte nicht vor, für meine Feinde ein leichtes Opfer zu sein. Ian hatte ich abgewehrt, Kai war gestorben. Es erfüllte mich mit Stolz, dass ich noch immer lebte und ich war voller Zuversicht, was die Zukunft anging – aber nicht, wenn ich nur einen Arm hatte.

Wie von Robert befohlen begab ich mich zum Feldscher, wenn auch erst nach einigen Minuten, die ich schweigend und nachdenkend in der Kombüse verbracht hatte. Ich wollte unter keinen Umständen Black begegnen. Seine Einschüchterungsversuche demütigten mich und ich wollte ihm möglichst nicht mehr in die Augen sehen und an meine permanente Schwäche erinnert werden. Zu meiner Erleichterung wurde meine Hand lediglich in einen Verband gewickelt, der so locker war, dass er mich nicht ansatzweise an Bewegungen hinderte. Allerdings war der Feldscher mit meinem Kopf nicht ansatzweise zufrieden. Die Platzwunde von Kais Stoß gegen die Wand bereitete ihm Sorgen, da ich ja ohnehin „eine Schädigung“ hatte und er fragte mich darüber aus, ob ich in letzter Zeit Halluzinationen, Angstzustände oder Melancholieleiden hatte. Anscheinend ging er davon aus, ich hätte mir diese Verletzung selbst zugefügt. Zu seiner Erleichterung verneinte ich alles, denn ich wollte auf keinen Fall irgendwelche Drogen nehmen – es würde sicherlich auch ohne Medikamente schwer werden, in die Kajüte des Kapitäns zu kommen. Als ich genügend untersucht und befragt worden war und zurück an Deck trat, herrschte reges Treiben. Man hatte die Boote hinunter gelassen, gefüllt mit Fässern und Kisten, bereit für die erste Fahrt zur Insel.

Es war so weit…

Die Kajüte des Kapitäns

Ich stand an der Reling und sah zu, wie die Matrosen mit den Booten Richtung Niemandsland und zurück fuhren. Ich rechnete jederzeit damit, dass man die Kiste, in welcher Kai lag, an Deck schleppen würde. Aber zu meiner Erleichterung geschah das nicht.

Allerdings war es auch eine weitere Sache, um die ich mir den Kopf zerbrechen musste, denn wie sollte ich ihn sonst aus dem Lagerraum bekommen?

Zu meiner Verwunderung wurde das Blut auf dem Boden nicht weiter beachtet. Ich hörte, wie man deswegen nach Robert rief, aber er winkte nur ab und koordinierte weiter das Verladen.

Der Wasserspiegel war gesunken, es herrschte Ebbe und der weiße Strand, welchen ich hinter den Klippen erblickt hatte erstreckte sich nun bis vor jene und noch weiter. Rechts reichte eine Landzunge mitten in den Ozean, als sei es ein Weg, gebaut für Neptun persönlich und vor unserem Schiff war ein meterlanger Strand voller Muscheln und Algen. Das Getose und Donnern der Brecher hatte aufgehört, da das Wasser die Klippen nicht mehr erreichen konnte und eine angenehme Stille kehrte ein. Die Matrosen mussten nicht weit pullen, bis sie den Sand erreichten, aber ich sah, dass sie teils bis zu den Knöcheln im Schlick versanken. Es dauerte Stunden, bis sie fertig waren. Wohin sie die Waren brachten wusste ich nicht. Mit jeder Kiste gingen sie in die Bucht hinein und waren so außer Sichtweite.

Als sie dann endlich fertig waren griff Black mich zur Seite, um mich noch einmal daran zu erinnern, dass ich mir Mühe geben sollte. Ich antwortete nicht, sondern nickte nur und wandte mich ab.

Dann sah ich zu, wie sie Richtung Strand verschwanden. Während je acht Männer auf den Duchten Platz fanden, stand Black vorne an der Spitze und gab Anweisungen und ein wenig wehmütig lehnte ich mich gegen das hölzerne Geländer.

Um mich herum wurde es ungewohnt leise. Nur wenige waren an Bord geblieben und sahen leicht mürrisch den anderen hinter her – unter anderem Robert.

Er jedoch schien nicht wehmütig, oder neidisch, eher gereizt. Er lief umher und wies die Männer wütend an, an die Arbeit zu gehen und dafür zu sorgen, dass die Caroline nicht anfängt zu gieren. Ich beobachtete ihn eine Zeit lang, dann wandte ich mich ab und schaute zur Kajüte des Kapitäns. Wie sollte ich dort hinein kommen? Und würde Robert mich unterstützen? Immerhin gehörte er scheinbar zu den Meuterern.

Ein hasserfüllter Blick seinerseits jedoch brachte meine Gedanken zum schweigen. Er starrte mir direkt in die Augen und blieb mitten auf Deck stehen. Wie ein wilder Hund, der auf eine Reaktion meinerseits wartete, um zuzupacken. Seinen Mund umspielte ein leichtes Grinsen und ich schluckte schwer. Nein, Robert war gegen mich, er war wie Kai. Er hasste mich und wollte Black beweisen, dass es ein Fehler war, dass er mich für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Oder wusste er vielleicht gar nicht, dass ich diese Aufgabe hatte?

Ich wandte mich ab und sah hinüber zum Niemandsland. Die Männer waren verschwunden, die Boote wurden mit an Land genommen. Nichts zeugte mehr davon, dass Menschen diese v Insel je betreten hatten. Wieder kam mir der Gedanke, dass, würde ich dort leben, mich vielleicht nie jemand finden würde. Vielleicht gibt es eine Höhle, oder ich könnte eine Art Baumhaus bauen? Aber ich verwarf die Idee sogleich wieder.

Letzten Endes waren diese Fantasien nichts weiter als versuchte Ablenkungen vom ernsten Unterfangen direkt vor mir, und ich hatte jetzt keine Zeit mehr, dieses vor mich her zu schieben. Ich meinte Roberts Blicke im Rücken zu spüren und es machte mich fast verrückt. Meine Nackenhaare stellten sich auf und fieberhaft überlegte ich, wie ich ihn loswerden sollte, aber als ich mich herum drehte, war niemand zu sehen. Ich hatte es mir nur eingebildet. Ich fuhr mir durchs zause Haar. Es war kein gutes Zeichen, dass meine Nervosität so stieg. Sollte sie weiter ansteigen, war es gut möglich, dass sie mich bei meinem Vorhaben behinderte.

Ich ging auf Deck umher, darauf bedacht, dass ich keinem auffiel. Mit Sicherheit war die Kajütentür verschlossen. Unmöglich konnte ich sie am helllichten Tag aufbrechen. Allerdings musste ich den Schlüssel bis Sonnenuntergang haben, denn ohne Sonne konnte ich Black auch kein Zeichen geben.

Die wenigen Matrosen, die an Bord waren, hatten sich auf Deck gelegt, oder spielten Karten und anderes, was in Anwesenheit des Kapitäns verboten war. Ab und an hörte ich sie lachen, fluchen, oder gröhlen und beim Vorübergehen registrierte ich unterschwellig den starken Geruch von Rum.

Irgendwann gab ich auf. Niedergeschlagen lehnte ich mich wieder an die Reling und tat, als würde ich mich nach dem Festland sehnen. Es war aussichtslos. Ich würde weder unbemerkt hinein kommen, noch konnte ich Hilfe erwarten. Im Gegenteil:

Sollte mich jemand erwischen, war mein Leben mit großer Sicherheit zu Ende. Keiner hier an Bord würde mich schützen. Selbst wenn es eine Verhandlung gäbe, ehe man über mich richten würde, würde Black sich für mich einsetzen?

Doch dann kam mir eine Idee…
 

Es vergingen mehrere Stunden ohne großartige Ereignisse, weswegen ich auf diese nicht weiter eingehen möchte. Die Sonne stand mittlerweile etwas tiefer, der Wind wurde ruhiger und die Gewässer hatten sich etwas beruhigt. Wenn man ganz still war, hörte man ab und an lautes Lachen von der Insel her, aber es könnten auch Fantasiegespinste sein. Weit am Horizont an den Klippen der linken Buchtseite stieg Rauch auf – ein Lagerfeuer scheinbar – aber sehen konnte man niemanden. Die Matrosen an Bord hingegen waren nicht in Feierstimmung. Sie hatten sich betrunken und ab und an drangen die Laute von Streitereien zu mir herüber. Ich hörte lautes Gerede, gefolgt von Verwünschungen und Flüchen und dann wieder abrupte Stille, bis es erneut losging. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich gegenseitig an die Gurgel springen würden in ihrem Rausch. Aber besser so, als wenn sie gar nichts von den Feierlichkeiten gehabt hätten, dachte Wilkinson sicher.

Ich lungerte am Ruder herum und lief auf dem Oberdeck umher, aber keiner nahm Notiz von mir. Die Männer sahen kurz auf, dann stritten sie weiter und spielten Karten. Eine Zeit lang stand ich oberhalb und sah ihnen zu, bis sie sich an meine Anwesenheit gewöhnt hatten. Dann ging ich an die Heckreling. Nun war ich direkt über der Kajüte des Kapitäns und wenn ich hinunter sah, blickte ich auf die großen Fensterscheiben und die hölzerner Meerjungfrau, welche dazwischen postiert war. Ähnlich wie bei der Galionsfigur unter dem Bugspriet, sah ich auch hier die hölzernen Krull-Schnitzereien in Formen von Geigenschnecken um die Figur herum und auch am oberen Ende der Fensterläden. Sie waren ebenso mit Wellen und Schnörkeln verziert und passten durch ihre Muster und Windungen zu den Metallverzierungen vor den Fensterscheiben. Jenes vom schwarzen Metallgitter, welches angebracht war, damit die Scheiben nicht brachen durch die starken Wellen. Ich sah kurz zurück, aber keiner nahm Notiz von mir und so band ich ein Reep an die abgerundete Heckleiste und das andere Ende um meinen Bauch. Ich zog Testweise an dem Seil, doch da es fest schien schwang ich mich über die Reling.

Mein Herz schlug etwas schneller, als ich das Rauschen der Wellen unter mir bewusster wahrnahm. Es wurde ein bedrohliches Rauschen und Schlagen gegen das Holz. Als würde es mir zuflüstern wollen ‚Du kannst nicht schwimmen, Sullivan, gleich ist es aus…!’

Langsam begann ich, mich runter zu lassen und zugleich verfluchte ich mich. Ich hätte Wilkinson Bescheid sagen sollen, ich hätte ihn warnen sollen, Black verraten…!

Meine Arme zitterten vor Anstrengung und leicht ängstlich starrte ich auf meine bloßen Füße. Mit ihnen stützte ich mich vom Holz ab, in der Hoffnung ich würde nicht rutschen, aber ich tat es und es kostete mich alle Überwindung, nicht zu fallen. Die Schwerkraft zog an meinem Körper und meinen Kopf in den Nacken. Was könnte passieren?

Mein Seil war fest. Ich würde nicht ertrinken. Die Versuchung los zu lassen und um Hilfe zu schreien war enorm. Besonders, als ich die armlose Figur passierte, welche zwischen den Fenstern hing. Sie hatte den Kopf erhoben und starrte in den Himmel. Erleichtert ruhte ich mich auf ihr aus und sah hinunter. Das Wasser schien noch genauso gewaltig entfernt, wie zuvor und die Wellen, als würden sie nach mir greifen wollen. Ich schluckte schwer, dann sah ich hoch. Diese winzige Entfernung wirkte enorm für mich und mein Herz schlug noch schneller, als mir bewusst wurde, dass ich dort wieder hinauf müsste.

Dann kletterte ich tiefer. Schon bald kam ich am Korpus der Schönheit vorbei, welche ich in Gedanken Amélie getauft hatte und ich flüsterte eine leises „Entschuldigung, Lady…“, als ich mich an ihren Brüsten entlang schob. Sie sah unheimlich traurig aus und ich fragte mich, wie oft sie wohl besuch dort hinten hatte.

Dann erreichte ich die Fenster zur Kajüte des Kapitäns. Sanfter Sprühregen legte sich auf meinem Gesicht ab und immer wenn ich mir über die Lippen leckte, schmeckte ich das Salz der See. Die Fenstersimse waren nichts weiter, als wenige Zentimeter breite Einkerbungen, weswegen ich mich mit Mühe und Not am Reep halten musste, dass meine Hände nur so schmerzten. Das Handgelenk, welches Black mir verdreht hatte, brachte meinen Arm zum zittern. Ich musste alles aufbringen, nicht einfach los zu lassen. Ich lugte ins Innere des Zimmers, aber es war nicht beleuchtet und sollte jemand darin sein, hätte er mich auf jeden Fall bemerkt. Auch hatte ich keine Zeit mehr. Meine Kraft ließ nach und die Sonne sank ununterbrochen weiter hinab. Ich umwickelte meinen Arm mit dem Rest Seil, dann zog ich das Küchenmesser aus meiner hinteren Hosentasche, welches ich aus der Kombüse geklaut hatte. Vorsichtig schob ich es zwischen zwei Fenster ins Innere. Dann schob ich es einmal bis ganz nach oben. Wie erwartet stockte es erst ein, dann ein zweites Mal. Als ich die Klinge hinaus zog waren die Vorreiber gedreht und das Fenster geöffnet. Ich atmete erleichtert auf und schlüpfte in die Kajüte. Noch nie war ich so erleichtert gewesen, denn wahrlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass man einfach einbrechen konnte.

Als ich im Innern war schloss ich die Fenster, wie aus Angst, man könnte mich von der Insel aus beobachten und als erstes stand ich einfach nur da. Mein Herz raste, der Schweiß lief mir von der Stirn und meine Hände zitterten unwahrscheinlich stark. Dann sah ich mich um.

Unmittelbar vor mir lagen die Fenster und gaben mir einen unvergesslichen Ausblick aufs hellblaue Meer. Niemals werde ich diesen Anblick vergessen. Durch die dunklen Verzierungen an den Fenstern wirkten die Farben noch intensiver als ohnehin schon. Das Wasser war ungewöhnlich hell, eine Mischung aus ultramarin und azur. Kein einziges, weißes Pünktchen weit und breit, keine Schaumkrone, keine Gischt. Ein riesiger, wunderschöner Teppich, der am anderen Ende des Horizonts mit dem Himmel zu verschmelzen schien. Es war so schön, dass es an ein Gemälde erinnerte und das kleine Sofa vor den Fenstern, eher eine Bank mit alten und vergilbten Kissen, schien unsagbar alt und staubig.

Auch auf den Figuren zwischen den fünf riesigen, nebeneinander liegenden Fensterscheiben lag Staub. Es handelte sich um vier Miniaturausgaben von Amélie. Vier Frauenkörper ohne Arme, ebenfalls mit erhobenen Köpfen und ihre Beine endeten spitz zulaufend in Wellen und Wasser. Direkt unter ihnen waren messingfarbene Kerzenhalter angebracht, welche ihre Gesichter mit Sicherheit fabelhaft beleuchten würden.

Als ich mich umdrehte, machte der Raum einen düstren und klüftigen Eindruck auf mich. Alles war in tiefes, dunkles Braun gehalten. Wilkinsons Kajüte war recht klein, aber so leer, dass es fast gewaltig wirkte, wenn man an die noch kleineren Räume der Kombüse gewöhnt war. Überall hatte er kleine Plätze, Schränke und Schubladen. Unter dem Sofa, unter seiner von einem weinroten Vorhang bedeckten Koje, ja sogar oben darüber in Vertiefungen der Decken, als wären es Hängeschränke. Etliche, winzige Regale tummelten direkt unter der Decker einmal im Kreis durch das Zimmer, in Abständen von einem Meter je mit einer kleinen, winzigen Holzsäule verziert. Sie waren gefüllt mit Büchern, Krügen, Metallvasen und allerhand anderem. Ich entdeckte sogar ein, zwei kleine Rumfässchen oder grüne Flaschen, so wie Tabakdosen, eine Pfeife und seltsame Gerätschaften der seltsamsten Art. Ich wagte es kaum einen Schritt zu tun, aus Angst jedes Knarren könnte mich verraten. Natürlich war das Unsinn.

Kurz verharrte ich, als die Matrosen laut lachten und mir wurde klar, wieso Wilkinson stets miese Laune hatte. Selbst in seinem Schlafraum hatte er niemals Ruhe vor der Mannschaft.

Langsam ging ich auf den mahagonifarbenen Schreibtisch zu, welcher gegenüber dem Sofa stand, mit dem Rücken zum Licht. Als Ausgleich hangen zwei große, schwarze Sturmlaternen schwankend darüber, leise quietschend. Ich schlich an den Tisch und musterte ihn genaustens, die Hände auf den schweren und verschnörkelten Stuhl. Ohne Frage war Wilkinson ein Mann des Details. Überall, egal wo ich hinsah, erblickte ich edle Verzierungen und Schnitzereien, sogar auf der Tischplatte. Wie ein Rahmen gab es eine lange, gewellte Linie einmal an der Tischkante entlang, oben mittig in einem Geschnörkel, welches meerartig ein kleines Segelschiff umringte. Ich hätte mich stark gewundert, hätte ich den begehrten Schlüssel einfach so entdeckt, dennoch musterte ich alles genaustens. Ein Tintenfass, eine Feder, ein kleines Messingfernrohr, Zirkel, Kohlestifte, ein brauner Geldbeutel, etliche Karten und Pergamente, ein Kompass, kleine Kisten, eine Tabakdose… Ein silberner, kleiner Kelch stand mitten auf einer Karte, noch halb voll und dunkle Ringe hinterlassend. Ich war erschrocken, wie unordentlich der Kapitän zu sein schien und fragte mich, wieso ich, der Schiffsjunge, nie sauber machen sollte. Der Geruch von Tabak, Staub und Rum hing in der Luft und verlieh dem Raum etwas Verruchtes und Gefährliches.

Dann begann ich die Schubladen zu durchsuchen, ganz langsam und vorsichtig. Wie eine üble Vorahnung beschlich mich der Gedanke, dass ich gar nicht wusste, wie dieser Schlüssel aussah und als ich ihn dann in der Hand hielt, beschlichen mich zudem noch Zweifel. Das kleine, goldene Stück glänzte in meiner Hand. Als ich die nächste Schublade öffnete stöhnte ich etwas zu laut entnervt auf. Ein weiterer Schlüssel kam zum Vorschein, er war silbern. Desto mehr ich all die Schubladen und Kisten durchsuchte, desto mehr Schlüssel fand ich. Manche konnte ich zurücklegen, da sie für die Kisten waren, welche ich zum erforschen aufschließen musste. Immer mehr Zeit verging. Ich fand einen Schlüssel, noch einen, noch einen und dann irgendwann eine verschlossene Kiste und so probierte ich alle durch, nur um noch einen Schlüssel zu finden. Es war zum verrückt werden, was tat ein Mann mit gut vierzig Schlüsseln?! Es schien kein Ende zu nehmen und Wilkinson kam mir fast ein wenig paranoid vor. Desto länger ich in der Kajüte war, desto ruhiger wurde ich, bis ich mich fast betäubt fühlte. Das Adrenalin hatte meinen Körper verlassen und alles was übrig geblieben war, hang lähmend und unheimlich beruhigend über mir. Ich achtete kaum noch auf den Lärm.

Am Ende blieben nur noch drei Schlüssel übrig. Erleichtert ließ ich meine Blicke kreisen. Alles war wie bisher. Nichts von dem, was ich angerührt hatte, zeugte von meinem Tun. Ich prägte mir gut die Fundorte der Schlüssel ein, dann nickte ich und drehte mich zum Fenster.

Ich steckte meine drei Fundstücke in meine hinteren Hosentaschen, ein wenig stolz grinsend, den von mir so verhassten Kapitän ausgetrickst zu haben. Gerade wollte ich wieder hinauf klettern, da steckte ich meine Hand tiefer hinein in meine Tasche und fuhr herum

„Die Scherbe…!“, zischte ich und sah mich hektisch um. „Ich habe die Spiegelscherbe fallen lassen…!“

Dann hörte ich abermals einen der Matrosen lachen, jedoch lauter und unmittelbar vor der Tür. Ich zuckte zusammen.

„Ich soll sein Notizbuch holen!“, rief er seinen Freunden zu, dann herrschte einen Augenblick Stille und er antwortete scheinbar auf eine Frage: „Ihr kennt den Käpt’n! Der würde mich sogar ans Ende der Welt schicken, um es zu holen!“, und während er den Käpt’n leise mehr zu sich selbst verfluchte mit einem gemurmelten „Elender Ausbeuter…“, schloss er die Tür auf. Ich erstarrte und mein Körper war wie gelähmt. Als wäre ich gebannt worden starrte ich die Tür an. Das Adrenalin kam zu mir zurück. Es schoss mir in Kopf und Körper. So plötzlich, dass ich das Gefühl hatte ohnmächtig zu werden und ich hielt ungewollt die Luft an.

Dann öffnete er lachend die Tür.

Die Ruhe vor dem Sturm

Der Matrose schloss die Tür hinter sich und suchte den Raum mit den Augen ab, jedoch war es zu dämmrig. Als er etwas erkannte, ging er zum Schreibtisch und entzündete eine der Laternen, dann sah er sich um. Sinnlos schob er einige der Pergamente hin und her, als könnte das Buch darunter liegen. Es dauerte nicht lange, vielleicht zwanzig oder dreißig Sekunden, aber mir kamen sie vor wie die halbe Ewigkeit. Als er das Buch endlich entdeckte – es lag im Schubfach oben links – nahm er es, wedelte kurz damit und flüsterte: „Dieser Idiot… Auf dem Schreibtisch, was? Dass ich nicht lache…!“, und mit diesen Worten wandte er sich ab.

Ich atmete tonlos auf, als ich sah, wie er abdrehte und die Tür ansteuerte. Ich hatte mich im letzten Moment unter den Schreibtisch gerettet und wie gebannt beobachtete ich seine Füße. Er hielt inne und drehte sich zurück. Sein Oberkörper und vor allem sein Gesicht waren außerhalb meines Sichtfeldes, aber anhand seiner Stiefel erkannte ich sehr gut, dass er in meine Richtung starrte.

„Sieh mal einer an…“, ich hielt den Atem an, als er auf mich zukam. „Wen haben wir denn da…?“

Mein Hirn setzte fast aus, mein Herz schlug so stark dass es schmerzte. Er hatte mich entdeckt...! Erneut blieb er stehen und in mir raste mein Puls. Sollte ich hervor springen oder mein Messer ziehen oder gar beides?

Es klapperte auf dem Tisch. Dann hörte ich, wie er leise lachte und ich sah ihn schon vor mir: Mit einem der Brieföffner des Kapitäns, wie er sich zu mir beugte, mich gehässig angrinste und die Klinge in meine Richtung hielt.

Aber stattdessen trank er einige Schluck Rum, den er vom Schreibtisch geklaut hatte, rülpste ausgiebig, stöpselte die Flasche wieder zu und stellte sie dumpf hörbar zurück. Dann fluchte er leise: „Bastard… Das hat du davon, unsere Rationen zu kürzen.“ und wandte sich abermals ab.

Der Knoten in meiner Brust löste sich so stark, dass ich dachte, es zerreiße mich. Aber es reichte noch nicht. Gott wollte mich verrückt machen, dachte ich, denn er hielt abermals und diesmal direkt vor der Tür. Der Mann drehte sich nach links und mit einem Laut der Verwunderung hob er etwas auf. Etwas kleines, silbern schimmerndes, das in der Sonne glänzte. Mit Entsetzen starrte ich die Spiegelscherbe an und dann ihn. Noch ehe er sich aufgerichtet hatte, hatte er den Kopf nach rechts gedreht, unmittelbar in meine Richtung und durch das Hocken nun direkt auf Augenhöhe. Ich sah sein dunkles Gesicht und das wirre Haar, dann hielt ich den Atem an. Wir starrten uns an. Ich entsetzt, er verwundert, aber es dauerte nicht lange, bis es in seinem Kopf klickte und sein Blick wurde finster und verhasst.

„Du kleiner-…!“

Ohne zu wissen, was ich eigentlich tat, sprang ich aus meinem Versteck direkt auf ihn zu. Er fluchte, erhob die Hand mit seinem Messer und ehe ich mich versah krachten wir aneinander.

Es dauerte nur wenige Sekunden.

Das Schiff krängte kurz und senkte sich stückweise immer mehr nach Lee.

Dann war es vorbei.

Der Boden senkte sich zurück, einige Wellen klatschten gegen den Bug und einige Möwen kreischten laut, als man ihnen Brot entgegen warf.

Geschockt starrte ich auf den Matrosen hinunter, der auf dem Boden lag, mit dem Kinn auf dem Brustkorb gesunken und aufgerissenen Augen. Ungläubig starrte er auf das Loch in seinem Hemd. Erst war es kaum bemerkbar, doch dann färbte der Stoff sich merklich rot. Langsam und geschockt erhob er den Blick und sah mich an. Ich hockte vor ihm und entgegnete den Blick, Panik stieg in mir hoch. Was hatte ich getan?!

Dann öffnete der Mann den Mund. Leise, gurgelnde Laute, bevor seine Augen sich nach oben verdrehten und er vornüber kippte in meine Arme.

Ich weiß nicht wie lange wir da saßen, er an mich gesunken, das Messer in meiner rechten Hand, die blutige Klinge und das sanfte, gleichmäßige Schaukeln. Es mussten mindestens fünf Minuten gewesen sein. Ich starrte vor mich hin, als hätte ich den Verstand verloren. Als ich mich einigermaßen gefasst hatte, stand ich auf. Der Matrose sackte rücklings zu Boden und blieb liegen, den Blick starr zur Decke. Sein Hemd wurde immer dunkler. Panisch sah ich mich um, entriss ihm die Scherbe und drehte mich um mich selbst. Ich keuchte. Mein Blut rauschte in meinen Ohren und meine Wangen wurden heiß, unwahrscheinlich heiß. Wenn seine Freunde nach ihm sahen! Was, wenn sie sich fragten, wo er bliebt?!

„Er muss hier raus…! Er muss hier raus…!“, und ich dachte an Kai und aus irgendeinem Grund sah ich ihn direkt vor mir. Seinen Kopf, die Öffnung in seinem Schädel, das Blut… Übelkeit überfiel mich und ich würgte auf. Erschrocken hielt ich mir den Mund und starrte den Mann an. „Ich bin ein Mörder…!“, schoss es mir in den Kopf. „Ich werde in die Hölle kommen…! Diesmal war ich schuld an seinem Tod…!“

Unglaublicher Schmerz durchschoss mich und ich sackte in die Knie. Verwirrt und stöhnend registrierte ich, dass sein Messer mir tief in den Oberschenkel geschnitten hatte. Es lag, rot und glänzend, am Boden und etwas verwirrt nahm ich es an mich. Erst jetzt spürte ich die Schmerzen, sah das Blut und hatte keine Kraft mehr mich zu halten. Panisch faltete ich die Hände und begann zu beten. Ich betete so wirr durcheinander, dass selbst der Herr kein Wort verstanden haben dürfte. Ich betete für mein Seelenheil, flehte um Vergebung und sogar darum, dass der Mann noch lebte. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich, machten Purzelbäume und so schnell ich angefangen hatte, hörte ich wieder auf. Wie von Sinnen hinkte ich zum Fenster und warf das Messer mit einem Ruck ins Meer. Es platschte leise, aber ich achtete nicht darauf. Stattdessen begann ich nun wie wild an dem Mann zu zerren, um auch ihn über Bord zu werfen. Er musste weg! Niemand durfte sehen, dass er tot war! Und dann musste ich fliehen, so schnell es ging! Mein Bein zitterte durch Schmerzen und Anstrengung, aber auch das schob ich beiseite. Er musste hier raus!

Doch dann verharrte ich und ließ ihn sinken. Der Seemann lag starrt mit dem Rücken gegen meine Beine gesunken und ich richtete mich auf.

Nein…, dachte ich. Nein, seine Leiche würde vom Boot aus gesehen werden… Was sollte ich bloß tun? Wenn ich ihn hinunterwarf, würde man das Platschen hören und als wäre das nicht genug, wurde er vielleicht an Land gespült. Vielleicht hatte ich Glück und er wurde an den Klippen zerschlagen? Vielleicht aber auch nicht...?

Ein Blick zur Tür und bewusst atmete ich tief durch, ehe ich langsam auf sie zuging, abschloss und vor ihr zu Boden sackte. Mit dem Rücken an das Holz gelehnt starrte ich dem Matrosen entgegen und dachte nach. Betrachtete die anklagenden, geschockten Augen und seinen offenen Mund.

Was sollte ich bloß mit ihm machen...?
 

Es wurde dämmrig. Sowohl auf Nimmerland selbst, als auch auf dem Meer in der Umgebung. Die Winde wurden kühler und etwas stärker. Ihr Pfeifen erfüllte das gesamte Tauwerk und mit der Dunkelheit kam die Kälte. Ich hatte die Kerze über dem Schreibtisch ausgeblasen und lauschte angespannt den Männern an Deck. Einer von ihnen war an die Tür gekommen und hatte geklopft, aber als keine Antwort kam, hatte er sich abgewendet. Entweder, man dachte, der Mann suche noch immer das Notizbuch oder aber sie dachten, er wäre gegangen, ohne dass sie es gemerkt hatten.

Meine einzige Sorge war nun: Wann würde Wilkinson an Bord kommen und in seine Kajüte gehen? Ich wartete, bis es voll und ganz dunkel war und die Laute der Mannschaft sich in jene von Trunkenheit verwandelten. Dann hievte ich den Seemann mit aller Kraft durch das Fenster nach draußen. Als ich es geschafft hatte lauschte ich dem Platschen und seinem Dumpfen, regelmäßigen Anstoßen an die Bootswand. Es war zu dunkel, um ihn zu erkennen und ebenso würde es sicherlich den anderen Matrosen gehen, wenn sie hinunter sahen.

Nicht mehr lange und es würde Flut herrschen. Er wird mit Sicherheit gegen die Felsen geschlagen werden und sich in einem der Riffe verhängen. Es musste einfach so sein... Ich hatte keine andere Möglichkeit gefunden, ihn loszuwerden, aber ich konnte auch nicht ewig im Zimmer herumsitzen. Erleichtert atmete ich durch, dann sah ich mich um. Jegliches Blut hatte ich gesäubert, kein Tropfen dürfte mich verraten, also beschloss ich zitternd die Kajüte zu verlassen. Ich schlüpfte wieder aus dem Fenster, dann griff ich nach dem Seil und band es mit abermals um den Bauch.

Nur Gott weiß, wie ich es geschafft habe, wieder hinauf zu kommen. Vorausgesetzt er war trotz der Sünden noch bei mir und hatte mich nicht längst aufgegeben. Jeder Griff, jedes Ziehen nach oben ließ mich wimmern vor Schmerzen im Handgelenk und jeder noch so kleine Schritt zerriss mir innerlich das Bein. Als ich mich mit Mühe und Not über die Reling zwang war das Stück Stoff, das ich aus meinem Hemd gerissen und um meinen Oberschenkel gebunden hatte, blutrot getränkt. Ich hätte es auswringen können, so stark blutete die Wunde.

Die Männer waren so betrunken, dass sie mich nicht einmal bemerkten und so schlich ich in die Kombüse und sackte wimmernd hinter dem Ofen versteckt zusammen.

Es war aus, vorbei, für immer. Leide Schmerzenslaute von mir gebend umklammerte ich mein Bein. Black hatte kein Zeichen bekommen, nun würden sie mich töten. Wer weiß, vielleicht hatten sie Black für seinen Verrat bereits ebenfalls getötet. Ich war verletzt, ich hatte keine Chance an Land zu kommen und in die Hölle kam ich ohne Frage auch.

Dann erfüllte Licht den Raum. Erschrocken hob ich den Kopf, doch der Ofen versperrte meine Sicht. Jemand hatte die Lampe neben der Tür angezündet und nun hörte ich, wie dieser jemand die Kombüsentür schloss. Langsam, ganz langsam ging jemand um den Ofen herum und ich starrte gebannt an die Stelle, an der derjenige erscheinen würde. Ich hörte kein Holzbein, also war es nicht Black. Aber wer dann?

Als ich Robert erkannte rutschte ich instinktiv zurück, bis mein Rücken gegen den Schemel am Holztisch knallte.

„Guten Abend…Mister O’Neil…“, Robert grinste stark angetrunken, aber seine Stimme war klar und deutlich. Der erste Maat blieb belustigt vor mir stehen und salutierte amüsiert. „Ich störe doch nicht?“, ich starrte ihn an, dann das Messer in seiner anderen Hand, dann wieder ihn. Unfähig zu antworten schluckte ich schwer. Hatte Gott mir für heute nicht genug Strafen erteilt? Er lächelte nur und legte den Kopf schief. „Nun… Darf ich fragen, wo Ihr die letzten vier Stunden gewesen seid, Mister O’Neil?“ Und er betonte das Mister O’Neil so gedehnt und sarkastisch, dass es so wirkte, als würde er mich allein mit diesen Worten erstechen wollen.

„Das geht Euch nichts an.“, brachte ich stockend hervor und als er das Messer in die andere Hand nahm, stützte ich mich schwer ab und erhob mich.

Ich wagte es nicht, die Ablage los zu lassen, aus Angst ich würde umfallen. Der erste Maat sah auf mein Bein und sein Grinsen wurde unwahrscheinlich breit.

Schadenfroh zischte er: „Es interessiert mich auch gar nicht, wenn ich ehrlich bin, du verfluchter Meuterer…!“

„Ich bin kein Meuterer! Ich-…!“, doch im gleichen Moment versagte meine Stimme, mein Bein schmerzte einfach zu sehr. Mit verzerrtem Gesicht hielt ich mir den Oberschenkel und zwang mich, mich zusammenzureißen. Robert schnaubte verächtlich und trat an mich herum.

„Ich sage dir jetzt etwas, Son, und du hörst mir ganz genau zu…

Du hast mir schon nicht gepasst, als du hier an Bord geschleppt wurdest. Du warst so billig für den Käpt’n, es war eindeutig, dass du eine Landratte warst! Als Schiffsjunge solltest du angestellt werden, als Amüsement für die Matrosen… Aber dieser verfluchte Black hat sich vor dich gestellt, verruchter, kleiner Dreckskerl…! Du hast keinen Nutzen für uns, du frisst unser Essen und säufst unseren Rum und nun spielst du auch noch den großen Meuterer…!“, er packte mich am Haar und riss mich zu sich. Roberts Stimme war so leise, dass ich fast glaubte, sie käme direkt aus meinem Kopf. „Und dann, wenn’s hart auf hart kommt… Verraten wirst du uns, alle miteinander! Ich habe von Anfang an gesagt, auf den alten Black ist kein Verlass! Setzt ihn ab, diesen Säufer, habe ich gesagt! Er fickt den Jungen, mehr nicht, mit jedem Bein in einer Partei! Ha!“

„Das ist nicht wahr!“, verteidigte ich mich. Der Schmerz brachte mich fast um den Verstand und er zog fester an.

„Er liebäugelt mit dir, hat einen Narren an dir gefressen und nun will er uns alle hoch gehen lassen, nur damit dich niemand anrührt?!“, er zerrte mich zu Ofen und zwang mich, mich vornüber zu beugen. Panisch erstarrte ich und atmete schneller. Aber er ließ nicht von mir ab. „Oh nein, nicht mit mir, Junge! Ich werde dem alten Mistkerl eine Lektion erteilen, die er niemals vergessen hat…! Wenn er hier ankommt wird er Hackfleisch vorfinden, verlass dich drauf, Son…!“

„Ich habe den Schlüssel…!“, begann ich und wollte mich weg drücken. Robert versetzte mir einen harten Stoß von hinten, so dass ich aufschrie vor Schmerz, als mein Oberschenkel gegen den Steinofen knallte.

„Spar’s dir, es ist mir gleich!“ Er wandte sich ab und begann Holz in den ohnehin leicht glühenden Ofen zu schieben. Ich sackte zu Boden, doch sofort als er fertig war packte er mich erneut und stieß mich zurück. Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich, das Messer an meiner Kehle und während er weiter sprach, zischte er mir seine Rumfahne direkt ins Gesicht: „Wir werden sehen, Son, wie der alte Black dein hübsches Gesichtchen findet, wenn es erstmal auf dem Ofen lag…!“, dann presste Robert meinen Kopf seitlich auf die Steinplatte. Ich spürte, wie diese langsam begann warm zu werden und Panik stieg in mir auf. War der Mann wirklich so betrunken oder einfach nur verrückt geworden?!

„Nein…! Ihr seid doch wahnsinnig, lasst mich! Ich habe doch den Schlüssel!“

„Aber natürlich hast du ihn!“, wiederholte er mit sarkastischer Ironie.

„Es ist wahr!“, beteuerte ich daraufhin. „Bitte glaubt mir, seht nach, es ist wahr!“

Ein lautes Lachen kam zur Antwort. „Und wo soll er bitte sein?!“

„In meiner Tasche! Seht nach, bitte, seht doch nach!“, ich versuchte abermals weg zu kommen, aber ein weiterer Tritt ließ mich aufschreien. Ich krachte zu Boden, dann knallte ich zurück auf die Platte. Mittlerweile war sie bedeutend heißer.

Mürrisch begann er mich zu durchsuchen, ruckartig, entnervt. Er fand zuerst die Scherbe, die er achtlos in die Ecke warf, dann die drei Schlüssel.

„Drei?! Willst du mich verarschen?!“, der erste Maat riss mich hoch, aber ich sackte in die Knie da mein Bein mich nicht halten konnte und ehe ich mich versah donnerte ein harter Faustschlag mich zu Boden. Ich schrie nicht einmal mehr, als ich auf die Ablage knallte und mit meinem Sturz sämtliches Geschirr und Besteck mit hinunter riss. „Was treibst du für Spiele?!“, schrie er mich an. Keuchend lag ich in einem Haufen Trümmer und Scherben. Ich wollte antworten, doch meine Kräfte schwanden weiter und der hohe Blutverlust trug nicht gerade dazu bei, dass es mir besser ging. Als ich hörte, wie er sich bewegte, fuhr ich ängstlich herum, aus Angst vor einem Tritt. Aber Robert trat nicht zu. Robert fluchte nur, griff einen Metallspieß und hielt ihn in die Kohlen. Entsetzt starrte ich ihm entgegen, als er mir das glühende Werkzeug direkt zwischen beide Augen hielt. „Nun gut… Dann werden wir jetzt ein kleines Spielchen spielen und sehen, was du zu sagen hast…!“

Ein gedehntes und tiefes „Robert Iven McGohonnay!“ ließ uns zusammen fahren.

Black stand in der Tür. Keuchend und auf seine Krücke gestützt, aber keiner von uns beiden wagte es, ihn anzusehen. Robert rang damit, zu zustechen und ich starrte wie gebannt, nach Luft ringend auf die orange glühende Spitze. Er ließ sie nicht sinken, im Gegenteil. Das glühende Metall kam etwas näher auf mich zu und ich lehnte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zu. Weiter ausweichen konnte ich, aber die Stange weg zu schlagen kam nicht in Frage.

Ich hörte Robert kalt fragen: „Was wollt Ihr, Black?“

Der Smutje humpelte mühevoll hinunter in die Kombüse und langsam um den Ofen herum auf ihn zu.

„Krümme ihm ein Haar, Robert und ich schwöre dir, bei Gott – wenn es ihn gibt – ich zeige dir deine Eingeweide!“

Doch der erste Maat reagierte nicht und als Black sich ihm näherte, hielt er ihm mit der anderen Hand das Messer entgegen. „Einen Schritt näher, Mathew und es ist aus mit euch. Mit euch beiden! Der Rat hat entschieden, die Sache ist gelaufen, du hast versagt!“

„Du sagst du zu mir? Du wagst es, mit mir zu reden, als seien wir Freunde?!“, und mit diesen Worten trat Black vor und riss ihm das Messer aus der Hand. Noch nie habe ich ihn so laut fluchen gehört. „Wage es nicht noch einmal die Waffe gegen mich zu erheben! Ich bin eurer Anführer, du verlauster-…!“

Robert unterbrach ihn kühl: „Du wurdest abgesetzt.“, dennoch ließ er finster die Stange sinken, wenn auch nur langsam. Ich atmete erleichtert aus und schloss kurz die Augen, als die Hitze aus meinem Gesicht wich.

Black lachte verächtlich: „Hat das der Rat entschieden, ja?! Aber eins sage ich dir, Robert, eines sage ich dir und höre gut zu:

In den Statuen steht geschrieben, dass wenn ihr mich absetzt, ich Recht habe auf Verteidigung und Anhörung. Und hast du sie nicht unterschrieben, Robert McGohonnay?! Hast du es nicht getan?!“

„Aye, habe ich, aber-…“

„Das will ich wohl meinen!“, fuhr Black ihn an und entriss ihm nun wütend die Eisenstange. „Und nun scher dich raus! Raus sage ich! Ehe ich nicht alles klar auf dem Tisch habe bin ich der Anführer, beim Donnerwetter noch einmal!“, und dabei stampfte er so stark mit seinem Holzbein auf, dass die Scherben neben mir leicht hüpften.

Robert starrte ihn finster und hasserfüllt an, dann warf er mir einen noch schlimmeren Blick zu. Nur langsam verließ er die Kombüse, drehte sich jedoch noch einmal herum, als er auf der Treppe stand und zischte:

„Eines will ich dir sagen, Black, eins und da höre mir ganz genau zu…!

Mit jedem Bein in einer Partei, aye? Aber eines ist nur noch Brennholz...! Du kannst nicht mehr lange stehen! Da sei dir mal sicher…!“

Mit diesen Worten verschwand er.

Black schnaubte verächtlich oder verhasst, ich war mir nicht sicher, dann drehte er sich zu mir und seufzte kopfschüttelnd. Er warf die Eisenstange achtlos weg und streckte mir seine behandschuhte Pranke entgegen. Unsicher griff ich zu und stöhnte auf vor Schmerz, als ich meinen Oberschenkel wieder spürte. Er half mir, mich zu setzen und seufzte, ließ seinen Blick schweifend und seufzte gleich noch mal erneut. Kaputtes Geschirr, verteiltes Essen, ein umgeworfener Schemel... Die Küche sah aus, wie ein kleines Schlachtfeld und der Ofen glühte unbenutzt vor sich hin. Ich hockte auf dem Hocker wie ein getretener Hund oder ein Kind, das eine Standpauke erwartete, wohl wissend, dass sie bald folgen würde.

Aber sie kam nicht. Und so saß ich nur da und starrte zum Boden. Black begann einen Topf mit Wasser füllen, anschließend stellte er diesen auf den Ofen und setzte sich wieder zu mir Wir schwiegen lange, ich weiß nicht wie lange eigentlich. Doch irgendwann dann sah er mich an und brummte: „Son…“

Es fiel mir schwer, zu deuten, wie es gemeint war. Vorwürfe? Mitleid? Aber auch ein Blick in sein Gesicht half mir nicht, also starrte ich den Tisch an. „Es tut mir leid…“, mehr brachte ich nicht heraus.

Er brummte nur, schüttelte den Kopf und schwieg abermals.

Dann, nach weiteren gut fünf Minuten sagte er ein wenig sanfter, jedoch ohne mich anzusehen, was ich viel schlimmer fand als seinen tadelnden Ton: „Geh zum Feldscher, lass das untersuchen und dann in deine Koje.“

Ich nickte und erhob mich. Still sah ich ihm zu, wie er begann eine Suppe zu kochen.

Jedoch ignorierte er mich und so gehorchte ich.

Jetzt wusste ich, was es war...Enttäuschung.

Zwischen zwei Fronten

Nach Langem wieder lag meine Hängematte in einer Ecke, als ich das Unterdeck betrat und es dauerte fast eine Ewigkeit, bis ich auf dem vom Waschen noch völlig nassen Leinentuch den Schlaf fand. Am Morgen dann weckte man mich äußerst unsanft.

Tom trat mir durch den Stoff hindurch in den Rücken und fauchte: „Aufstehen, du Ratte, ehe Wilkinson wach wird!“

Ich schreckte auf und stieß mir den Kopf an der Decke, doch ehe ich reagieren konnte riss er mich bereits zu Boden. Hart knallte ich auf die Holzdielen und mein Ellenbogen schmerzte fast stärker, als der tiefe Schnitt in meinem Bein, den der Arzt nur verbunden hatte. Dann zerrte er mich am Oberarm mit sich, ohne auf mein Protestieren zu achten.

Es war früher Morgen, fast noch tiefe Nacht und außergewöhnlich kühl. Niemandsland lag für uns unsichtbar irgendwo in der Schwärze. Viele der Matrosen waren noch in ihren Kojen. Wir gingen in die Kombüse und dort stieß er mich so hart die Treppe hinunter, dass ich fast fiel. Als ich aufsah, schluckte ich schwer und wollte wieder hinaus, doch Tom war mir gefolgt und schloss die Tür.

Vor mir war der Ofen und ich wurde unfreundlich um ihn herum geschoben, bis ich zwischen zwei Personen stand: Rechts Robert, links Tom. Mit den heißen Kohlen hinter mir sah ich unsicher von einem zum anderen, dann zu Black, der hinter Tom auf dem Schemel saß. Der alte Seebär sah mich nicht an. Er starrte nur auf den Tisch, die Hand auf der Platte und mit einer Pfeife im Mund. Black schien nachzudenken, denn auf seiner Stirn lagen tiefe Falten.

„Morgen.“, sagte ich unsicher und gewohnheitsgemäß salutierte ich leicht vor Robert, unserem ersten Maat. Er schnaubte nur verächtlich. Mit verschränkten Armen lehnte er sich seitlich an die Ablage und starrte mich an. Am liebsten hätte ich es ihm gleich getan. Ich war todmüde und die Erschöpfung lähmte meine Knochen, aber der Ofen hinter mir war nicht wirklich ein geeigneter Anlehnplatz, also sah ich nur unsicher von einem zum anderen. Keinen konnte ich leiden und so beschloss ich, mich an Black zu wenden.

„Was wird das hier? Ein Verhör?“, doch er ignorierte mich und dachte weiter nach. Ich ließ nicht locker. Vielleicht hatte er mich ja auch nur überhört? „Black? Was wird das hier?“, wieder keine Antwort.

Ich stöhnte entnervt und sah Robert an, dieser wurde noch finsterer.

Dann brummte Black leise, doch bis auf mir drehte sich keiner zu ihm: „Son… Der Schlüssel. Wo ist er?“

„Robert hat ihn.“, schoss es aus mir heraus, doch er nickte nur.

„Aye… Er hat ihn besorgt, wie verlangt. Aber wie?“, Black sag mich ernst an. „Son, Junge, missverstehe es nicht, aber es ist schon etwas seltsam, dass-…“

„Verräter!“, mischte sich Tom ein und knirschte die Zähne. „Macht gemeinsame Sache mit dem Kapitän, sage ich!“

„Halt den Rand!“, er nahm wieder einen Schritt Abstand, nachdem Black ihn angeschrieen hatte. Unsicher sah ich zum alten Mann hinunter. „Son. Wie hat er ihn besorgt? Die Tür war nicht aufgebrochen.“

„Durch das Fenster.“, ich warf Tom einen hasserfüllten und wie ich hoffte vernichtenden Blick zu. „Ich bin durch das Fenster hinein. Mit einem Seil, über die Reling. Aber ein Matrose kam rein, weswegen ich Euch kein Zeichen geben konnte.“

„Lügner.“, knurrte Tom, doch abermals wurde er ignoriert. Er glaubte mir nicht und ich konnte mir schon vorstellen, was Robert und er sich dachten.

„Und wie kam er hinaus?“, fragte der Smutje mich nun.

Meine einzige Antwort war: „Wie ich hinein kam.“

Black sah Robert an und grinste leicht. „Sagte ich nicht, er hat Pfiff?“

„Und wenn schon!“, Robert sah erst ihn, dann mich voller Hass an. „Dieser Bastard ist nutzlos und behindert uns nur. Er kann sich ja nicht einmal wehren…!“

„Das ist nicht wahr. Ich habe den Matrosen getötet, der mich überraschte. Und ich habe Kai auf dem Gewissen.“, das war zu viel.

Tom stieß einen Fluch aus und stürzte vor. Mit einem Mal packte er mich am Kragen und wollte mich würgen, doch ich hob die Hände und eine kleine Kabbelei entstand. Robert zog mich zurück, ebenso wie Black Tom, nachdem er aufgesprungen war. Es dauerte, bis wir zwei unter Kontrolle waren, dennoch ließ man mich in der Mitte stehen wie einen Gefangenen. Tom starrte mich schnaubend an, mit wutverzerrtem Gesicht und geballten Fäusten, ich erwiderte den Blick. Es fehlte nur ein falsches Wort und ich würde erneut auf ihn losgehen. Wie ich Tom hasste...! Er und Robert sorgten für Misstrauen mir gegenüber. Wären sie nicht, wäre alles besser...!

Black setzte sich ächzend zurück und für einen Moment erinnerte er wieder an einen alten Mann. Dann grinste er Robert entgegen. „Er hat pfiff, was? Pfiff hat er.“, merkte er abermals an.

Robert schnaubte nur. „Und wenn schon, dann hat er angeblich zwei in die Hölle befördert. Ich sehe keine Leichen und was ich nicht sehe, das glaube ich auch nicht.“

Ich drehte mich herum und grinste ihn an. „Blut habt Ihr jedenfalls gesehen.“, und da Robert nicht zu verstehen schien, fügte ich hinzu: „In der Kiste, unten, im Lagerraum. Hatte ein ganz schönes Loch im Kopf, als ich ihm mit der Kugel eins übergebraten habe.“

Black lachte laut los und noch nie hatten Robert und Tom mich so hasserfüllt angestarrt. Aus irgendeinem Grund musste ich unheimlich grinsen und sah von einem zum anderen. Ich fühlte mich überlegen.

Als Black dann wieder Luft bekam setzte er sich fast feierlich den Hut auf. „Aye, der Junge ist mehr wert, als ihr alle zusammen, ihr feigen Hunde. Er hat Grips!“

„Er ist Dreck wert.“, knurrte Robert und spuckte in die Spüle. Dann sah er mich mit finster gesenktem Kopf wieder an. Seine dunkelbraunen Augen glühten vor Hass. „Nein...nicht mal das.“

Blacks Stimme wurde leicht düster und drohend. „Halt deine Zunge im Zaum, du vermaledeites Stück Scheiße. Wenn einer hier Dreck wert ist, dann seid ihr zwei Idioten das und der gesamte Haufen, der hinter euch steht! Fakt ist, er hat den Schlüssel besorgt, im Gegensatz zu euch.“

„Ich hätte ihn besorgt.“, widersprach der erste Maat und sein Blickkontakt wechselte an Black.

„Hätte, hätte, hätte! Wenn ich das schon höre! Das Salzwasser schmeckt mehr nach Zucker, als deine Worte auch nur ansatzweise wahr wären! Verflucht sollst du sein! Seit Wochen warten wir auf den Schlüssel und Son hat ihn geholt! Euch ein Beispiel an ihm nehmen solltet ihr, alle beide!“

„Ich hätte ihn gehabt, hättet Ihr mich gelassen, Black!“, fauchte Robert erneut, wesentlich lauter.

Blacks Stimme begann bei seiner Antwort zu donnern, dass der Speichel nur so flog und er schlug mit der Faust auf den Tisch, in der anderen Hand seine Pfeife.

„Mich gelassen hätte?! Mich gelassen hätte, sagst du?! Hätte ihn dich gelassen, du verruchter Bastard einer verlausten Hündin, dann wären wir am Galgen, sage ich! Warst du es nicht, der Ian angespornt hat, Sullivan Druck zu machen?! Und was ist mit dir?!“, er fuhr herum zu Tom und dieser zuckte ungemein zusammen. „Warst du es nicht, der durch Roberts Worte erst auf Sullivan losgegangen ist?! Warten, sagte ich oder nicht?! Sagte ich das nicht?!“, Black schlug abermals auf die Tischplatte, dass es nur so knallte. „Ihr nutzlosen Idioten! Kielholen lassen sollte man euch! Kielholen lassen!“, keiner antwortete Black. Die zwei Männer sahen gedemütigt und wütend zu Boden und ich spürte ihre Aggressionen förmlich in der Luft. Es schien, als würde ihr Zorn die Umgebung erhitzen und für einige Sekunden wirkte die Küche noch stickiger auf mich. Nach einigen Minuten hatte Black sich einigermaßen beruhigt und sprach, als sei nichts gewesen, während er auf seiner Pfeife herum kaute. „Wie dem auch sei… Noch haben wir die Flagge nicht eingeholt. Tom, du kümmerst dich um das Wasser.“

„Das Wasser?“, fragte er verwirrt.

„Aye. Du wirst einige der Fässer sabotieren, nur einige. Wir müssen an Land, Trinkwasser zu holen ist der beste Vorwand. Lass es aussehen, als wären es Idioten von der Feier gestern an Bord gewesen.“

„Aye.“

„Robert.“, Robert sah auf, jedoch sah er mich an, statt Black. Nun wich mein Stolz ein wenig in den Hintergrund, sein Blick war reinste Mordlust.

„Aye.“

„Du machst die drei Schlüssel nach und lässt dir von Sullivan erklären, wo er sie her hat. Dann bringst du sie zurück. Und ab jetzt kein eigenständiges Handeln mehr. Ihr hirnlosen Tölpel habt nicht den nötigen Grips dazu! Raus aus meiner Kombüse, Ihr Kielschwimmer!“

„Aber Black, wir-…“, wollte Tom einwenden, doch weiter kam er nicht.

„Raus sage ich!“, Black fuhr leicht hoch und sofort machten die zwei sich daran, seinem Befehl Folge zu leisten. Allerdings nicht, ohne mich anzurempeln und mir noch einmal Todesblicke zuzuwerfen. Ich konnte mich noch auf einiges gefasst machen, so viel war sicher. Ich wusste nicht, ob es gut war, dass sie mich als Feind allmählich ernster zu nehmen begannen.

Der Koch seufzte entnervt und ließ sich schwerfällig sinken und als auch ich an ihm vorbei hinaus wollte, hielt er mich fest. Er winkte mich an den Tisch, doch ich zögerte. Vor meinen Augen sah ich unsere letzten Gespräche, seine grobe Art dabei. Ich wollte kein weiteres, schmerzendes Körperteil, Handgelenk und Bein reichten mir wahrlich, aber ich sah ein, dass ich keine Wahl hatte und so setzte auch ich mich auf einen der Holzschemel, die Beine breit, die Ellenbogen darauf gestützt und den Blick zu Boden gerichtet.

Black schwieg eine Zeit lang, wie es seine Art war, dann begann er leise, fast flüsternd, ohne mich anzusehen:

„Aye. Das hat er gut gemacht, alle Achtung. Ich gebe zu, gestern hatte ich so meine Zweifel, doch nun…“, ich sah zu Boden. Ich wollte mich bedanken, aber ich wollte ihn auch anschreien für das, was Robert mir beinahe angetan hatte. Mit der Ruhe, welche eingekehrt war, kam meine innere Anspannung zurück und meine durchmischten Gefühle brachten mich durcheinander. Selbst wenn ich etwas hätte sagen wollen, ich brachte keinen Ton heraus. Nach einigen Sekunden sprach Black leise weiter:

„Aye… Son… Er hat es bemerkt, sie werden ungeduldig. Der alte Black und er, wir müssen vorsichtig sein. Wir dürfen nicht auffallen. Diese dämlichen Idioten machen uns einen Kopf kürzer, schneller als eine Kanonenkugel, mein Wort darauf.“, ich schwieg weiterhin. Black beugte sich vor und legte mir seine große, vernarbte Hand auf den Oberschenkel und ich sah sie an. „Son.“, dann erhob ich den Blick. Blacks Miene war ernst. So ernst, dass selbst das Glasauge Gefühle zu haben schien und ich zog mein Bein von ihm weg. „Mein Wort darauf, er wird es nicht bereuen.“

„Und wenn ich es schon bereue?“, fragte ich trocken. Er gab mir keine Antwort, sondern grinste nur und entblößte seinen Goldzahn. Seufzend sah ich wieder zu Boden. Nach einigem Zögern fragte ich leise: „Was soll ich als nächstes tun?“

„Aye.“, nun war Black wieder ernst. „Er soll warten, mehr nicht, dann kommt er mit an Land. Wie versprochen. Er hat seine Arbeit gut gemacht, also soll er ruhig durch Sand spazieren gehen.“, nachdem das gesagt war, stand er auf, langsam und mithilfe seiner Krücke. „Ich werde ein wenig Seeluft schnuppern, hier drin verrecken ja sogar die Ratten…“, und mit diesen Worten hinkte er hinaus und ließ mich allein. Wütend starrte ich zu Boden.

Ich sollte mich freuen, an Land zu dürfen, aber stattdessen fühlte ich mich wie ein Hund. Ich empfand es aus irgendwelchen Gründen demütigend, dass er mich gelobt hatte und dass ich es fast schon als Belohnung auffassen sollte, an Land gehen zu dürfen. Die Tatsache, dass ich stolz auf mich war, machte es nicht besser. Robert hatte es nicht geschafft an den Schlüssel zu kommen, aber ich, ich hatte es geschafft!

Dies gab mir ein Gefühl der Überlegenheit, aber dieses Gefühl wollte ich eigentlich gar nicht. Vielleicht spielten sie es auch nur, um mich im Irrglauben zu lassen, ich sei etwas Besonderes. Um mich zu dressieren, abzurichten. Und das schlimmste war, dass es funktionierte. Ich wollte es nicht, aber tief in mir drin flammte das Kind auf, das nie gelobt wurde. Ich wollte Black zeigen, was ich konnte und Robert und Tom beweisen, dass ich besser war, als sie. Ich wollte jedem meine Stärke beweisen, mein Können, meine Intelligenz. Es war zum verzweifeln… Wütend raufte ich mir die Haare.

„Wo bin ich da nur rein geraten…?“
 

Gespannt warteten alle darauf, dass Wilkinson aufwachte und darauf, zu erfahren, wie er auf den Diebstahl reagierte: Es geschah jedoch absolut nichts.

Zum Erstaunen aller schien er wirklich nichts von meinem Einbruch gemerkt zu haben, was allerdings für noch mehr Misstrauen von Seiten Roberts und Toms sorgte. Sie musterten mich mit düsteren Blicken und ich spürte, dass sie mich für einen Verräter hielten. Es schien ihnen förmlich auf der Stirn zu stehen:

„Du bist ein Verräter, Sullivan! Du machst gemeinsame Sache mit dem Kapitän!“

Und ich hatte nicht ansatzweise eine Chance dem irgendwie auszuweichen.

Wilkinson hatte miese Laune und er machte sich nicht annähernd die Mühe, dies irgendwie zu verbergen. Ohne Frage hatte er auf der Feier zu viel getrunken und nun plagte ihn ein Kater. Er stolzierte auf und ab und den Hut hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, da ihn die Sonne in den Augen schmerzte. Ich glaube, hätte er keinen Kater gehabt, wäre unser kleiner Meuterei-Akt mit Sicherheit aufgefallen. Ein wenig tat er mir schon leid – schließlich kannte ich die Nachwirkungen von zu viel Alkohol zur Genüge – aber ich war auch froh darüber.

Ich wollte mir nicht ausmalen, was er mit mir anstellen würde, würde er es doch noch heraus bekommen.

An Deck benahm sich Robert wie eh und je. Er verteilte Flüche, Tritte und Verwünschungen, während er die Matrosen anspornte, alles zu überprüfen, damit wir ablegen konnten. Und dann passierte es:

Wutentbrannt kam der Zahlmeister an Deck. „Ihr verruchten Schweine!“, brüllte er und tobte mit hochrotem Kopf. „Ihr Idioten! Ihr verdammten Idioten!“

Ich stand gerade an der Reling und sah sehnsüchtig zum Niemandsland und als ich sein Gebrüll hörte drehte ich mich herum. Er hatte scheinbar die sabotierten Wasservorräte entdeckt.

„Was ist los?!“, Robert trat vor, als wüsste er nicht bescheid. Auch Wilkinson drehte sich um, doch der Kapitän hatte scheinbar keine Lust, das Oberdeck zu verlassen.

Wutentbrannt zeigte der Zahlmeister zum Lagerraum.

„Das Wasser, Sir! Jemand hat das ganze Wasser ausgeschüttet!“

„Was?!“, nun regte sich auch Robert auf und eine Gruppe verwirrter Matrosen näherten sich unsicher. Alle sahen sich an, doch keiner schien eine Idee zu haben, wer es gewesen war. „Sagt das noch mal!“

Der Zahlmeister schluckte schwer. „Es tut mir leid, Sir, aber es ist wahr! Die Idioten haben bei dem Besäufnis gestern Abend im Lagerraum randaliert, wie es scheint!“

Wilkinson lehnte sich über die Reling und brüllte wütend Robert entgegen: „McGohonnay, findet den Verantwortlichen! Auf der Stelle!“

„Ja, Sir!“, Robert sah sich düster um, dann folgte er dem Zahlmeister in den Lagerraum.
 

Niemandsland lag groß vor uns, als wäre es aus den Tiefen des Meeres zu uns hinaufgestiegen. Umso näher wir mit den Jollen kamen, desto stärker erkannten wir die fremdartigen Vegetationen und desto lauter rauschten und donnerten die Brecher von den Klippen her. Es herrschte Flut. Die Landzunge Neptuns war wieder im Meer versunken und die See knallte krachend gegen die Klippen. Etliche Riffs erhoben sich aus den Tiefen, bereit, uns wie zerberstendes Holz zu zermalmen.

Mit großen Augen starrte ich die riesigen Felswände empor und es wurde so laut, dass wir nicht mal die Worte unserer Bootsführer verstanden, die mit gleichmäßigem "Ho, ho!", unser Rudern antrieben. Der Gischtnebel hing schwer um die Klippen und Steinszacken und verlieh dem allem einen mystischen Hauch, fast wie in einem Traum. Aber es war bittere Realität und das war uns allen klar. Es kostete immense Kraft, gegen den Strom anzukommen und steuerbord an den Abhängen vorbei zum Strand zu rojen. Die Flut war stark und zerrte an unseren Booten. Als wir das Ufer erreichten stiegen alle aus, zogen das Boot an Land und legten schwere Steine hinein, dann gingen die Männer gezielt mit Fässern über der Schulter in Richtung Landesinnere. Ich verharrte eine Zeit und sah mich um. Der Strand lag weiß und rein vor mir, fast wie Mehl, nur fester. Unmengen kleine Muscheln in den verschiedensten Farben lagen herum, seltsame, rote Tiere krabbelten durch den Sand und weiter hinten lag etwas Weißes, Glibberiges. Die Caroline lag weit hinten. Man sah, wie sie gierte und sanft auf den Wellen glitt, mal lee- mal Luvwerts krängte. Es wirkte wie ein Geisterschiff. Dann wandte ich meinen Blick nach links.

Dieses Gebiet war neu für mich und durch die Klippen hatte ich diesen Teil der Insel noch nicht gesehen. Weiter hinten endete der Sand und ging stückweise langsam in eine Felsküste über. Erst lagen nur einzelne Steine herum, dann Unmengen an Kies, kleinere Felsen, bis hin zu großen Kolossen und Felsvorsprüngen, die bis ins Meer hinein reichten. Seltsame, dunkle Tiere lagen darauf herum oder sprangen ins Wasser und als ich mich konzentrierte und das durch die Entfernung leisere Wellengetose hinter mir ausblendete, konnte ich hundeartige Laute hören. Verwirrt sah ich zu den Geschöpfen und stellte fest, dass sie keine Beine hatten. "Was sind das für seltsame Fische, dass sie sogar über Wasser leben können...?"

"Son!", ich drehte mich herum. Ein Matrose stand wütend am Waldrand und winkte mich ungeduldig zu sich, der Rest war bereits verschwunden. "Komm heute noch, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!"

Ein letztes Mal starrte ich zu den fremdartigen Wesen, dann hob auch ich eines der Fässer an und begab mich zu den anderen.

Wir tauchten in den Wald ein und umso weiter wir gingen, desto mehr Pflanzen fielen mir auf, die ich nie zuvor gesehen hatte. Eine unbekannte Aufregung erfüllte mich und ich begann mich zu fühlen, wie ein Entdecker. Die vor Ort herrschende Hitze und die dicke Luft waren fast unerträglich. Etliche Insekten summten herum, fremdartige Töne und Tierrufe drangen an unsere Ohren und von den seltsamsten Bäumen hingen die seltsamsten Gestrüppe herunter. Ich sah drei oder vier Eidechsen in bunten, schillernden Farben oder starken, giftgrünen Tönen und riesige Schmetterlinge mit den faszinierendsten Mustern.

Am liebsten hätte ich das Fass stehen gelassen und an den Blumen gerochen oder die Früchte probiert, aber so wunderschön alles auch war, so sehr weckte es mein Misstrauen. So viele Farben, so viele Tiere, so viele Früchte:

Das konnte nichts anderes als Gefahr bedeuten. Warum sonst gab es hier nirgends Menschen?

Die meisten schienen zu wissen, wo lang sie mussten und zu meiner Enttäuschung sprachen viele miteinander und verscheuchten die sonderbaren Tierarten. Dann wurden die Insektenschwärme häufiger, wir erreichten Wasser. Der Wald wurde lichter und erst jetzt sah ich, wie hoch die Bäume waren. Umso mehr wir vorwärts gingen, desto stärker hörte ich rauschendes Wasser. Anfangs dachte ich, es seien die Brecher der Klippen, aber dann erkannte ich einen Wasserfall, der von einem steinernen Abhang hinab in den kleinen See stürzte, den wir erreichten. Das Wasser war schneeweiß und wirke fantastisch und unreal. Hier machten wir Halt und der Anblick verschlug mir den Atem. Noch nie zuvor hatte ich einen so wunderschönen Ort gesehen und ich ließ das Fass zu Boden sinken.

„So etwas vergisst man nicht.“, grinsend legte Black mir die Hand auf die Schulter. Er folgte meinem Blick und grinste. „Was ganz anderes, als die alte Annonce, aye?“

„Es ist Wahnsinn.“ Das Wasser rauschte unheimlich schnell hinab und an manchen Stellen brach es sich an hervorstehenden Felskanten, sammelte sich in einem kleinen See, umgeben von den wunderschönsten und farbenprächtigsten Pflanzen. Manche Bäume standen leicht im Wasser und ihre Wurzen waren Moosbehangen. Ebenso wie kleine Felsen und Steine, die im Strom des Flusses lagen, der vom See weg führte, tiefer in den Wald hinein. Bunte Vögel sangen in fremden Tönen und ich erinnerte mich an all jene Fantasiebilder, die ich mir ausgemalt hatte. All die Vorstellungen die mir in den Sinn kamen, wenn ich in der Bibliothek ein Buch über fremde Länder gelesen hatten wurden bei Weitem übertroffen. Noch nie zuvor stand ich vor so klarem Wasser und zwischen so viel Grün.

Die Männer ließen sich auf ihren Fässern nieder und warteten. Keiner machte Anstalten, diese irgendwie aufzufüllen, damit wir zurückkehren konnten. Nur einer hockte sich an den kleinen See und trank etwas, der Rest saß schweigend da.

Ich sah unsicher von einem zum anderen und bemerkte, dass zwei Männer es mir gleich taten. Aber ich schwieg.

Im Gegensatz zu ihnen wusste ich von den Meuterern. Ich wusste vom Maat Robert, der ein zweites Leben führte und nun düster etwas abseits stand. Und ich wusste von Blacks Geheimnistuerei, der gut gelaunt grinsend jeden der Männer musterte. Nur ein Idiot würde sich nun vor diese Meute stellen und sie fragen, was hier los sei und dieser Idiot würde mit Sicherheit nicht ich sein. So dachten mit Sicherheit auch die zwei Matrosen, die zunehmend nervöser wurden und man merkte ihnen an, dass sie nicht wussten, was sie denken sollten.

Black klopfte mir auf die Schulter und drückte sie dann mit der Hand. Er riss mich völlig aus meinen Gedanken.

„Wir zwei, er und ich, wir sind eine Mannschaft. Das sind wir doch?“, flüsterte er.

Unsicher sah ich ihn an, das hatte er noch nie gesagt und eine innere Unruhe überkam mich.

„Ich…denke schon, Black, ja. Ich denke schon.“

„Und wir halten zusammen, was?“, er sah verächtlich zu den anderen und legte verschwörerisch den Arm um meine Schulter. Black stütze sich an mir ab, so dass es mir schwer fiel, mich aufrecht zu halten. Ich musste mich leicht beugen, um nicht zu fallen, roch seinen Schweiß und seine Ration Rum. „Nicht so wie dieser Haufen dort drüben, diese Idioten, Verbrecher und Halunken… Falsche Hunde sind das, allesamt.“

„Das…kommt wohl drauf an.“, antwortete ich unsicher und bedacht, ihn nicht zu beleidigen.

Er ließ sich von mir durch den Sand helfen, der sein Holzbein zu verschlucken drohte und dann schwerfällig auf ein Fass sinken.

„Pfiff hat der Junge, so wahr ich Mathew Hullingtan Black heiße.“, murmelte er dabei. Ich wollte ihn lassen, doch als ich abdrehte um zu meinem Fass zurückzukehren, packte der Seemann meinen Arm und zog mich zu sich. „Aye. Wir zwei sind eine gute Mannschaft, Son… Eine sehr gute, bei meinem Bart. Das sollte er nicht vergessen.“

„Black, was wollt Ihr mir sagen?“, ich wollte mich lösen, aber er packte fester zu und zog mich zu sich runter. Ich verzog schmerzverzerrt das Gesicht, als er mich am Ohr zu sich zog. Zwangsweise hielt ich die Luft an. Sein Atem war kaum zu ertragen.

„Niemals sollte Son das vergessen. Das, was der alte Black für ihn getan hat. Niemals. Weder heute noch morgen, niemals.“, endlich ließ er mich los. Seine Stirn war in Falten und mir kam der Gedanke, dass er um sein Leben fürchten konnte.

Was hat der Halunke nun wieder vor…?

Aber noch ehe ich fragen konnte, geschah endlich etwas.

Finn trat vor die beiden Matrosen, die sich, ebenso wie ich, unsicher umgesehen hatten. Ich erkannte ihn sofort wieder. Er war jener, der mich damals los gemacht hatte, als ich auf dem Schiff angekommen war: Finn. Seine Glatze glänzte durch die Hitze und er schlug sich in den vernarbten Nacken, als ein Moskito sich darauf niederlassen wollte. Instinktiv wichen die zwei zurück. Mit Finn war nicht zu spaßen. Er sprach nie ein Wort, außer er hatte einen Auftrag und dann kam gewiss kein freundlich gesinnter Satz über seine Lippen. Der Matrose zog seine Pistole und musterte sie, während er den ersten der beiden Männer völlig beiläufig fragte: „Henry?“, und bei seinem Namen zuckte er unwahrscheinlich zusammen. „An wen glaubst du? An Gott oder an den Herrn im Himmel?“, dann sah Finn ihn wieder an. Henry wurde bleich und stolperte einige Schritte zurück, doch er kam nicht weit, denn die Mannschaft hatte die beiden nun eingekreist.

Auch ich stand in diesem Kreis, dicht an Blacks Seite und als die Vorstellung los zu gehen schien, stand der alte Seebär auf. Er legte den Arm um mich.

„A-Aber Finn…!“, stotterte der alte Seemann und wischte sich die plötzlich unheimlich schwitzige Stirn unter seinem Nebelbrecher. „Das weißt du doch…! Ich glaube an den Höchsten, aye? Der höchste ist Gott oder nicht? Ich glaube an Gott, bei meiner Seele, das schwöre ich!“, und Hilfe suchend sah er in die Runde. „Das wisst ihr doch, nicht wahr? Das wisst ihr doch?!“

Einige nickten, andere brummten nur und zufrieden grinste Black: „Gute Wahl, Henry, du wirst es nicht bereuen.“, seine Furcht schien wie weg geblasen. Er war wieder ganz der alte Raubein mit der inneren Ruhe und dem Respekt verschaffenden Ausdruck im Blick. Es schien fast, als wäre dieser kleine Durchbruch in seine Gefühlswelt nur Fantasie gewesen.

Auch Finn schien zufrieden und er wanderte mit seiner auf Henry gerichteten Pistole etwas nach rechts. Nun zeigte sie direkt auf die Stirn des Zweiten.

„Und du, Morgan, was ist mit dir? Woran glaubst du? Gott oder den Herrn im Himmel?“

„Kommt drauf an…“, Morgan sah ziemlich finster aus, aber er stolperte nicht zurück, sondern wirkte eher weniger überrascht. Mit düsterem braunen Auge starrte er Finn an, dann Black, das andere hatte er zugekniffen als würde er scharf nachdenken wollen. Erst spie er neben sich, ehe er abermals knurrte: „Kommt drauf an, ob der runde Robin dabei ist, aye?“

Robert zog amüsiert eine Augenbraue hoch. „Du hast nicht gerade viel Auswahl, mein Freund.“, und das stimmte. Einige der Matrosen lachten darüber, andere flüsterten ihm gut zu, was er antworten solle, aber er hörte auf keinen von denen, sondern starrte nur Black an, als würde er genau wissen, wer ihr Anführer war, ganz gleich, ob Finn es war, der die Waffe auf ihn richtete.

„Aye, es kommt eben drauf an.“, sagte Morgan ein drittes Mal. „Was Gott und was Himmelsherr zu bieten hat, aye? Aber ich würde sagen weder noch, ohne Robin.“

„Und mit Robin?“, Black spie ebenfalls neben sich aus. „Wenn der alte Robin dabei ist?“

„Moment!“, protestierte Robert. „Vom Robin war nie die Rede.“

„Dann ist eben jetzt die Rede davon!“, entgegnete der Einbeinige. Gemurmel brach aus, aber er schlug so hart auf das Fass neben sich, dass alle zusammen zuckten. „Ruhe, ihr Hunde! Bei Zehn Fragestellern macht der Robin mit, haben wir gesagt und nun ist es so weit, also macht er auch mit! Zehn sind es.“, düster stellte er sich humpelnd zu Finn, sein Holzbein sackte etwas im Sand ab. Black wirkte kleiner als ohnehin schon neben dem riesigen Hünen. „Der Robin ist nun dabei, sage ich, mein letztes Wort und Spucke drauf!“

Verwirrt sah ich die Gruppe an. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Unsicher sah ich in die Runde, aber ich entdeckte keinen Mann, welchen ich nicht kannte und welcher vielleicht dieser Robin sein könnte. Soweit ich weiß, war der einzige Robin, den wir hatten, beim letzten Sturm über Bord gegangen.

„Es haben aber nur neun gefragt.“; wandte Robert gereizt ein und ich spürte, wie eine hitzige Diskussion bevor stand. Die Atmosphäre knisterte bedrohlich. Unwohlsein breitete sich in der Gruppe aus, die Blicke wurden düsterer als ohnehin und etliche bewarfen Black insgeheim mit hasserfüllten Flüchen.

„Aye…“, brummte dieser. „Aber Son, er verlangt den Robin, nicht wahr Son?“, ich zuckte zusammen und starrte ihn an.

„W-Was…?“

„Aye, er verlangt ihn!“, entschied Black für mich.

„Moment!“, Robert stieß einige Beiseite und trat ebenfalls in den großen Kreis. Wütend zeigte er auf mich. „Diese Landratte hat keine Ahnung, weder von Statuen noch von Seefahrt!“, fauchte er Black entgegen und dann wandte er sich laut an die Gruppe: „Son hat keine Stimme, sage ich! Er ist nur ein Schiffsjunge, eine billige Landratte noch dazu!“

Wütendes Gebrüll ging los. Manche stießen mich, andere drohten Robert mit der Faust.

Als Black erneut auf ein Fass schlug, befand auch ich mich in der Mitte.

„Ruhe, ihr verfluchten Schweine!“, donnerte seine Stimme durch das Gehölz. Es übertönte den Wasserfall bei Weitem und ich war mir sicher, das musste sogar Wilkinson gehört haben. Einige Vögel ergriffen schreiend die Flucht gen Himmel, und mit einem Mal war es still. „Jeder hat eine Stimme.“, fuhr Black dann ruhig fort. „Jeder Seemann, ganz gleich ob Offizier oder Schiffsjunge, sage ich.“, und damit drehten sich alle Köpfe zu mir. „Also Son? Mit oder ohne Robin? Wir sind eine Mannschaft, Son... Nicht wahr? Eine Mannschaft. Also hast auch du eine Stimme.“

Ich schluckte schwer und starrte die Mannschaft an. Blacks Wink war offensichtlich. „Sag ja!“, zischten mir einige zu, andere bedrohten mich „Wenn du ja sagst, schneide ich dir die Kehle durch!“, wieder andere baten mich Nein zu sagen und noch mal andere beschrieben mir, was sie mit mir tun würden, würde ich es wirklich nicht tun. Der Druck auf meinen Schultern wuchs mit jeder Sekunde und die Tatsache, dass ich kein Wort verstand, machte es nur umso schwerer. Aber ich wagte es nicht, zu fragen oder jemanden um Rat zu bitten. Das einzige was ich wirklich mitbekam, war Roberts hasserfüllten Blick und dann Black. Black, wie er neben Robert stand, die Krücke unter seiner Achsel, schief stehend und im Sand versunken mit eindringlichen Augen, fast manipulativ.

„Ja.“, schoss es aus mir heraus. „Mit Robin.“

Black grinste zufrieden Robert entgegen. „Aye, was habe ich gesagt?“

Und Fluchen drang an mein Ohr, aber keiner rührte mich an. Robert schien gleich zu explodieren.

„Aber er hat nicht einmal die Frage gestellt bekommen!“, protestierte er abermals und entriss Finn die Pistole. Mit einem Satz stand er direkt vor mir und ich starrte in ihren dunklen Lauf. Wie versteinert stand ich da, völlig regungslos, erstarrt und totenbleich. „Gott oder Herr im Himmel?!“, fauchte er mich an und die Dinge überschlugen sich in meinem Kopf. Von einer Sekunde auf die andere war mein Herz schneller, als nie zuvor in meinem Leben. Es schlug so schnell, dass es mich schmerzte. Für einen Augenblick blieb mir die Luft weg. Ich wollte zurückweichen, aber ich schaffte es nicht. Meine Beine wollten mir nicht gehorchen. Ängstlich starrte ich Robert an, seine Augen waren blind vor Hass. Er wollte abdrücken und ich dachte kurz, egal was ich sage, er wird es tun. Dann stotterte ich unwissend, was ich von mir gab, das nach, was Henry vor mir gesagt hatte:

„Ich glaube an Gott.“

„Katholikenschwein!“, rief einer mir entgegen, aber ich sah nicht einmal hin.

„Und an welchen?!“, grinste Robert. Black wollte vortreten, aber Finn hielt ihn fest, damit er mich nicht abermals schützte. „Den im Himmel oder den auf Erden?! An wen glaubst du?!“, Roberts Augen wurden höhnisch. Er wusste genau, dass ich keine Ahnung hatte, was er meinte.

Stille machte sich breit und ich hatte nur eine Sekunde zum Nachdenken. Wie betäubt, fast automatisch straffte ich meine Schultern und mein Blick wurde kühl. Ich verstand selbst nicht, was mit mir geschah.

„An einen Scheiß glauben tue ich…“, knurrte ich und legte den Kopf etwas schief. „Bastard, du fragst an wen ich glaube?! An niemanden glaube ich!“, ich schob seine Pistole zur Seite und grinste: „Der Höchste hat das Sagen, aye?“

Robert richtete die Waffe abermals auf mich. „Willst du hier den Großen spielen?! Uns alle aufs Kreuz legen, was?!“

„Sei nicht albern.“, entgegnete ich finster. „Der Fisch fault am Kopf zuerst… Nur ein Idiot würde sich vor eine Gruppe stellen.“

„Er hat Pfiff!“, lachte Black, aber keiner beachtete den alten Mann.

Robert und ich durchbohrten uns mit hasserfüllten Blicken, dann endlich ließ er die Waffe sinken. „Na los…“, knurrte er. „Bringen wir es zu Ende.“

Er gab Finn die Pistole, dieser steckte sie ein. Dann ging er an mir vorbei aus dem Kreis. Wütend rempelte er mich dabei an und ich stolperte leicht, schwieg jedoch.

Die Mannschaft packte wieder ihre Fässer und so zogen wir weiter. Es zog mich zu Black. Wieder stützte ich den alten Mann, mein eigenes Fass wurde von Finn getragen.

„Aye…“, brummte der Seebär, während ich mit seinem Gewicht kämpfte. „Gut gemacht, Son, auf ihn ist eben Verlass.“

„Ihr nutzt mich aus, bis auf die Knochen.“, brummte ich bitter. Mir war eiskalt und innerlich zitterte ich. Noch immer sah ich Roberts Augen und den Lauf der Pistole vor mir. Es fröstelte mich, trotz der Hitze.

„Die Welt ist undankbar.“, brummte Black nur grinsend. „Besonders bei Männern mit Grips, Son, Männer wie er und ich es sind.“

„Was sollte diese Frage mit Gott? Und wer ist dieser ‚runde Robin’?“

Black lachte laut auf, aber antworten tat er mir nicht.

Mürrisch trotte ich mit ihm der Mannschaft hinterher, recht schwerfällig und in meinen eigenen Gedanken. Mein Leben war bisher gefährlich gewesen, das war mir bewusst. Aber nun nahm diese Gefahr Ausmaße an, die mir Unsicherheit bereiteten. Ich sackte immer tiefer in eine Art Sumpf hinein, den ich nicht verstand. Nur Black stand hinter mir – und selbst damit war ich mir nicht mehr sicher.

Mein Leben hing an einem Faden.

Etwas, an das ich mich erst gewöhnen musste.

Etwas, an das ich mich gewöhnte.

Etwas, was ich nie mehr los wurde... Und was ich niemals lieben lernte.

Der runde Robin

Wir liefen mit den Fässern den Fluss entlang, dort stellten wir sie ab. Ich keuchte vor Anstrengung. Black war schwer und stützte sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf meine viel schmalere Schulter. Anders als Black selbst, denn er keuchte nicht, sondern stimmte ein Shanty an. Mit einem gleichmäßigen „Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren“ durchquerten wir das Gebiet und auch ich wurde genötigt, beim ‚Yohoho’ mit einzustimmen. Der Seebär fuchtelte mit seiner Krücke mehr herum, um den Takt anzuzeigen, als dass er sie zum Laufen gebrauchte.

Als wir dann endlich hielten, war ich so erschöpft und verschwitzt, dass ich das Gefühl hatte, ich käme direkt aus dem Meer. Wir waren dem Fluss gefolgt, bis zu einem weiteren, winzigen und stufenweise abfallenden Wasserfall. Dort kletterten wir hinab und ich roch Salz und sah das Meer. Mit Schrecken erkannte ich, dass wir uns zwischen den zwei Klippen befanden, die man vom Schiff aus gesehen hatte. Ein Weg schlängelte sich direkt dort nach unten und es grauste mir beim Gedanken, was hier los sein musste, wenn die Flut gerade einsetzte. Wir folgten einem Steinhang bis zu einer Höhle, die so schmal war, dass sie eher einem Riss glich.

Vom Schiff aus war dieser Spalt nicht zu sehen gewesen. Ich starrte hinab, wenige Meter unter uns lagen die Wellen und ein paar Riffe, gefährlich tief liegend. Es reichte nur ein lockeres Stück Fels und man stürzte in die Tiefe und selbst wenn man schwimmen konnte, würden die Wellen einen wohl gegen die Felswände schlagen.

Wir schlüpften in die Öffnung, wobei Black mich grob vorschob, damit ich auch ja nicht auf den letzten Metern Reißaus nahm.

Die Gischt sprühte uns um die Ohren und es war so laut, dass ich nichts verstand, wenn die Männer sprachen. Sie bewegten nur ihre Münder. Wie Fische. , dachte ich. Wie Karpfen.

Als wir dann drinnen waren, war es mit einem Mal fast vollkommen still. Das Rauschen und Getose lag weit entfernt und drang kaum durch die Felswand zu uns durch. Es war so leise, dass ich jeden Schritt hören konnte, jeden noch so kleinen Widerhall. Fast, als wäre vor dem Eingang eine unsichtbare Wand. Nur der Geruch des Meeres hing in der Luft und zeugte noch von den mächtigen Naturgewalten außerhalb.

Robert, der die ganze Zeit die Gruppe angeführt hatte, entzündete eine Fackel, dann eine zweite. Als Black und ich hinein kamen, wir bildeten die Nachhut, herrschte bereits wieder Dämmerlicht. Die Gruppe war vorgegangen weiter in die Höhle hinein und wir folgten.

Es ging immer tiefer, wenn auch nicht allzu lang. Der Abstieg wurde immer steiler und es war schwer, auf dem nassen Boden nicht auszurutschen.

Dann blieben wir wieder stehen.

Ich sah mich um und vergaß den schweren Black auf meiner Schulter.

Ohne Frage befanden wir uns in einem Lager und ich verstand, wohin Wilkinson die ganzen Waren hat bringen lassen. Etliche Kisten, Fässer und Truhen standen herum. Viele fein säuberlich gestapelt, andere wild im Raum verteilt. Säcke und Beutel waren gehäuft in den Ecken, einige hingen an den Wänden. Es roch nach Salz, einige Stalaktiten hingen von der Decke herunter und zeigten bedrohlich auf den feuchten Boden. Weiter unten war ein kleiner See, wirklich winzig. Er lag völlig still da und ich fragte mich, ob es wirklich ein See war oder nur gesammeltes Flutwasser, denn ohne Frage stieg hier bei Flut das Wasser bis zur Decke.

Black löste sich von mir und die Gruppe sammelte sich vor einer roten Kiste. Ich sah sie nur kurz, ehe mir die Meute die Sicht nahm. Sie war blutrot, lackiert und geschliffen. Ohne Frage ein teures Stück. Ich selbst hielt mich fern und so blieb ich allein stehen und sah zu, was sie trieben.

„Mach sie schon auf!“, befahl Robert ungeduldig und auch die anderen Matrosen konnten es kaum erwarten. Jener, der die zweite Fackel hielt, leuchtete vor Aufregung in die völlig falsche Richtung und versengte leicht die Haare seines Nachbarn.

Black packte die kleine Kiste und mit einem Donnern hievte er sie auf ein Fass. Er zog die Schlüssel hervor und wartete einige Sekunden, fast andächtig, ehe er den ersten ausprobierte. Es herrschte Stille und Angespanntheit, jeder wartete was geschehen würde, aber er passte nicht. Ohne aufzusehen warf er ihn weg und griff den nächsten. Erneut hielt jeder den Atem an. Er passte.

Black sah kurz in die Runde, dann öffnete er den roten Klappdeckel. Ehrfürchtig wichen alle ein winziges Stück zurück, nur um dann wie gierige Hunde wieder vorzustürmen. Aber Black knallte sie blitzschnell wieder zu und schloss ab. Ich hatte neugierig den Kopf gereckt, aber dennoch nichts gesehen.

„Nein.“, sagte er dann ernst in die ungläubig drein blickenden Gesichter. Das war wie ein Startschuss. Geschrei wurde laut.

„Was soll das?!“, fauchte einer.

„Verräter!“, ein anderer und Robert wollte ihm die Kiste entreißen.

„Du wagst es, uns zu hintergehen?!“

„Idioten!“, fluchte Black. „Allesamt, denkt nach! Ich kenne euch doch, euch Halunken, euch alle! Ihr rennt mit euren Anteilen an Bord und dann geht das Prügeln und Morden los! Nein, sage ich, nein und nochmals nein!“

Einige schienen zuzustimmen, wenn auch unzufrieden, aber Robert nicht. Wie immer war er gegen das, was Black sagte und stampfte mit dem Fuß auf.

„Verräter, sage ich! Du willst sie nur für dich behalten, das ist es!“

„Bei meinem Holzbein, was hätte ich davon?! Damit mich die ganze Meute umbringt?!“, er lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, so dumm ist der alte Black nicht. Ihr werdet sehen, wir werden gerecht teilen, wenn es an der Zeit ist.“, demonstrierend klopfte er auf den Truhendeckel. „Aber zuerst: Der runde Robin.“

Mit einem Knurren gaben sich damit alle zufrieden, wenn auch nur widerwillig. Man räumte einen alten, morschen Tisch frei und stellte ihn in die Mitte des Raumes, dann versammelten alle sich darum. Auch ich wurde heran gezogen. Die Truhe stellte man sichtbar für alle mitten hinauf.

Robert knurrte widerspenstig, ehe er ein Pergament ausbreitete und mit einer Feder einen großen Kreis darauf zog, anschließend einen noch größeren um diesen herum und um diesen einen dritten.

Mit finsterer Miene legte er die Feder auf den Tisch und verschränkte die Arme.

„Ich bin dagegen.“, brummte er.

„Die Sache ist entschieden.“, zischte Black drohend zurück. „Wer nicht mitzieht, zieht gar nicht mehr, aye?“, er griff die Feder und schrieb in die Mitte des Kreises deutlich, es für jene die nicht lesen konnten laut vorlesend:

„Hiermit gestehe ich, angeheuertes Mitglied der Crew, die Meuterei auf dem Schiff Caroline in Besitz des Kapitäns Sir Oldfield McWilkinson, mitgeplant und auch ausgeführt zu haben.“ Erstaunt stellte ich fest, was für eine außerordentlich gute Handschrift er hatte. Zudem schrieb er in gekonnter Schrift, statt in Druck, was mich ungemein davon überzeugte, dass er ein gebildeter Mann gewesen sein musste. Als er fertig war, richtete er sich auf und sah düster in die Runde. Dann schrieb er demonstrativ „Mathew Hullingtan Black“, in einer Linie von der Mitte des Kreises aus nach außen. Mathew Hullingtan in den ersten Ring, Black in den zweiten. Er reichte die Feder weiter, Robert einen drohenden Blick zuwerfend.

Der nächste Matrose tat es Black gleich. Er schrieb seinen Namen, erst Tom in den ersten Ring, dann Anderson in den zweiten. Und so ging es weiter, bis der Kreis fast ausgefüllt war und nicht mehr zu erkennen, wer zuerst, und wer zuletzt geschrieben hatte. Ich verstand, wozu dieser so genannte „Runde Robin“ gut war. Nun war zwar bekannt, wer an der Meuterei teilnahm, aber nicht, wer ihr Anführer war. Und keiner würde es wagen, den anderen zu verpfeifen, denn er selbst hatte nun auch gestanden.

Dann kam Robert dran. Alle starrten ihn an, gespannt und wartend. Widerwillig griff er die Feder und tat, was verlangt wurde. Die Endung des Y aus seinem Namen Robert McGohonnay zog er demonstrierend stark und schnell, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Die Feder kratzte dabei einen Riss in das Papier.

Nun fehlten nur noch fünf Namen, ehe ich an der Reihe war und ich sandte Stoßgebete über Stoßgebete zum Himmel, in der naiven Hoffnung, Gott würde mich erhören, über die blasphemische Äußerung von vorhin vielleicht lachen und die Männer nun meinen Namen einfach vergessen lassen. Ich versprach ihm, würde ich hier lebend heraus kommen, ohne dass mein Name auf diesem Papier stand, ich würde zurück ins Kloster gehen. Ich würde das frommste Schaf des Abtes werden, nie wieder ungehorsam sein, stets gottesfürchtig und ehrenhaft, voller Demut und Schweigsamkeit. Ja, ich würde sogar um Strafe und Buße bitten. Mich in den Staub werfen, vor jedem Mönch einzeln. Ich würde die Prostituierte, welche mich in meinem Alkoholrausch ausgenommen hatte, der Hexerei anklagen, ich würde nie wieder auch nur an die Lust denken, nie wieder der Völlerei nachgehen, immer beten, nie zu spät kommen, alles beichten. Ich würde nie mehr ein alkoholisches Getränk anrühren – abgesehen vom gesegneten Wein – und ich würde nie mehr in der Bibliothek schlafen. Ich schwor mir, dass ich auf dem Feld arbeiten würde, bis mir die Hände bluteten und dass ich es gern täte. Ich schwor mir auch, ich würde mich auf den Klosterhof stellen und dem heiligen Vater Recht geben: Markus war ein Ketzer gewesen und er hatte es verdient, verbrannt zu werden, es war Rechtens gewesen. Mit jeder Sünde, die mir einfiel, wuchs meine Verzweiflung und ich ging in die wahnwitzigsten Versprechungen über.

Ich würde mich für meine Vergehen selbst der Blasphemie anklagen und ohne Murren das Urteil des Gerechten hinnehmen.

Als ich diesen Gedanken in meinem Kopf widerhallen hörte, wurde mir bewusst, wie unsinnig meine Worte waren und wie sinnlos meine Lage.

Dann wurde die Feder an mich gereicht. Zwei Männer packten mich an je einem Arm und zerrten mich zum Tisch. Unschlüssig sah ich auf das Tintenfass, dann auf die Feder und anschließend auf das Papier. Der Kreis war fast vollkommen ausgefüllt, nur ein wenig Platz war noch übrig. Gerade mal genug für meinen Namen.

Wenn ich nicht unterschreibe…, dachte ich. …würde man es nicht einmal bemerken.

Aber als ich aufsah, wurde diese Art von Hoffnung zerstört, denn sowohl Robert, als auch jeder andere sah mich erwartungsvoll an. Ich hatte gar keine andere Wahl, als meinen Namen ebenfalls unter das Schriftstück zu setzen. Gequält atmete ich tief durch und stützte mich auf das Holz.

Gerade setzte ich die Feder an, da knallte es.

Erschrocken sah ich auf und auch die anderen sahen hinauf zum Ausgang, aber natürlich war nichts zu sehen.

„Ein Kanonenschuss.“, vermutete Robert. „Vielleicht ein Angriff?“

„Sei nicht albern.“, gab Black spöttisch zurück, aber auch in seiner Stimme lag etwas Unsicherheit. „Wer sollte die Caroline angreifen? Mitten am Niemandsland?“, doch dann folgte ein weiterer Schuss.

„Das war die alte Pauline!“, rief ein Matrose entschlossen und nickte eifrig. „Unsere alte Pauline, den Knall erkenn ich Meterweit wieder!“

„Er hat Recht.“, pflichtete ein Mann ihm bei. „Das sind unsere Kanonen, eindeutig.“

„Mach schnell!“, befahl Robert mir und eilig krakelte ich etwas Unlesbares hin. Er beachtete es kaum, es reichte ihm dass ich geschrieben hatte, also grabschte er das Pergament und faltete es zusammen. „Wir müssen zurück.“

Innerlich grinste ich, denn mein Name war nicht lesbar, unter keinen Umständen. Und wenn es keinem auffiel, dann war ich aus der Sache fein raus.

„Zurück?!“, rief Finn ungläubig. „Wenn es ein Angriff ist?! Zurück?!“

„Willst du hier fest stecken?!“, schrie Robert ihm entgegen. „Ohne Schiff, Kapitän und vor allem Navigator?!“, das leuchtete allen ein und so schwiegen wir.

Black knurrte gereizt: „Nehmt die Kiste mit, wir stecken sie in eins der Fässer und nehmen sie mit an Bord. Los, zum Fluss.“, dann trat er vor Robert und baute sich zu seiner vollen Größe auf. Dennoch war Robert etwas größer als er. „Und du, Robert, gib mir den Runden.“

„Vergiss es, Black.“, zischte der Maat unbeeindruckt. „Den behalte ich. Du die Kiste, ich den Robin.“

„Es ist gleich, wer den Robin hat.“, knurrte Finn. „Lass gut sein Black. Wir alle sind Zeuge, dass Robert den Robin hat. Los jetzt, wir haben keine Zeit.“, Black schnaubte, bedachte den ersten Maat mit einem düsteren Blick und drehte ab.

„Son, die Kiste!“, befahl er nur kühl. Ich sah ihm finster nach, aber widersprach nicht, sondern nahm das Stück an mich. Sie war verdammt schwer und ich fragte mich, was wohl darin sei, wagte es aber nicht, es laut zu tun.

Wir trotteten hinaus, wie im Gänsemarsch. Draußen warteten wir angespannt, denn Robert ließ auf sich warten. Als er dann endlich draußen war, gingen wir zum Fluss und füllten die Fässer mit Wasser. Zwei weitere Kanonenschüsse folgten, aber weder die Caroline, noch ein feindliches Schiff waren in Sichtweite von uns. Jeder von uns war angespannt bis zum letzten Muskel. Diesmal wurde kein Shanty gesungen, nicht einmal ein Wort gesprochen. Wir durchschritten den Wald nur langsam, die Fässer machten den Männern schwer zu schaffen. Ich legte die Truhe behutsam in mein eigenes Fass, dann schulterte ich dieses und so gingen wir weiter. Als wir die Boote erreichten, sahen wir zum Schiff. Noch immer herrschte Flut. Die Caroline hatte gekränkt und war nun etwas weiter rechts als zuvor. Sie lag völlig ruhig da und bis auf war sie nirgends ein Schiff zu sehen. Verwirrt sahen wir hin und her, aber es gab nichts, bis auf das blaue Meer. Wir beluden die Boote und desto näher wir der Caroline kamen, desto unsicherer wurden wir.

„Heeeeeeey!“, rief dann ein Matrose von Deck aus.

„Das ist Norman.“, knurrte Robert. „Frag was er will.“

Der letzte Satz, war an alle bei uns im Boot gerichtet, dennoch reagierte nur einer und rief laut:

„Was war denn los?!“ Doch wir bekamen keine Antwort. Stattdessen sahen wir, wie man die Seile hinunter ließ, um erst die Fässer, dann die Jollen hinauf zu ziehen.

Als alles verladen war, wurden auch wir hochgezogen, langsam und mühselig. Ich war froh, wieder an Bord zu sein, dennoch hatte ich ein schlechtes Gefühl.

Als ich an Deck stand, blieb mir für einen kurzen Augenblick das Herz stehen und instinktiv wich ich einen Schritt zurück.

Die Mannschaft war versammelt, an der hinteren Reling, luvwärts und alle mit düsterem und finsterem Blick. Das war nichts Ungewöhnliches und gewiss nicht das, was mir diesen Schreck versetzte. Nein. Diesen bekam ich durch die Marine der heiligen Inquisition, die unmittelbar vor den gefesselten Matrosen versammelt war, mit hämischen Grinsen, überlegen, da wir mit einer solcher Überraschung bei Weitem nicht gerechnet hatten.

Kaum wurde die Jolle an Deck geholt, stürzten mehrere Männer in roten Röcken, mit glitzernden Epauletten und breiten Hüten vor, um uns festzunehmen. Männer wie Finn oder Morgan reagierten sofort, anders als weniger mit Intelligenz beschenkte wie Tom.

Dennoch: An diesem Punkt fragte ich mich erstmals, ob eigentlich die Dummen die einzig Intelligenten waren.

Finn und Morgan begannen panisch die Seile der Jolle zu zerschneiden, um wieder zurück ins Wasser und wahrscheinlich so zurück an Land zu kommen. Natürlich war es Unsinn.

Finn hatte sein Seil fast durchtrennt, da donnerte ein Schuss über die Reling hinweg. Er schrie auf und stürzte laut krachend ins Meer, dicht gefolgt vom schreienden Morgan, als dieser sein Seil endlich durchbekommen hatte und das Schiff nun nur noch an einem Tau umher schwankte.

Ich starrte erst Black an, dann Wilkinson. Beide waren düster, finster, aber vollkommen regungslos, während die anderen um uns herum in lautem Fluchen ausbrachen, in Verwünschungen und Todesdrohungen. Einige sprangen über Bord, ihrem sicheren Kälte- oder Hungers-Tod entgegen - oder aber sie ertranken. Andere wehrten sich mit Händen und Füßen, so dass das Deck bald voller roter Flecken war. Und wieder andere, die auffällige Minderheit, stand mit gesenkten Köpfen da oder rief „Lang lebe der Königin!“, als würde dies auch nur ansatzweise etwas ändern.

Robert kam zu Black und mir und knurrte: „Sullivan, verflucht sollst du sein...!“, und dann wurden auch wir gepackt.

Ich starrte ihn an, unwissend, verständnislos, während man mich grob zur Reling zerrte, um mich zu fesseln. „Das wirst du büßen, Sullivan O'Neil! ich verfluche deinen Namen, vermaledeite Christenbrut!“

Dann knallte es erneut.

Ein Schuss, zwei, dann drei.

Auf Deck herrschte mit einem Mal Stille, nur das Echo der Pistolen hallte auf dem Ozean wieder, um zu uns zurück zu schleudern.

Die Mannschaft der Caroline kniete an der Reling, die Arme auf den Rücken gebunden und vor jedem Zweiten ein rotrockiger Soldat mit Flinte.

Ich sah düster auf und der Hass der Matrosen um mich begann auch in mir aufzuflammen. Wir sahen mit an, wie sie den Jolly Roger einholten und dann, lichterloh brennend, ins Meer warfen, ehe sie die Flagge der heilig-königlichen Majestät Königin Katherine hissten, Herrscherin der gleichnamigen Stadt St. Katherine.

Viele unserer Männer hatten mit Sicherheit eine Art Schmerz im Innern, als sie die Fahne erkannten, aber die meisten nur blanke Wut. Doch jeder Schrei, jeder Fluch, jedes Knurren wurde mit einem drohenden Schlag sofort erstickt.

Dann kam er. Er, der Mann, der mein restliches Leben beeinflussen und nach fünf Jahren beenden sollte:

John Anderson O'Hagan, Beauftragter der heiligen Mutter Kirche und inquisitorischer Gouverneur der Bereiche Esas, St. Katherine und Otori.

Er ging mit stolzem und ruhigem Gang quer über das Deck, in langsamen, jedoch weiten Schritten und mit erhobenem Kopf. Als ich Wilkinson kennen lernte, dachte ich, ich hätte einen Mann kennen gelernt, der nicht nur kalt, sondern auch stolz war, wie ein Felsen, unumstürzbar. Aber O'Hagan übertraf ihn bei Weitem:

Als er vor uns allen zum Stehen kam und jeden einzelnen der Crew musterte, durchliefen uns kalte Schauer unter seinen eisblauen Augen. So hell, dass sie fast blind wirkten, aber so stechend, dass jeder kleine Blick zu schmerzen schien. Sein Mund bewegte sich dabei kein einziges Stück. Er war schmal und emotionslos, ebenso wie der Rest seines glatten Gesichtes.

Ich schätzte sein Alter um die vierzig Jahre, aber beim näheren Betrachten wieder auf Anfang dreißig. Je nach Blickwinkel sah er anders aus, jede Bewegung verwirrte den Betrachter nur umso mehr. Seine schmalen Schultern ließen ihn schwächlich wirken, sein breites Kreuz jedoch stark. Seine weichen Handrücken ließen vermuten, dass er nie einen Finger krumm machte, aber seine Handflächen waren vernarbt und hart.

Als er mich ansah, stieg in mir unbändiger Hass. Wie aus einer Ahnung heraus, dass ich diesen Mann niemals mögen würde. Wir sahen uns lange an, wobei es eigentlich nur lange wirkte. Zehn Sekunden, vielleicht fünfzehn, dann drehte er die Augen zu Black ohne seinen Kopf zu bewegen. Sein roter Mantel hob sich vom blauen Meer im Hintergrund beißend ab, ebenso wie sein Hut mit der schneeweißen Perücke darunter. Es war der abscheulichste Anblick meines Lebens.

„Sind alle versammelt?“, fragte der Gouverneur mit arrogant klingendem Unterton, ohne sich seinem Diener zuzuwenden. Dieser, unmittelbar neben ihm stehend und mit den Händen hinterm Rücken, beugte sich seitlich zu ihm und sagte:

„Es sind alle versammelt, Sir.“

O'Hagan gab keine Antwort, nur sein linker Mundwinkel hob sich leicht an. Anschließend trat er einen Schritt vor und räusperte sich vernehmlich.

Ein zweiter Diener bewegte sich mit vornehmem Gang zu ihm, er hatte durch den Wind ein wenig mit der Perücke zu kämpfen und als einer der Männer ihm vor die Füße spuckte, drehte er sich fast ängstlich herum. Er übergab dem Gouverneur mit einer tiefen Verbeugung eine Schriftrolle und trat dann rückwärts wieder neben ihn. O'Hagan entrollte sie. Erst als er fertig war, sah er hinauf und begann vorzulesen:

„Im Namen der heiligen Inquisition, der stellvertretenden heiligen Mutter Kirche, der heiligen, königlichen Majestät und vor allem des Heiligen Vaters persönlich, klage ich hiermit alle hier anwesenden und nicht der königlichen Krone unterstehenden Männer, Frauen und auch Kinder der Ketzerei, des Mordes, des Verrates an Inquisition und Krone und des Raubes an, so wie der Piraterie, was das obig genannte noch einmal vertieft.“

„Bastard einer räudigen Hündin!“, entfuhr es einem Matrosen. O'Hagan fuhr ungerührt fort. Jedoch erst, nachdem er zufrieden hörte, dass der Rufende seinen Schlag dafür erhalten hatte.

„Jeder der Angeklagten bekommt das Recht, von einem Richter angehört zu werden und bei einem Priester der heiligen Mutter Kirche Beichte zu tun, ehe das Todesurteil durch den Strang in der Stadt Annonce über ihn vollstreckt und auch ausgeführt wird.“, er schloss die Schriftrolle wieder und gab sie fast schon gleichgültig seinem Diener zurück. „Führt sie ab.“

Und in genau diesem Moment, als er diesen Satz ausgesprochen hatte, begannen alle Männer sich zu rühren. Fast, als hätten sie den Satz erwartet, nahmen sie die Gefangenen an den Armen und führten sie unter Deck. Lautes Gebrüll ging los, aber der Gouverneur nahm gar keine Notiz davon. Er sah nur kühl in die Runde.

Auch ich blieb ruhig und starrte ihn an, ungläubig, völlig überwältigt. Vor meinen Augen war dies alles noch nicht geschehen. Ich war in Gedanken noch immer beim Wasserfall, sah noch immer den Lauf von Roberts Pistole, den Runden Robin direkt vor mir, die Caroline weit hinten am Horizont. Keine Rotröcke, keine Inquisition, kein Gouverneur. Nur Meuterer und eine geheimnisvolle, rote Kiste.

Wilkinson begann zu toben wie ein Tier und sich mit Händen und Füßen zu wehren, so weit es eben ging. Noch nie zuvor, habe ich den sonst so ruhigen und stolzen Kapitän so wütend und voller Zorn erlebt. Sein Kopf war puterrot und sein Nebelbrecher hing schief an seinem Schädel. Gleich fällt er hinunter., dachte ich. Und damit bricht auch unser letzter Mast.

„Ich klage an!“, brüllte er, so laut, dass es alles übertönte. „Ich klage sie an!“

O'Hagan wurde endlich auf den plötzlich unheimlich alt wirkenden Mann aufmerksam und hieß seinen Männern, anzuhalten. Mit einem Nicken befahl er ihnen, Wilkinson zu ihm zu führen. Als der Kapitän dann vor dem Stellvertreter der Kirche zum Stehen kam, keuchte er:

„Ich klage sie an! Der Meuterei! Allesamt!“

„Ihr seid Pirat.“, stellte O'Hagan ein wenig spöttisch fest und zog seinen linken, schwarzen Lederhandschuh gerade. „Ihr habt keine Rechte.“ Er wirkte alles andere, als interessiert.

Schon wollte man Wilkinson abführen, aber er brüllte wie im Wahn: „Ich war Offizier der Marine! Ihr ward mein Soldat, O'Hagan, mir verdankt Ihr Eure Stellung! Ich habe Euch zu dem gemacht, was Ihr heute seid! Mir habt Ihr das alles hier zu verdanken! Ist das gar nichts wert?!“

O'Hagan sah ihn eiskalt an und ich wartete darauf, dass er den Befehl zur Tötung gab oder dass er wenigstens nachfragte, irgendetwas. Doch es geschah nichts.

Gespannt starrten erst alle Wilkinson, dann O'Hagan an und sogar die Mannschaft ließ von ihren Befreiungsversuchen ab, um das Geschehen zu verfolgen.

„Nein.“, sagte der Gouverneur dann, fast gelangweilt. „Es ist nicht einmal einen Pfifferling wert.“

Nun drehte der Kapitän durch. Er begann zu schreien, riss sich los und stürmte auf O'Hagan zu. Er stürzte fast, aufgrund der nach vorn gefesselten Arme, aber dennoch schafften die Männer es nicht, ihn zurück zu halten. Er sah rot, endgültig.

Wieder knallte es. Der Geruch von Schwefel breitete sich aus und eine dicke Rauchwolke fegte in die Luft, um sich in der Takelage zu spalten und zu verlieren.

Wilkinson stand vor O'Hagan. Er starrte ihn ungläubig an, mit großen, weit aufgerissenen Augen. der Gouverneur richtete noch immer die Pistole auf ihn. Kalt sah er zu, wie der Mann erst zwei Schritte vor, dann nach hinten schwankte. Es sah aus wie ein verrückter Tanz. Erst ein wenig vor, dann etwas zurück, dann wieder vor, mit jedem Satz schwungvoller. Letzten Endes streckte er die gefesselten Arme aus und es war unklar, ob er Halt suchte oder etwas sagen wollte. Mit einem dumpfen Aufprall stürzte er zu Boden und blieb reglos liegen.

Der Diener neben O’Hagan nahm die Mühe auf sich, sich zum Verletzten zu beugen und zu lauschen, denn scheinbar gab dieser gerade seine letzten, gurgelnden Worte von sich.

Ich stand nur da, mit geweiteten Augen und starrte auf die Wunde in Wilkinsons linkem Schulternblatt. Sein blauer Mantel färbte sich langsam immer dunkler. Erst nur wenig, dann immer stärker und binnen kürzester Zeit sah man etwas Blut auf dem Holz unter ihm.

Als der Diener sich dann wieder erhob, schüttelte er den Kopf, gespielt traurig. „Er ist tot, Sir.“

„Wie bedauerlich.“, O’Hagan hingegen gab sich keine Mühe, sein mangelndes Interesse zu verbergen. Er übergab die Waffe seinem links stehenden Gehilfen, dieser brachte sie nach einer Verbeugung weg um sie durch eine neue, geladene zu ersetzen. „Seine letzten Worte?“

„Ich habe sie nicht verstanden, Sir. Irgendetwas mit ‚undankbar’, Sir.“

Der Gouverneur sah weder zu ihm, noch zu Wilkinson, sondern nur vor sich in die Luft.

„Also nur Belangloses, wie es scheint. Unter Deck mit den Gefangenen.“

„Sehr wohl, Sir.“

Diesmal wehrte sich keiner, als man uns ein weiteres Mal packte, um uns durch die niedrigen Türen zu zwängen. Ich warf einen letzten Blick zum liegenden Wilkinson, keiner beachtete den Kapitän. Dann sah ich zu O’Hagan, der Hand der Inquisition.

Der Vertreter Gottes.

Der Teufel., dachte ich, ehe man mich mit einem Stoß weiter zwang.

Er ist der leibhaftige Teufel.

Der Brief (2)

Werter John Anderson O’Hagan, Beauftragter der heiligen Mutter Kirche und inquisitorischer Gouverneur der Bereiche Esas, St. Katherine und Otori,
 

Vor einer Woche sollte meine Hinrichtung stattfinden, aber wie unschwer an diesem Schreiben zu erkennen, lebe ich noch immer. Mit Sicherheit freut Euch das ungemein, wenn mir diese Ironie erlaubt ist.

Warum genau meinem Leben noch immer kein Ende bereitet wurde, ist mir nicht klar. Ich konnte nichts in Erfahrung bringen, aber auch dies hier zu erwähnen wird daran mit Sicherheit nichts ändern. Da man mich jedoch sehr - Wie formuliere ich es am besten? – eindringlich darauf hinwies, dass ich meine Geschichte endlich beenden und dem Richter aushändigen solle, nehme ich an, mein Leben wurde dank meines Schriftstückes vorerst verschont. Ist das eine gute oder eine schlechte Tatsache?

Mit Freuden hörte ich, dass Ihr, werter Gouverneur, meinen Brief tatsächlich erhalten habt. Ich hoffe, dass ich bald eine Antwort von Euch erwarten kann. Es würde mich sehr freuen und meine Einsamkeit mildern. Ein letztes gutes Wort unter Freunden, sozusagen.

Was mein Schreiben anbelangt:

Ich gebe offen zu, die Tatsache, dass man mein Werk als lebenserhaltende Maßnahme bezeichnen könnte, kommt mir sehr entgegen. Ich bin mir sicher, Ihr könnt nachvollziehen, dass ich mein Geständnis nun noch mehr ausschmücken werde, als ohnehin schon. Auch wenn ich nicht ansatzweise verstehe, auf welches Geständnis genau der Richter denn wartet. Ich bin zum Tode verurteilt, wieso mich ausschreiben lassen? Wisst Ihr vielleicht etwas darüber?

Wie hat Euch meine Beschreibung von Euch gefallen? Ich finde, sie ist mir sehr gut gelungen. Sehr dramatisch, besonders die Stelle mit dem verfluchten Kapitän. Ein wenig theatralisch vielleicht. Habe ich übertrieben, was meint Ihr? Ich war schon immer ein Freund der Dramatik.

Mir ist bei meinen Worten aufgefallen, dass ich nicht annähernd Kenntnis über Euer Alter habe. Sicherlich wäre es einfach zu unhöflich gewesen zu fragen oder aber ich hatte keine Zeit dazu, während Ihr mich durch die Straßen und über die Dächer habt hetzen lassen. Wisst ihr, ich habe neuerdings aus irgendwelchen Gründen viel Zeit nachzudenken und es gibt viele Fragen, die ich Euch bei einer Tasse Tee gern gestellt hätte, jetzt, im Nachhinein.

Nun, wo ich ohnehin mein Leben gelebt habe, erlaube ich mir diese Frechheiten einfach:

Wie alt seid Ihr, werter Gouverneur? 50? 60?

Ich stellte mir etwas vor, neulich, als ich in meiner Zelle saß – Kaum vorstellbar, aber das tue die meiste Zeit - und die Feder schwang. (Ein recht anstrengendes Unterfangen, wenn man bedenkt, was meine guten Hände während meiner Gefangenschaft mit machen mussten, aber wem sage ich das? Ein weiteres Beispiel für die unwahrscheinliche Intelligenz der Inquisition - denn es kann ja nur fördernd sein, jemandem zwei Finger zu brechen, damit dieser schneller schreibt, nicht wahr? Aber ohne Frage brauche ich das Euch nicht auf die Nase zu binden, mein Freund.) Jedenfalls stellte ich mir vor, wie Ihr an eurem Sekretär sitzt, meine Pergamente auf dem Tisch, mit krauser Stirn, schütterem Haar und düsteren Blick. Vielleicht ein wenig gelangweilt von meinem recht weitläufigen Text vor unserem Zusammentreffen. Habe ich Euch ein Schmunzeln entlockt, als Ihr endlich aufgetaucht seid? Ihr seid so selbstbezogen, sicher habt Ihr es kaum erwarten können und Euch gefreut, wie ein kleines Kind. Wenn ihr überhaupt ein normales, kleines Kind wart. Seid Ihr je ein Kind gewesen, O'Hagan?

Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass Ihr sehr selten geschmunzelt habt, in jener Zeit, die wir gemeinsam verbrachten. Gelacht eigentlich auch nicht, eigentlich. Manchmal schon, doch, ich entsinne mich… Aber dann klang es eher wie ein heiseres Husten. Als Ihr vor mir standet und mich auslachtet - oh ja, mir ist, als sei es gestern gewesen statt vor wenigen Monaten - voller Hohn und Spott, schadenfroh... Ich muss ehrlich zugeben, ich vergaß meine Schmerzen in dem Moment, die mich fast umbrachten. Ich empfand Eure Spielchen nicht einmal mehr als Folter, mehr machte ich mir Sorgen um Eure Gesundheit. Ihr habt so selten gelacht und wenn, dann klang es wie kurz vor dem Erstickungstod. Sicher habt Ihr deswegen niemals gelacht, nicht wahr? Es muss schrecklich unangenehm sein, wenn jeder Euch beginnt zu stützen, aus Angst, Ihr könntet nun sterben. Aber das macht nichts, dass Ihr wenig lacht, es stand Euch ohnehin nicht sonderlich gut, im Gegenteil.

Nun, ich befürchte, weitere Ausschweifungen innerhalb eines Briefes an Euch sind nicht gern gesehen und wenngleich ich mein Leben verlängern kann:

Eines mit Bewegungsunfähigkeit und Schmerzen - zumindest mehr, als es sein müssten - ist mir dann doch nicht so recht, wie das eines Mannes, der sich in seinen letzten Lebzeiten noch einmal mit jedem seiner verbrachten Tage befasst. Aus diesem Grund werde ich meine kleinen Sätze an Euch an dieser Stelle beenden. Vorerst. Vielleicht schaffe ich es ja, einen weiteren Brief zu verfassen? Es scheint den Richter zu amüsieren, wenn ich schreibe. Wie sagte er?

"Er will noch mehr Papier? Nur zu, gebt dem alten Halunken, was er will. Es ist einfach zu köstlich, was er von sich gibt!"

Ich fürchte fast, ihr seid nicht sehr beliebt bei ihm, vielleicht solltet Ihr Euch mit ihm gut stellen. Aber was erwartet ihr? Ihr brauchtet fünf Jahre, um einen stinknormalen Verbrecher zu fassen. Irgendwie beschämend, findet Ihr nicht?

Grämt Euch nicht. Es weiß ja nicht jeder Mensch von dieser peinlichen Situation Eurerseits. (Abgesehen von Bürgern der Stadt Annonce, manchen anderen Städten, sämtlichen Richtern, der gesamten Inquisition und einigen Ausnahmen im Schmuggler- und Piraterie-Bereich, sowie sämtliche Kinder - denn man erzählt sich unsere kleine Hetzjagd im Volksmund, soweit ich es hörte.)

Außerdem… Es gibt Dinge, die sind beschämender. Zum Beispiel:

Wusstet Ihr, dass Ihr eine ausländische Vase besitzt, unten, in Eurem Erker? Sie ist rot lackiert und wunderschön, aber wenn Ihr sie von näherem betrachtet, am Boden beispielsweise, dann ist darauf das Siegel von Annonce. Es ist sehr peinlich, dass ein so gutes Stück nichts weiter als eine Fälschung ist und hat mich zutiefst erschüttert. Besonders, als Ihr vor Lady Garolina so stolz die Brust schwelgtet, da sie ja so unwahrscheinlich teuer war.

Wenn Ihr Euch wundert, wo genau ich derzeit war – ich erinnere Euch gern an meinen letzten Brief und meinen durchaus gut gemeinten rat bezüglich eurer Dienstboten. Glücklicherweise war es mir möglich sie über diesen fatalen Fehler eurerseits aufzuklären. Missverständnisse gibt es schließlich überall, nicht wahr?

Ich wünsche Euch für die nähere Zukunft alles Gute – es wäre bedauerlich, wenn Ihr doch noch vor mir sterben solltet. Immerhin habe ich schon meine Willkommensfeier für Euch geplant, wenn Ihr zu mir in die Hölle kommt. Es wäre doch jammerschade, wenn all die Ideen einfach so verloren gehen, nur, weil Ihr erster seid. Findet Ihr nicht, ehrenwerter Gouverneur?
 

Ich verbleibe hiermit,
 

Oliver Sullivan O’Neil.
 

Postscriptum:
 

Ich hörte, Ihr habt Beschwerde eingelegt, da Ihr obskure Schreiben bekommt. Ihr solltet dringend etwas dagegen unternehmen! Ich finde es allzu schrecklich, dass Ihr, der Gouverneur höchstpersönlich, von solch unehrenhaften Personen, die nicht einmal gegenüber solcher Persönlichkeiten wie Euch Respekt zeigen können, belästigt werdet! Wo soll das nur hinführen, wenn dieses armselige Volk nicht einmal dort eine Grenze erkennt? Ich war zutiefst erschüttert, als ich das hörte. Wehrt Euch, O’Hagan, das darf unter keinen Umständen ignoriert werden.

Wo wir bereits bei dem Thema Post sind… Als kleine Nebenaussage möchte ich anmerken, dass die Briefkosten zu Euch wirklich unerhört überteuert sind. (Es könnte daran liegen, dass es nicht erlaubt ist, Briefe zu schreiben, weswegen ich ohnehin sehr viel zahlen muss. Und viel besitze ich nicht mehr, wisst Ihr?) Auch das solltet Ihr dringend versuchen zu ändern. Ohne Frage wärt Ihr bald sehr enttäuscht, würden Euch keine Briefe mehr erreichen.

Hat der Bote - der mir freundlicherweise hilft, Euch zu schreiben - doch tatsächlich noch mehr Geld abverlangt als ohnehin schon? Er behauptet doch wahrhaftig, eure Diener würden die Schreiben nur gegen hohe Beträge annehmen, da sie Euch aufregen würden. Wie lächerlich!

Vor- und Nachteile

Die Mannschaft hatte sich abführen lassen, aber aufgegeben hatte sie nicht und so saßen wir allesamt, gut über achtzig Matrosen, überall verteilt unter Deck. Gefesselt, wütend und mit düsteren Blicken, in Gruppen voneinander getrennt.. Black, ich und einige andere waren zusammen mit etwa dreißig weiteren und der Zorn ballte sich in der Luft. Einige Rotröcke, gut drei oder vier, waren ebenfalls anwesend und starrten stur geradeaus, als wären wir Luft. Aber ein wenig mulmig war ihnen schon, das sah man.

Unser Smutje war die Ruhe in Person - und er war der einzige. Während alle fluchten und die Rotröcke verwünschten und verdammten, saß er still da und starrte vor sich hin. Wir alle hatten uns auf den Boden niederlassen müssen, mit den Rücken zu den Stützbalken und so saßen wir nun, nebeneinander, mit den Händen daran gefesselt, gequält durch die Ausdünstungen des anderen. Das Gesicht des Seebären faszinierte mich zu sehr, als dass ich etwas davon mitbekommen hätte. Es änderte sich fast sekündlich. Mal sah er bitter aus und ein wenig finster, dann ging sein Gesichtsausdruck über in deprimiertes Lächeln, hämisches Grinsen oder Nachdenken. Ich fragte mich, was ihm wohl durch den Kopf ging. Überlegte er sich einen Plan? Hatte er Angst? Fühlte er sich nicht gut, hatte er vielleicht Schmerzen? Das Holzbein hing unbenutzt und schwerfällig an ihm auf den Dielen. Es muss anstrengend gewesen sein, sich bequem hinzusetzen und es wird wohl noch schwerer werden, wieder aufzustehen.

Ob er bereits wusste, wie wir entkommen könnten oder wusste er, dass es aus war?

Ich bekam mit, dass einige der Matrosen in ein anderes Gefängnis sollten. Scheinbar hatte O’Hagan sein Schiff heran gerufen und nun sollten einige Matrosen dort hin verfrachtet werden. Als wir das mitbekamen, sah ich in Blacks Augen etwas aufblitzen und ich verstand sofort, dass er die gleiche Idee hatte, wie ich:

Wir wollten auf das andere Schiff. Weg von der Mannschaft, weg von den bekannten und rachfreudigen Gesichtern, die uns die Schuld für ihre Tragödie gaben. Man fluchte mir leise zu, ich sei ein Katholikenschwein und wäre von O’Hagan herein gelegt worden. Ich hätte sie verraten und dafür würde ich einen anderen Prozess bekommen, als sie und ohne Frage flüsterten sie das auch dem alten Black zu.

Als man dann begann, wahllos einige heraus zu picken, wurde das Zischen und Tuscheln intensiver, unverständlicher und so ergriff ich die nächste Gelegenheit.

„Halt endlich dein verfluchtes Maul!“, begann ich zu schreien, wie am Spieß, als der Matrose unmittelbar neben mir etwas zischte. „Wenn du mich noch einmal beleidigst, dann-…!“, und ich begann zu zappeln und zu stoßen. Sofort wurden die Rotröcke aufmerksam.

„Aufhören!“, keiften sie mich an, aber ich hörte gar nicht hin. Der Mann neben mir wusste gar nicht, wie ihm geschah und mit voller Wucht biss ich ihm in die Schulter. Meine Zähne waren nicht die Besten, aber sie waren spitz und er schrie auf. Ich ließ nicht los, so sehr er auch fluchte und wimmerte und nur mit Gewalt konnten die Rotröcke mich an den Haaren los reißen. „Hör auf, du Irrer!“, schrieen sie mich an.

„Er hat meine Mutter verflucht!“, und mit diesen Worten spie ich dem Matrosen direkt ins Gesicht.

„Verfluchter! Räudiger!“, donnerte Blacks Stimme durch das Unterdeck, dass die Mannschaft nur so zusammenfuhr. „Bist du nicht Manns genug, ihn direkt zu beleidigen?!“

Auch Robert begann meinen Nachbarn anzuschreien: „Verdammt sollen Männer sein wie du! Wenn du überhaupt einer bist, du Memme!“, scheinbar hatte er verstanden, was wir vorhatten.

Und da dies nicht genug war, fügte ich hinzu: „Bastard! Einer wie du, der sollte hängen!“

„Ihr werdet alle hängen!“, knurrte der Wachmann daraufhin und band auch mich los. Wütend stieß er mich zu seinem Kollegen, der sofort damit begann mich zu fesseln, als könnte ich auch nur an Flucht denken. Die Mannschaft war mit einem Mal ruhig, denn kein anderer verstand, was plötzlich los war. „Aufs andere Schiff mit ihm.“ Dann machte er sich daran Black los zu machen, denn auch dieser begann wie wild zu zappeln und zu fluchen, als würde er den armen Unschuldigen erreichen wollen. Dieser, ein dicker Kerl mit lockigem Haar und Sommersprossen, glotzte uns aus großen, runden Augen an, sich keiner Schuld bewusst.

„Wenn ich dich bekomme-…!“, drohte der Einbeinige fast schäumend. „Hackfleisch mach ich aus dir!“

„Nun ist aber gut!“, donnerte der Wachmann und er brauchte Hilfe, als er Black hinauf half. „Ruhe jetzt oder ich werde es melden!“

„Meldet es nur!“, keifte Robert wie verrückt geworden. „Diese Halunken! Allesamt! Und Euch schimpfte ich meine Kameraden?! Feige Hunde seid ihr, jeder von euch!“

„Genug jetzt!“, dem Wachmann wurde es zu viel. Mehrere Matrosen fielen mit ein, ohne zu wissen, dass dies alles nur gespielt war und er kam kaum noch hinter her, wen er nun los machen sollte, damit Ruhe einkehrte.

Ein Stoß mit dem Gewehr in den Rücken und wutgeladen stolperte ich an Deck.

Dicht gefolgt von Black.

Und von Robert.
 

Als wir an Deck kamen, war es fast dunkel, zwischen den Masten sah ich die Sonne untergehen. Es war ein schöner Anblick und erinnerte an die teuren Gemälde, die ich einst gesehen hatte, als Kind, im Haus eines Lords, bei dem ich während meiner Heimzeit kurzzeitig angestellt gewesen war. Alles war gelblich getüncht, die Masten glühten teils orange in einem starken Kontrast zur anderen, komplett schwarzen Seite und die See schien unendlich weit. Weiße und hell strahlende Wolken waren am Himmel, zum Horizont immer kleiner und immer gelber werdend und umso weiter man schaute, desto mehr wirkte alles wie pures Gold. Der Himmel, die Wolken und natürlich die Sonne selbst. Ich sah sie und sie erschien mir unendlich groß. Sie brach sich in den Wellen und es sah aus, als wäre sie zur Hälfte im Meer. Als würde die Sonne durch die Meeresoberfläche scheinen. Eine Möwe kreiste über unseren Köpfen, stieß einen Schrei aus und bildete für einen kurzen Moment eine schwarze Silhouette direkt über dem Himmelskörper. Hätte ich das Talent besessen, ich hätte dieses Bild gezeichnet. Stattdessen brannte es sich nur für den Rest meines Lebens in mein Gedächtnis ein. Wenn mich jemand nach den schönsten Momenten meines Lebens fragt, dann war es dieses Bild.

Wir überquerten das Schiff und stiegen über eine alte, knarrende Planke hinüber in das des Gouverneurs. Ich bekam es kaum mit. Weder, wie unglaublich groß dieses war, noch wie viele Männer in der Mannschaft waren. Ich sah nur die schwarzen Seile und Masten vor diesem unwahrscheinlich schönen und puren Gold.

Dann wurden wir unter Deck gebracht. Etwa zwanzig Matrosen hatten den Standort wechseln müssen und nun wurden wir wie zuvor bereits gefesselt und befestigt. Man verfrachtete uns in den Lagerraum, die Kisten und Fässer hatte man an die Seiten geschoben. Da die Katholiken überzeugt von sich und ihrer Streitmacht waren, gab es diesmal nur einen Soldaten zur Bewachung – Was sollte auf ihrem eigenen Schiff schon groß passieren? Und noch ehe wir genügend verankert waren setzte das Schiff die Segel.

Es fühlte sich deutlich besser an, etwas abseits der Mannschaft zu sein. Aber die Tatsache, dass Robert mir gegenüber saß und mir penetrant ins Gesicht starrte, setzte mir zu. Ich spürte, wie er mir Todesdrohungen sandte und auch, wie er hoffte, ich würde ihn ansehen, damit er sie mit finsterem Grinsen verdeutlichen konnte.

Nach einigen Minuten zischte Black mir zu: „Aye, Son, gut, wir sind allein.“, ich reagierte nicht. Im Winkelblick beobachtete ich den Rotrock, der an der Tür auf einem Schemel saß und eingenickt zu sein schien. Ein falsches Wort von Robert und uns könnte unser Gespräch gefährlich werden. Wir sollten so viele Worte wie möglich sparen. „Nun, was hat er vor?“

„Hier irgendwie raus kommen.“, ich zerrte kurz an meinen Fesseln. Die Stricke waren so eng, ich konnte nicht einmal ansatzweise daran ziehen. Seufzend lehnte ich mich wieder an. „Aber wie, weiß ich noch nicht.“

„Das ist leicht.“, Black sah ebenfalls kurz zum Soldaten, dann lehnte er den Kopf leicht in meine Richtung. Er sprach so leise, selbst ich verstand ihn kaum. „Nun, er wurde schanghait, er steht nicht auf der Liste, er hat den Codex nie geschnuppert.“

Schweigend ließ ich seine wenigen Worte wirken, doch dann durchfuhr mich die Tatsache, was er dort gerade von sich gegeben hatte.

„Natürlich!“, entfuhr es mir. „Black, Ihr habt Recht! Keiner kann behaupten, ich sei Pirat! Ihr seid ein Genie!“, ich versuchte meine Freude zu unterdrücken, damit der ehemalige Maat nichts von dieser Tatsache erfuhr.

„Nein, ich bin ein gehängter Mann.“, korrigierte der Seebär mich. „Nun, die Zeit ist um, Son, irgendwann musste es so kommen. Irgendwann geht jedermanns Zeit vorbei.“

„Sagt das nicht, es gibt immer einen Weg.“

„Aye, aber manche führen im Kreis, mein Junge. Sie haben sogar den Gott erschossen, diese Halunken, kein Mitleid, bei meiner Seele, wenn ich denn eine habe, Teufel sind das.“

„Gott?“, ich schwieg einige Sekunden, dann fragte ich unsicher: „Meint Ihr Wilkinson?“

„Aye. An Bord ist der Kapitän Gott, Son. Das sollte er sich merken. Der Kapitän entscheidet, wer lebt und wer stirbt, er ist Gott, er hat das Sagen, er steuert unsere Leben durch den Ozean. Wenn sie sogar ihn einfach nieder schießen, dann haben Männer wie wir keine Chance auf einen gerechten Prozess, mein Wort darauf.“

„Ich verstehe. Das meintet ihr, mit der Frage, ob Gott, oder Herr im Himmel. Ihr wolltet wissen, wer dem Käpt’n folgt?“

„Aye, er hat Pfiff.“, Black musste lachen, rau und heiser, aber so leise wie möglich. Es wurde mir ein wenig mulmig, als mir der Gedanke kam, dass ich ihn vielleicht das letzte Mal diesen Satz sagen hörte. Man konnte uns nicht als beste Freunde bezeichnen, aber Fakt war, er hatte stets zu mir gehalten. Gewiss aus eigenen Gründen heraus und sicher gehörte dort auch der Nutzen dazu, den ich für ihn darstellte. Dennoch: Ohne ihn hätte ich mich auf diesem Schiff nicht eingliedern können und wäre vielleicht nach wenigen Tagen ein toter Mann gewesen.

Wir verfielen in Schweigen und sogar Robert wurde ein wenig ruhiger. Der Rotrock wurde abgelöst, von einem hageren Kerl mit lang gezogenem Gesicht und steifen Wangenknochen. Sein Anblick ekelte mich an. Er hatte etwas Verschlagenes und zugleich Schleimerisches an sich. Vom ersten Augenblick an war er mir ungemein unsympathisch und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Als er den Lagerraum betrat waren seine ersten Worte: „Hört auf zu glotzen, Ihr verfluchten Piraten!“ und auch so hatte er nichts Positives für uns übrig.

Jeder versuchte den Mann zu ignorieren, um Problemen auszuweichen und mit jeder Stunde, die wir fuhren, wurde jedem von uns bewusster, wie wir dem Galgen immer näher rückten. Ich rief mir immer wieder ins Gedächtnis, dass ich nicht in die Mannschaft eingetragen worden war. Ich hatte keinen Codex unterschrieben und auch keinen Heuervertrag. Wenn die Zeit gekommen war, würde ich Einspruch erheben und die Inquisition darauf aufmerksam machen. Aber nicht jetzt und nicht hier, mitten unter der Mannschaft. Das war zu riskant und würde ein riesiges und hitziges Gewirr hervorrufen.

In meinem Hinterkopf bildeten sich die verrücktesten Pläne. Vielleicht war es möglich, aus dieser Sache heraus zu kommen, ohne dass jemand es merkte. Ohne, dass jemand nach Rache sinnte und so, dass alle dachten, ich sei tot, wie sie. Sollte einer freikommen, musste ich zumindest keine Angst vor Rache haben.

Bereits nach wenigen Tagen verloren die meisten von uns ihr Zeitgefühl und es kam vor, dass ich um den Gang zum Abort bat, nur, um den Himmel sehen zu können. Immer wieder stellte ich fest, dass mich die Zeit betrogen hatte. Wenn ich der Meinung war, es sei Nacht, dann war es heller Tag und umgekehrt. Ich fühlte mich in meine Zeit als Gefangener zurück versetzt, als die Melancholie mich befallen hatte und das machte mich fertig. Die Gefangenschaft machte mich kühl und betäubte meine Gefühle. Jeden Tag bat ich mehrmals um den Abort und so lernte ich, anhand der Geräusche zu erkennen, welche Tageszeit wir hatten.

Gemeine Kommentare der Soldaten, nur leises Knarren des Schiffes, schlechte Laune der Wachen, dann war es Nacht. Schlechte Laune der Soldaten, tiefe Augenringe und noch schlechtere Laune der Wachen, dann war es Morgen. Und wenn man Knarren und Knacken hörte, Schritte und Brüllen, dann war es Tag.

Dennoch war der Alltag dieses Schiffes so viel anders für mich. Regelmäßig wurden alle zusammen gerufen und man las aus der Bibel vor. Auch wir mussten daran teilnehmen, wenn auch weiterhin unter Deck und wenn man uns Essen brachte, sprach der Schiffsjunge ein Tischgebet für uns. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass viele unserer Männer daran teilnahmen und die Zahl jener wuchs von Mal zu Mal. Mit Sicherheit lag es daran, dass die, die mitsprachen und das Amen besonders stark mit Betonung versahen, größere Rationen bekamen. Auch Black und ich taten unser Bestes, unsere missliche Lage zu verbessern und die Gutgläubigkeit von uns allen brachte uns weitere Lesungen ein. Nach einer Woche kam regelmäßig der Pater des Schiffes zu uns und las uns aus der Bibel vor. In Latein und unverständlich für sicher jeden der Anwesenden – abgesehen von mir. Dennoch lauschten alle aufmerksam und zwei baten sogar darum, die Beichte zu tun.

Diese zwei verschwanden plötzlich, zwei Tage später. Bei meinem Gang zum Abort fand ich sie beim Vorübergehen, in der Mannschaft von O’Hagan. Sie hatten einen neuen Heuervertrag unterschrieben und waren nun fromme Diener der Kirche. Als ich Black davon erzählte, lachte dieser jedoch nur und selbst wenn es seine Freiheit bedeutete, niemals würde er vor diesen Kreuzfanatikern kriechen, so sagte er.

Seine Naivität und Sturköpfigkeit steckte mich an, dennoch bekam ich bereits nach wenigen Tagen Zweifel. Immer mehr Matrosen bekamen besondere Rechte, besondere Rationen, vielleicht sogar Nachschlag oder ein Stück Fleisch mehr als wir anderen und das auffällig und für alle sichtbar. O’Hagan verfehlte sein Ziel nicht im Geringsten. Unmut machte sich breit, jeder wollte den anderen übertrumpfen oder es entstanden Feindschaften. Man wurde als Verräter geschimpft und die, die damit gemeint waren, hatten es nur umso eiliger sich von uns zu lösen.

Auch Robert machte sich über die anderen lustig und spottete über sie, doch irgendwann war auch er nicht mehr bei uns. Die Zahl der Gefangenen war rapide gesunken und so entschuldigte ich mich bei dem Seebären neben mir.

Ich wollte leben, auf jeden Fall und scheinbar war dies der Weg dazu. Er brummte nur. Black wollte davon nichts hören und niemals, betonte er noch einmal, niemals würde er so tief sinken. Lieber würde er hängen, auf dem Kopf und in Unterhosen, als zu den Katholiken zu gehen!

Als einer der Soldaten ankündigte, dass der Küchenchef krank sei, konnte ich nicht anders. Ich gab Kund, dass Black unser Smutje gewesen sei und dass er wirklich außerordentliche Dienste geleistet hatte. Doch er verweigerte. Als der Soldat ihn los machen wollte, spie er ihm ins Gesicht und fluchte, dass fast das Schiff auseinander fiel. Dennoch musste er sich erheben und wurde in die Kombüse gebracht. „Im Dienste des Kreuzes.“ Doch diese Bemerkung des Soldaten machte es nicht besser.

Schon nach einem Tag begann Black sich zu beschweren, als wäre auf dem Schiff die Pest ausgebrochen. Er habe zu wenige Töpfe, zu wenig Platz und der Schiffsjunge sei zu allem Überfluss auch noch unfähig!

Heiße Diskussionen entbrannten und das einst gute Essen von ihm wurde von Mahl zu Mahl ungenießbarer. Bedauerlicher Weise war der Smutje an Fieber verstorben und den Männern blieb nur noch Black, also was tun?

Man holte mich hinzu, ich sollte sein Gehilfe werden. Dennoch, der Schiffsjunge blieb ebenfalls dabei: Zur Überwachung.

Ich hatte alles vergessen, was ich dank Black hatte erleben müssen, als ich die Kombüse betrat und er grinsend vor mir stand. Zwei Rotröcke waren postiert, jedoch draußen vor der Tür denn der Koch hatte sie hinaus gejagt. Er machte keinen Hehl daraus, dass dies nun seine Küche war und da das Essen schmeckte, drang kein Wort über die Lippen der Katholiken. Und so waren der Schiffskoch und ich endlich wieder unter uns.

Die Arbeit war doppelt so anstrengend, wie je zuvor und ich war dankbar für die Überwachung des Schiffsjungen. Wir mussten Essen für über hundert Mann machen, wenn nicht noch mehr und da war jede Hand hilfreich.

Ich lernte den Jungen genauer kennen in meiner Zeit als Matrose der Katholiken. Er war unheimlich jung, erst um die dreizehn Jahre und hatte ein so freches Grinsen, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Sein Name war Käse und er stammte aus Annonce. Wie ich einst lebte er im Kinderheim, was ihn mir sofort sympathischer machte. Er wurde zur Marine der Inquisition geschickt, um dem Kinderheim mit seinem Verdienst Dankbarkeit zu zollen.

„Zehn Silberlinge.“, verkündete er stolz mit einer Zahnlücke links oben, durch die er pfeifen konnte. „Für zwei Monate. Ich verdiene mehr als die anderen Jungs, da kannst du dich drauf verlassen!“

Er sprach mit uns per Du, fluchte und erzählte Lügen, die sogar Blacks Augen groß werden ließen und dann fluchte er erneut und warf seine braune Mütze demonstrierend auf den Tisch, dass seine blonden Haare nur so zerzaust waren. Er fluchte auf alles, auf die Katholiken, die Inquisition, Gott und Teufel und an manchen Tagen brachte er uns so stark zum lachen, dass mir der Bauch zu schmerzen begann und der alte Black sich setzen musste.

Aber wenn Rotröcke in der Nähe waren, dann war Käse wie ein getretener Hund. Demütig, still, heiser und mit gesenktem Kopf stand er dann da, seine Mütze in den Händen. Er sagte Ja und Amen zu allem und jedem, sprach die Tischgebete und schenkte jedem der Männer Rum nach, wie gelernt. Ich bewunderte seine Stärke und fragte mich, was eines Tages aus ihm werden würde. Ohne Frage war er den Katholiken ebenso abgeneigt, wie ich einst. Aber wie jedes der Waisenkinder wird er nicht drum herum kommen und eines Tages in die Dienste der Kirche treten müssen. Gott hilft uns allen und so müssen auch wir unseren Tribut an ihn zahlen, so ist es doch?

Käse hatte kein leichtes Leben. Nicht selten gab es hier oder da die eine oder andere Ermahnung, wenn jemand etwas von seinen Frechheiten mitbekam oder er vor lauter Fantasterei eine seiner Aufgaben versäumte. Ich lernte zu erkennen, wann sein Tag gut und wann schmerzhaft gewesen war. Wenn er abends bei uns saß und Kartoffeln schälte, verfiel er in Schweigen und sagte kein Wort. Er saß nur da und schälte, als hätte er nie etwas anderes getan und Fragen beantwortete er nur mit Nicken oder Kopfschütteln. Umso erfrischender war es, wenn der Junge dann wieder Mut hatte, durch seine Zahnlücke pfiff und uns etwas zu Essen klaute. Ich lernte ihn zu mögen und er lenkte mich ab von der Melancholie. Stundenlang saßen wir beieinander und redeten. Ich setzte mich dann neben ihn, legte ihm den Arm um die Schulter und erzählte von meinen wenigen Abenteuern. Sie waren nicht groß und nicht berauschend, aber dennoch begeisterten sie ihn und zusammen erfanden wir dann etliche Dinge hinzu. Es machte mir seit langem wieder Spaß zu leben und ich ließ das jeden spüren. Wenn ich lachte, klopfte ich Black auf die Schulter und wuschelte Käse durchs Haar. Einmal floss Rum, wenn auch nicht viel, den Käse heimlich hatte mitgehen lassen. Aber bei dem Schiffsjungen zeigte der Alkohol beachtliche Wirkungen. Käse hatte gelacht und geredet wie ein Wasserfall. Am nächsten Tag zog mich Black beiseite.

„Es wird O’Hagan nicht gefallen, wenn er auf einem Inquisitions-Schiff Sünde tut, Son.“, und obwohl es ermahnend gewesen war, grinste der alte Seebär ungemein.

Ich verstand nicht und sah ihn verwirrt an. Gerade war ich dabei einige der Flaschen zu sortieren und die Halbvollen zusammen zu kippen. Unwissend ließ ich meine Arbeit sinken. „Was meint ihr damit?“

Black lachte heiser und rührte weiter in seinem Gebräu herum. „Aye, schmale Schultern, blonder Kopf, Unschuldiger als ein Engel, was will ein Mann mehr?“

Geschockt starrte ich ihn an. „Black, er ist ein Junge mit Herz und Seele, wie könnt Ihr nur?!“

„Ich?“, lachend drehte er sich zu mir herum. „Er macht wohl Witze. Wer sitzt denn neben ihm, den Arm um den Kleinen und mit Rumfahne, hm? Son, Son, Son, so etwas hätte ich wahrlich nicht von ihm gedacht!“ Und das brachte ihn nur noch mehr zum Lachen.

Meine Ohren glühten rot und ich vertiefte mich weiter in meiner Arbeit. Ich empfand es als Unverschämtheit, dass er so etwas überhaupt zu denken wagte, aber mit der Zeit verstand ich, dass es nicht ernst gemeint war. Auch Black fuhr Käse das eine oder andere Mal durchs Haar, klopfte ihm auf die Wange oder klopfte ihm auf die Schulter, ebenso wie er es bei mir schon immer tat. Es war seine Art von Fürsorge und scheinbar hatte ich sie einfach übernommen, ohne es zu merken. Ich hatte es mir angeeignet, wie vieles andere, was ich aber erst mit der Zeit bemerken würde.

Dazu kam der Entzug an Liebe, unter dem man schlichtweg litt.

Oft flammte in uns Matrosen heißes Begehren auf und wir hatten keine andere Wahl, als es zu unterdrücken oder dem im Abort Luft zu machen. Viele der Matrosen taten sich zusammen, halfen sich gegenseitig, aber mein Glaube schreckte mich ab. Wenngleich ich schon einige Sündtaten hinter mir hatte, ich wollte nicht gezielter auf die Hölle zusteuern als ohnehin schon. Dennoch gab es eine Zeit, nur eine Woche ungefähr, in der ich mein Verlangen kaum zügeln konnte. Tatsächlich wirkte Käse an manchen Tagen mädchenhaft und es kostete alle Überwindung ihn nicht anzusehen. Ich verfluchte mich für diese Schwäche und ich verfluchte mich für die Gedanken an solches. Black zog mich damit auf. Er wusste genau was in mir vorging, aber der alte Seebär war eins mit der Schifffahrt geworden. Er hatte gelernt es zu unterdrücken oder aber es war normal für ihn geworden und nicht mehr wichtig. Er piesackte mich, riss gemeine Witze und trällerte Lieder über Liebe und Verlangen. Er ging sogar soweit, dass er sagte: „Der Junge will Geld verdienen und ein, zwei Heller könnte ich ihm – Son - sicher geben, für den kleinen Käse.“, und dabei drehte er die bronzefarbenen Stücke vor meinen Augen zwischen den Fingern.

Ich war so aus der Fassung gebracht, dass ich den gesamten Sack mit Salz verschüttete. Aber Black lachte nur und widmete sich seinem Essen, was mich nur noch mehr verunsicherte.

Ich war erleichtert, als ich sah, dass er Käse die zwei Heller dafür schenkte, dass er einen besonders schweren Sack Kartoffeln aus dem Lager holte und dabei grinste Black mir so dreist ins Gesicht, dass ich wütend wurde.

Als diese Phase endlich überstanden war, versank ich wieder in meiner Melancholie und in Schweigen. Zudem wich ich Käse aus, meiner einzigen Aufmunterung und Ablenkung. Ich tat meine Arbeit und war kaum ansprechbar. Es machte mir nicht zu schaffen, dass wir auf See waren, sondern dass wir nur die Wahl zwischen Lagerraum und Kombüse hatten. Die Nächte verbrachten wir gefesselt, die Tage mit arbeiten.

Ich begann zu fürchten, dass der kurze Besuch auf Niemandsland mich zurück geworfen haben könnte. Was, wenn dieser kurze Landgang ausgereicht hatte, um mich nun wieder empfindlich gegenüber der See zu machen? Was, wenn ich wieder seekrank wurde?

Würden die Katholiken mich zurückhalten, wenn ich springen will?

Wohl kaum.

Mit aller Macht zwang ich mich, mich zu beherrschen, aber ich kam nicht gegen dieses Gefühl an. Ich schaffte es nicht, fröhlich zu werden, schaffte es nicht, Späße zu machen. Ich wurde appetitlos und auch Black begann den Braten zu riechen. Er schenkte mir aufmunternde Worte und half mir des Öfteren, meinen Frust zu ertränken. Schon nach wenigen Tagen merkte ich, dass der Alkohol mir half darüber hinwegzusehen und an jenen Tagen, an denen Käse keinen Rum besorgen konnte, ging es mir noch schlechter.

Ich redete mir ein, dass es der falsche Weg sei, aber dennoch der hilfreichste und wenn der Smutje nicht Acht gab, nahm ich einige Schluck seines Weines, den er zum Kochen gebrauchte.

Der Seebär war jedoch nicht irgendein Smutje gewesen – er war Smutje der Piraten. Er kannte es zur Genüge, dass die Matrosen ihn bestahlen und aus Gewohnheit heraus hatte er all seine Flaschen mit Strichen versehen. Von dort an bekam ich gar nichts mehr. Weder Aufmunterungen, noch Rationen.

„Der Teufel hat ihn.“, brummte er nur abfällig. „Nun kann ihm keiner mehr helfen, wenn er sogar Kollegen bestielt.“ So entstand auch zwischen ihm und mir ein kleiner Abgrund, den ich jedoch selbst hinauf beschwor und vertiefte, wann immer es ging. Black ließ mich gewähren und in Ruhe, dafür war ich ihm sehr dankbar.

Nach gut einem Monat dann kamen wir wieder in die bekannten Gewässer. Die Matrosen wurden nervöser und jeder freute sich über frisches Fleisch und das rege Treiben der Stadt. Annonce hieß der Zielhafen und jedes Mal, wenn ich Käse dieses Wort sagen hörte, stieg in mir Übelkeit und Wut auf. Meine Flucht war misslungen und das auf miserabelste Art und Weise. Meine Frustration stieg so rapide an, dass ich begann ihn für dieses Wort zu schlagen. Meine Aggressionen kamen zu mir zurück und ich war hin und her gerissen. Er machte eine Bemerkung zu Annonce, ich schlug ihn auf den Hinterkopf. Nicht fest, nur ein leichter Klapps. Eine Sekunde später befiel mich unwahrscheinliche Reue. Anfangs entschuldigte ich mich für mein Verhalten und es war in Ordnung, der Junge hatte Verständnis, aber irgendwann tat ich auch das nicht mehr. Entschuldigungen wurden durch Flüche und Verwünschungen ersetzt, Klappse durch feste Schläge und Stöße.

„Der Teufel hat ihn.“, betonte Black dann nur noch einmal und zwang mich, mich zu beruhigen, aber es half alles nichts. Es regte mich auf, wie er mich behandelte und wenn er nicht so unwahrscheinlich stark gewesen wäre, hätte ich mich mit Sicherheit auch mit den Soldaten der Marine angelegt. Aber er siegte bei jedem unserer Kämpfe schon nach wenigen Sekunden, ganz gleich ob verbal oder mit den Händen. Er hatte Erfahrung mit Grünschnäbeln wie mir und wusste, was zu tun war.

Dann kam der Hauptteil meiner Krankheit: Ich fand keinen Schlaf mehr und begann irgendwann zu brechen. Tag und Nacht hockte ich mit Black in der Kombüse und erfüllte den Raum mit säuerlichem Gestank. Man ließ mich lieber dort, als dass ich all jene im Lagerraum quälte, aber das Essen machte es nur schlimmer. Fieber befiel mich, Zittern und Schweißausbrüche der schlimmsten Art. Ich hockte in der Ecke, als sei ich kurz davor zu sterben und Gott und die Welt erfüllten mich mit Hass. Ich begann mich so elendig zu fühlen, dass mir alles egal wurde. Ich spürte, wie die Lust meinem Leben ein Ende zu bereiten zu mir kroch, wie eine gefährliche Schnecke und mit jedem Stück, das sie näher war, erschien es mir am logischsten. Ich fühlte mich schlecht und es war unwahrscheinlich, dass es mir eines Tages besser ginge. Ich würde zurück ins Kloster gehen oder gar an den Galgen kommen. So oder so, ich hatte keine positiven Aussichten.

Die Soldaten der Marine fanden das amüsant: Ein Pirat, der seekrank war? Black drohte mir damit, mich grün und blau zu schlagen, würde ich die Soldaten oder einen der Katholiken angreifen. Natürlich pfiff ich darauf, aber als dann der Pater kam, damit ich meine Beichte ablegen konnte, hielt ich mich zurück. In Gedanken verfluchte ich ihn so sehr, dass sämtliche Göttlichkeit aus ihm hätte weichen müssen und nichts bleiben, als das Böse und Schlechte dieser Welt. Aber mündlich jammerte und klagte ich von meinem Leben und was für Fehler ich doch getan hatte. Ich beichtete alles. Meine schlechten Gedanken, mein Verlangen, meine Völlerei im Wirtshaus und auch meine schlechten Worte, die ich geflucht hatte. Den Mord, die Lügerei und auch die Nacht mit der Prostituierten behielt ich jedoch für mich. Auch Black tat Beichte, doch hörte ich nichts davon mit an. Ich war neugierig, was er gebeichtet hatte und am liebsten hätte ich mich zu ihm geschlichen und gelauscht. Was konnte einer wie er denn beichten? – Beziehungsweise, was nicht?

Schon nach zehn Minuten wurde ich zurück in die Kombüse gebracht.

„Aye, gebeichtet habe ich.“, gab er zu und nickte. „Muss doch was tun für mein Leben oder nicht? Wenn wir hier raus wollen.“

„Und was habt Ihr gebeichtet?“, ich saß aschfahl in meiner Ecke und umklammerte meinen Eimer, als würde er mir Halt spenden können.

„Nichts. Nur, meine Trinkerei. Ich bin ein guter Mann, Son, mein Wort darauf, auch wenn er’s nicht glaubt.“

„Tue ich wirklich nicht.“, grummelte ich, einen Würgreiz unterdrückend. „Ohne Frage habt Ihr etliche Leben auf dem Gewissen.“

„Bei meinem Holzbein!“, fluchte er darauf. „Das soll er kein zweites Mal sagen! Als würde der alte Black sich heraus nehmen, Gott zu spielen!“, und er war sichtlich empört und beleidigt. Der Smutje drehte ab und warf einige Kräuter in den brodelnden Topf vor sich. Leise murmelte er, eher zu sich selbst: „Als würde ich mir die Hände schmutzig machen. Dafür gibt es doch genug Idioten, die hören, wie die Hunde.“

Ich musste grinsen, als ich das mitbekam, aber schwieg. Das hatte ich vergessen:

Black benutzt stets andere, nie sich selbst.

Irgendwann kam ein Soldat hinein und verkündete sogar uns gegenüber feierlich:

„Land in Sicht! Bereitet eine Feier vor!“

Und mit einem Mal ging es mir besser.

Nach Ebbe folgt Flut

Wir bereiteten still eine Feier vor, wie von uns erwartet. Aber mit der Zeit wuchs in Black und mir innere Unruhe. Wir verarbeiteten das restliche Gemüse und kochten Suppe daraus, mehr nicht. In Erwartung der ersehnten Stadt Annonce wussten wir, dass wir frisches Fleisch für die Zubereitung bekamen, ebenso wie Rum und Obst. Keiner der Matrosen wollte den alten und gepökelten Fraß, sogar die Katholiken hatten Sinn für Geschmack und Feierlichkeiten.

Dann wurden wir zusammen mit den restlichen gefangenen an Deck gebracht, gefesselt und in einer Reihe. Es waren weitaus weniger geworden. Höchsten zehn, oder zwanzig Männer waren noch übrig und ich fragte mich, wie viele auf dem anderen Schiff, der alten Caroline, die Seite gewechselt hatten. Mürrisch sah ich zu Robert, welcher zwar ebenfalls an Deck stand, aber aufrecht und zufrieden grinsend und ohne Fesseln. Ich hatte meine Chance verpasst de weiße Flagge zu hissen und nun sonnte er sich in dieser Tatsache. Aber keiner konnte von meiner kleinen Hoffnung wissen, dass ich kein Mann der Mannschaft war. Nicht einmal O’Hagan.

Als wir die riesigen Wachtürme der Stadt passierten, die rechts und links postiert waren, auf je einer Spitze der Buchtenden, schluckte ich schwer. Sie ragten in den Himmel wie Häuser der Götter, wie Verlängerungen der Klippen. Ich hatte sie zuvor von dieser Seite gesehen, weit über den Riffs und steinernen Wänden, mit tosenden Wellen und mit Eisen behangenen Fenstern. Die Fahnen der Königin wehten im Wind, als würde das schwarze Pferd auf dem roten Stoff tanzen, zusammen mit den weißen Sternen, die zu jubeln schienen. Ich war wieder zuhause, aber es erfreute mich nicht im Geringsten. Ich starrte empor zu den blutroten Ziegeln. Möwen tanzten wild kreischend umher und flogen hoch hinauf, um anschließend noch tiefer zu stürzen. Unter den Türmen, weit unten, an den steinernen Abhängen, befanden sich Käfige. Etwa acht, oder zehn Stück Ähnlich wie am Kai saßen auch dort Gestalten darin, bei denen es sich womöglich um Männer handelte. „Wir sterben in Ungnade und durch Gottes Hand.“, stand in einer schrecklichen und durch das Wasser kaum noch lesbaren Schrift auf Schildern zwischen ihnen. Ich sah zum anderen Turm, auf der anderen Seite der Bucht und auch wenn er viel zu weit weg war, um etwas wirkliches zu erkennen, meinte ich auch dort Käfige erkenne zu können. Ich merkte, dass jeder der Männer hinsah, düster und todernst, ebenso wie Black. Vielleicht kannten einige von ihnen welche der Gefangenen, andere sahen wohl nur ihren Tod vor Augen, wieder andere zollten ihren Kameraden vielleicht Respekt. Gewiss konnte mit Sicherheit kaum einer von ihnen lesen, was dort stand, aber jeder schien zu wissen, worum es sich handelte. Als wir sie dann so nah daran vorbei fuhren, dass ich fast jeden einzelnen der Gefangenen erkennen konnte, bildete ich mir ein Wehklagen und Jammern zu hören. Ein Schauer überfiel mich, als mir klar wurde, dass sie zwischen verhungern, erfrieren und ertrinken hangen.

„Seht es Euch gut an!“, donnerte O’Hagans Stimme triumphierend über das Deck. „Dort werdet ihr landen, wie jeder andere, verfluchte Pirat.“

Doch keiner antwortete darauf. Betretenes Schweigen machte sich breit.

Ich nicht…!, flüsterte es in meinem Kopf. Ich werde dort nicht hängen…! Ich nicht…! Niemals…!

Kanonen donnerten lautstark. Weit entfernt von uns schlugen drei Kugeln ins Meer und ließen große und hohe Fontänen entstehen. Ich spürte, dass der Wind ein wenig des Wassers zu uns wandern ließ. Dann gab O’Hagan Zeichen, das Signal zu erwidern. Drei Soldaten salutierten, nahmen Stellung ein und drei Schüsse donnerten laut krachend wie Holz gen Himmel.

Wir ehrten den heiligen Vater, die Königin und das Land.

Mit jeder Minute sank die Stimmung tiefer. Als nicht mehr viel fehlte, bekam einer unserer Männer Panik und wollte über Bord springen, doch ein schneller Säbelhieb streckte ihn nieder.

„Hat ja gedauert, diesmal.“, spottete der Berater des Gouverneurs, doch dieser brummte nur und blieb aufrecht und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stehen. O’Hagan sah stur geradeaus Richtung Hafen, fast als würde man ihn dort erwarten und tatsächlich hatte sich eine Traube Menschen dort versammelt.

„Aye…“, brummte Black mir zu. „Scheißhaufen ziehen halt Fliegen an.“

Ich musste grinsen, aber schwieg.
 

Sowohl die Caroline, nun in Besitz der heiligen Mutter Kirche, als auch die Heilige Maria des Gouverneurs – wobei ich anmerken Möchte, dass der Schiffsname nicht sonderlich einfallsreich ist - ließen die Anker ins Wasser und holten die Segel ein. Wir wurden mithilfe von Ruderbooten an Land gebracht und dort von den bereit stehenden Soldaten in Ketten gelegt. Der Umgang mit den Piraten war recht unfreundlich, milde ausgedrückt. Schwere Eisenketten zwischen Händen und Füßen erschwerten uns das Gehen und keiner hegte Interesse daran, uns vor den Geschossen der Schaulustigen zu schützen. Unmengen Menschen hatten sich versammelt und bejubelten den Gouverneur.

Wie die Tiere., das dachte ich immerzu, darauf bedacht niemandem in die Augen zu sehen. Ich hielt es kaum aus. Die Soldaten hielten sie so weit zurück, wie es eben ging. Dennoch sausten Tomaten durch die Luft, oder weißer Speichel. Black hinkte unmittelbar vor mir, sein Bein war frei, aber die Krücke hatte man ihm weggenommen. O’Hagan, welcher an unserer Spitze lief genoss die Aufmerksamkeit und vollsten Respekt. Ich konnte sehen, wie die Leute sich verbeugten, wenn er vorbei kam und dann, wenn wir sie passierten, hoch fuhren, keiften, lachten und fluchten. Ihre Gesichter verzerrten sich zu grässlichen Grimassen, ihre Hände streckten sie uns drohend und schreiend entgegen als würden sie uns packen wollen. Die Luft war erfüllt von Gerüchen aus Schweiß, Fisch und Teer. Ich war zurück in Annonce, das wurde mir bei dem Gestank nur umso bewusster.

Die Soldaten führten uns nicht weit, nur die Kaitreppe hinauf. Auf dem Marktplatz standen mehrere Gespanne bereit, mit hölzernen Gestellen daran. Sie erinnerten an einen Heuwagen, auf den man einen Käfig gesetzt hatte. Ein großer, hölzerner Kasten, den man durch eine Art Tür von hinten betreten konnte. Ein Rotrock öffnete je eine der Türen und so kletterten die Matrosen in die verschiedenen Gefährte. Die Menge folgte uns und sah gespannt zu, wie wir uns innen auf eine der zwei gegenüberliegenden Bänke setzten. Kaum waren die Türen geschlossen fuhren wir los.

Black befand sich in einem anderen Käfig als ich und so sah ich zu Boden. Die wenigen Männer, fünf weitere nur, taten es mir gleich. Keinem war nach Reden zumute und die zwei Soldaten, welche auf dem Kutschbock saßen schienen auch nicht sonderlich gesprächig.

Eine Zeit lang folgten uns drei kleine Kinder, barfuss und recht herunter gekommen.

„Ihr werdet gehängt!“, lachte eines von ihnen. Ein kleines Mädchen mit verdreckter Haut, filzigem, zausen Haar und Zahnlücken. „Ihr alle! Und dann seid ihr tot!“, und dabei lachte es so niedlich, dass es fast makaber auf mich wirkte.

Wir fuhren quer durch die Stadt, über die größeren Straßen, fast wie zur Präsentation. Jeder der Menschen blieb stehen und begaffte uns, als wären wir orientalische Tiere aus einem neu angekommenen Zirkus.

„Dumm gelaufen.“, flüsterte einer der Matrosen abfällig.

Ich brummte nur und versuchte ihn nicht zu beachten. Er musterte mich mit einer Art Feindseligkeit, die mir zu verstehen gab, dass auch er zu jenen gehörte, die mir die Schuld für unser Unglück gaben. Mit großer Sicherheit dachte er, ich hätte sie verraten. „Aufgeknüpft werden wir…“, flüsterte er dann. Ich brummte erneut und drehte meinen Kopf zur Seite, als hätte ich draußen etwas Interessantes gesehen. Natürlich war dort nichts, als mit Exkrementen verseuchte Straßen und so sah ich zu unseren bloßen Füßen. Das Schaukeln machte mich krank und ich wünschte mir sehnlich, laufen zu können. Dann fuhr ich in mich zusammen. Der Matrose hatte sich vorgebeugt und legte mir seine schweren Hände auf die meinen. „Am Strick…“, flüsterte er dabei. Er drückte meine Hände, freundschaftlich und fest, aber seine dreckigen und abgerissenen Nägel pressten sich in mein Fleisch. Ich hob den Blick und sah ihn an. Finster, drohend und angewidert zog ich meine Hände weg.

„Lass mich in Ruhe mit deinem Wehklagen, Mann. Wenn du solche Verbrechen vergehst, dann sei gefasst auf das Urteil. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Mich trifft keine Schuld, an unserer Lage und am wenigstens an deinem Vergehen.“

„Keine Schuld.“, knurrte nun jener unmittelbar neben mir. „Dass ich nicht lache. Spricht wie ein Gelehrter, der Pfaffe. Er ist der Verräter, sage ich.“

„Halt den Rand.“, befahl ich düster, aber ruhig. Nun sah ich auch an. Wie auch die anderen war dieser Mann verschwitzt und starrte vor Dreck. Seine weißen Augen leuchteten aufgrund der gebräunten Haut und sogar seine gelblichen Zähne erschienen hell. „Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt.“

„Meine Meinung?“, er lachte bitter. „Das ist die Meinung aller. Du hast uns verraten und nun hängen wir wegen dir.“

„Und wieso sollte ich das tun?“, knurrte ich und hielt verhasst seinem Blick stand. „Wieso sollte ich uns alle verraten? Um selbst zu baumeln?“

„Bist doch beliebt beim alten Kreuzkriecher!“, fauchte mir der erstere zu, wesentlich aggressiver als zuvor. „Hast doch gekocht für ihn!“

Dennoch blieb ich ruhig, „Und wenn schon. Und ihr habt gebetet, oder nicht? Wieso nicht das Beste aus seiner Lage machen?“

„Verräter sage ich!“, fluchte der erste. Der Zweite stimmte lautstark ein:

„Verräter! Zuerst hängen solltest du!“

Dann klopfte jemand lautstark gegen die Gitter. „Haltet den Rand, oder ich lasse euch alle auf der Stelle erschießen!“

Keiner der Gefangenen sah den Soldaten an, welcher sich wütend herum gedreht hatte, das Gewehr geschultert und neben dem Kutscher sitzend. Wir drei starrten uns hasserfüllt an. Ich wusste gar nicht, wem ich zuerst in die Augen sehen sollte. Fast jeder der Insassen sah mir entgegen. Jener, welcher den Streit begonnen hatte, spuckte mir vor die Füße. Es dauerte einige Sekunden, dann tat nach und nach jeder es ihm gleich. Ganz egal, ob sie seiner Meinung waren, oder nicht. Es lebten stets jene besser, die der Menge folgten und das wussten wohl auch sie. Und so hatte ich mir alle zum Feind gemacht, ohne auch nur einen von ihnen je angegriffen zu haben.

„Wenn wir in die Hölle kommen, dann reißen wir dich mit, Sullivan O’Neil…!“, flüsterte der Streitsüchtige mir gebeugt zu, wie um meine Gedanken zu bestätigen. Sein Grinsen wurde breit und verhieß nichts Gutes. „Verlass dich drauf, keiner wird dir das vergessen. Keiner…!“

Schweigend sah ich zu Boden. Widersprüche halfen nichts, das war mir bewusst. Ich sandte Stoßgebete gen Himmel, dass ich in eine andere Zelle kam, als diese Männer. Mehr konnte ich wohl nicht mehr tun…

Wir durchquerten die Stadt und schon bald, als der Wagen hielt, tat sich vor mir das gewaltige Gebäude auf, welches ich so hassen gelernt hatte.

Ich erblickte das Schild und mit einem Mal war mir eiskalt.

„Katholisches Armenhaus St. Marianne von Annonce

Waisenhaus – Gefängnis – Krankenhaus – Arbeitshaus“

Da war ich also wieder. Hier hatte meine Hölle begonnen und hier sollte sie womöglich nun enden. Die grauen Steine wirkten bei Tageslicht umso schäbige. Die sonst düsteren Grimassen der Statuen unter den Fenstersimsen verzogen ihre Gesichter in eine Mischung aus lächerlichem Grinsen und Furcht einflößendem Spott. Ich erkannte Details, die ich in jungen Jahren nie bemerkt hatte. Sich wild umschlingende Hörner, aus den Höhlen tretende Augen, spitze und gespaltene Zungen. Es waren kleine Teufel und Dämonen, welche unter den Fenstern wachten und ich fragte mich, wieso zur Hölle man sie dort angebracht hatte. Wenn sie das Haus verschönern sollten, dann war dieser Gedanke durchweg misslungen.

Die Kutschen hatten innerhalb der Mauern gehalten, so dass wir auf dem weiten und leeren hof standen. Nicht einmal Unkraut wagte es scheinbar, hier zu wachsen. Sofort kam die Heimmutter hinaus gerannt, mit weißer, großer Haube und gerafften Röcken. Sie sah schäbig aus. Alles hier sah schäbig aus.

Ihre dicken Wangen waren rot und aufgeplustert, ihre Augen glitzerten bedrohlich. Mein herz machte einen Satz, als ich sie erkannte. Schwester Margret, so hieß sie und ich kannte sie bereits aus meiner frühesten Kindheit. Mein Glück war, dass sie mich ohne Frage als zehnjährigen in Erinnerung hatte. Nun, über zwanzig, mit kurzem Haar – abgesehen vom Zopf – wild wachsendem Bart und verdreckten Kleidern würde sie wohl nicht ansatzweise auf die Idee kommen, dass ich der Junge bin, der ihr so manche Tage den Nerv geraubt hatte. Während wir hinaus gescheucht wurden und in einer Reihe aufgestellt, beobachtete ich sie bei jedem Schritt. Schwester Margret war eine alte Frau mit ergrautem Haar. Wenn sie lief, hüpfte ihr gewaltiger Busen, der auf mich noch immer beängstigend wirkte. Darin versunken funkelte das katholische Kreuz. Wenn sie sich bückte hang es oft herunter und verhakte sich an ihrem Kinn, wobei sie dann entnervt den kopf schüttelte, um es wieder los zu werden.

Mit düsterer und heiserer Stimme begrüßte sie die Soldaten. O’Hagan war nirgends zu sehen, scheinbar war er andere Wege gegangen als wir. Dafür gab es nun einen stellvertretenden Kommandanten als Anführer. Ein schlaksiger Kerl mit auffällig weißer Nase, die ohne Frage zu sehr gepudert worden war. Es wirkte fast, als hätte sich eine Taube auf ihr nieder gelassen, um ihr Geschäft zu verrichten.

Scheinbar freute sich die gute, alte Frau nicht sonderlich um die Neuankömmlinge. Aber sie hatte auch nicht sonderlich viel zu sagen. Aufgeplustert beschwerte sie sich, dass man es hätte ankündigen können und dass sie keinen platz mehr hätten. Außerdem, wer bezahlt all die Münder, die gestopft werden müssen?! Und dabei rieb sie sich unter der Nase. Eine Eigenart, der sie nachging, wenn sie sich aufregte. Der Kommandant ignorierte fast, nur aus Höflichkeit gab er die eine, oder andere ausweichende Antwort. Dann kamen die Soldaten, welche im Haus postiert waren, um die gefangenen entgegen zu nehmen. Ab hier war die Frau zwar existent, aber nicht wirklich anwesend. Die Männer ignorierten sie nach Strich und Faden.

Auch unter den Soldaten des Armenhauses gab es eine Führende Person. Ein sehr dicker Mann schien dieser zu sein. Sein roter Rock spannte sich enorm und würde er sich bücken, vielleicht würden die goldenen Knöpfe in alle Richtungen fliegen. Sein kopf war enorm gerötet und ich fürchtete, es lag daran, dass er in seiner engen Verkleidung kaum Luft bekam. Die zwei gingen aufeinander zu und kamen direkt vor uns zum stehen. Tatsächlich keuchte er allein durch diese wenigen Schritte. Jeder der umstehenden Soldaten salutierte, bevor sie dann erneut ihre Gewehre schussbereit auf uns Gefangenen richteten.

Ich ließ meine Blicke kreisen, wenn auch unauffällig. Es gab nicht viele gefangenen. Vielleicht zehn, oder zwanzig. Die Käfige wurden weg gefahren und so blieben nur wir zurück. Ich erblickte Black, fast ganz außen an der Reihe. Er sah düster aus und mies gelaunt. Robert sah nirgends, ebenso wenig Tom. Scheinbar hatten die zwei die Seiten gewechselt und einen der Heuerverträge der Katholiken unterschrieben. Umso besser, dann musste ich nicht fürchten ihnen in einer der Zellen zu begegnen. Im Gegenteil, vielleicht sah ich sie nie wieder. Käse hatte mir erklärt, dass die Verträge für fünf Jahre galten. Fünf Jahre mussten sie auf katholischen Schiffen, in Minen, oder auf Feldern arbeiten. „Um Buße zu tun.“, stand ganz klein erklärt. Und anschließend wurden sie „durch die Arbeit gereinigt und geläutert“ hingerichtet. Natürlich dachten die Männer, sie hätten damit ihr Leben gerettet und dürften in Freiheit weiter leben.

Das ist der Nachteil…, dachte ich grinsend. …wenn man nicht lesen kann, was man unterschreibt.

Ich zog an meinen Fesseln, denn die Seile an meinen Handgelenken juckten ungemein. Als ich vor mich auf meine Hände sah, erkannte ich kleine, rötliche Punkte auf meiner Haut. An den Händen und Armen waren es nur wenige, aber zu den Seilen hin wurden es immer mehr, bis die Haut schließlich völlig gerötet war. Ich vertrug die Fesseln scheinbar nicht. Irgendetwas an den Seilen reizte meine Haut. Ich erhob meine Hände leicht, um das Problem genauer zu mustern, aber ein schmerzhafter Stoß zwischen die Schulternblätter ließ mich abbrechen.

„Hände runter.“, befahl der Soldat hinter mir drohend. „Keine Mätzchen.“

„Nein, nein…“, knurrte ich genervt. Der Matrose neben mir lachte leise und kaum hörbar darüber. Ich versuchte es zu ignorieren, seufzte und suchte nach einer Ablenkung. Der Dicke zählte die Gefangenen durch, mehrmals wie ich feststellte.

An den Fenstern im Hintergrund, jenen vom Tollhaus im Erdgeschoss des mittleren Gebäudes, erblickte ich Gesichter. Unmengen von Gesichtern. Ich bekam Gänsehaut, ungemeine Gänsehaut, als ich sie genauer erkannte. Frauen, wie Kinder, Männer, wie Gestalten dazwischen drängten sich and en Fenstern und starrten hinaus. Alle waren verschmutzt, verfilzt und mit kurzem Haar. In meinem kopf kamen die Erinnerungen an meine Kindheit hoch. Das Irrenhaus befand sich direkt unter dem Kinderheim, im Erdgeschoss, über dem Gefängnis. Ich hörte wieder die Schreie, das Wimmern, die sinnlosen Worte. Ich erinnerte mich an die zur Schau Stellungen. An den Tagen kamen Unmengen Menschen zum Armenhaus, bezahlten wenige Heller und begutachteten die Irren und Narren. Ich erinnerte mich daran, als wäre es erst wenige Stunden her und Übelkeit stieg in mir auf. Der Geruch, viel mehr der Gestank kam in meine Erinnerung zurück. Meine größte Angst als Kind war gewesen, in die Hölle zu kommen. Aber meine zweitgrößte, als irre erklärt zu werden. Wer einmal ein Toller ist, wird es ewig bleiben, so sagt man. Nie hatte ich solche Angst gehabt vor einem so kleinen Gebäude.

Ich fuhr in mich zusammen, als hätte mich der Schlag getroffen, als der Dicke mich wütend anschrie:

„Ich frage kein drittes Mal, wie du heißt, Mann!“

Verwirrt starrte ihm entgegen, dann registrierte ich den Soldaten neben ihm. Ein Schreiber, der die Namen der Gefangenen protokollierte. Wieder lachte der Matrose neben mir über mich, wenn auch nur ganz leise.

„Sullivan.“, ich räusperte mich und festigte meine Stimme etwas. Doch es half nichts, mein Herz raste vor Schreck. „Oliver Sullivan O’Neil, Sir.“

„Alter?!“

„Geschätzt 23, Sir.“

Der Dicke brummte abfällig und wandte sich an den Schreiber: „Schreib zweiundzwanzig. Dann können wir ihn zu den Jüngeren schicken. Da ist mehr Platz.“

Der Schreiber nickte und ohne Antwort abzuwarten wandten sie sich and en Nächsten der Gefangenen.

Als sie damit fertig waren, nickte der Dicke zufrieden. Man sortierte aus. Jene über dreiundzwanzig kamen in das Gefängnis unterhalb des Arbeiterhauses, eine Art kleineres Zuchthaus für Strafgefangene. Es verwirrte mich, dass man uns nach Alter, statt nach Straftat sortierte. Viele hatten Morde und Vergewaltigungen hinter sich, aber das schien niemanden zu interessieren. Die Jüngeren kamen anscheinend besser davon, sie waren noch zu etwas gut. Die Älteren mussten in den Minen und auf den Feldern arbeiten, oder beim Torfstechen. Meist musste man diese Arbeit bis zur Erschöpfung tun und es wäre Verschwendung, wenn man junge Arbeitskräfte dadurch verlieren würde. Zumindest dachte man so.

Mit heimlicher Freude registrierte ich, dass drei der Insassen dazu gehörten, welche sich gegen mich verschworen hatten. Jedoch leider nicht ihr Anführer. Dieser stand nun unmittelbar neben mir und grinste. Auch ihm war aufgefallen, dass wir wohl in der gleichen Altersklasse waren. Und er schien sich über meine Gesellschaft ungemein zu freuen.

Black jedoch verschwand ebenfalls.

Nun waren nur noch sieben Männer übrig, darunter auch ich. Während einer der Soldaten die anderen abführte, kamen der Zuchtmeister und der Irrenschließer.

Der Irrenschließer schien entnervt darüber zu sein, dass man ihn hatte holen lassen. Er selbst erinnerte etwas an einen Verrückten, aber da er im Dienste der katholischen Kirche arbeitete, konnte das unmöglich der Fall sein. Seine Augen gingen leicht auseinander und seine Zähne ragten schief und gelblich aus dem Zahnfleisch. Er lief leicht gebeugt, aufgrund des Alters und seine wenigen Haaren waren grau und fransig.

„Was denn, was denn?!“, brummte er entnervt und hitzig, während er ankam.

„Ein Toller.“, stellte der Dicke gleichgültig fest und deutete auf einen der Matrosen. Dieser wurde leichenblass. „Er weigert sich, fromm und gottesfürchtig zu sein und zu arbeiten. Ohne Frage ein Verrückter. Außerdem drei Fälle von Lustseuche.“, er deutete auf die drei daneben stehenden Männer. Der Irrenschließer grinste und rieb sich fast freudig die Hände.

„Ah, sehr gut. Wir haben gerade vier Plätzchen frei. Bringt sie hinein, wir werden sehen, was wir tun können.“

Die Männer waren mit einem Mal keine Männer mehr. Sie schrieen und wehrten sich nach Leibeskräften, einer nahm sogar Reißaus. Aber sofort waren sie wieder unter Kontrolle. Die Rotröcke zerrten sie grob zum Eingang des Gebäudes. Ob die Männer wussten, dass Widerwehr nur zeigte, dass sie Tolle waren?

„Aber zieht sie aus!“, keifte die Hausmutter fast hysterisch, während sie folgte. „Irre brauchen keine Kleidung, die frieren nicht!“

Ich schluckte schwer und ohne es zu merken, wich ich einen kleinen Schritt zurück. Der Irrenschließer grinste nur, bedankte sich rechtherzlich und folgte der schreienden und wimmernden Gruppe hinein.

Nun waren nur noch der Zuchtmeister da, der Dicke und manche der Wachen.

Der Zuchtmeister war verantwortlich für die Versorgung der Irren und Gefangenen. Und so sah er auch aus. Sein Gesicht war kantig und kühl, voller Narben und sein Blick war düster. Seitlich an seinem Hals hatte er dunkle Flecken, fast wie Leberflecke, aber es erinnerte eher an eine Art Ausschlag. An schwarze Punkte auf dunkelblauem Untergrund. Fast schon hasserfüllt musterte er die übrig gebliebenen, fünf Gefangenen, unter anderem mich.

„Das sind alle?“, fragte er dann missbilligend. Der Dicke bestätigte mit einem Nicken. „Ist das Euer Ernst?“

„Scheinbar schon.“

Der Zuchtmeister baute sich vor uns auf. Er war enorm groß, mit breiten Schultern und gebräunter Haut. Sein Hemd hatte er hochgekrempelt, so dass man seine mächtigen, vernarbten Oberarme sah. Er betrachtete uns wie Vieh und spie neben sich auf den Boden. „Na wunderbar… Die sind allesamt nutzlos, das sehe ich auf dem ersten Blick.“, er drehte ab. „Bringt sie ins Gefängnis… Ich brauche die nicht.“, und so wollte er gehen.

In mir schlug es Alarm und gerade wollten die Rotröcke mich packen, da brüllte ich: „Wartet, Herr! Ich kann arbeiten, ihr werdet sehen!“

„Ruhe!“, fuhr der Rotrock mich an, aber der Zuchtmeister reagierte und so verharrten alle.

„So?“, fragte er spöttisch und mit hoch gezogener Braue. Er kam zu uns zurück. „Und wieso denkst du, ich könnte dich gebrauchen?“

Unsicher sah ich ihn an und mit einem Mal war mein gewonnener Mut wieder verschwunden.

„Ich kann lesen, Herr, schreiben… Und-…“

Der Mann lachte laut auf und viele der Wachen stimmten mit ein. „Ein gelehrter Seemann?!“, grölte der Dicke. „Das ist das Beste, was ich je gehört habe!“

Als sich alle beruhigt hatten, sahen sie mich spöttisch an. „Es ist aber so…“, ich presste die Worte wütend zwischen meinen Zähnen hervor. Ich hasste es, wenn man mich auslachte und nicht ernst nahm. „Ich kann lesen und schreiben…!“

„Nun…“, der Zuchtmeister lehnte seinen Kopf erst nach rechts, dann nach links, so dass es laut knackte. „Wie auch immer… wir brauchen keine Gelehrten hier. Aber Dumme ebenso wenig. Ich nehme ihn.“

Der Dicke gab dem Rotrock hinter mir ein Zeichen und so wurde ich grob zum Zuchtmeister gestoßen. Ein wenig höhnisch fragte dieser:

„Noch einer, der arbeiten will?!“, doch keiner gab Antwort. Lachend ging er und deutete mir mit einem Kopfnicken zu folgen.

Unsicher tat ich es.

Unruhe kam in mir auf, als ich nach über zehn Jahren das aschgraue Gebäude zum ersten Mal wieder betrat…

Wieder Daheim

Ich folgte dem Zuchtmeister nur zögernd. Mit jedem Schritt wuchs meine Angespanntheit und es war kein Ende in Sicht. Ich erkannte die kahlen Wände, die biblischen Bilder daran und die vergitterten Fenster wieder, genauso wie das Treppengeländer, an welchem ich oftmals herunter gerutscht bin, oder die endlos vielen Türen in allerhand Richtungen. Wir gingen jedoch nicht hinauf zum Kinderheim und auch nicht hinunter ins Untergeschoss, zu den Gefangenen. Wir blieben dort, wo ich als Kind nie hingedurft hatte: Im Erdgeschoss. Eine Tür führte vom Aufgang in einen langen, dünnen Flur. Sie war verschlossen, drei Mal.

Der Zuchtmeister verzichtete auf Bewachung. Er hatte mich betrachtet und für sich entschieden, dass er mit mir sogar im Schlaf fertig werden würde. Und wahrscheinlich hatte er damit Recht.

Wir durchliefen den Flur nur langsam und Kälte stieg in mir hoch. Ich weiß nicht, ob es Angst war, oder die Temperatur die mich erschauern ließ. Ohne, dass ich etwas sehen konnte, verlieh mir alles unheimlichen Respekt. Wehklagen und Wimmern drang durch die etlichen Türen hindurch. Am Ende des Flures dann erreichten wir eine weitere Tür. Sie war klein und dunkelbraun und wie die Erstere mehrmals verschlossen. Der Zuchtmeister öffnete sie und deutete mir einzutreten, woraufhin ich folgte. Die Umgebung hatte mich zurück in meine alte Rolle geworfen. Ich ging in kleinen Schritten, mit demütig gesenktem Kopf. Als er sie hinter mir zufallen ließ, zuckte ich ungemein zusammen, was ihn amüsierte.

„Nun, da wären wir.“

Der Zuchtmeister ging an mir vorüber und öffnete die Fensterläden. Schwaches Licht drang ins Zimmer. Es war ein recht kleiner Raum und spärlich eingerichtet. Es gab ein doppelstöckiges Bett, einen winzigen Schrank, einen Tisch und zwei Schemel daran. Alles in allem wirkte es ärmlich und dreckig. Die Wände waren feucht und verliehen dem Zimmer Kühle und unheimlichen Gestank nach Schimmel und Fäulnis. Während er mich von den Fesseln befreite, nahm ich jedes noch so kleine Detail in mir auf. Eine alte, zerfranste Jacke hing am Fenster und auf dem Tisch lag eine rote Mütze. Jemand wohnte hier.

„Dies ist dein Zimmer.“, ich ließ ihn gewähren und wagte es nicht, meinen blick zu heben, während mein jetziger Herr meine Arme drehte und musterte. Ihm missfiel mein Ausschlag, das sah man ihm an. Er war nicht zufrieden mit mir und das, wo ich nicht einmal fünf Minuten in seinen Diensten stand. „Wenn das nicht weg geht, müssen wir eine Salbe kaufen. Du wirst sie abarbeiten.“

„Es wird weg gehen.“, er sah mich an. Ich verstand seinen Blick nicht. Unsicher, ob er mich herausforderte, oder mich lobte für meine Art sah ich ihm entgegen. Der Mann schien nachzudenken und etwas in meinen Augen zu suchen. Doch scheinbar fand er es nicht. Er gab nach wenigen Sekunden auf und brummte, das Seil zusammenrollend: „Wie auch immer…

Du wirst hier wohnen. Zusammen mit Charles, einem weiteren Sträfling und Pitt. Ihr müsst es unter euch klären, wer wo schläft, denn wie du siehst gibt es nur zwei Betten…“, ich musterte ihn. Der Alte schien nachzudenken, was wichtig sei und was nicht, was er erwähnen sollte, und was er sich sparen konnte. Er war sehr unschlüssig und verwarf die Ideen, noch ehe er sie aussprach.

„Was werden meine Aufgaben sein?“, fragte ich ihn offen interessiert.

Wieder sah er mich an. Ich verstand, dass er ein Mann war, den man nie etwas fragte. Er gab Anweisungen, mehr nicht. Er war es gewohnt, Befehle zu geben und zu entscheiden. Ich beschloss lieber etwas zurückhaltender zu werden. An Bord war es gefragt gewesen, mitzudenken und zu handeln, noch ehe der Kapitän seinen Wunsch nur aussprach. Aber dieser Mann war nicht Wilkinson, das musste ich mir klar machen.

Dennoch schien es ihn in gewisser Weise zu amüsieren, wie ich mich verhielt. Dass es sich bei mir nicht um einen normalen Seemann handelte war wohl mehr als nur offensichtlich. Vielleicht sah ich so aus, von der Kleidung her. Aber in Verhalten und Redensart unterschied ich mich zu sehr, wie es schien.

„Nun… Als erstes wirst du lernen, den Rand zu halten, außer ich verlange Antworten und Kommentare.“

„Verstanden.“, sagte ich nickend, obwohl es wohl nicht verlangt war. Wie aus einer Gewohnheit heraus.

Sein Grinsen kam erneut und er sagte etwas ironisch: „Scheinst ja gut dressiert.“

„Ich verstehe nicht.“

„Musst du nicht…“, er deutete mit der Hand zur Tür. „Morgen früh fängst du an, dann stehst du hier bereit. Ich klopfe dort an die Tür. Ein Mal. Nur ein Mal. Das ist das Zeichen für euch Ratten, dass Ihr anfangt zu arbeiten. Ich öffne, nachdem ich bis zehn gezählt habe. Dann steht ihr hier…“, er klopfte mit der Handfläche drei mal auf die Tischplatte. „…hinter diesem Tisch, in einer Reihe. Ich teile euch eure Arbeit zu und der geht ihr dann nach, bis zum Mittag. Dann bekommt ihr eure Rationen und dann geht es weiter, bis zum Abend. Und anschließend ist der Tag für euch vorbei.“

Ich nickte, zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. „Und was sind unsere Aufgaben?“, fragte ich dann erneut.

Er drehte sich ganz zu mir und verschränkte seine wuchtigen Oberarme. „Du denkst mit. Das gefällt mir zwar, aber dem Hausherrn wird es nicht gefallen.“

„Ich verstehe nicht…“

Nickend fuhr er fort: „Wenige von euch denken nach. Denken, was morgen passiert, denken, was in zehn Minuten passiert, denken, was sie wohl machen müssen. Sie tun, was gesagt wird, oder tun, was der Instinkt ihnen sagt und damit ist es erledigt. Wenige sind wie du, Kleiner. Denken darüber nach, wie sie das Beste aus ihrem Leben machen können. Die einen nennen das Intelligenz, aber die Mehrheit nennt das rebellisch. Halt den Mund und stell keine Fragen, mein Rat an dich.“, er schmunzelte. „Hab gleich gesehen, was du für einer bist. Mir gleich gedacht: Aus dem wird was. Aber nicht hier, Kleiner. Tu deine Arbeit, bis der Richter dich sehen will und bis dahin halt den Rand und kusche.“

Ich nickte nur und sah ihm unsicher entgegen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. War der Rat ernst gemeint? Oder sollte ich es als Drohung auffassen? Der Zuchtmeister klopfte mir auf die Schulter.

„Nun, ich geh pissen. Ich schließe ab, also kein Radau. Setz dich hin und tu was du willst. Ab morgen geht es rund hier, also genieß die letzten Stunden.“, und während er ging, fügte er lachend hinzu: „Du wirst dir wünschen, unten im Keller zu sitzen, bei deinen Kameraden, glaub mir!“

Ich stand noch lange so da, sah zur Tür und lauschte. Ich hörte zu, wie er abschloss und seine Schritte im Flur verschwanden. Unmittelbar nebenan musste sich das Zimmer der Tollen befinden. Ich hörte Stöhnen und Ächzen und als ich das Ohr an die kalte Wand hielt, wurde es lauter und schrecklicher. Langsam setzte ich mich auf den Schemel und sah zum Fenster hinüber. Es war nicht groß und der Ausblick war nicht der schönste der Welt, aber es war da und es gab einen Ausblick – immerhin. Ich sah zwischen den Eisengittern den Hof. Er war leer, keiner mehr stand dort und kein bisschen Grün war zu sehen. Die Straße davor war unbelebt, ebenso wie das leer stehende Haus auf der anderen Seite. Mit einem Mal fühlte ich mich unheimlich einsam und allein.

Wie lange musste ich nun hier arbeiten? Wann würde der Richter mich sehen wollen? Und was waren überhaupt meine Aufgaben?

Ich spürte die Melancholie zu mir zurück kriechen. Ich verfluchte sie. Wieso konnte sie nicht auf dem Schiff bleiben, wo sie hingehörte? Ich war doch an Land. Es gab keinen Grund, nun seekrank zu werden.

Und seufzend wandte ich mich meinen geröteten Handgelenken zu. Die Fessel war ich los, aber gereizt waren sie noch immer. Ich konnte nur hoffen, dass es weg ging, denn Salbe abzuarbeiten musste nun wirklich nicht sein. Ich hatte wahrhaftig andere und weitaus größere Sorgen…
 

Ich blieb recht lange allein und wagte es irgendwann, mich auf das untere Bett zu legen. Es roch nach Urin, jedoch waren die Flecken auf den einst weißen Laken sehr alt und an den Rändern bereits braun. Und so lauschte ich den fremden Klängen, die in mir jedoch eine Art Erinnerungsgefühl wach riefen. Es ist ein Gefühl, welches man schlecht beschreiben kann. Man verbindet etwas mit einem Geruch, oder einem Geräusch und wenn dieses dann wieder aufkommt, fühlt man sich dorthin zurück versetzt. Und als ich die Augen schloss und lauschte, kam es mir fast so vor, als wäre ich nie weg gewesen. Als würde ich auf meinem Bett liegen, rechts und links weitere Kinder, still schweigend und auf einen nächsten und vielleicht besseren Tag wartend – vergebens. Ich hatte mir damals gewünscht, das Heim zu verlassen und nie mehr zurückzukehren und nun lag ich hier und merkte mit jedem meiner Sinne, es hatte nicht funktioniert.

Als es bereits dunkel wurde und das Stöhnen und Ächzen verklang, nahm ich Schritte war und setzte mich auf. Ab und an war ich eingedöst, aber jedes noch so kleine Geräusch hatte mich hoch schrecken lassen. Gespannt sah ich zur Tür, welche mehrmals aufgeschlossen wurde. Dann erkannte ich den Zuchtmeister. Er ließ zwei Männer rein und ohne ein Wort verschwand er wieder.

Ich stand auf, unsicher ob aus Höflichkeit, oder Unsicherheit und sah ihnen entgegen. Für einige Sekunden standen wir drei nur da und sahen uns an.

Der erste von ihnen war recht klein, fast kleiner als ich. Er hatte schmale Augen, welche tiefgrün strahlten und außergewöhnlich helle Haut. Der Mann wirkte fast kränklich und war in meiner Altersklasse, aber seine vielen Muskeln zeigten, dass er nicht schwach war. Als er mich sah, knurrte er leicht, wie ein kleines Tier und ich meinte zu merken, dass er versuchte größer zu wirken.

Der Zweite war es, bei weitem und er überragte auch mich um einen ganzen Kopf. So lang er wirkte, so dünn wirkte er. Fast, als käme er von einer Streckbank. Er stand etwas gebeugt und sein Hals ragte nach vorne. Fast, als sei er es gewohnt sich bücken zu müssen, um sich zu verständigen. Durch die Tür hatte er geduckt treten müssen und nun vergaß er scheinbar, sich wieder aufzustellen.

Aber so ungleich sie auch waren, sofort erkannte ich ihre Gemeinsamkeit:

Sie waren sich einig, dass ich hier nicht willkommen war.

„Was machst du auf meinem Bett, häh?!“, schrie der Kleine plötzlich los und hechtete auf mich zu. Er stieß mich mit enormer Kraft weg. „Hau ab!“, erschrocken stolperte ich vor und drehte mich herum, aber das machte ihn nur umso hitziger. „Verfluchter Idiot! Verschwinde! Such dir ein eigenes Bett!“

Der Lange gluckste. „Genau.“, sagte er dann eifrig nickend. „Du bist hier nicht willkommen, also hau ab.“

„Ich kann schlecht durch die Tür ausbrechen.“, knurrte ich. Wütend trat der Kleinere gegen das Bettgestell.

„Mir doch gleich! Finger weg von meinem Bett! Oder du erlebst dein blaues Wunder!“

Ich musste grinsen und sah zu dem Gnom hinunter, welcher mir gerade Mal bis zur Schulter reichte. „Und was willst du machen? An mir hoch klettern und mich ohrfeigen?“

Ein Wutschrei, dann stürzte der Zwerg brüllend auf mich zu. Ich fuhr zurück, aber zu spät und so krachten wir zu Boden. Eine Prügelei entstand, wenngleich sie von außen ungemein irrsinnig aussehen musste. Während ich versuchte aufzustehen und den Kleinen immer wieder von mir warf, rappelte er sich hoch, sprang an meinen Oberkörper und klammerte sich dort fest wie ein Affe. Und das mit solcher wucht, dass ich erneut zu Boden sackte. Währenddessen schlug er mit den Fäusten auf mein Gesicht ein. Er war so klein, dass es sich als äußerst schwierig erwies, ihn abzuwehren. Er sprang flink auf den Schemel und mit einem mal hang er bereits an meinem Rücken, nur um erneut zu fallen und mit einem Satz an meiner Schulter zu hängen. Dabei schrie und tobte er wie ein Wilder und donnerte mir die schrecklichsten Flüche an den Kopf.

Eine Reaktion des Langen blieb aus und auch der Zuchtmeister schien nichts zu bemerken. Und das, obwohl nach wenigen Minuten jeder Schemel umgefallen war und auch der Tisch um einiges weiter links. Dann irgendwann schwanden unsere Kräfte.

Der Kleine, der Größere hatte ihn Charles gerufen, schnaubte mit hochrotem Kopf und wischte sich den Speichel von dem Mund. Seine Augen hafteten an mir wie Kletten, als würde er mit sich ringen nicht noch einen Sprung zu wagen.

Auch ich rang nach Atem und meine Nase blutete, aber größeren Schaden hatte ich nicht genommen. Pitt – der zweite musste Pitt sein – lachte, aber ein finsterer Blick von Charles ließ ihn verstummen.

Demonstrierend und mich nicht aus den Augen lassend setzte der Kleinere sich auf das Bett. Er strich das Kopfkissen neben sich zu Recht. Ich fragte mich, was ihn annehmen ließ, dass er diesen Kampf gewonnen hatte, aber gleichzeitig fühlte ich mich zu gut, als dass ich darauf eingehen wollte. Ich hatte nie vorgehabt, mich um einen Schlafplatz zu prügeln und ich hatte wahrlich nicht damit gerechnet, dass er bei einer einfachen, höhnischen Bemerkung so dermaßen an die Decke gehen würde. Dennoch wollte ich mich nicht demütigen lassen.

Ich empfand es als Schikane und herabwürdigend nach diesem Kampf auf dem Boden schlafen zu müssen, doch blieb mir eine andere Wahl?

Pitt trollte sich und hangelte unbeholfen auf das obere Bett hinauf, in welches er sich zugleich legte um zu schlafen.

Keiner sagte Gute Nacht. Weder zu mir, noch zum anderen. Und keiner würdigte mich eines weiteren Blickes. Ich schwieg und das ließ die zwei annehmen, ich hätte aufgegeben.

Schweigend schob ich einen Schemel zum Fenster und sah hinaus, das Blut von meiner Nase wischend. Ich beschloss, das am nächsten tag zu klären, oder am Tag darauf. Die Reise hatte mich müde gemacht und seit Wochen hatte ich kein Bett mehr gehabt. Die Tatsache, dass ich ohne Fessel schlafen durfte tat mir zwar gut, aber ein Bett, eine Decke und ein Kissen wären mir lieber. Ich nahm mir vor, einen Schlafplatz zu ergattern, wenigstens für eine Nacht. Wie, das überlegte ich mir noch. Dann, wenn Zeit dazu ist.

Als erstes war wichtig, nicht so zu wirken, als sei ich der Verlierer dieses kleinen Streits.

Es ging mir dabei weniger um ehre und Stolz. Eher beschäftigte mich der Gedanke, dass ich unterwürfig wirkte und tat, was sie wollten. Wenn sie das Bild von mir bekämen, mit mir könnten sie alles machen, würde meine nächste Zeit hier alles andere als angenehm werden. Auf keinen Fall durfte ich alles nur herunter schlucken. Ich war darum bemüht selbstsicher zu wirken, während ich so in die Nacht starrte. Einige Motten flogen um die Laterne herum, welche am Hofeingang stand. Sie waren wie blind und flatterten wild, in ihren eigenen Tod.

Eine zeit lang beschäftigte mich dieser Gedanke. Die Melancholie hatte mich noch immer und ließ Gedankenschleifen entstehen, aus denen ich nicht heraus kam. Sie lenkten mich von der Demütigung ab, aber zugleich schwächten sie mein Selbstbewusstsein.

Desto länger ich dasaß, desto mehr vergaß ich den Gedanken, dass ich mich durchsetzen wollte. Ich verlor meine straffe Haltung. „Man wirkt, wie man ist.“; hatte Black einmal zu mir gesagt. „Und man wird, wie man wirkt.“ Und nun verstand ich allmählich, was er damit meinte. Als Charles aufstand und mürrisch die Fenster schloss, nur, damit ich nichts mehr hatte aus dem ich hinaus starren konnte, sah ich nicht einmal auf. Ich ließ ihn gewährend und als er sich grinsend ins Bett legte, sich naiv freuend über einen weiteren Sieg, lehnte ich mich mit der Schläfe gegen die kühlen Gitterstäbe.

Aus irgendeinem Grund fehlte mir die Kraft, sie einfach wieder aufzuschieben. Und ich mied den Gedanken, auch nur ansatzweise ein weiteres Mal mit ihm aneinander zu geraten. Ich fühlte mich zu schwach dafür, nicht kräftig genug, als hätten all die Gedankenschleifen mich ausgesaugt.

Wenn man sich schwach fühlt…, dachte ich, bitter lächelnd. Dann wirkt man auch schwach. Und wenn man so wirkt, ist man es. Für andere und später auch für sich selbst…

War es bei mir schon zu spät, etwas daran zu ändern…?
 

Ich erwachte, als Charles und Pitt bereits auf waren. Der Größere der beiden öffnete die Fenster, wobei er mich anstieß und sich leise entschuldigte. Noch immer saß ich auf dem Hocker und als ich mich langsam aufsetzte, schmerzte jeder meiner Knochen.

Gewohnheitsgemäß wünschte ich keinem der beiden einen Guten Morgen und auch ich erwartete nichts dergleichen. Ich spürte die Unfreundlichkeit, welche in der Luft lag, wenngleich sie auch größtenteils nur von Charles ausging. Pitt schien ein freundlicher Mensch zu sein, jedoch etwas verunsichert. Als ich ihn genauer musterte, wurde mir klar, dass er einer dieser typischen Menschen war, die es zu nichts brachten. Die, egal was sie anstellten, immer versagten und nie gelobt wurden. Solche, die sich an andere hängen, an Stärkere und so auf den falschen Weg gerieten. Es gab Unmengen solcher Männer. Fast die gesamte Mannschaft hatte daraus bestanden. Nur bei keinem, den ich kannte, war es so stark ausgeprägt wie bei ihm. Während er im Raum umher lief und alles etwas gerade rückte, saß Charles mürrisch auf seinem Bett und kaute an seinen Nägeln. Dabei sah er die ganze Zeit über mich an, als würde er sich wünschen, ich wäre einer seiner dreckigen Finger. Und ich wäre es, den er da zerbiss.

Ich gab mir Mühe es zu ignorieren und hinaus zu sehen. Die Sonne ging gerade auf und wenngleich Annonce dreckig und herunter gekommen war, war dies doch einer der wenigen Momente im Leben, die ich so mochte: Sonnenaufgänge. Ich liebte die starken Farben und das langsame Erwachen der Umgebung. Ganz gleich, ob in der Stadt, oder auf dem Meer.

Noch immer hatte ich mir fest vorgenommen, stark zu wirken und mich zu wehren, aber ich schob den Gedanken weiter fern. Als würde eine Konfrontation mir nur schaden, als hätte ich Angst davor. Ich fühlte mich geschwächt und kränklich. Mein altes Melancholieproblem. Aber wem sollte ich davon erzählen? Einem Arzt? Damit ich ins Tollhaus käme? Niemals!

Wie angekündigt klopfte es dann an der Tür. Und während der Zuchtmeister langsam und in aller Ruhe aufschloss, stellten die zwei sich nebeneinander. Ich stellte mich dazu, rechts neben Pitt. Auch hier gab es keine Begrüßu8ng, sondern nur mürrische Blicke.

„Pitt, du kümmerst dich ums Mittag.“, knurrte der Meister lediglich. „Und du, Charles, gehst zur Hausmutter. Sie braucht Aushilfe.“

Und das war alles, was gesagt wurde. Er trat beiseite und die beiden Männer gingen hinaus. Ohne Widerworte, ohne Fragen zu stellen, schweigend und gehorsam.

Es widerte mich an, wie sie da hinausgingen. Fast wie dressierte Hunde. Und das schlimmste war, dass man es mir ansah.

Der Zuchtmeister grinste und folgte meinem Blick. „So geht das. Schneid dir eine Scheibe ab.“, und als er meinen mürrischen Blick sah, wurde sein Grinsen breiter. „Hast wohl gedacht, als Arbeiter geht’s dir besser, als als Sträfling, was?“, einige Sekunden schwieg er, fast, als würde er eine Antwort erwarten. Doch ich hatte mir vorgenommen, zurückhaltender zu werden und dem folgte ich. Außerdem fehlte mir die innere Kraft, um etwas zu sagen. Meine Niedergeschlagenheit betäubte mich ungemein. Ich fühlte mich, als hätte ich getrunken. „Nun, ich werde dir zeigen, was du zu tun hast. Keiner weiß von Anfang an alles. Aber ab morgen wirst du alleine arbeiten. Ich gebe dir eine Aufgabe und du erledigst sie. So, wie die beiden Trottel dort.“

„Aber ich bin kein Trottel.“, entgegnete ich ruhig und ein wenig spaßend.

„Zumindest nicht so einer, wie diese Beiden.“, er fügte mit bedrohlichem Unterton hinzu: „Gestern haben wir uns ganz nett unterhalten. Aber das wird keine Gewohnheit, merk dir das. Ab und an wenn ich gute Laune habe rede ich mal mit euch Idioten. Aber denk nicht, weil du lesen und schreiben kannst, bist du was Besonderes. Im Gegenteil. Du bist ein Arbeiter, wie jeder andere hier. Dreck wert, mehr nicht. Wir können dich ja nicht einmal ausstellen und mit deinen Ärmchen bist du nicht einmal für Feldarbeit zu gebrauchen.“, mein Humor schwand. Ich mochte es nicht, wie er mit mir sprach. So abfällig hatte nicht einmal Wilkinson mit mir gesprochen. Es kostete mich alle Beherrschung, nichts einzuwenden. Der Zuchtmeister krempelte sein Hemd hoch, wie als Signal, dass der Arbeitstag nun begann. „Als erstes werde ich dir unsere Tollen zeigen. Auf wen du achten musst, wer es dick hinter den Ohren hat und welchen du härter anfassen musst. Danach erklär ich dir, was du hier machen wirst. Ich will, dass du den Rand hältst. Auch kein Ja, Sir., oder Nein, Sir., oder Verstanden. Es interessiert mich nicht, was du verstanden hast und was nicht. Entweder, du verstehst etwas, oder du lebst mit den Konsequenzen.“, er legte den Kopf schief und sah verächtlich auf das Blut, das auf meinem Hemd war und vom Nasenbluten des Vortags zeugte. „Wie ich sehe, hast du hier Freunde gefunden. Sehr gut, dann muss ich mir darüber ja keine Gedanken machen.“, dann ging er hinaus. Ich folgte schweigend und schloss die Tür hinter mir. „Wenn du nicht parierst, kommst du ins Tollhaus. Faulheit und Ungehorsam sind Sünden und stehen für Gottlosigkeit. Also überleg dir, wie gottesfürchtig du bist.“, spottete der Mann. Ich starrte ihn von hinten an, auf seine dunklen Flecken am Hals und auf den Schweiß, welcher unter seinen Haaren hang. Wut stieg in mir hoch, unbändige Wut. Meine Hoffnung war gewesen, dass zumindest er mich sympathisch fand, aber sie war soeben zerschlagen worden. Und wenn nicht jetzt, dann zumindest, als er die erste Tür zum Zimmer der Irren öffnete und dabei knurrte:

„Verbrecher wie euch kann ich nicht leiden. Die Scheiße bauen und dann noch leben wollen, ohne Strafe dafür. Aber Leute wie dich, die unschuldig tun… Leute wie dich, die gelehrt sind und Menschen wie Pitt, Charles, oder solche Idioten ausnutzen, die mag ich noch weniger. Die find ich am schlimmsten. Wenn es nach mir geht, dann solltet ihr alle brennen, aber nach mir geht es ja nicht, Deswegen kann ich nur eins tun für unser gutes Land: Helfen euch büßen zu lassen für eure Sünden. Und nun an die Arbeit.“

Er schob mich vor und ich war mehr als nur verwirrt, was er meinte. Aber noch ehe ich fragen konnte, erstarrte ich wie zu Stein. Denn der Anblick, welcher sich mir bot, war das schrecklichste, was ich je in meinem Leben sah…

Im Tollhaus

Der Anblick überwältigte mich, aber bevor ich wirklich alles wahrnehmen konnte, taumelte ich zurück. Der Gestank nahm mich vollkommen ein und ich begann zu würgen. Als könnte ich meine Reaktion damit verhindern, schlug ich mir die Hand vor Mund und Nase, dennoch würgte ich nur erneut. Ich musste unwahrscheinlich blass gewesen sein, kreidebleich wie man sagt. Mein Körper begann zu zittern und wie versteinert starrte ich in den Raum vor mir.

Es dauerte, bis meine Augen sich an das Dämmern gewöhnten, das herrschte, da ich geradewegs in zwei Fenster sah aus denen die Sonne mich leicht blendete. Obwohl diese weit entfernt waren, denn vor mir lag ein endlos großer Raum, reichten sie vollends aus, um alles zu erhellen.

Gesichter starrten mich an. Gesichter von Frauen, Kindern und Männern. Jene, die ich bereits vom Hof aus sah und etliche mehr. Gut hundert Wesen, vielleicht mehr, in Lumpen und Nachthemden hockten auf dem Boden, zusammengedrängt und –gekauert, dreckig und verkommen. Der Zuchtmeister ließ mir Zeit zu verdauen, wofür ich sehr dankbar war, denn hätte ich in diesen schrecklichen Raum, voller Exkremente und Ausdünstungen, Fliegen und Erbrochenem gemusst, hätte ich ohne Frage das Bewusstsein verloren. Ich registrierte halb verhungerte Gestalten und angeschwollene Körperteile, gereizt und entzündet durch den Unrat. Fäulnis und Tod, diese zwei Worte beschrieben all jenes am Besten.

Langsam tat ich die ersten Schritte ins Innere, leicht schwankend und um Fassung bemüht. Der Gedanke, dass ich diese Gerüche einatmen sollte erschwerten mir das Luftholen ungemein.

Der Meister schloss die Tür, verschloss sie drei Mal und zog eine Art Lederriemen von seinem Gürtel. Ich registrierte es nur halb. Viel mehr starrte ich auf den feuchten Boden. Er glänzte vor Nässe und in den Rinnen schien er zu leben. Ich erkannte die seltsamsten Dinge. Dampfende Suppe, schwarze, krabbelnde Tiere, Würmer die aus einer toten Ratte krochen und anderes schien sich zu überhäufen. Ich fragte mich, wie es den Gefangenen ein Stockwerk tiefer gehen musste, denn irgendwohin sackte all die Feuchtigkeit schließlich ab. Und zugleich fragte ich mich auch, wo ich besser aufgehoben war:

Hier, an der Quelle dieses Ekel erregenden Regens oder unten, in einer Zelle, wo es mir auf den Körper tropfte?

Der Zuchtmeister begann zu erklären, auf wen ich acht geben musste, wer ab und an biss, angriff oder schrie, wer wen anstachelte, wer welche Krankheit hatte und bei wem ich mich zurückhalten sollte aber ich hörte kaum zu. Wie unter Hypnose beobachtete ich, wie er mal nach hier, mal nach da ging, auf den zeigte oder auf die. Jede Gestalt wich zurück, begann zu wimmern und die Menge drückte sich ängstlich in die hintersten Ecken hinein. Sie hatten Angst vor ihm, das war offensichtlich, fast schon Panik. Jene, die mit behelfsmäßigen Stricken und Ketten befestigt waren mehr, als jene ohne.

Dann war es endlich vorbei und wir gingen wieder hinaus.

Es kam mir vor wie ein Traum. Als die Tür erneut geschlossen war klopfte er mir auf die Schulter. „Du wirst dich dran gewöhnen.“

„Ach ja?“, fragte ich trocken und starrte die Tür an. Die Gesichter, die Blicke, das Flehen… Es hatte sich in meinen Kopf eingebrannt. Die Menschen schienen mir sagen zu wollen. „Hol mich hier raus! Ich flehe dich an, hol mich hier raus!“

„Es sind keine Menschen.“, entgegnete der Zuchtmeister ernst und sah mich düster an. „Es sind Tolle, Irre, Narren. Besessene. Du musst dort Grenzen ziehen, Kleiner. Sonst wirst du selbst bald einer von ihnen.“

„Aber die meisten wirkten gar nicht verrückt, sondern nur verängstigt.“, er drehte mich düster von der Tür weg, die ich noch immer anstarrte.

„Nun hör mir mal zu…!“, und mit einem Mal war seine Stimme bedrohlich. Unsicher sah ich ihm ins Gesicht. „Das dort drinnen sind keine Menschen, ich sage es dir gern noch einmal: Es sind Verrückte, allesamt. Satan hat Besitz von ihnen ergriffen. Du darfst kein Mitleid mit ihnen haben, sonst bist du der Nächste. Wir müssen das Übel einsperren, ehe es sich verbreitet, verstehst du?“, und mit einem Schlag gegen die Brust fügte er hinzu: „Genug jetzt. Geh auf den Hof, von dort aus links ist das Lager. Hol dir eine Schüssel und lass dir von der Hausmutter warmes Wasser geben. Los, ab mit dir.“

Der Mann starrte mich an, als würde er damit rechnen, dass ich anfangen würde zu schreien und zu diskutieren, aber ich gehorchte, ein wenig zittrig und ging schlurfend. Die Stille, die eingetreten war, als wir den Toll-Raum betreten hatten, verschwand nun allmählich. Immer lauter begann wieder das Klagen, Wehjammern und Wimmern der Gefangenen.

„Sie sind Irre.“, flüsterte ich leise um mich zu beruhigen und ging weiter. Ich wagte es nicht, zurück zu sehen, aus Angst der Zuchtmeister würde mich erwischen. Die Stimmen gingen nicht aus meinem Kopf. „Sie sind Irre. Und Besessene. Und außerdem geht mich ihr Schicksal nichts an. Ich hab genug eigene Probleme. Es sind nur Irre, keine Menschen. Nur Irre.“

Wahrscheinlich hatte der Meister Recht. Wenn ich Mitleid hatte und mich darauf einließ ihnen Aufmerksamkeit zu schenken - ihnen gar helfen wollte! – dann wurde ich wohl selbst bald verrückt. Das konnte ich mir auf keinen Fall leisten, unter keinen Umständen. Es galt durchzuhalten, bis zu meiner Anhörung. Dann würde ich meine Unschuld beweisen, fein raus sein und ein neues Leben beginnen. Ich würde ins Kloster gehen, ich hatte immerhin das Recht zurück zu kommen. Aus meinem Fehler gelernt hatte ich auf jeden Fall: Nie mehr würde ich die Mauern verlassen, nie mehr! Ich müsste nur durchhalten, bis der Richter meinen Fall bearbeitete und das konnte ja schließlich nicht mehr lange dauern.

Dachte ich zumindest.

Ich schlich eher durch das Gebäude, als dass ich ging und als ich den Hof erreichte, überkam mich das Bedürfnis, davon zu laufen. Ich wollte hier nicht arbeiten, ich wollte hier nicht einmal sein. Es bereitete mir mehr als nur Unbehagen, wieder in diesem verfluchten Heim zu stecken und nun auch noch mit dem Tollhaus zu tun zu haben. Aber ich hatte keine Wahl.

Am Eingang zum Hof erkannte ich zwei rot gerockte Diener des Königs, Soldaten der Armee, bereit auf jeden Flüchtling zu schießen. Ich seufzte und sah mich um. Da es Mittag war, schien die Sonne hell und erleuchtete erneut die grauen Wände mit den hässlichen Fratzen unter den Fenstern. Ich blieb stehen und musterte sie. Sie und die Fenster darüber, mit den dicken Gitterstäben und den Fensterläden rechts und links, in dunklem Umbra gehalten. Jedoch blätterte der Lack bereits ab, wodurch sie spröde und zerfranst wirkten. Ich fragte mich, ob man sie über Nacht geschlossen hatte oder ob man es nicht wagte sie anzufassen, aus Angst, sie würden zu Staub zerfallen. Der Himmel wurde immer Wolkiger und der Wind frischer. Vielleicht würde es heute regnen und in den nächsten Tagen würde es doch Unkraut auf diesem verfluchten Pflaster geben?

Ich begab mich zum Lager – auch ohne die Beschreibung des Zuchtmeisters hätte ich gewusst, wo es war. Eine alte Tür, die von der Art sehr an die Läden erinnerte, führte in einen winzigen und recht stickigen Raum. Zu meiner Verwunderung war sie nicht verschlossen. Ich zog sie an dem abgerundeten Holzgriff auf, der an den Träger eines Koffers erinnerte und nur mit Mühe schaffte ich es, sie ganz zu öffnen. Die alte Tür war ganz verzogen und schabte über den Stein, so dass sie oben herum zu wackeln und zu ruckeln begann. Als das Licht dann ins Innere fiel, fiepten Ratten und suchten das Weite. Einige Sekunden wartete ich, bis ich sehen konnte, erst dann trat ich ein. Der Raum war voller Sand und ich war unsicher, ob es Steine gab oder nur Holzdielen, irgendwo darunter. In der Mitte stand ein riesiger und veralteter Tisch, an den Wänden waren Regale und Schränke, die eher provisorisch wirkten. Noch nie zuvor hatte ich so viel Platz und so wenig Inhalt gesehen. Ein paar Seile hingen herum, Ketten, Zaumzeug, auf dem Tisch standen einzelne Schüsseln, ein verrostetes, altes Messer und unter dem Tisch, neben einem dreibeinigen, einst vierbeinigen Schemel, standen zwei Eimer für die Pferde der Gäste. Einer voll Hafer, einer voll Wasser. Der Sand knackte fast ein wenig wie Schnee, als ich darüber lief und den Rattenkot zertrat, auf der Suche nach einer geeigneten Schüssel. Ich wusste nicht, wofür ich sie brauchte und dadurch auch nicht, wie groß sie sein musste. Ein Mann huschte an der Tür vorbei, aber er beachtete mich gar nicht und er war so schnell, dass ich ihn nicht hatte ansehen können. Aus irgendeinem Grund machte mich das nervös, doch ich zwang mich, mich weiter umzusehen, wie aus einem Zwang heraus. Ich wollte alles wissen, was es hier gab. Nur für den Fall, dass ich einmal etwas brauchte, also schob ich die Tür geheimnistuerisch etwas zu, so dass nur noch ein Spalt Licht hinein fiel und dass niemand mich sah. In den Regalen standen Krüge und Tonkannen, mit Korken geschlossen oder Stoff überdeckt, der dann mit Garn zugebunden worden war. In einem der Regale stand eine große Tonschüssel. Neugierig nahm ich sie herunter, sie war verdammt schwer, dann entfernte ich vorsichtig das große Tuch darüber. Sie war voller dunkelgrauem Sand, aber als ich ihn vorsichtig anfasste erkannte ich Asche. Eine riesige Schüssel, voller Asche durch und durch.

Ich musste ein wenig schmunzeln über meinen Fund und sah erneut zur Tür, doch natürlich war niemand zu sehen, also grub ich vorsichtig meine Finger ins Innere hinein.

Die Asche war kühl und trocken, wie zu erwarten. Wenige Holzstücke waren noch darin und Sand, was zeigte, dass man sie mit normalem Bodensand gemischt hatte. Ich musste vorsichtig sein, dass die Asche nicht in alle Richtungen flog, während ich ausatmete. Dann wurde mein Schmunzeln zu Grinsen. Ich zog eine Handvoll kleiner, verdreckter Knubbel heraus, die ein wenig an unförmige Kugeln erinnerten. Zufrieden legte ich sie neben die Schüssel und tat das schwere Tongefäß zurück. Keiner sollte merken, dass ich daran gewesen war. Geheimnistuerisch widmete ich mich meinem geheimen Schatz. In der Schüssel waren weitaus mehr davon, aber würde ich zu viele nehmen, würde es wohl auffallen. Mir mussten die fünf, sechs Stück reichen. Ich wusch sie vorsichtig im Wassertrog der Pferde, ohne auf den Speichel darin und die toten Fliegen zu achten. Als meine Brombeeren dann einigermaßen gereinigt waren aß ich sie, zufrieden und heimtückisch.

So etwas hatte ich schon oft getan, auch während der Klosterzeit, aber für mich galt es nicht als Diebstahl. Wenn das Essen dann verteilt wurde, verzichtete ich einfach auf meine Ration – die zwar weitaus kleiner ausgefallen wäre, aber das spielte keine Rolle.

Mein Magen rumorte leise und wie ich glaube dankbar, denn ich hatte schon lange nichts mehr gegessen. Auch wenn es mir etwas Sorgen bereitete. Die Früchte schmeckten ungewohnt frisch. Weder nach Essig, noch, als wenn sie gekocht worden wären und ich hatte in unserer Klosterküche gelernt, dass, wenn man Früchte und Obst unzubereitet essen würde, der Magen sie nicht fertig kochen könne. Deswegen würden dann die schlechten Säfte, die nicht weg gekocht worden waren, in meine Milz aufsteigen und so würde ich ein schreckliches, schmerzendes Geschwulst bekommen. Mir wurde ganz heiß, vor ansteigender Panik, als mir das klar wurde und ich sah die letzten drei Beeren unsicher an. Ich beschloss sie nicht zu essen und steckte sie zurück in die Asche. „Diese Irren.“, flüsterte ich dabei. „Konservieren Früchte, ohne sie abzuschrecken.“ Dann griff ich eine der Holzschüssel und ging wieder hinaus, in der Hoffnung, dass sie nicht zu klein war. Als ich die Tür schloss, begann es unter meinem linken Brustkorb zu schmerzen und erschrocken legte ich die Hand darauf. Was, wenn so wenige Beeren ausreichten, um ein Geschwulst heraufzubeschwören? Und wie behandelte man so etwas, wenn man es erst hatte?

Die Küche lag am anderen Ende des Ganges. Man musste vom Haus aus seitwärts in das Gebäude gehen, um sie zu erreichen. Noch ehe ich die Küche betrat, nahm ich den Geruch von Gewürzen wahr. Es roch nach Lauch, Pfefferkraut, Kümmel und ein wenig Petersilie. Ich wunderte mich, dass meine Nase überhaupt noch Gerüche registrieren konnte. Nach der letzten Folter hatte ich erwartet, dass sie nie wieder funktionieren würde.

Die Küche war nicht sonderlich groß, aber groß genug. Warum ich die Hausmutter gerade hier erwartete, wusste ich nicht. Vielleicht aus einer früheren Gewohnheit heraus, denn hier hatte ich sie oft schreien und fluchen gehört.

Zu meiner Enttäuschung war sie jedoch nirgends zu sehen. Ein alter Steinofen stand in der Ecke, aus hellbraunen und cremefarbenen Steinen. Neben ihm waren Regale mit Kräutern und Bündeln getrocknetem Unkraut. Das meiste davon kannte ich nicht, im Kloster hatte ich nur selten Dienst gehabt und selbst wenn, hatten wir dort nicht viel besessen. Der Geruch nach Gewürzen und Kräutern verstärkte sich und eine kleine, gestreifte Katze mit weißen Pfoten schmiegte sich an mein Bein. Sie war eine Gotteskatze, denn sie trug auf der Stirn das heilige M, das für „Maria“ stand. Ihre grünen Augen hießen mich herzerweichend willkommen, so dass ich fast schon gezwungen war, ihr durch das Fell zu fahren.

„Mäusefänger.“, sagte eine dunkle und sehr alte Stimme. Ich fuhr herum, wie ein Kind, das man beim Naschen erwischt hatte. Direkt neben der Tür ging eine kleine Nische ab und dort saß ein alter Mann. Er hatte dunkle Haut mit tiefen Falten, die wie aufgemalt wirkten. Sein Gesicht war so alt, dass seine Augen fast geschlossen waren. Ich erinnere mich daran, dass, wenn ich vor ihm stand ich mich fragte, ob es ihm schwer fiel die Augen zu öffnen. Seine Augenlieder hingen herunter und die Haut darüber schien sie zudecken zu wollen. Dennoch hatte er etwas Jungenhaftes an sich. Er grinste mir entgegen, als wäre er in der Zeit nie voran geschritten – wobei sein fast zahnloser Mund das Gegenteil zeigte – und seine wässrigen, braunen Augen glitzerten leicht. „Mäusefänger, so heißt das Vieh.“

Ich sah zur Katze hinab, die sich streckte, dann ihn an. „Guten Morgen, Herr.“

„Gott zum Gruße, mein Sohn.“, der Alte zog an seiner Pfeife. Es wirkte wie ein gemütliches Sitzen am Feuer, wobei der Holzstuhl unter ihm und das alte Kissen alles andere als bequem aussahen. „Was kann ein alter Esel für dich tun?“, unsicher sah ich ihn an. Es erschien mir unhöflich, dass ich einfach so eingetreten war und ich hatte das Bedürfnis mich zu verbeugen oder mich wenigstens zu entschuldigen, aber noch ehe ich auch nur ansatzweise etwas sagen konnte, fuhr er schmatzend fort, während der Rauch aus seinen Nasenlöchern kam: „Ja, ja, Esel nennen sie mich. Den alten Esel, warum weiß ich nicht, aber dem ist wohl so. Nicht wahr Mäusefänger? Dich nennt man ja auch so, obwohl du keine Mäuse fängst. Pennen tust du und von ihnen träumen. Mäusepenner müsste man dich nennen, Mäusefänger, jawohl, Mäusepenner!“, und dann lachte er. Es klang wie ein Ho, ho, ho, ho und hatte etwas unheimlich freundliches an sich. Ich musste leicht lächeln. Mäusefänger ignorierte den Mann und stolzierte aus dem Raum, nicht, ohne kurz vor der Tür mürrisch nach einem Floh auf seinem Rücken zu beißen. „Ja, ja, geh du nur, geh nur und putz dir das Fell, du unnützes Vieh!“, er zog an seiner Pfeife. Der Alte schien mich vergessen zu haben, doch dann erblickte er mich und lachte erneut: „Ja, ja, du auch, Junge, lach du auch nur, so lange du noch kannst, denn irgendwann, da lacht man nicht mehr, weißt du? Glaub dem Esel, der weiß das, der lacht viel. Für die anderen mit, verstehst du? Ich lache viel, damit die anderen weniger lachen müssen.“, wieder grinste er und schmatzte kurz, um den Geschmack seiner Pfeife zu genießen. Anschließend blies er den Rauch aus. Der bläuliche Nebel zwirbelte durch die Luft. „Aber wenn keiner mehr lacht, wo sind wir dann? Dann gibt’s nichts mehr zu lachen!“, und schon lachte er erneut. Ich musste grinsen, ich konnte nicht anders. Das Großväterchen war mir mit einem Mal unheimlich sympathisch. „Lachst du viel, Junge?“

„Ähm… Nein, Herr, eher selten.“

Da nickte der Alte, wie, als wäre das die Bestätigung für sein Gerede. „Tja, was sage ich? Gut, dass ich für dich lache, sonst würde keiner mehr lachen! Komm, Kleiner, nimm dir einen Stuhl und setz dich zu mir. Der alte Esel hat selten Gesellschaft.“

„Ich muss die Hausmutter-…“

„Ach, Firlefanz und Wackelpudding!“, er winkte ab und ich gehorchte. „Die alte Schreckschraube, die kann warten. Die braucht nur was sagen und alle hier drehen die Zeit zurück vor Schiss, mein Junge!“, und als ich neben ihm saß, beugte er sich leicht vor und klopfte mir väterlich auf die Schulter. „Eins sage ich dir:

Jemand wie sie, ist niemand, denn wir sind ja was und wenn wir alle was sind, dann muss sie Nichts sein. Verstehst du?“

„Ehrlich gesagt, nein.“, gab ich zu und lächelte ein wenig schief.

Er lachte nur wieder „Ich auch nicht!“, und zog an seiner Pfeife. Amüsiert fügte er hinzu: „Wenn du wüsstest, was ich hier rede, dann wäre es erschreckend, denn ich weiß ja selbst nicht mal, was ich von mir gebe! Und denk ja nicht, dass ich ein Toller bin…“, der Esel zwinkerte mir verschwörerisch zu und flüsterte leise: „Aber wenn man alt ist, Kleiner, dann kannst du einfach verrückt sein. Du musst sogar! Früher, da musste ich aufpassen und stolz sein und gut aussehen und weiß der schwarze Peter, was noch alles, aber heute bin ich alt. Und wenn man alt ist…“, er zog an seiner Pfeife. „…dann hört einem keiner mehr zu. Und dann kannst du reden und reden, was du willst und so viel du willst.“, wieder kam der Rauch in dicken, bläulichen Wolken durch seine Nasenlöcher. Ich sah zu und staunte. „Und es ist ganz gleich, was du sagst, du wirst nicht mal eingebuchtet dafür. Nein, was für ein Spaß!“, der alte Mann lachte erneut und ich musste wieder grinsen. „Ja, ja außer ab und an mal, dann hören sie dir zu. Dann kommen Jungs wie du hier her, die arbeiten müssen, zum alten Esel. Ah oder die aus dem Heim. Und dann wird geredet und gelacht, dass es für die nächsten Jahre reicht, ja, ja… Ja, ja… Da muss man vorsorgen, Kleiner. Vorsorgen.“, der Blick des Alten wurde verträumt und er sah vor sich, die Hände auf den Bauch gelegt. „Ja, ja… Da lachen wir ganz viel. Damit es reicht, für schlechte Zeiten, weißt du?“, kurz sah er mich an, um sicher zu gehen dass ich auch wirklich zuhörte, dann versank er schon wieder in seinen Gedanken. „Man kann nie genug lachen. Und wenn’s mal düster wird, tja, dann hast du ja schon gelacht und musst nicht traurig sein, dass du es dann nicht mehr kannst. Ja, ja… So ist das mit der Marmelade. Den holen die Bienen. Aber im Pudding, Junge, da ertrinken die Mäuse drinnen. Lass dir das gesagt sein! Die ersaufen, einfach so und keinen interessiert es.“

„Ich werde es mir merken.“, schmunzelte ich nur.

Eifrig begann der Alte zu nicken. „Tu das, Junge, tu das. Das ist wichtig für’s Leben, nichts ist so wichtig wie das. Das und das Auge der Königin. Denn die hat ja schließlich die Krone im Buffet, nicht wahr? Ja, ja… So ist das…“, er zog an seiner Pfeife, langsam und verträumt.

„Tja…“, seufzte der Esel dann. „So ist das…“

Eine kurze Zeit lang sah ich ihn an, doch der Esel, wie er sich nannte, schien in Gedanken versunken und mich nicht zu registrieren. Er saß einfach nur da und schmatzte und kaute zahnlos an seinem Pfeifenhals herum. Der Blick des Alten ging ins Leere und seine wässrigen Augen schienen Dinge zu sehen, die überall waren, aber nicht bei uns im Raum. Ich beschloss ihn zu lassen. Langsam stand ich auf und leise, fast als würde er schlafen. Ich mochte ihn, der verrückte Mann war mir sympathisch und ich hoffte, ich könnte noch öfters zu ihm kommen. Der Ofen war vor mir und die Pumpe war neben dem Alten in der Ecke, also beschloss ich, mein Wasser ohne die Hausmutter zu kochen, doch plötzlich hielt er mich fest am Arm und sein Blick war wieder klar. Fast wie wahnsinnig stierte er mir direkt in die Augen und sagte leise, als könnte man uns belauschen:

„Aber lass dir eines gesagt sein, Junge…! Der alte Esel ist nicht dumm, er kennt Jungen wie dich, die ihr Leben versauen und dann hier landen. Lass dir eines gesagt sein…!“, und mit einer Kraft, die ich ihm niemals zugetraut hätte, zog er mich zu sich herunter. Er zischte: „Gib Acht, dass du hier nichts verlierst, Junge, auf keinen Fall. Du siehst es nie wieder…!“

Unsicher sah ich ihn an, dann ließ ich mich auf den Schemel zurück sinken, gewillt, seinen wirren Worten weiterhin zuzuhören.. „Was sollte ich denn verlieren können? Ich habe doch nichts.“

Der Esel lachte, aber nur kurz, dann beugte er sich zu mir: „Dein Verstand, mein Junge, den kannst du verlieren! Sieh zu, dass du auf ihn Acht gibst! Besonders bei den Tollen! Ich kenn die Leute, beim Hans noch mal, ich kenne sie. Wie Äpfel sind die, nur süßer. Trau dich da nicht zu nah ran, Kleiner und denk immer an-…“

„Nun quatsch den Jungen nicht zu, du alter Esel!“, unterbrach ihn die Hausmutter etwas unfreundlich. Sie war gerade herein gekommen und ohne zu wissen, worum es ging, hatte sie das Gespräch zwischen uns beiden einfach beendet. Ich fand es unhöflich und respektlos, besonders einem Mann mit solchem Alter gegenüber, doch als ich aufstand um sie zu begrüßen, kam sofort die damalige Unsicherheit in mir hoch. Die etwas kleinere Frau mit dem großen Busen und dem eingequetschten Kreuz dazwischen schloss die Tür. Sie schien mies gelaunt zu sein und es nicht zu mögen, dass ich mit dem alten Mann sprach. „Du kaust allen ein Ohr ab und hältst sie ab vom arbeiten, dummer Esel, halt den Rand und rauch deinen Tabak. Verrückter Narr!“, und tatsächlich schwieg der alte Esel. Seine Augen waren düster, aber er sagte keinen Ton, sondern sah sie nur an. Dann, als sie sich umdrehte, nickte er und zeigte zu ihr. Der Alte verdrehte die Augen und ich grinste über die Geste. Als die Hausmutter sich wieder zu mir drehte, zuckte ich zusammen. „Und wer bist du, hä? Dich habe ich doch gesehen, gestern, auf dem Hof?“

„Ich-…“

„Du arbeitest beim Zollmeister, was?!“, ich lernte die Hausmutter als stets beschäftigte und sehr geschäftige Frau kennen. Noch während sie mit mir sprach, wenige Sekunden ehe sie überhaupt eingetreten war, wickelte sie ein kleines Messer aus ihrer Schürze und begann Kartoffeln zu schälen. „Wie ist dein Name, Junge?“

„Mein Name ist-…“

„Spar dir die Luft. Frage, Antwort.“, erklärte sie unfreundlich. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, dann schälte sie weiter, im Stehen. „Hier ist Reden unwichtig, man sieht Redner nicht gerne. Leute die viel reden, die denken viel und Leute die denken sind gefährlich. Die machen alles kaputt, sind arrogant und denken, sie haben den Durchblick. Also Mund zu, knappe Antwort reicht. Kapiert?“

„Kapiert.“, bestätigte ich.

Sie nickte. „Das ist mir klar, du bist ja nicht dumm. Na los, komm her, hilf mir schon schälen und steh da nicht nur dumm herum! Das kannst du doch wohl?“, und wie ich das konnte! Wie viele Kartoffeln hatte ich bei Black geschält? Tausend? Zweitausend? Ich schob den Schemel an den Tisch, dann setzte ich mich. Fast schon herausfordern legte sie mir ein zweites Messer hin. „Also? Wie heißt du? Was willst du?“

„Sullivan O’Neil, Herrin. Und ich brauche warmes Wasser.“

Sie sah mich kurz an, dann schälte sie weiter. Ich überlegte, ob sie sich wohl an diesen Namen erinnerte, aber es kam keine Reaktion. Wieso sollte es auch? Sicher kannte sie endlos viele Kinder, warum sollte sie sich gerade an mich erinnern?

Doch ich irrte mich. Sie sah mich erneut an.

„Sullivan? Der kleine Sullivan von früher?“, ich schwieg, als würde ich sie nicht hören. „Natürlich, dich kenn ich doch. Der kleine Lausebengel, der mir den Topf zertrümmert hat.“

„Ja, Herrin.“

Sie begann zu lachen, ein wenig übertrieben vielleicht. „Ja, ja, Unkraut vergeht nicht, was? Die meisten von euch Bälgern kommen hier her zurück! Hab ja gleich gesagt, aus dir wird nichts werden, hat man gleich gesehen. Dumm wie Stroh! Ich frag mich, wieso wir euch überhaupt weg schicken. Undankbar!“, sie gab mir einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. „Na? Wo haben wir dich hingeschickt, hä? Sag’s der alten Mutter. Welche Chance hast du vergeudet?“

„Vergeudet ist nur Salz in der Suppe.“, murmelte der Esel.

„Du halt den Rand.“, warf die Alte ihm über die Schulter hinweg zu, dann gab sie mir einen erneuten Klaps, deutlich fester. Sie hatte sich wirklich nicht ansatzweise verändert. „Na sag schon, Junge, wo haben wir dich undankbares Blag hingeschickt, dass du einfach zurück kommst und Sünder wirst? Ich will nicht wissen, wie viel Geld wir verschleudert haben für dich! Nur, dass du wieder hier landest! Manche Kinder sollte man in den Fluss werfen, die bringen es eh zu nichts.“

„Ins Kloster. Und ich war kein Sünder.“, ich griff zwei weitere Kartoffeln, darauf bedacht, ruhig zu bleiben. Ihre Art machte mich aggressiv. Ich hatte keine andere Wahl, als mir dieses Gespräch anzutun und mir solche Dinge einreden zu lassen, aber Wut oder Zorn gönnte ich ihr nicht. „Ich bin unschuldig angeklagt worden.“

„Das sagen sie alle.“, spottete sie nur. „Kannst gut schälen. Lernt man wohl im Kloster?“

„Kann schon sein.“

„Wenn du aus einem Kerl ein Weib machen willst, schick ihn ins Kloster, sagte meine Mutter immer – Gott habe diese Armselige Hure selig. Recht hatte sie. Solltest dich mal ansehen, dürr und schlank, zudem bildhübsch. Fast wie ein Weib, fast Ekel erregend. Du willst ein Kerl sein?“

„Also muss man fett, groß und hässlich sein, damit man ein Mann ist?“, fragte ich ehrlich interessiert. Ganz ruhig erhob ich mich und lächelte die Alte freundlich an, während ich das Messer auf den Tisch zurücklegte. Hier war ich fertig. „Ihr seid aber eine Frau oder?“

Der Kopf von der Hausmutter wurde knallrot und ich war nicht sicher, ob durch Wut oder Scham. Ich hatte noch nie erlebt, dass sie sprachlos gewesen war. Hinter uns brach der alte Esel in schallendes Gelächter aus.

Schnaubend steckte sie das Messer zurück in ihre Schürze, dann griff sie die Schüssel und mit einem wütenden Blick füllte sie diese mit Wasser. „Geh zurück zum Zuchtmeister!“, befahl sie schroff und deutlich lauter. „Ich lasse es hinauf bringen! Verschwinde!“

Ich verbeugte mich tief, fast ein wenig veralbernd, dann ging ich hinaus und schloss die Tür, noch immer das lachend des Esels hörend.

Als ich im Hof stand und zum bewölkten Himmel hinauf sah, begann ich zu grinsen. Ich mochte die Frau nicht, ganz und gar nicht und das war von Anfang an so gewesen. Ob sie mich ein Weib nannte, weil ich wusste, wie man Kartoffeln schälte oder ob sie mich schimpfte, da ich schuld sei, dass meine Mutter mich hatte im Heim abgeben müssen. Ich hatte sie schon mein ganzes Leben verabscheut. Damals, als ich ins Heim kam, hatte ich bereits im ersten Moment beschlossen, dass ich sie hassen würde. Hassen dafür, dass sie uns Kinder permanent irgendwie schlug oder demütigte und dafür, dass sie uns so etwas wie Liebe nie spüren ließ. Dafür, dass sie uns von Anfang an aufgab und zu dem machte, was wir waren.

Und während ich so hinauf sah, wurde mir bewusst, was für einen Ausmaß an Macht Wörter in dieser Welt hatten. Sie tat gut daran, mir zu sagen, ich sollte nicht viel reden. Denn mit Worten, Sätzen, konnte man so viel Gigantisches anstellen. Jahrelang hatte sie auf mich eingeredet, dass ich wertlos sei und nur durch dieses Zureden hatte die Kirche es weiter fortführen können. Sie hatte den Weg geebnet und im Kloster hatte man es weiter vertieft.

Ich beneidete den alten Narren, denn er konnte reden, was immer er wollte. Allerdings, konnte er damit noch etwas bewirken?

Ich beschloss, mich eingehender damit zu befassen. Meine Gefangenschaft hier würde ohne Frage noch länger andauern und irgendetwas musste ich ja tun. Ich hatte kein Buch und meine Zimmergenossen konnte man schlecht als geeignete Gesprächspartner bezeichnen. Ob ich es mit den richtigen Worten schaffen könnte, sie zu besiegen? Ganz ohne Fäuste? Wenn man Menschen Dinge einreden konnte, dann konnte man sie auch dazu bewegen, zu tun, was man wollte oder nicht? Man hatte mir eingeredet, kuschen zu müssen. Man hatte mir eingeredet, Ja und Amen zu sagen. Wieso sollte ich das nicht auch tun können? Ich war nicht mehr der kleine Bengel vor damals, der Angst vor dem Rohrstock hatte. Ich war ein Mann geworden, erwachsen, größer und auch stärker.

Ich erinnerte mich an Pater Antonius. Jener Priester, der uns im Heim damals Gottes Worte näher brachte. Wenn er nicht gerade wutentbrannt auf einen der Jungen losging ihn schlug und anschrie, dann schaffte er es jeden von uns mit seinen Worten zum Schwiegen zu bringen. Fast wie Black zog er alle in seinen Bann, indem er mit seiner Stimme spielte. Mal war sie wie Honig, mal wie schmerzhafte Dornen. Je nach Bedarf konnte er sie einfach verändern, die Menschen locken oder Angst machen, das Gegenüber einlullen und verführen oder aber zurückschrecken lassen, Ehrfurcht auslösen.

Ich beschloss das zu lernen, irgendwie. Das musste einfach gehen! Wieso sollte ich das nicht auch können?

Und wenn es so weit war, würde ich meine Künste beim Richter ausprobieren.

Die Hausmütter hätte mich ohrfeigen können, hinaus jagen, auf mich losgehen wie früher, die Wachen oder den Zuchtmeister rufen… Aber nichts davon hatte sie getan. Sie war nur rot geworden und hatte um ihre Fassung gerungen.

Ich beschloss, dass ich so etwas wie eine Gabe haben musste. ‚Pfiff’ sozusagen. Und diese Gabe würde ich nutzen. Irgendwie… Denker reden viel, richtig? Also wieso sollten Redner nicht viel denken?

Und wieso sollte das etwas Schlechtes sein?

Vogelgesang

Der Zuchtmeister war nicht begeistert, als ich ohne Schüssel wieder kam und erklärte, die Hausmutter wolle sie bringen lassen, aber er stellte keine Fragen, sondern wies mich lediglich an, mit einem Besen den Schmutz zusammen zu kehren. Ich tat gelangweilt, was mir aufgetragen worden war und fegte im Flur mal hin und mal her, ziemlich lieblos. Und jedes Mal, wenn der Meister an mir vorbei kam, schien es, als sei ich keinen einzigen Schritt weiter. Das Wasser wurde von einem der Heimkinder gebracht, das schnell die Flucht ergriff, als der Zuchtmeister es entgegen nahm. Ich konnte es nachvollziehen. Das Jammern und Weinen der Irren hallte bis zu mir in den langen Flur und es klang so, wie man sich die Hölle vorstellte. Eher tadelnd entriss mir der Meister dann den Besen, ehe es weiter ging in den nächsten Raum. Neben dem Tollzimmer, rechts davon, war mir bereits eine weitere und sehr alte Tür aufgefallen. Dahinter lag ein zweiter Raum, aufgebaut wie der erste, jedoch war er vollkommen leer.

„Das ist das Tollzimmer der männlichen Irren.“, erklärte mir der Zuchtmeister, als wir eintraten. Erstaunt sah ich nach oben. Die Decke war eingebrochen. Schwere, hölzerne Stützbalken reichten zu uns herunter und man konnte in das darüber liegende Zimmer sehen. Holzbetten und die feuchte Decke darüber, wirbelnder Staub und Spinnenweben. „Die Decke ist herunter gekommen, da oben ist ein Teil des Kinderheimes. Wir haben Geld für die Reparatur beantragt, aber vor dem Herbst wird das wohl nichts. Deswegen sind die Tollen alle in einem Raum untergebracht, statt getrennt.“ Ich lies meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Nun, so ganz ohne Insassen, sah es riesig aus, fast geräumig. Aber es roch sehr streng. Auf dem Boden waren verkrustete Schichten, an den Wänden große, dunkle Schimmelflecken. Ich ahnte böses, als er die Schüssel auf den Boden stellte. Dann hielt er mir ein Stück Stoff entgegen. „Na dann? Frohes Gelingen. Ich bringe dir regelmäßig neues Wasser.“

Noch nie habe ich mich so schlecht gefühlt. Als er die Tür grinsend schloss und ich allein im Zimmer stand, den provisorischen Lappen in der Hand, auf eingetrockneten Exkrementen stehend, stieg mehr als nur Übelkeit in mir auf. Ich hockte mich hin und tauchte zögernd den Lappen ins Nass hinein, dann versuchte ich meinem Auftrag zu folgen.

Ich fühlte mich gedemütigt, es war Ekel erregend. So sehr ich mich auch bemühte, den Boden nicht mit meinen Händen oder Knien zu berühren, als ich den Lappen ins Wasser tauchen und auswringen musste würgte ich. Ich wünschte mir, bei den Tollen arbeiten zu können. Alles würde ich lieber tun, als ihre Ausscheidungen weg zu wischen. Zudem waren sie so vertrocknet, es kostete immense Kraft, bis zum Boden darunter vorzudringen.

Fünf Stunden lang tat ich meine Arbeit und immer wieder kam der Meister zu mir hoch, um neues Wasser zu bringen. Er kritisierte jeden meiner Schritte. Öfters musste ich irgendwo erneut wischen, kratzen und schaben. Ich fand einen Holzsplitter, einen recht großen, mit dem ich die Ritzen der Dielen reinigen konnte aber schon nach wenigen Minuten war er völlig kaputt. Auf Anfrage nach einem Messer oder Löffel kam nur: „Wozu? Du hast doch Finger.“, und das mit einem so widerwärtigen Grinsen, dass ich mich beherrschen musste, ihn nicht lautstark zu verwünschen.

Als ich dann endlich fertig war, fiel es mir schwer aufzustehen. Ich hatte das Gefühl, mein Rücken hatte sich verzogen, wie die alte Tür im Lager und nun könne ich nie wieder gerade stehen. Zudem kam, dass ich immer noch stechende, regelmäßige Schmerzen unter der linken Brust hatte – das Geschwulst von den Brombeeren, so vermutete ich.

Irgendwann gab es das „Essenszeichen“. Die Hausmutter stand fluchend und schreiend auf dem Hof, donnerte mit einer Kelle auf einen Metallkessel ein und brüllte immer wieder: „Essen! Essen, los, Essen!“

Erst war ich unsicher, ob das für alle galt oder nur die Wachen, doch ein Blick aus dem Gitterfenster ließ mich Charles und Pitt sehen. Ich war erleichtert, mehr als das und warf den Lappen ins Wasser, dass es nur so spritzte.

Das Essen wurde auf dem Hof verteilt und jeder konnte scheinbar dorthin, wo er wollte, um es zu verspeisen. Es gab Brei mit etwas Brot, für die Wachen ein Stückchen Fleisch obendrauf. Ich nahm die Schüssel dankbar entgegen und aß noch im Stehen, ohne mir einen Platz zu suchen. Der alte Esel bekam auch eine Schüssel und lachte darüber, wie sehr ich es herunter schlang. „Pass auf, sonst verschluckst du noch deine Zunge, Kleiner.“ Doch ich hörte gar nicht zu, sondern ließ mir Nachschlag geben.

Alles in allem war meine Arbeit dort zwar dreckig und nicht gerade beneidenswert, aber es gab Essen und – wenn man sich durchsetzen konnte – einen Schlafplatz. Ohne Frage ging es mir besser, als den anderen, das musste einfach so sein. Ich konnte mich frei bewegen, den Himmel sehen, frische Luft schnappen und es gab Menschen, mit denen ich reden konnte. Die im Gefängnis waren mit großer Wahrscheinlichkeit den ganzen Tag über – und auch nachts – nur in ihrer Zelle und konnten, wenn sie Glück hatten, durch das Kellerfenster hinaus sehen. Ich stellte es mir dunkel und kalt vor, mit Ratten die an einem nagten.

Nach dem Essen ging es weiter, doch es störte mich kaum noch, dass ich alles anfassen musste. Ich beschloss einfach ein letztes Mal nach Wasser zu fragen, wenn ich fertig war und dann so zu tun, als würde ich wischen, um mich dann, wenn der Zuchtmeister gegangen war, in der Schüssel zu waschen.

Am Abend gab es erneut etwas zu essen, jedoch weitaus weniger. Man teilte lediglich die Reste des Mittags auf. Wenn man sich also den Bauch voll schlagen wollte, dann musste man das zum Mittagessen tun. Eine Regelung, an die ich mich jeden Tag halten würde, im Gegensatz zu den anderen. Es gab Tage, da aß ich zwei oder drei Portionen und mein Magen schien sich daran zu gewöhnen, denn ich ging nie hungrig zu Bett. Nach dem Essen hatte ich frei. Mein Rücken schmerzte ungemein und meine Finger waren rötlich, als würden sie sich gegen den Schmutz wehren. Der Ausschlag von den Fesseln schien schlimmer zu werden.

Charles und Pitt waren nicht da. Wo sie steckten, wusste ich nicht, aber ich nutzte es aus und legte mich ins untere Bett. Ich war so erschöpft, ich schlief sofort ein, gar nicht darüber nachdenkend, was passieren würde, wenn Charles mich dort erwischte. Es war so egal. Hauptsache war nur, dass ich schlafen konnte.

Als ich dann am Morgen erwachte, da der Zuchtmeister gegen die Tür donnerte, war ich noch immer allein. Müde rappelte ich mich hoch und sah zu, wie der Zuchtmeister eintrat. Sein Blick verriet, dass er mehr als nur mich erwartet hatte. Fragen tat er jedoch nicht nach ihnen. Stattdessen wollte er wissen:

„Wie geht es deinen Händen?“, ich war noch völlig neben mir und verwirrt sah ich ihn an, ehe ich verstand, was er wollte. Die Punkte waren noch da, aber sie waren weitaus weniger geworden. Zufrieden nickte er. „Sieht doch ganz gut aus.“

„Mein Rücken leidet mehr, als meine Hände.“, murmelte ich verschlafen.

Der Zuchtmeister lachte laut. „Sind das all deine Sorgen?“

„Es geht.“, verschlafen fuhr ich mir durchs Haar. Der Zopf an meinem Hinterkopf war aufgegangen und meine wenigen, längeren Haaren waren nun völlig Zaus. „Meine Milz schmerzt ebenso und ich denke oft an einen Freund, der unten im Kerker sitzt. In Anbetracht der Tatsache, dass ich ihn wohl nie wieder sehe, ist es schon recht entmutigend, Herr.“

Der Meister hörte mir gar nicht zu, sondern sah sich um, als würde er im Zimmer eine Spur von den beiden anderen finden. Dann brummte er leise. Scheinbar hatte er nachgedacht und seinen Gedanken nun abgeschlossen. „Wie auch immer, du Wasserfall: An die Arbeit, na los.“, er drehte um und ging hinaus. Verwirrt starrte ich den Mann an. Seit ich in diesem Armenhaus fest saß, musste ich mir ununterbrochen anhören, wie sehr ich reden würde. Dabei kam es mir gar nicht viel vor. Natürlich hatte ich im Kloster weitaus weniger gesprochen – es war ja auch ein Kloster – dennoch erschien es mir eher normal.

Schlurfend folgte ich ihm und als wir uns dem Tollzimmer näherten, stöhnte ich leise auf.

Der Zuchtmeister ignorierte es und klopfte mir auf die Schulter. „Du wirst heute etwas Einfaches machen.“

„Und was?“, ich war bemüht, meine Stimme nicht entnervt klingen zu lassen. Mein Rücken schmerzte, mein Kopf dröhnte und meine Finger waren gereizt und juckten. Ich fürchtete, mir irgendeine Krankheit geholt zu haben – abgesehen von meiner sicher bereits völlig geschwollenen Milz, wenn die denn anschwellen konnte.

Ich war ein Wrack, zumindest fühlte ich mich so. Sah er das denn nicht? Meine Motivation vom Vortag war wie weg geblasen.

„Wir müssen die Nägel der Tollen kürzen.“, erklärte er stattdessen und überreichte mir schmunzelnd eine Zange. „Wir haben viele Neue bekommen, seit O’Hagans Reisen und wir müssen ihnen die Nägel ausreißen, ehe sie uns damit die Augen auskratzen.“

„Aus…reißen?“, wiederholte ich stockend. Mit einem Mal war ich wach. „Mit…?“, zögernd nahm ich die Zange entgegen.

„Soll ich dich ins Gefängnis bringen? Ist dir das lieber?“

„N-Nein. Muss das denn sein? Können wir sie nicht einfach schneiden? Oder feilen?“

„Jede Woche aufs Neue? Sei nicht albern. Na los, bereite dich schon mal darauf vor. Ich hole Charles und Pitt. Die drücken sich wieder, die Idioten. Aber sie werden sehen, was sie davon haben.“

Er drehte ab und ging den Flur hinunter. Ich starrte ihm nach, dann schluckte ich schwer einen dicken Kloß in meinem Hals runter. Die Zange lag rostig und an manchen Stellen schwarz in meinen Händen. Mein Magen zog sich zusammen und verkrampfte schmerzhaft, als ich sie öffnete und wieder schloss. Ohne es zu merken bekreuzigte ich mich und sah zur Tür. Meinte der Zuchtmeister das ernst? Und wie aus dem Nichts kam mir das ‚Ja.’ In den Sinn. Als würden die Tollen wissen, was ihnen bevor stand, begann hinter der Tür ein lautes Wehklagen. Natürlich wurden sie nur wach durch die Sonne, aber das erleichterte mich nicht im Geringsten.

Es dauerte, bis der Zuchtmeister zurückkam. Ich versank in absurden Gedanken. In Wünschen wie jene, dass er nicht zurückkam, mich vergessen hätte oder es selber machen wollte und Ideen weg zu laufen, ganz gleich, ob man mich erschießen würde. Gleichzeitig sagte eine Stimme in mir, dass es nicht so schlimm war, wie ich es mir ausmalte. Es ging schließlich nur um Tolle, nicht um Menschen. Und Kais Hinterkopf war mit Sicherheit ein viel schlimmerer Anblick gewesen. Ich redete mir diese unbarmherzige Vorgehensweise sogar so stark zu Recht, dass ich begann es zu rechtfertigen. Diese Irren würden mich nur angreifen, sie hatten das verdient. Der Zuchtmeister hatte das sicher nicht umsonst gesagt und wenn sie wirklich der Meinung waren, andere verletzen zu dürfen, dann war diese Strafe durchaus gerechtfertigt. Ja, sie sollten sogar dankbar sein, dass wir sie vor ihren spitzen Fingern schützen wollten!

Nach etwa einer halben Stunde kehrte der Zuchtmeister zurück. Charles und Pitt folgten ihm, mit gesenkten Köpfen und blutigen Nasen.

Ich schwieg, aber man sah ihnen ihren Unmut an. Düstere Blicke, verhasstes Zähne Knirschen und leises, kaum verständliches Murmeln sagten mehr aus, als ein offener Fluch. Es ging mir noch schlechter, als mir klar wurde, dass sogar so ein Kaliber wie Charles sich vor dieser Arbeit drücken wollte.

Der Zuchtmeister schloss auf und die Übelkeit überwältigte uns fast. Jeder von uns dreien würgte auf, doch diesmal gab es keine Rücksicht. Man drängte uns hinein und die Tür fiel ins Schloss. „Eine Stunde!“, war die einzige Anweisung.

Also standen wir da, zu dritt, links der kleine Charles, in der Mitte ich und rechts der riesige Pitt. Pitt hielt den Riemen des Meisters in der Hand, um uns zu verteidigen, ich die Zange.

Meine Knie wurden weich, als mir klar wurde, welche Aufgabe mir erteilt worden war.

„Bastard…!“, knurrte Charles hasserfüllt. „Soll der Mistkerl den Dreck doch selber machen?!“

Die Tollen sahen uns an. Ich wusste, dass sie verrückt waren. Dennoch schien es mir, sie wussten ganz genau, was jetzt kam. Ihre Augen hafteten an uns oder starrten wirr woandershin und jene Blicke, die mich trafen, zeigten Angst oder ansteigende Panik, Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung. Fast, als wären sie bei Verstand... Aber das war natürlich unmöglich der Fall.

„Nun, er ist eben nicht doof.“, gab Pitt hervor und kratzte sich den blonden Kopf. „Nicht doof.“

„Nicht doof, nicht doof, darum geht es nicht!“, fuhr Charles ihn an, sofort wieder stinksauer. „Ein Idiot ist er! Lässt uns jedes Mal diese Scheiß Drecksarbeit machen!“

Ich zwang mich, die Verrückten nicht anzusehen und konzentrierte mich auf die Männer neben mir. „Charles?“, er sah mich an, als würde er mich umbringen wollen. „Charles, wollen wir nicht tauschen? Ich bin größer als du und es fällt mir leichter, die Tollen fest zu hal-…“

„Du nennst mich Zwerg?!“, schrie er wütend.

Ich hob abwehrend die Hände und wich einen Schritt zurück. Ich wollte alles, aber gewiss keine Prügelei auf einem solchen Fußboden! Zudem spürte und hörte man, dass unser Streit die Tollen nervös machte.

„Nein, nein, ich sagte nur, dass du Kleiner bist und-…“

„Du verfluchter Hosenscheißer!“, begann er zu schreien wie am Spieß. Ich nahm wahr, wie die Menschen um uns herum zusammen zuckten und sich klein machten. Als Charles vorsprang wich ich erneut zurück, ein wenig hinter Pitt und er tobte und fluchte. Pitt wusste gar nicht, wie ihm geschah. Sein Geist war scheinbar zu langsam dafür. Jedenfalls gab er beruhigende Worte von sich, die Charles nur umso mehr aufregten. Das Gute war, er hielt den Kleinen fest, so dass ich Abstand nehmen konnte. Ich wollte diese Zange nicht gebrauchen, auf keinen Fall. Aber was sollte ich tun? Charles regte sich zu schnell auf, er hörte nicht zu. Sobald das Wort ‚klein’ auch nur erwähnt wurde, reagierte er mit seinem Komplex darauf und drehte durch.

Stocken.

Mir fiel auf, was ich gedacht hatte: Das ‚Wort klein’. Und ich dachte an den Tag zuvor. An die Hausmutter, an meine Bemerkung und an Black und Vater Antonius. An die Macht, die Worte haben konnten, wenn man sie gut benutzte. Man konnte mit Worten Leute beeinflussen und manipulieren. Kämpfe konnte man kampflos gewinnen. Konnte man Menschen auch leiten?

„Charles.“, begann ich eindringlich und unheimlich demütig. „Bitte, verzeih mir, so war es nicht gemeint, so glaub mir doch!“

„So glaub mir doch?!“, schrie er und zappelte in Pitts Griff. „Dir ziehe ich die Ohren lang du verfluchter Scheißkerl! Wie war es denn dann gemeint, hä?! Hä?!“

„Es ist nur, du bist viel stärker als ich.“, ich fuhr mir durchs Haar, fast ein wenig unbeholfen und beugte mich ein winziges Stückchen. Ich folgte den Bewegungen und Gesten von Pitt. Dass ich nicht zu meiner vollen Größe vor ihm stand schien ihn zu beeinflussen, denn mit einem Ruck riss er sich los und sein Hemd zurecht, ging aber nicht auf mich los. Ein Zeichen, dass es funktionierte.

„Pass auf, was du sagst, kapiert?!“

Ich nickte demütig und entschuldigend. „Natürlich Charles, kapiert. Es tut mir leid.“

„Gib schon her!“, es machte den Zwerg aggressiv, dass ich so demütig war und das war gut. denn seine Aggressivität war anders, als sonst. Oberflächlich, autoritär und nicht aus Wut und Zorn. Er entriss mir die Zange und spuckte auf den Boden. „Waschlappen seid ihr!“, spielte er sich auf. „Alle beide!“

Ich schwieg betreten und sah zu Boden, als würde ich mich schämen. Ich gab ihm bewusst mehr Freiraum, damit er sich aufplustern konnte wie ein alter Hahn. Und er genoss es. Ohne es zu merken, hatte ich ihm meine schlechten Karten alle zugespielt. Nun musste ich nur aufpassen, dass ich entschied, wo die Grenzen waren und nicht er. Ansonsten käme ich aus dieser kriecherischen Position nicht mehr heraus und ich wollte auf keinen Fall ein zweiter Pitt werden.

Während er unbeholfen im Raum auf und ab ging und nach unserem ersten ‚Kunden’ suchte, erinnerte ich mich an die Worte des Zuchtmeisters.

„Leute wie dich, die gelehrt sind und Menschen wie Pitt, Charles oder solche Idioten ausnutzen, die mag ich noch weniger. Die find ich am schlimmsten.“

War ich so jemand? Hatte er Recht damit gehabt? Ich hatte mich unwohl gefühlt, als er das gesagt hatte, aber nicht angesprochen. Doch wenn es nichts mit mir zu tun hatte, wieso erinnerte ich mich nun daran?

Charles hatte eine geeignete Person gefunden. Ein junger Mann um die zwanzig, verdreckt und in einem langen Leinenhemd. Er wehrte sich nicht, sondern ließ sich aus dem Haufen ziehen und zu uns schieben.

„Hier, der erste.“, brummte Charles dabei.

Ich stand da und wusste weder ein noch aus, doch das musste ich nicht, denn scheinbar wussten die zwei bescheid. Pitt drückte den jungen Mann auf die Knie, dann kniete er sich hinter ihn und hakte seine Arme unter seine Achselhöhlen nach vorne, nachdem er ihm den Lederriemen in den Mund gesteckt hatte.

„Halt seinen Arm fest!“, befahl Charles mir. Ich schluckte schwer und ließ mich ebenfalls nach unten sinken. Unsicher tat ich, wie befohlen und umklammerte seinen rechten Arm. Der Junge starrte uns verängstigt an, dann die Zange. Als er begriff, was ihm blühte, war es bereits zu spät. Er zappelte und wehrte sich, doch er hatte keine Chance. Seine Schreie gingen unter, wurden zu Wimmern und dann wieder zu Schreien. Ich schloss die Augen. Meine gesamte Konzentration galt nur dem Festhalten, nur dem Arm. So ging es immer weiter. Nach dem Mann kam eine Frau, nach der Frau ein weiterer Mann und ab und an ein Kind oder eine andere Frau. Mir fiel auf, dass viele rothaarig waren, Hexen. Es waren nicht viele, die wir behandelten, aber es waren genug um mich nervlich in den Ruin zu treiben. Foltermeister mussten herzlose Wesen sein oder ein Herz aus Stein besitzen. Ich zerbrach schon daran, ihnen Nägel herauszureißen – beziehungsweise, nur dabei zu helfen. Mit Erschauern merkte ich, dass es mir von Mal zu Mal leichter fiel. Ich begann mich daran zu gewöhnen und das machte mir solche Angst, dass ich mir nur umso mehr wünschte, dass wir endlich enden konnten. Manche von ihnen sprachen, bettelten, flehten, andere gaben nur verrückte Laute von sich oder reagierten nur, wenn es gerade geschah. Es war schrecklich und wirkte so fantastisch, dass ich mich fühlte, wie in einem Albtraum.

Als die Tür aufgeschlossen wurde, ließ ich die Frau zwischen uns einfach los. Sie nutzte die Chance und schlug wild um sich, hysterisch weinend und schreiend. Pitt fiel rücklings nach hinten, sie auf ihm und ehe wir uns versahen, flüchtete sie laut wimmernde Menge zurück.

Charles verfluchte mich und schlug mich dafür, aber das war mir gleich. Der Zuchtmeister war da, es war vorbei, die Arbeit war getan.

Zitternd stand ich auf. Egal wie viel Mühe ich mir gab, ich schaffte es nicht kalt zu sein.

„Wie viele?“, fragte er nur und nahm uns die Zange und den Riemen ab.

„Zehn oder Elf.“, brummte Charles.

„Nicht viele.“, der Zuchtmeister war unzufrieden, aber mehr sagte er nicht. „Erstmal Pause, helft beim Essen.“

Charles spuckte aus, aber ich glaube, er tat nur so stark. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihn all dies hier kalt ließ. Bei Pitt schon, er war dumm. Aber bei Charles nicht. Als ich den beiden hinaus folgen wollte, schob der Zuchtmeister mich jedoch zurück.

„Du nicht.“

„Was? Wieso nicht?“

„Du bleibst hier.“, er nickte hinter mich. „Du hast die letzte versaut. Dafür sammelst du die Nägel und Hautfetzen ein. Ich will nicht, dass hier noch mehr Ratten kommen. Und morgen früh schiebst du den Dreck zusammen, hier hat sich schon wieder viel zu viel gesammelt.“

„Was?!“, ich starrte ihn an, als wäre er verrückt geworden. „Ich soll was?!“

„Du hast es verstanden. Na los.“, ich kam mir vor, als würde ich vor Wilkinson stehen. Doch es half nichts. Ich musste tun, was er sagte und er hatte Recht: Ich hatte die letzte versaut.

Ich könnte meine Redekunst an ihm erproben, aber der Zuchtmeister war nicht der Charakter dafür. Er hörte nicht zu, er ging einfach. Bei jemandem wie ihm musste man höher stehen oder eine Basis dafür geschaffen haben und das hatte ich nicht - Noch nicht.

Als ich mich umdrehte, schloss man die Tür ab und ich war allein unter endlos vielen Augen. Sie sahen mich an, heimtückisch, ängstlich, müde, erschöpft, schmerzerfüllt, weinend, lächelnd, grinsend, wahnsinnig und fragend. Alles war vertreten und änderte sich fast sekündlich. Es herrschte Totenstille. Wie immer, wenn der Meister persönlich vorbei kam. Und nun, wo ich alleine hier war, herrschte scheinbar Verwunderung.

Doch etwas war anders, etwas war nicht still. Ich bemerkte es erst nicht und hielt es für eines dieser typischen Pfeiflieder, die man manchmal im Ohr hatte. Nur langsam dann erkannte ich eine Art Melodie, eine Stimme und ein Summen.

Jemand summte. Ich ging einen Schritt auf den blutbesprenkelten Boden zu und lauschte. Die Musik lockte mich an, wie die Musik eines Zirkus’, wenn die Kinder hinter her rannten.

Eine Frau war diejenige, die dieses Lied von sich gab. Sie saß in der hintersten Ecke, wie alle in einem Nachthemd und mit kurzem Haar, wobei ihres aber bereits wieder etwas nachgewachsen war. Es war golden, schimmerte jedoch manchmal rötlich und ließ ihre Haut unheimlich weiß strahlen. Im Licht des Fensters wirkte sie fast wie ein Engel ohne Flügel und ich war unglaublich fasziniert von ihr. Als man merkte, dass die Folter vorbei war, schenkte man mir kaum noch Beachtung. Leises Winseln begann, einige flüsterten leise mit sich selbst oder wippten auf und ab. Ich nahm es nicht wahr, ich sah nur sie an.

Wie sie da saß, die Beine angezogen, das Hemd darüber gestülpt, die Arme darum geschlungen und mit wunderschönen, strahlend grünen Augen.

Ohne es zu merken war ich immer näher gegangen und stand nun fast unmittelbar vor ihr. Erst jetzt verstummte sie und sah mich an. Ihr Blick war seltsam, weder unfreundlich, noch freundlich. Ihre Augen waren einfach nur da, ohne Ausdruck, aber zugleich nicht ausdruckslos. Einfach nicht deutbar, als würde es dafür noch kein Wort geben.

„Verzeiht, mein Prinz, ich habe die Nachtigall schon wieder zu viel gefüttert.“, flüsterte sie heiser. Ich nickte, warum auch immer. All das wirkte so unreal, als wäre ich ganz woanders. Es hatte etwas Mystisches, etwas Vertrauliches und zugleich Fremdes. „Das macht nichts.“ Ich spürte, dass da etwas war, dass sie anders war. Etwas zog mich an, aber ich verstand nicht, was. Als sie antwortete strich sie über ihre Knie, die unter ihrem Nachthemd waren. Die Frau hatte schlanke Finger, wenngleich auch verunstaltete und sie verrieten mir, dass sie unheimlich jung war. Jünger, als ihr gegerbtes Gesicht voller Schmutz, blauer Flecken und verkrustetem Blut es zeigen mochte.

„Das ist gut. Denn wenn man Küken zu viel füttert, sterben sie irgendwann.“

Ich stellte den Kopf schief, als könnte ich sie dann besser verstehen. Immernoch musterte ich sie und versuchte mir vorzustellen, wie sie wohl ohne all den Dreck aussehen mochte.

„Mein Prinz.“, die Frau lächelte, fast, als hätte jemand einen Witz gemacht. „Küken wissen nicht, wann sie satt sind. Das müssen die Eltern für sie entscheiden. Deswegen. Ach, mein Prinz, mein Prinz…“, sie seufzte. Einige Sekunden sagte sie nichts mehr und ich dachte, sie wäre in Gedanken woanders, doch dann schmunzelte sie nur erneut: „Bei Kuckuckskindern weiß man das nicht so recht. Oder, mein Prinz? Also, wer die Eltern sind?“

„Doch.“; grinste ich. „Man weiß doch, dass es ein Kuckuckskind ist, also müssen Vater und Mutter Kuckucks sein. Oder heißt es Kukucke?“

Nun lachte sie. Es klang wie eine Glocke, nur leiser und sanfter. In einem solchen Raum zu lachen erschien unheimlich verquer, so dass ich grinsen musste, obwohl ich es eigentlich fast schon wieder traurig fand. „Recht hat er, das hat er wohl.“

„Sullivan?!“, unterbrach uns eine Stimme. Ich zuckte zusammen, ebenso wie sie. Aber anders, als die Fremde, machte ich mich nicht klein und schloss meine Ohren, sondern drehte mich nur herum.

„Ja, Herr?“

Der Zuchtmeister war finster, fast wütend. „Komm raus, sofort! Habe ich dir nicht gesagt halte dich fern von ihr?! Und deine Arbeit?! Ignorierst du mich, du vermaledeiter Hund?!“

„Nein, ich-…“

„Raus, sage ich! Oder soll ich abschließen?! Ich sollte dich hier verrecken lassen, du verfluchter-...!“

Als ich den Raum verließ und er wütend die Tür zu knallte, hörte ich, wie das Schloss knackte. Erst ein Mal, dann zwei Mal, dann ein drittes Mal. Er schob mich mürrisch den Gang entlang, sehr grob und schmerzhaft. Hinter uns erklangen Wehklagen und Jammern, wie zuvor.

Das und eine wunderschöne, gesummte Melodie…

Fragen

Ich saß lange auf meinem Schemel, mit dem Kopf wieder an eines der Gitter gelehnt und starrte hinaus. Charles und Pitt unterhielten sich oder eher: Charles redete und redete, Pitt hörte zu und nickte ab und an. Der Zwerg hatte miese Laune. Er ließ sich groß über den Zuchtmeister aus, die Hausmutter, die Irren und auch über mich. Ab und an machte er abfällige Bemerkungen und sah mich an, in der Hoffnung mich anzustacheln. aber ich reagierte nicht annähernd. Mit meinen Gedanken war ich überall, nur nicht dort. Sie kreisten um Black, um die Fahrt, mein Aufbruch im Kloster, meine Auseinandersetzung mit Charles im Tollzimmer. Und um die Frau…

Sie wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wenn sie wirklich verrückt war, wieso war dann eine Verständigung möglich? Wieso verstand sie mich? Mir kam der Gedanke, dass, wenn man mich da einsperren würde, ich sicherlich auch verrückt werden würde. Ich stellte mir vor, wie ich auf dem verdreckten Boden saß, nur in einem Hemd, vor Kälte zitternd. Dachte daran, wie Charles, Pitt und der Meister mir die Nägel heraus rissen. Und wie, egal was ich sagte, alles ignoriert wurde, wie mir keiner zuhörte. Ich würde durchdrehen, ich würde alles tun um da heraus zu kommen. Und ich würde es sicher nicht schaffen und nur noch verrückter werden.

War die Frau so jemand? Konnte das passieren? Dass man Leute für verrückt hielt, obwohl sie es nicht waren? Ab wann war man überhaupt verrückt?

Ohne mich eingehend damit zu befassen hatte ich es einfach drauf angelegt und Charles versucht zu manipulieren. Und es hatte geklappt! Er hätte mich genauso gut tot prügeln können. War ich nun verrückt?

Ich war im Kloster gewesen und hatte es verlassen, nur um mit Piraten drei Monate lang herum zu segeln. Dort hatte ich einen Mann getötet, einen zweiten aus Versehen und seine Leiche habe ich in eine Kiste gesperrt. War ich nun verrückt?

Ich arbeitete in einem Tollhaus lieber, als dass ich darunter im Gefängnis säße. Zudem begann ich eine Unterhaltung mit einer Tollen und dachte auch noch darüber nach, dass sie vielleicht gar nicht verrückt war. War ich verrückt?

Ich musste verrückt sein!

Aber vielleicht war es auch nur die Milz. Vielleicht beeinflusste sie mich, brachte mich durcheinander. Wie die Beeren, die ich als Kind gegessen hatte, zusammen mit älteren Jungen des Heims. Sie hatten sie mir in den Mund gesteckt und plötzlich fantasierte ich von bunten Schmetterlingen und einem Wildschwein. Aber was, wenn jemand sagte, ich wäre toll und ich konnte nicht widersprechen, weil ich nicht zugeben konnte, dass ich Beeren klaute? Was dann?

Würde man mich dort einsperren und käme ich nie wieder heraus? So wie die Frau?

Oder kam man heraus, irgendwann?

Ich wurde immer müder und die Stimme von Charles klang weit entfernt und fast einlullend. Erschöpfung machte sich in meinem Körper breit und umhüllte meinen Geist. Immer mehr driftete ich ab und begann zu träumen, bis ich letzten Endes vollends einschlief. Wieder fragte ich nicht nach einem Schlafplatz. Stattdessen träumte ich vom Tollzimmer, wie ich darin war und nicht mehr heraus kam. Die fremde Frau sang die ganze Zeit „Mein Prinz, mein Prinz“ und irgendwann dann krachte die Decke herunter. Die Kinder des Heimes purzelten hinab wie Hagelkörner und dann war das ganze Zimmer voll und wie hämmerten und klopften, aber keiner lies uns heraus. „Tolle!“, schimpften die Hausmutter und der Zuchtmeister durch die Fenster. „Ihr seid Tolle!“ Die Kinder schrieen und weinten, weil sie ihr gesamtes Leben dort verbringen mussten. Wir begannen wütend zu werden, so wie an Bord der Caroline, weil es so eng und so voll war. Alle prügelten sich, schlugen sich und rissen sich die Nägel aus, während Käse lachte und durch seine Zahnlücke pfiff

Irgendwann war ich an der Reihe. Ich schrie und zappelte, doch alle hielten mich fest und ich hatte keine Wahl, als es über mich ergehen zu lassen. Als es vorbei war rettete ich mich in die hinterste Ecke, weinte und wimmerte, voller Blut und unter Schmerzen.

„Ich bin nicht verrückt…!“, flüsterte ich immer wieder. „Ich bin nicht verrückt…!“

„Das sagen alle Verrückten!“, lachte der Esel daraufhin und auch er war da. Mein Hals schmerzte und war ungemein trocken. Der Schimmel, der Staub, all das trocknete mich aus und ich bat um Wasser.

„Tolle haben keinen Durst.“, sagte die Stimme der Hausmutter. „Tolle sind nicht durstig.“

„Wasser… Bitte… Wasser…!“

Dann traf mich etwas Nasses mitten ins Gesicht.

Als ich hoch schreckte lag ich auf dem Boden, geblendet im Licht des Fensters. Charles und Pitt standen neben mir und sahen grinsend zu mir herunter. Verwirrt blinzelte ich zu ihnen hinauf und hob die Hände, um mich vor der Sonne zu schützen. Sie war angenehm warm, aber zugleich viel zu hell. Ich war vom Schemel gerutscht und hatte so fest geschlafen, dass ich es nicht mal gemerkt hatte. Benommen registrierte ich, dass der Zwerg lachend seine Hose schloss. Ich sprang sofort in Sitzposition.

Angewidert fuhr ich mir über das nasse Gesicht und wischte alles so gut es ging mit meinen Ärmeln ab. „Was soll das?!“, meine Stimme war mehr verwirrt, als aggressiv. Aber wach war ich jetzt ohne Frage. Dennoch war ich wütend, ungemein wütend, mehr als nur zornig. Mein Kopf schmerzte mehr als zuvor und ich war todmüde, fast, als hätte ich vor lauter träumen vergessen zu schlafen.

„Hast doch nach Wasser gefragt, kleiner Scheißer.“, lachte er. Pitt grinste nur. Angewidert rappelte ich mich hoch. „Bist du bescheuert?!“

„Ich?!“, fuhr der Zwerg mich an. „Ich wollte nur freundlich sein!“

Ich konnte gar nicht mehr aufhören, mich über das Gesicht zu wischen. Dann sah ich auf meine Hände, rümpfte die Nase und die Wut packte mich noch mehr.

„Entschuldige dich gefälligst!“, schrie ich ihn an. Charles drehte sich zu mir, als hätte ich einen Witz gemacht.

„Was?!“

„Du hast mich verstanden, du Giftzwerg!“

„Du wagst es mich zu beleidigen?!“, seine Stimme wurde ein aggressives Quietschen.

„Du bist eine Beleidigung, durch und durch! Du verfluchter Gnom!“

Er starrte mich an. Charles wirkte, als würde er jeden Moment tot umfallen. Er starrte und starrte und mit jeder Sekunde wurde das Rot in seinem Kopf stärker. Erst hell rosa, dann dunkel und purpurn. Er ballte die Fäuste und gab ein leises, gepresstes: „Du verdammter…!“ hervor und dann sprang er mir entgegen. Noch ehe er mich wirklich erreichte trat ich zu und er knallte mit voller Wucht gegen den Tisch. Es schien ihn nur noch mehr anzuheizen. Was genau danach passierte, weiß ich nicht mehr, aber es muss ein unglaubliches Chaos gewesen sein. Pitt war völlig überfordert. Wenn er es schaffte Charles zurück zu ziehen, dann stürzte ich vor und wenn er mich packte, sprang Charles mir an die Gurgel.

Wir prügelten uns wie kleine Kinder, nur heftiger. Blutige Nasen, blaue Flecken und Prellungen sollten später davon zeugen. Der Tisch krachte in sie zusammen und die Schemel knallten gegen die Wände oder wurden umher geworfen. Der hilflose Pitt gab irgendwann auf, aber wie sollte er uns ausweichen? Aus dem Zimmer kam er schließlich nicht und so bekam auch er so einiges an Schlägen ab.

Irgendwann dann wurden wir auseinander gezogen. Wie sie rein gekommen waren wusste ich nicht, aber plötzlich standen der Zuchtmeister und drei Rotröcke vor mir. Er redete, fluchte, gab mir Ohrfeigen – Charles ebenso – aber ich hörte gar nicht zu. Ich zappelte und schrie nur wutentbrannt. Ich beruhigte mich nur langsam und die Schläge verhalfen eher zum Gegenteil. Irgendwann hielt ich schnaubend still und lies auf mich einreden, aber wie ein wild gewordenes Tier starrte ich die ganze zeit nur Charles an. Er tat es mir gleich.

Während man mich hinauszerrte wurde mit unfreundlichem Nachdruck klar gemacht, dass man mich jederzeit ins Gefängnis stecken könnte. Ich sollte hungern und wenn ich auch nur ansatzweise aus der Reihe tanze, dann würde es Prügel setzen und zwar richtig.

Ich verstand nicht, was der Zuchtmeister wollte, denn immerhin hatte ich diesen Streit nicht begonnen, aber er hörte mir wie immer nicht annähernd zu. Ich sollte den Hof kehren, dann das gesamte Armenhaus fegen. Ganz gleich, ob Kinderheim, Krankenhaus oder Gefängnis. Ich sollte fegen, bis er mir erlaubte aufzuhören und das tat ich. Mürrisch, wütend und den ganzen Tag gereizt. Allem Anschein nach hatte Charles gewonnen – denn bevor ich hier war, war ja alles ruhig. Ich war also der Übeltäter, ich sorgte für Unruhen, ich war derjenige, der Streit anfing.

Diesen Tag werde ich niemals vergessen. Noch nie hatte ich einen Gegenstand so sehr gehasst, wie diesen Besen. Als alle zum Essen gerufen wurden stand ich nur da und kehrte. Die Verführung, von den Beeren zu essen war so unheimlich groß. Ich war erschrocken, wie wenig ich noch an das Hungern gewöhnt war, aber viel mehr beschäftigte mich die Tatsache, dass der Zuchtmeister mir ins Gesicht geschlagen hatte. Sobald ich nur den Mund aufgemacht hatte, hagelte es ohrfeigen. Es demütigte mich. Ich war kein kleiner Junge, ich war ein ausgewachsener Mann. Er hatte kein Recht dazu, mich so respektlos zu behandeln! Nicht einmal Black hatte mir direkt ins Gesicht geschlagen! Aber er hörte nicht auf und meine Wange wurde von Stunde zu Stunde blauer.

Spät in der Nacht erst durfte ich aufhören. Ich sprach kein Wort mit ihm und er keines mit mir und als ich das Zimmer betrat, knallte ich die Tür lautstark zu. Charles und Pitt hatten geschlafen und fuhren in sich zusammen, schwiegen jedoch. Der Gedanke, alles mit Worten zu regeln wich erst einmal in den Hintergrund. Mein geschwollenes Gesicht hielt mich einfach davon ab, alles mit Intelligenz regeln zu wollen.

Ich nahm keine Rücksicht auf die beiden. Den Schemel schabte ich lautstark über den Boden und das Fenster knallte ich krachend zu, aber keiner von uns fing einen erneuten Streit an. Das stellte mich zufriedener, denn scheinbar hatte man auch ihm gedroht.

Die nächsten Tage verliefen unheimlich ruhig. Keiner von uns machte den Mund auf und auch ich antwortete nur knapp. Mein Stolz war angeknackst, ich verzieh dem Zuchtmeister sehr lange nicht. Die Arbeit im Tollzimmer setzte mir immer mehr zu, aber ich gab mir Mühe mir nichts anmerken zu lassen. Ab und an, wenn neue kamen, mussten wir ihnen die Nägel kürzen oder die Haare schneiden. Diese steckten wir dann in einen kleinen Sack, für Perücken. Perückenmacher holten sie später ab oder schickten einen Jungen um es zu tun. Das wenige Geld bekam die Hausmutter, wofür weiß ich nicht. Irgendwann gab es eine Art Ausstellung der Tollen. Manche wurden ausgesucht, meist jene mit Verunstaltungen oder verzerrten Gesichtern. Leute aus der Stadt kamen, um sie zu betrachten, für ein paar Heller. Es war ein erschreckendes Schauspiel, wie sie lachten, die Kinder sie anstarrten oder Witze darüber rissen. Keiner konnte ahnen, wie schlecht es den Menschen hier erging und es schien auch niemanden zu interessieren. Wir säuberten sie mit kaltem Wasser und bewachten sie, zusammen mit einigen Rotröcken. Umso länger ich arbeitete, desto stärker wurde für mich die Tatsache, dass sie keine Menschen waren. Ich musste ihnen Essen geben oder Trinken. Nicht viel, da Tolle Hunger und Durst nicht kannten, aber genug um zu leben. Sie wirkten wie Tiere auf mich. Jeder von ihnen schlang es herunter, ganz gleich, ob sie den Brei mit zwei Fingern in den Mund führen mussten. Nur sie war anders, die Frau. Wir sprachen nicht mehr, es bot sich keine Gelegenheit. Ich durfte nicht mehr allein in das Zimmer hinein, diese Chance hatte ich scheinbar verspielt. Dennoch wirkte sie weiterhin ihren geheimen Zauber auf mich. Wenn ich ihr Essen gab, bedankte sie sich leise bei mir. Manchmal kam es sogar vor, dass sie Witze machte und leise flüsterte: „Mhm, diese Kost ist ja ein wahrer Genuss.“ oder „Breireste? Mein Leibgericht!“

Ich mochte ihren Humor, der sehr sanft und leicht war, fast wie sie selbst auch auf mich wirkte und mit der Zeit bekam ich Furcht, mich in sie verliebt zu haben. Ich betrachtete sie immer wieder und entdeckte jedes Mal etwas Neues an ihr. Mal einen Leberfleck, dann Sommersprossen. Eine kleine Narbe an ihrem linken Knie oder dunkelbraune Striche in ihren grünen Augen.

Sie begann leise Dinge vor sich her zu murmeln, wenn ich im Raum war und ich verstand, dass es Rätsel waren. Diese Rätsel und Sprüchlein, Reime und Verse lenkten mich von an Albträumen ab. Ich dachte stundenlang über ihre Worte nach und versuchte herauszufinden, wer sie war oder woher sie kam, doch weder der Zuchtmeister, noch die Hausmutter, noch Charles und Pitt kamen mir dabei entgegen.

Eines Abends sollte ich Wasser holen und ich nutzte die Chance mit dem alten Esel zu reden.

Er saß wie immer auf seinem Stuhl und mir kam der Gedanke, dass er sich nur für das Essen bewegte. Der alte Esel erkannte mich sofort wieder und klopfte freudig auf den Schemel neben sich. Ich war erst unsicher, da die Hausmutter anwesend war, aber sie ignorierte mich. Die alte Frau schnaubte nur verächtlich und ging dann mit schnellen Schritten hinaus. Sie konnte mich nicht ausstehen, das war offensichtlich.

„Da ist er ja wieder.“; grinste der alte Mann dann. Diesmal hatte er keine Pfeife. Er saß einfach nur da und schaute dem Mäusefänger zu, der sich auf dem Tisch putzte.

„Ja, da bin ich wieder.“, ich lächelte. Das freundliche Gesicht des Mannes war eine Abwechslung, die mir sehr gefehlt hatte.

„Was kann ein Esel für dich tun, Junge?“

„Nun… Es geht um die Tollen, Großväterchen.“, diesmal verzichtete ich darauf, ihn Herr zu nennen. Ich glaubte, dass der Mann darauf keinen Wert legte.

Er lachte und ich sah seinen zahnlosen Mund. „Die sind schon toll, die Tollen, was? Tolle Burschen und Weiber, allesamt!“

„Ja, besonders eine.“, ich nickte und beugte mich eindringlich zu ihm vor. „Esel, ich brauche deine Hilfe.“

„Nun nennst du mich auch schon Esel!“, stöhnte er nur und wischte sich über die Halbglatze. „Bei Gott, gelten Namen denn gar nichts mehr?“

Ich sah ihn unsicher an. „Entschuldigung, ich wollte nicht beleidigend sein. Du hast mir nur den Namen Esel gesagt, was soll ich stattdessen für einen Namen nehmen?“

„Namen sind wie Schall und Rauch, mein Junge, es bleibt dabei. Ich bleibe wohl ewig der Esel.“, der Alte lachte und legte die Hände auf seinen Bauch. „Aber weißt du, Tolle bleiben auch ewig Tolle. Halte dich fern, mein Junge, sonst verlierst du ihn noch.“

„Aber das geht nicht.“, versuchte ich zu erklären. „Sie ist wunderschön, un-…“

Sein Lachen unterbrach mich. „Wunderschön?! Wer, die Tolle?!“

„Nicht so laut! Es ist nur, ich würde gern mehr über sie wissen und du bist doch schon so lange hier… Und etwas ist anders, keiner mag über sie reden.“, ich sah nachdenklich zu Mäusefänger. Dieser starrte mich an, mit großen und grünen Augen. Sein Blick verunsicherte mich, Tiere waren mir manchmal nicht geheuer. Wir starrten uns an, dann reagierte er. Er senkte den Kopf, als wollte er losgehen, starrte mich wieder an und tat es erneut. Als sei er unsicher, ob er sich wirklich bewegen wollte. Ehe ich mich versah lag er auf meinem Schoß, rollte sich zusammen und schnurrte vor sich hin. Ich streichelte ihn gedankenverloren. „Es muss einen Grund geben, dass alle Stillschweigen bewahren, meinst du nicht? Egal wen ich frage, alle sagen nur, halt dich fern, halt dich fern. Irgendetwas stimmt da nicht.“

„Du denkst zu viel nach, Kleiner.“, antwortete der Esel ernst nach einigen Sekunden. Er sah zu, wie ich den Kater liebkoste, dann sah er mich an. Seine wässrigen Augen wirkten unheimlich tief im Dämmerlicht der Kerzen, die an der Wand angebracht waren. „Viel zu viel. Wenn man zu viel nachdenkt, dann häufen sich die Gedanken und fließen aus den Ohren raus. Und dann hast du lauter gelbe Suppe in den Ohren und hörst nichts mehr und kriegst nichts mehr mit. Und dann reden wir mit dir und du hörst nicht und alle denken, du bist schwachsinnig. Willst du das?“

„Natürlich nicht…“, ich stockte. Hatte er mir überhaupt zugehört?

„Na also. Also denk weniger nach. Und rede nicht so viel. Weil dann müssen alle zuhören und dann häufen deine Worte sich auch noch bei ihnen im Kopf und dann werden sie auch ganz krank und verrückt. So wie die Tollen und dann reden sie den ganzen tag wirr, weil sie alle deine Worte loswerden wollen und keiner versteht sie, weil sie alles durcheinander bringen.“

„Was?“, ich starrte ihn an. „Ist das wirklich so? Wollen deswegen alle, dass ich weniger rede?“

Der Esel nickte eindringlich. „Natürlich oder willst du behaupten, dass ich lüge?“

„Aber das ist doch Unsinn.“, merkte ich vorsichtig an. „Worte sind nur Luft, die können in keine Köpfe. Ich glaube, die Leute mögen es nicht, wenn ich rede, weil sie Angst haben, ich dominiere sie damit.“

„Ach papperlapapp!“, der Esel wirkte beleidigt. „So ein Unsinn! Wegen der gelben Suppe, deswegen!“

„Ja, vielleicht.“, ich musste schmunzeln. „Aber auch, weil die, die viel sagen, meist mehr Macht haben. Das Sagen haben, verstehst du, Großväterchen?“, der Alte war beleidigt, dass ich seine Theorie einfach so anzweifelte. Wie ein kleines Kind sah er mich schmollend an und er hatte keine Lust mehr, darüber zu sprechen. Kurzerhand wechselte er einfach das Thema, als hätte ich nie etwas gesagt und grinste:

„Also, wer ist denn die Tolle?“

„Das weiß ich eben nicht.“, flüsterte ich leise. „Sie ist wunderschön und sehr nett und gar nicht toll- Nur etwas wirr.“

„Nur etwas wirr?“, er zog seine buschige, graue Augenbraue hoch. „Nur etwas wirr?“

„Ja, nicht…so verrückt eben, wie die anderen.“

„Wo ist der Unterschied zwischen wirr und verrückt?“

Ich stockte erneut und einige Sekunden wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Dann nickte ich. „Stimmt, ab wann ist man eigentlich verrückt? Das frage ich mich in letzter Zeit oft.“

„Oh nein!“, stöhnte er gedehnt. „Es geht schon los, das Verlieren. Nun denkst du ja schon wieder nach und redest ganz viel, ich sehe sie schon, die Suppe und die Kekse und alles vorbei und ersoffen wie Hunde! Junge, pass bloß auf, sonst ist es aus und du steckst tief drin. Denk an das Auge der Königin und den Pudding, mein Junge, denk daran!“

„Tue ich ja, aber ich möchte es so gerne wissen! Wer entscheidet, dass man verrückt ist, Esel?“

„Esel nennt er mich!“, er fuhr sich über die Halbglatze wie zuvor. „Esel!“

„Bitte, Großväterchen, sag es mir! Ich habe keinen zum Reden, keinen zum Fragen stellen, wenigstens du musst mir doch etwas sagen können.“

„Der Richter sagt das. Der Richter und der rote Hase.“

„Roter Hase?“

Der Esel nickte eifrig. „Ja, ja, ganz recht, rot mit weißen Flecken und Eisenkarotte.“

Ich sah ihn verwirrt an. Doch dann verstand ich. „Rotröcke?“

„Hasen. Allesamt. Hasen.“

Ich begann zu grinsen. „Weil sie feige sind und immer den Mund halten oder wieso?“

„Si hoppeln wild im Kreis, treiben es mit jedem und wenn’s drauf ankommt, verpissen sie sich – aber lauschen, das können sie gut!“, tief Luft holend sah er zum Mäusefänger hinunter. Der kleine Kater schnurrte. Ich fragte mich, ob er schlief oder ob Katzen nur im Wachsein schnurrten

„Wie auch immer, er sollte vorsichtig sein.“

Ich seufzte leise. „Also weißt du auch nichts über die Tollen? Schade…“

„Ja, ja… Ja, ja…“

Einige Sekunden schwiegen wir, dann stand ich auf und füllte einen Topf mit Wasser. Vorsichtig stellte ich ihn in den Ofen. Mausefänger sah mich vorwurfsvoll an, als hätte ich ihn nicht herunter werfen dürfen, ehe er hinausstolzierte wie ein König, der jemanden wie mich ohnehin nicht nötig hatte. „Weißt du, Esel, ich bin nun schon seit drei Wochen hier.“, versuchte ich dann mein Glück mit einem anderen Thema. „Hast du vielleicht Kenntnis darüber, wie lange ich noch hier bleiben muss? Wann komme ich endlich vor den Richter?“

„Das weiß nur der Teufel.“, ich drehte mich wieder zu ihm. Der Esel sprach langsam und leise, fast, als würde er jeden Moment einschlafen. Und das tat er wohl auch. Der alte Mann hatte die schmalen Augen geschlossen und driftete immer mehr ab. „Wenn das überhaupt jemand weiß. Denk nur an die guten Schuhe. Die wussten das ja auch nicht.“

Ich antwortete nicht, sondern konzentrierte mich auf mein Wasser. Schweigend nahm ich es heraus und trug es vorsichtig zum Zuchtmeister, darauf bedacht, den Esel nicht zu wecken.

Es war zum Verzweifeln. Keiner wollte oder konnte mir weiter helfen. Keiner hatte Antworten und niemand wollte Fragen hören. Was war denn bloß los mit diesen Menschen?

Warum weigerten sie sich so strikt dagegen, Ohren, Mund und Verstand zu gebrauchen? War es denn Sünde, über sein Leben nachzudenken und über all das, was geschah?

Jeder fürchtete die Gegenwart, aber wie sollte es dann in der Zukunft anders werden?

Jeder hatte Angst bestraft, zum Ketzer oder für verrückt erklärt zu werden. Aber wenn niemand etwas riskierte, wie sollte es sich dann verbessern?

Die nächsten Tage verliefen ruhig, fast zu ruhig. Durch die Sommerhitze starben einige der Tollen an Hitzschlag. Es nahm mich mit, so viele Tote hinaus schleppen zu müssen. Es war ein schrecklicher Anblick, sie draußen, bei Tageslicht, zu sehen: Leichenblass, abgemagert und zerlumpt. Jeden Tag hatte ich Angst, sie wäre dabei, sie wäre unter ihnen. Aber nichts dergleichen geschah.

Charles wurde immer aggressiver. Ich wusste nicht, was er verbrochen hatte, aber auch er konnte die Wartezeit nicht ertragen. Er ließ seinen Frust immer mehr an Pitt und mir aus. Letztlich wurde es so stark, dass er begann die Tollen zu schlagen oder zu treten. Keiner sagte etwas, es stand uns nicht zu und dem Zuchtmeister war es schlichtweg egal. Aber als er anfing eine der Frauen zu bedrängen, mischte ich mich ein. Ohne zu wissen, wieso, hielt ich ihn zurück und verteidigte sie. Er lachte darüber. Ich sei krank, einen Tollen zu verteidigen, der ja nicht einmal mehr ein Mensch war.

Ich konterte mit Bemerkungen, dass ich es einfach nur widerwärtig fand, dass er es mit solchen Gestalten treiben wollte, in solch einem Umfeld. Dass es unmenschlich wäre und unter unserer Würde. Aber in Wahrheit taten mir diese Gestalten einfach nur Leid.

Und da konnte ich es mir noch so oft sagen, wie wertlos und unmenschlich sie doch waren:

Sie waren und blieben Menschen...

Verstehen

Ich wurde immer ruhiger, desto wütender er wurde und in Gedanken driftete ich immer mehr ab. Meine Milz hatte sich beruhigt, nur ab und an stach sie und holte mich in die Realität zurück. Ich weiß nicht, ob man für kurze Zeit verrückt sein kann, aber wenn ja, dann war ich es. Ich verbrachte die Nächte auf meinem Schemel, an dem Bett hatte ich kaum noch Interesse. Stattdessen dachte ich nach und dachte. Das Schweigen machte einen anderen Menschen aus mir. Ich hatte niemanden zum Reden, das veränderte mich. Zum Esel konnte ich nur selten und selbst wenn, so war er in Gesprächen nicht sonderlich eloquent und der Zuchtmeister, Charles oder Pitt waren alles andere, als geeignete Gesprächspartner.

Stattdessen lauschte ich ihnen und stellte immer mehr Dinge fest, die ich zu nutzen lernte, ohne es zu registrieren. Ich beobachtete die Menschen um mich herum. Sowohl den Meister, als auch die Hausmutter, sowohl Charles, als auch Pitt. Ich begann bei jedem anders zu sein. Während ich zu Pitt ein freundliches Verhältnis aufbaute, war ich bei der Hausmutter höflich und zugleich feindlich, beim Zuchtmeister stark distanziert und beim alten Esel nett und redselig. Ich spielte mit diesen Masken herum und erprobte es auch bei den Tollen. Manchmal kam ich als strenger Aufseher hinein, manchmal als freundlicher Gehilfe und ich lernte, wie was auf die Außenwelt wirkte. Ich verschaffte mir Respekt und zugleich Vertrauen, ähnlich wie Black.

Auch die Fremde bemerkte meine Veränderung und sagte einst nebenbei, während ich ihr Essen gab: „Mein Prinz scheint sehr verspielt zu sein.“

Ich grinste nur. Diese Bemerkung zeigte mir, was ich längst wusste:

Sie war anders. Sie hatte andere Augen, andere Sinne. Sie nahm Dinge war, die andere nicht registrierten. Sie war wie ich, nur anders.

Charles verschwand irgendwann, wohin, wussten wir nicht. Wahrscheinlich kam er zu einem Richter. Drei Tage später war er zurück, allerdings ein Stockwerk tiefer, was Pitt sehr mitnahm. Ich glaube, die zwei waren Brüder, aber wissen tue ich es nicht. Er war sehr still, aber als Charles weg war, war er noch stiller. Ich versuchte ihm näher zu kommen und zum Reden zu bewegen, aber er tat es nicht. Interessanterweise war es fast ein komplett anderer Mensch. Ohne Charles konnte er sich nicht durchsetzen. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, dass Charles ihn abgerichtet hatte. Pitt tat, was immer er wollte, denn ohne ihn war er ein Nichts. Dass er das allein Charles zu verdanken hatte, war ihm nicht klar. Ihm war nur klar, mit Charles war er etwas und dafür musste er dankbar sein.

Es fiel mir schwer, an ihn heranzukommen. Wenn ich es schaffte, blockte er ab, aus Angst, Fehler zu machen oder aber er konnte mir nicht folgen. Er war sehr langsam und verstand manchmal von vorneherein alles falsch.

Ohne Charles war die Arbeit weitaus schwerer. Der Zuchtmeister half uns nun, mürrisch und mies gelaunt. Seine Brutalität verlieh mir Gänsehaut. Es gab Tage, da war er so gereizt, dass er wahllos irgendwelchen Verrückten Schläge verpasste, wenn sie nicht schnell genug aus dem Weg waren. Er prügelte regelrecht auf sie ein und wir konnten nichts tun, als zusehen. Generell besserte sich meine Zeit dort nicht im Geringsten, aber seit Charles weg war, hatte ich mehr Gelegenheiten, mit der Fremden zu sprechen. Pitt ließ mich gewähren, wenn wir uns unterhielten und kümmerte sich um die anderen Tollen. Gegenüber dem Zuchtmeister verlor er kein Wort und so konnte ich in aller Ruhe mit ihr sprechen.

Wir sprachen nicht viel, oft auch nicht lange. Ich bekam heraus, dass sie Mary-Ann hieß und dreiundzwanzig Jahre alt war. Ihre Art zu reden war verquer und schwer zu verstehen, aber mit der Zeit gewöhnte ich mich immer mehr daran. Ich schaffte es ihren wirren Gedanken zu folgen und ihre Rätsel zu entwirren. Sie benutze bestimmte Worte als Zeichen für bestimmte Themen. Fast, als hätte sie Angst, jemand würde erkennen was sie sagte. Jemand, der das nicht sollte. Ich fragte mich, vor wem sie Angst hatte.

Sie schien etwas zu verbergen, etwas Wichtiges und das lockte mich immer mehr an. Fast jeden Abend dachte ich an sie, ihr Gesagtes und an ihre mysteriöse Vergangenheit.

„Prinz.“, sagte sie eines Nachmittags gedankenverloren. Ich hatte den Tollen die Haare geschnitten und drehte mich um. Mary-Ann saß wieder einfach nur da, als hätte sie nie etwas anderes getan. Doch heute sah sie anders aus, noch müder und noch ausgemergelter als ohnehin schon. Einer der Tobsüchtigen hatte einen Anfall gehabt und sich von den Ketten an der Wand lösen können. An ihrer Schläfe war nun eine Platzwunde. „Ich hatte einen Traum, Prinz.“

„Möchtest du ihn mir erzählen?“, ich sah kurz zu Pitt. Dieser nickte nur und übernahm meine Arbeit und so ging ich zu ihr und kniete mich vor die junge Frau. Ich hatte mich an den Gestank gewöhnt, dennoch bereitete er mir Kopfschmerzen und ich wollte es vermeiden, mich auf den Boden zu hocken.

Mary-Ann sah mich schwach und müde an, sanft lächelnd.

„Will der Prinz mir denn zuhören?“

„Natürlich will er das, erzähle.“, sagte ich sanft und auch neugierig. Es war das erste Mal, dass sie von sich aus ein Gespräch begann.

„Nun, alles war dunkel...“, ihre Augen gingen ins Leere, als könnte sie alles wieder vor sich sehen. „Und dann... Dann war dort ein Licht. Es war rot, blutrot.“

Sie versank.

Ich wartete einige Sekunden, dann suchte ich Blickkontakt und holte sie zurück in die Welt des Wachens. „Mary-Ann.“

Lächelnd sah sie mir direkt in die Augen. „Ja?“

„Dein Traum.“, drängte ich freundlich. „Du wolltest ihn mir erzählen.“

„Ach, richtig...“, sie sah wieder vor sich in die Luft. „Nun, alles war schwarz, bis auf ein Licht. Ein rotes, helles Licht. Es war warm und groß und erhellte das Schwarz. Erst war alles dunkel, rot wie Wein, doch dann stärker, immer stärker. Es war wunderschön.“

Sie schwieg. Pitt warf mir einen unsicheren Blick zu, aber ansonsten mischte er sich nicht ein. Ihm waren die Tollen nicht geheuer, das wusste ich, er fand sie unheimlich und verquer. Also ließ ich ihn in Ruhe und er mich.

„Was war das für ein Licht?“, wollte ich wissen.

Mary-Ann sah mich an und ihr Blick war wissend und geheimnisvoll zugleich.

„Der Teufel.“, flüsterte sie dann.

Ich zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. „Der Teufel?“, doch sie nickte. „Du hast den Teufel gesehen?“

"Ja. Ich bin mir sicher, er war es. Es war so warm, so wunderschön, das konnte nur die Verführung des Satans sein.", sie sah auf ihre entstellten Hände und betrachtete ihre Finger, als würden auf ihnen Worte und Geheimnisse stehen.

Ich ging einige Schritte neben sie und lehnte mich mit dem Rücken an die staubige Wand. Das Hocken ging mir mit der Zeit auf die Beine und es schmerzte mich in den Waden. „Und bist du ihm verfallen?“, fragte ich dann schmunzelnd, jedoch auch ernst. Ich wusste, dass Mary-Ann es mochte, wenn ich ernst war und dabei grinste. Es zog sie an und war ihr sympathisch. Meist grinste sie dann auch - so wie jetzt - und ihre Stimme wurde ein verräterisches Zischen. Wir wirkten dann wie zwei Kinder die sich hinter dem Haus versteckt hatten und düstere und freche Pläne für Streiche schmiedeten.

„Ja, das bin ich.“, sie sah kurz zu Pitt, als würde er lauschen. Es gehörte zu unserem Spiel dazu und natürlich tat er es nicht. Doch es verstärkte ihr Geheimnis, das sie mit mir teilen wollte. Es verstärkte das Mystische, das Verruchte. „Und dann ist es passiert.“

Ich hakte genauer nach: „Was ist passiert?“

„Er ist mir erschienen...!“

Ich sah sie erstaunt an, wenngleich mein Erstaunen nicht wirklich ernst war. „Und wie sah er aus?“

Sie schien nachzudenken. Ich wusste nicht, was Mary-Ann dazu erfand und was sie wirklich geträumt hatte. Dennoch hörte ich ihr gerne zu.

„Rot, blutrot... mit schwarzen Händen und Füßen. Dunkel von Tod und Verderben und seine Augen waren weiß, glühend weiß. Die Seelen all jener Verdammten die er verspeist hatte leuchteten darin ihr letztes Licht.“

„Der Teufel frisst Seelen?“, zweifelte ich. „Ich dachte, er wirft sie ins Fegefeuer?“

„Er ist das Fegefeuer, er ist die Hölle. Er ist das allmächtige Licht, die Flamme Gottes.“, sie zog die Beine enger an ihren dürren Körper und legte ihre langen, knochigen Arme darum. „Aber er ist so warm... Und sanft... Er ist die Sünde, die Versuchung... Du denkst, er ist das Licht und dann? Dann ist es zu spät...“

Einige Sekunden sagten wir nichts mehr. Ich hing meinen eigenen Gedanken nach und versuchte mir den Teufel nach ihren Beschreibungen vorzustellen. Vor meinen Augen entstand ein großer, korpulenter Mann mit vielen, roten Haaren und Hörnern auf den Kopf, ähnlich wie jene Bilder in den Büchern der Bibliothek. Ich wandelte das Bild immer mehr ab und umso mehr ich nachdachte, desto lächerlicher wurde es. Vor meinen Augen tunkte er Hände und Füße in Tinte, so dass seine krallenbewährten Hände tiefschwarz und düster waren. Ich überlegte, ob er wohl nackt war, aber das erschien mir obszön und ich wusste nicht, wie ich die Gegend zwischen seinen Beinen ausstatten sollte. War es Sünde, sich die Geschlechtsteile von Teufeln vorzustellen? Ich beschloss ihm ein Stück Stoff um die Hüfte zu binden. Er lief in meinen Gedanken auf und ab, seine schwarz gefärbten Beine hinterließen wilde Fußabdrücke auf der Erde und an seinem fetten Hinterteil peitschte ein roter Löwenschwanz. Ein Löwenschwanz? Als ihm Schnurrhaare wuchsen musste ich lachen, das war zu viel.

Mary-Ann bemerkte meine Reaktion gar nicht und als ich aufhörte, wandte sie sich wieder mir zu. Leise zischte sie:

„Er war da, mein Prinz und ich habe es immer gewusst, dass er kommen würde. Heute Nacht war es dann endlich so weit.“

„Ist er dir schon mal erschienen?“, ich versuchte wieder ernst zu werden, aber die Vorstellung von einem Tintenfußabdrücke hinterlassenden Teufel ließ mich nicht mehr los.

„Ja. Früher.“, sie sah zu Boden. Ihre Stimme wurde belegt und brüchig. „Der Satan hat viele Gestalten, Prinz und manchmal erkennt man ihn erst auf den zweiten oder dritten Blick. Ich habe ihn erkannt. Aber spät, viel zu spät, Prinz. Viel zu spät.“

Sie schien etwas erlebt zu haben, was sie noch immer beschäftigte. Am liebsten hätte ich sie in Ruhe gelassen, aber ich konnte nicht. Ich wollte mehr wissen.

„Was meinst du?“

„Es ist das Wissen, Prinz. Wenn du zu viel weißt, dann verlierst du das Göttliche und wenn du das Göttliche verlierst, dann den Halt. Und ohne Halt fällst du. Du fällst wie Luzifer hinab und stehst nimmer mehr auf. Nie mehr.“

„Bist du gefallen?“, hakte ich nach.

„Jeder von uns ist das. Gefallen. In Ungnade. Jeder von uns, Prinz, jeder. Du, ich und auch alle anderen. Wir kriechen hier unten im Verderben und nie mehr stehen wir auf.“

„Aber...“, ich wiegte den Kopf. „Wenn alle, die viel wissen, fallen, was ist dann mit Gott persönlich? Er ist doch allwissend. Er weiß mehr, als wir alle zusammen. Müsste nicht auch er fallen?“

Mary-Ann sah mich an. Ihre grünen Augen schimmerten leicht im wenigen Licht. „Gott redet nicht. Gott spricht zu uns, selten, sehr selten, aber nie spricht er ganz und gar. Wer weiß, der redet, so sind die Menschen. Aber er nicht, er ist göttlich.“

„Also dürfen wir nicht reden, wenn wir nicht fallen wollen?“

„So ist es, Prinz. So ist es.“

Wieder dieses Thema, dachte ich. Das Thema Reden und Denken.

„Aber warum, Mary-Ann? Wieso wollen die Menschen nicht reden, ihr Wissen nicht zeigen?“

„Wissen wollen ist eine Sucht...“, sie strich sich über das Bein und befreite ihr dreckiges Hemd von einem kleinen Fussel. Ein kleiner Fussel unter vielen, viel zu vielen. „Wer einmal wissen will, will immer wissen. Immer mehr und mehr und das wissen auch die hohen Tiere dieser Welt. Und wenn die Leute Wissen sammeln, dann lernen sie nachzudenken über das, was die hohen Tiere dieser Welt tun. Wenn sie das Podest erst einmal anzweifeln, auf dem sie stehen, dann beginnt es zu wackeln und irgendwann dann bricht es zusammen und dann ist es vorbei.“, sie endete den Satz mit einem frechen Grinsen und als sie mich ansah, dachte ich, sie sei eine Rebellin. Fast schon wusste ich es, diese Frau musste eine Rebellin sein. Ein Mensch, der die Freiheit suchte. Ein Mensch, der wissen wollte. Ein Mensch, der wusste, irgendetwas und der dafür Strafe erhalten hatte. „Sie stürzen zusammen auf ihrem selbst erbauten Thron, Prinz... Und damit das nicht passiert, müssen sie alle Zweifler zurückhalten zu zweifeln, zu denken und zu wissen. Und deswegen wird Wissen bestraft.“

„Aber was sollte es für einen Schaden anrichten können, wenn jemand wie ich, ein einfacher Mann aus einem Tollhaus, etwas weiß?“

Das brachte sie zum lachen. „Sie nicht dumm, Prinz... Wissen ist etwas Ansteckendes. Du weißt und dann jener neben dir und neben diesem und neben jenem und so weiter und dann, dann wissen es alle und jeder fügt etwas hinzu.“

„Weißt du etwas? Hast du Wissen?“

Unser Gespräch wurde fast zu einem Verhör.

Pitt kam zu uns und legte mir seine schmale und dreckige Hand auf die Schulter.

„Sullivan, wir müssen bald hinaus.“, zischte er. Er hatte Angst, erwischt zu werden, doch ich hatte ihn schon fast vergessen.

„Gleich, wir reden noch.“

„Aber wenn der Zuchtmeister-...“

„Gleich, sagte ich!“, er ließ mich los. Ich hatte einiges an ihm getestet und die strenge und abweisende Art brachte mir die meisten Vorteile bei ihm. Es schien manchmal fast so, als wollte Pitt mies behandelt werden. Er nickte knapp und unsicher, dann nahm er wieder Abstand und steckte die Haarbüschel in einen kleinen Sack hinein. Düster sah ich ihm nach, dann wandte ich mich Mary-Ann zu.

Sie begann einfach zu sprechen, als wäre Pitt nie da gewesen:

„Ja, ich habe Wissen gesammelt, lange, lange bevor ich hier her kam. Und ich wusste zu viel für diese Welt. Und weit zu viel für eine Frau.“

„Bist du deswegen hier?“, diese Frage lag mir bereits seit Wochen auf den Herzen. „Weil du das Podest eines hohen Tieres dieser Welt angezweifelt hast?“

Sie lächelte mich an, aber schwieg. Mary-Ann schien mir keine Antwort geben zu wollen, aber so lange schon quälte mich diese verfluchte Frage:

Warum war sie hier? Wieso hatte man sie ins Tollhaus geworfen? Sie wirkte auf mich, als sei sie erst hier verrückt geworden. Es musste also einen anderen Grund geben. Oder lag ich damit wirklich so falsch? Ich ließ ihr gut eine Minute Zeit eine geeignete Antwort zu finden. jedoch musste ich feststellen, es gab keine. Sie wollte mir nicht antworten, so schien es. Aber es könnte auch sein, dass sie wieder abgedriftet war.

Ich stieß mich leicht von der Wand ab und kniete mich unmittelbar vor sie. Pitt wurde zusehends ungeduldiger und sah mir zu, fast ein wenig drängend. Aber er wagte es nicht, den Mund zu öffnen und mich anzusprechen.

Ich legte meine Hände auf ihre, die sie auf ihre Knie gelegt hatte und sah sie eindringlich an. Mary-Ann ließ mich gewähren. Ich war vorsichtig, ich wollte ihr nicht wehtun. neben meiner gebräunten Haut von der Arbeit und der Fahrt über die See wirkte ihre fast schneeweiß und noch zerbrechlicher.

„Mary-Ann.“, begann ich und versuchte in ihr Inneres zu sehen. aber sie ließ es nicht zu. Ich hatte das Gefühl, sie wäre ein offenes Buch und wenn ich versuchte hinein zu sehen, schloss sie es ab und drehte mir den oberflächlichen Einband zu. „Wieso bist du hier?“

„Weil Gott es so will.“, gab sie mir leise zur Antwort, doch das reiche mir nicht. Ich fasste ihre Hände etwas fester. Ich musste es endlich wissen!

„Mary-Ann, sag mir die Wahrheit. Wer hat dich hier her gebracht? Und wieso? Bist du wirklich eine Tolle?“

„Bin ich es?“, fragte auch sie. Es war zum verzweifeln.

„Bitte, so rede doch mit mir! Ich denke Tag und Nacht darüber nach, ich möchte es wissen, ich bitte dich!“

„Also gut.“, sie löste sich und legte nun ihre Hände auf meine. Ich spürte ein leichtes Zittern durch ihre Schwäche und ihre Haut war rau und trocken. „Ich kam vor Jahren hier her, vor wie vielen weiß ich nicht. Mein Mann brachte mich.“

„Dein Mann?“, ich war ungläubig, aber sie ignorierte meine Frage. Ihre Stimme wurde leise, monoton, als würde sie schlecht aus einem langweiligen Buch vorlesen:

„Er brachte mich in einer Winternacht hier her, es war kalt und überall lag Schnee. Er knackte unter meinen Füßen, wie meine Knochen. Knack, knack, knack. Er hielt mich am Arm, ja, ja, die Tolle, die Wahnsinnige. Ich hatte gelesen ein Buch und geschrieben.“

„Warst du eine Nonne?“

Sie sah mich an. „Eine verheiratete Nonne?“, fragte Mary-Ann spöttisch.

„Aber wer sollte eine einfache Frau lesen und Schreiben lehren?“

„Mein Bruder hat mich das gelehrt.“, ihr Blick ging wieder ins Leere und ihre Stimme wurde wieder monoton, fast leblos:

„Es war eine kalte Winternacht, Knack, knack, knack und es rieselte weiße Punkte vom heiligen Himmel. Und der Pastor war ein guter Mann der wusste, was zu tun war. Er hatte mir geholfen, aber nicht gut genug. Und so wurde ich krank, es kam in mir auf, die Wut und das Verlangen und auf ewig sollte es gedeihen und Verruchtes sollte wachsen und sprießen und zerschellen. Mit seinesgleichen im Sonnenmeer. Amen.“

Sie sah auf.

Ich verstand nicht und das wusste sie. Machte dieses Weib sich über mich lustig?

Pitt räusperte sich, aber ich wollte nicht gehen, auf keinen Fall.

„Mary-Ann, bitte, wieso hat dein Mann dich hier her gebracht?“, fragte ich eindringlich.

„Hat er das?“, fragte sie verwirrt.

„Das sagtest du.“

„Ich sagte, er brachte mich. Er brachte mich um, mit Haut und Haaren. Um brachte er mich. Und dann hier her.“

„Wie hat er dich umgebracht?“, wollte ich wissen.

„Sullivan…!“, jammerte Pitt. Er bekam es mit der Angst zu tun. Auf keinen Fall durfte der Zuchtmeister von unserem Treiben erfahren. „Bitte entschuldige, aber wir müssen endlich gehen...!“

Mary-Ann sah mich an, dann lächelte sie und strich mir über den Oberarm. So langsam und kraftlos, dass es mir Gänsehaut verpasste. „Leb wohl, Prinz.“

„Bis bald.“, ich erhob mich ächzend und trottete hinaus. Pitt beachtete ich nicht. Ich war wütend und das sollte er spüren.

Ich war so kurz davor..., dachte ich immer und immer wieder, den ganzen Tag lang. So kurz davor...! Fast hatte sie mir alles erzählt, aber Pitt hatte gut daran getan, mich hinaus zu bitten. Der Zuchtmeister kam nur wenige Sekunden später und hätte er mich erwischt, wäre er wohl wieder zornig geworden. Dennoch zeigte ich Pitt meine Missgunst. Ich wollte mehr über Marty-Ann wissen, viel mehr. Dieses bisschen reichte mir nicht und ich verstand nicht genug von dem, was sie gesagt hatte.

Ich würde auf jeden Fall nicht aufgeben...!

Fataler Fehler

Meine Wut auf Pitt legte sich im Laufe des Tages etwas, dennoch war ich recht mürrisch. Was, wenn ich abgeholt wurde, ohne dass ich mich von Mary-Ann verabschieden konnte?

Ich mochte sie, auch wenn es schwer war, das zuzugeben. Sie war eine Tolle, das stimmte. Wenn sie sprach, dann driftete sie im Laufe des Satzes immer mehr ab und am Ende kamen verwirrte Worte und Sätze heraus. Aber es war interessant, mit ihr zu reden. Es war interessant überhaupt mal wieder zu reden. Und ein wenig verrückt war es auch. Mit keinem konnte ich Gespräche führen, nur mit einer Irren. Hätte es nicht anders herum sein müssen?

Man musste auf ihre ersten Worte achten und versuchen, den Rest irgendwie zu Recht zu biegen und das machte jedes Gespräch amüsant und zu einem kleinen Abenteuer. Manchmal fragte ich mich, ob sie das mit Absicht tat, mir zuliebe. Ich glaube, sie hatte gemerkt, wie ich diese Rätsel mochte.

Dennoch würde ich es Pitt nie verzeihen, sollte ich am nächsten Tag abgeholt werden, ohne mich zu verabschieden. Es war irrsinnig und erinnerte an den Trotz eines Kindes, aber ich würde ihm die Schuld dafür geben. Die Tatsache, dass ich seit Wochen niemanden zum Reden gehabt habe wurde mir nur umso klarer, als wir gemeinsam im Zimmer saßen und still zu Boden starrten. Er saß auf dem unteren Bett, ich wieder auf meinem Schemel. Die Stille war fast unerträglich und erinnerte mich an meine Klosterzeit. Hatte ich deswegen so das Bedürfnis, mich mit jemandem zu unterhalten? Weil ich so lange hatte schweigen müssen?

Ich versuchte es mit Pitt. Viel erwarten tat ich nicht, aber dennoch wollte ich ein Gespräch wagen. Er war es gewohnt zuzuhören und zu nicken, ganz gleich, was Charles oder der Zuchtmeister ihm sagten. Aber wenn man ihm Fragen stellte, war dann eine nähere Unterhaltung möglich?

Ich zwang mich dazu ein Gespräch mit ihm zu beginnen, ehe mich die Zweifel noch davor übermannen konnten. Ich hielt dieses ständige Schweigen nicht mehr aus!

„Warum bist du hier?“

Pitt starrte wie ich vor sich hin, mit den Armen neben sich auf die stark riechende Matratze gestützt und scheinbar völlig gedankenverloren. Es dauerte einige Sekunden, bis er reagierte. Dann sah er auf und mich fragend an.

„Ich?“

Es war eine unsinnige Frage. Schon dieses erste Wort von ihm ließ mich innerlich die Augen verdrehen. Vielleicht erwartete ich zu viel von diesem Gespräch? Ich schraubte meine Anforderungen etwas runter und wurde bewusst noch freundlicher:

„Ja, du. Warum bist du hier im Tollhaus, Pitt? Was hast du angestellt?“

„Ach.“, er wackelte mit den Beinen, so dass er fast kindlich wirkte, trotz seiner enormen Größe und obwohl er sicherlich schon um die 26 Jahre alt war.. „Charles hat Mist gebaut. Das macht er öfters.“

„Seid ihr Brüder?“

„Er und ich?“, als ich nickte lachte Pitt, ein wenig übertrieben vielleicht und winkte ab. „Nein, bloß nicht, sind wir nicht. Wir sind keine Brüder.“

„Und was hat er für Mist gebaut? Und was hatte das mit dir zu tun?“, ich rutschte mit meinem Schemel etwas näher an ihn heran und legte mein linkes Bein mit dem Knöchel auf das rechte. Neugierig sah ich ihn an. Pitt dachte kurz nach, dann zuckte er mit den Schultern. „Das weiß ich nicht.“

„Du weißt es nicht?“

„Nein.“, antwortete er leise und sah zu Boden. „Charles sagte: Pitt, geh du da nach vorne und pass auf, dass keiner kommt. Ich geh solange rein. Pfeif drei Mal wenn du einen siehst.

Na ja und das habe ich dann versucht.“

„Nur versucht?“, hakte ich nach. Pitt nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die laufende Nase, während er schniefte. Das verstärkte die Wirkung eines riesigen Kindes vor mir nur umso mehr. Ekel überkam mich, als er dann seine Hand an seinem linken Hosenbein abschmierte.

„Ich kann nicht pfeifen, weißt du? Charles war weg, na ja… Und dann kamen Leute, fünf Stück, Soldaten. Und ich wollte ihn warnen und hab gepustet und gepustet. Na ja… Aber es passierte nichts. Kann ich halt nicht.“

Das brachte mich zum Lachen. „Hast du das Charles denn nicht gesagt?“

Pitt zuckte mit den Schultern und sah beschämt zu Boden. Ich musste lachen.

„Ich wollte es ihm ja sagen.“, begann er dann verlegen sich zu verteidigen. „Aber er hat mir nicht zugehört. Charles hört nie zu.“

Ich schüttelte nur grinsend den Kopf. Vor meinen Augen sah ich Charles, wie er in irgendeinen Laden hinein kroch und den ängstlichen Pitt davor, wie er pustete und pustete, dass der Speichel nur so durch die Luft wirbelte. Und verwirrte Wachen, die vor ihm stehen blieben und ihn anstarrten, nicht mal erahnend, was er da versuchte. Was auch immer sie vorgehabt hatten, Charles musste eine mächtige Pleite erlebt haben. Das erklärte seine miese Laune und seine Aggressionen, wobei er sicher bereits vor diesem Vorfall sehr negativ gewesen sein musste. Wenn man jemanden wie Pitt als Partner für einen Einbruch oder ein anderes Verbrechen aussuchte, dann muss man echt arm dran sein. Am liebsten wollte ich Pitt raten, dass er sich mehr durchsetzen sollte. Sich das Wort erkämpfen, hart bleiben, den Mund aufmachen. Aber vielleicht hätte mir das Chancen verbaut, seine Naivität und Unsicherheit eines Tages zu nutzen. Und das Allerschlimmste war, ich fühlte mich bei diesem Gedanken nicht einmal schlecht. Meine Siege der letzten Tage waren mir zu Kopf gestiegen und ich war etwas überheblich geworden. Nicht viel – es ging weitaus stärker – aber immerhin spürbar.

Zudem lud Pitts Art einen geradezu ein, ihn gegen andere auszuspielen. Ein wenig Leid tat er mir schon.

Als er eine Frage stellte schreckte ich aus meinen Gedanken hoch.

„Und du, Sullivan? Was hast du angestellt?“

Was sollte ich antworten? Die Wahrheit? Aber wozu? Ich musste Pitt nichts beweisen. Er war nicht Robert oder Kai und auch nicht Charles. Also lehnte ich mich zurück und mit dem Rücken gegen den Tisch.

„Gar nichts.“

„Gar nichts?“, Pitt wirkte ungläubig. „Wenn du nicht drüber reden willst, versteh ich das.“

„Nein, nein. Ich habe wirklich nichts getan. Ich bin unschuldig hier, durch ein Missverständnis.“, doch das reichte ihm nicht, das war mehr als nur offensichtlich. Er sah mich forschend an und ich konnte in seinen Augen erkennen, dass er darüber nachdachte, ob er fragen sollte oder nicht. Mir war es lieber, dass wir jetzt darüber sprachen. Jederzeit konnte ein weiterer Zimmergenosse zu uns stoßen, ein neuer Angeklagter. Und wer weiß, ob es gut wäre, wenn dieser mich auch für unschuldig hielt?

Auf der Caroline hatte ich gelernt, dass es nicht immer schädlich war, mit Gewalttaten Eindruck zu schinden. Pitt schaffte es nicht, sich zu überwinden, aber nun darüber zu reden erschien mir am logischstem. Ich fügte mit einem Lächeln hinzu, da nur von einem frommen Mönch stammen konnte:

„Ich hatte einen Unfall und als ich zu mir kam, war ich an Bord von Piraten und musste für sie arbeiten. Nun wurde ich der Piraterie angeklagt, weißt du?“

„Verstehe.“, er rutschte etwas nach hinten und lehnte sich an die Wand. „Üble Sache.“

„Es ist in Ordnung. Gefängnis wäre wohl schlimmer.“

Da waren wir uns einig, denn er nickte eifrig. „War noch nie drin, aber Charles. War eine üble Sache.“

„Das glaube ich dir gern.“

„Bist du Gelehrter oder so was?“, wieder wischte er sich über die Nase. Ich sah zum Fenster in der Hoffnung, nun müsste ich es nicht sehen, aber ich hatte zu spät reagiert und mit ein wenig Ekel in der Stimme log ich: „Nein, wirke ich so?“

„Bisschen. Du redest viel und lang. Wie so ein Bücherwurm.“

„Bücherwurm?“, verwirrt sah ich ihn an.

„Ja, Bücherwurm. Bei uns im Dorf, da hatten wir einen Apotheker. Der Sohn hat auch immer so geredet. So wie du. Ganz viel und lang und dauernd Fragen gestellt. Charles mochte ihn nicht.“

„Ach so.“

Wir sprachen noch einige Zeit weiter. Es war anfangs mühsam und ermüdend und schon bald empfand ich nur noch das Bedürfnis schlafen zu gehen. Pitt begann irgendwann förmlich zu sprudeln, was alles noch anstrengender machte. Er erzählte, dass die zwei aus einem Dorf weit im Westen stammten und von irgendwelchen Dorfbewohnern und ihren Erlebnissen. Von einer alten Frau mit Buckel, der sie einen seltsamen Staub in den Tee gemischt hatten, woraufhin sie wild kreischend über die Felder gerannt war. Von einer Kuh namens Anneliese, die zu Weihnachten doppelt so viel Milch gab, weil sie Angst hatte, dort geschlachtet zu werden. Von einem Jungen, der total frech war und die anderen immer wieder verpetzte. Ich erfuhr, dass Charles und er Nachbarn gewesen waren und schon früher jede Menge angestellt hatten. Ohne Frage war Charles jedes Mal der Kopf dieser Dinge gewesen. Mir wurde klar, dass es unmöglich war, Pitt von Charles los zu bekommen. Seit der Kindheit schon rannte er dem Kleineren hinterher, wie ein Hund. Vielleicht war es möglich, dass er damit aufhörte, ja. Aber er würde seinen Herrn lediglich ersetzen. Durch den schlechten Umgang hatte er verlernt auf eignen Beinen zu stehen – wenn er es überhaupt jemals gekonnt hatte. Fast jeder seiner kleinen Erzählungen endete mit „Charles mochte ihn nicht.“, oder „Charles mochte sie.“ Es war völlig absurd, als hätte Pitt kein eigenes Leben. Ich fragte mich, was wohl mit ihm geschehen würde, wenn sie Charles eines Tages hängten. Würde er sich auch aufknüpfen? Oder war er bereits so stark mit seinem Leben verschmolzen, dass er von alleine starb?

Mir schmerzte der Kopf, als wir uns ins Bett legten, aber ehe ich wirklich einschlafen konnte quälten mich die Gedanken an Mary-Ann. Die dünne Frau spukte in meinem Kopf herum wie ein Geist und im Halbschlaf verarbeitete ich die Reste des Tages. Ich sah den kleinen, haarigen Teufel mit Schnurrhaaren vor mir, einen Mann der Mary-Ann am Arm zum Tollhaus zerrte und ich stellte mir vor, wie sie wohl vor ihrer Zeit im Tollhaus aussah. In meiner Fantasie war sie wunderschön, anmutig und jung. Sie trug ein samtenes, dunkelgrünes Kleid und um den Hals eine dünne, perlenbesetzte Kette mit einem silbernen Anhänger daran. Immer mehr driftete ich ab, bis ich letzten Endes einschlief. Doch auch in meinen Träumen ließ sie mich nicht los. Wer war sie? Und was wusste sie, dass man sie so sehr bestrafen musste? Hatte Mary-Ann etwas von ihrem Mann erfahren und wurde daraufhin von ihm hier eingesperrt? Wer war ihr Mann? Ein Lord? Ein Graf? Und was hatte das alles mit einem Pastor zu tun? All das fragte ich sie, während wir wild umher tanzten, in einer riesigen, bunt befliesten Halle. Wir befanden uns in einer Art Schloss. Sie war die Prinzessin, ich der Prinz.

Wir tanzten die ganze Nacht und auch den Tag darauf. Hinter dem Fenster sah ich Sonnenauf- und -untergang, Mond und Sterne, Sonnenschein und Wolken. Sie schwang ihren Rock beim Drehen, so dass sie aussah, wie eine blühende Knospe. Ihr Unterrock verschwamm im Dämmerlicht der Kerzen und schien zu strahlen. Sie war wunderschön, wie eine Elfe oder ein Engel, doch auf jede meiner Fragen lächelte sie nur.

War sie eine Adlige? Und warum verbrannte man sie nicht einfach?

Doch statt zu antworten lehnte sie sich zurück und sank in meine Arme. Einige Sekunden betrachtete ich ihr wunderschönes Gesicht. Ihre grünen Augen passten zu ihrem Kleid und der kleine Leberfleck über ihrer linken Augenbraue verlieh ihr einen wunderschönen, fast göttlichen Ausdruck. Dann zog ich sie mit Schwung wieder hoch und drehend tanzten wir weiter. Wir konnten nicht mehr aufhören. Als würden wir sterben, würden wir anhalten. Auf jeden Fall wollte jemand nicht, dass sie dieses Wissen mit jemandem teilte. Alle predigten, man sollte sich von ihr fern halten, Abstand nehmen, nicht mit ihr sprechen. Der Zuchtmeister drohte sogar mit Strafen, sollte man es dennoch wagen. Was hatte der Zuchtmeister mit dieser Angelegenheit zu tun? Steckte er in dieser Sache mit drin? Dann löste Mary-Ann sich und tanzte allein weiter. All das Vornehme wich von ihr und verwandelte sich in geheimnisvolle, verruchte Bewegungen. Sie wirkte wie eine Zigeunerin. Wie sie sich auf ihren bloßen Füßen bewegte, mir Blicke über die Schulter zuwarf, ihre Haare nach hinten schwang und immer rief: „Komm Prinz, tanz mit mir, tanz!“

Als ich erwachte sah ich sie noch lange vor mir hüpfen und sich drehen, ehe sie im tiefen Schwarz verschwand. Ich lächelte und spürte eine ungemeine Wärme, doch als sie sich aufzulösen begann streckte ich die Hand aus. Wirr griff ich vor mir in die Luft. Ich wollte sie halten, irgendwie, sie durfte nicht verschwinden. Doch ich griff durch sie hindurch und dann war sie verschwunden. Verwirrt saß ich in meinem Bett, klatschnass und überhitzt. Ich hatte Fieber und mein Kopf schmerzte umso mehr.

Die Musik war vorbei. Und der Tanz ebenso.

Vorerst.
 

Mit dem Morgen kam der lang erwartete Regen. Es goss aus Eimern, die Zimmer begannen nach Feuchtigkeit zu riechen und die Luft wurde drückend. Im Tollzimmer war es fast unerträglich und überall gab es Pfützen und tropfte Wasser von der Decke. Auch über meinem Bett tropfte dreckige, braune Suppe hinunter und färbte die Matratze darunter. Aber das waren die kleinsten Sorgen. Im Gefängnis gab es eine kleine Überflutung, bei der auch Pitt und ich aushelfen mussten. Viele der gelagerten Dinge wurden nass und einige Insassen mussten zu weiteren ins gleiche Zimmer verlegt werden. Mir wurde immer bewusster, wie lange ich nun schon im Tollhaus war und wie wenig es noch dauern konnte, bis ich endlich vor den Richter treten durfte. Immer mehr verstärkte sich mein Glauben, dass dann alle Probleme gelöst waren. Ich musste nur Fleiß zeigen und Demut, so wie im Kloster. Dann würde man mir sicher jede Lüge abkaufen.

Der Regen hielt mehrere Tage an, er wollte gar nicht mehr aufhören und das Wasser sammelte sich auf dem Hof. Jedes Mal, wenn ich zur Küche oder ins Lager musste, versank ich bis zu den Knöcheln im Schlick.

Die düsteren Tage wirkten sich auch auf die Stimmung aller Beteiligten aus. Alle waren gereizt oder still, saßen nur herum und schwiegen die meiste Zeit. Es schien fast, als hätte die Sonne nicht nur das Licht, sondern auch sämtliche Fröhlichkeit mit sich genommen- wenn es denn zuvor Fröhlichkeit gegeben hatte.

Zudem wurde mein Fieber immer stärker und schon bald musste ich mir eingestehen, dass die Arbeit trotz Kälte und Nässe nicht das Beste für meine geschädigte Gesundheit war. Ich beschloss, mich etwas zu schonen, jedoch hielt der Zuchtmeister so gut wie gar nichts davon.

Im Laufe der Tage wurde ich ruhiger, mein Hals gereizter und immer mehr verfiel ich wieder meiner alten Last: Der Melancholie, gekoppelt mit Schnupfen und laufender Nase.

Das Fieber betäubte mich. Ich schlich mehr durch die Räume des Tollhauses, als dass ich ging und meine Aufmerksamkeit ließ rapide nach. Ich war nicht der einzige, den die Grippe in ihrem Bann hatte. Auch etliche Tolle begannen zu husten und zu röcheln. Immer, wenn ich das Gefühl hatte gesund zu werden, steckten die Irren mich wieder an.

Der Zuchtmeister hatte lediglich Kopfnüsse dafür übrig und bot mir mehrmals an, einen Arzt zu rufen - aber wer sollte ihn bezahlen?

Ich sollte das Geld dafür später aufbringen - genauso wie die Gerichtskosten. Diese Tatsache ließ mich seinen Vorschlag immer wieder aufs Neue verneinen.

Ich bekam nur halb mit, dass Mary-Ann sich um mich sorgte. Wenn ich im Zimmer der Tollen war, warf sie mir unsichere Blicke zu und fragte mit den Augen, wie es mir ginge, aber antworten tat ich nicht. Ich fühlte mich nicht in der Lage dazu. Mein Hals schmerzte, meine Nase lief und mich packte immer wieder Schüttelfrost. Einige Tage war es so schlimm, dass mir schwindelte und ich nicht aufstehen konnte. Dann brachte mir die Hausmutter warmen Tee und Pitt deckte mich ab und an zu.

Und genau dieses Fieber sollte mir zum Verhängnis werden.

Wäre ich nur zu einem Arzt gegangen. Hätte ich nur die Kosten auf mich genommen...!

Mary-Ann wurde krank und ich gab mir die Schuld dafür. Wenngleich es unsinnig war und ich sie nicht angesteckt haben konnte. Jedes Mal, wenn sie hustete oder wenn ich sie zittern sah, bat ich sie innerlich um Vergebung. Es wurde immer schlimmer. Sogar, als es mir bei Weitem wieder gut ging.

Fast zwei Wochen saß sie schlotternd da, hustete und war leichenblass. Sie hustete so stark, dass ich fast fürchtete, sie würde zusammenbrechen. Der Zuchtmeister nahm keine Rücksicht darauf und so saß sie in ihrem Hemd und fror so stark, dass ihre Lippen blau anliefen. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und auch wenn Pitt mich zurück hielt, irgendwann ignorierte ich seine Worte. Ich schlüpfte aus meinem Leinenhemd, entblößte meinen von Peitschenhieben vernarbten Rücken und half Mary-Ann in den wärmenden Stoff zu schlüpfen. Die Wärme war nur gering, aber ich hoffte, es würde wenigstens ein bisschen helfen.

„Nein, mein Prinz, was ist wenn-...?“, flüsterte sie, doch ich unterbrach Mary-Ann nur und schüttelte den Kopf.

„Keine Angst... Keiner wird davon erfahren, der Meister kam schon lange nicht mehr hier her. Pitt und ich müssen alles arbeiten, weißt du...?“

Und ich hatte Recht damit. Der Zuchtmeister mied das Tollzimmer. Er war zufrieden mit der Arbeit von Pitt und mir. Wieso sich die Hände noch schmutzig machen?

Aber was ich nicht mit einberechnete war Pitt selbst.

Mary-Anns Gesundheit wurde immer schlechter. Man konnte ihrem Zerfall förmlich zusehen. Es war erschreckend, wenn ich sie Tag für Tag sah und mit jedem Mal war sie blasser, zerbrechlicher und schwächer. Ich besorgte ihr Gemüse von der Hausmutter, winzige Fleischstückchen die ich in meiner Stiefelkrempe mit ins Tollzimmer hinein schmuggelte. Pitt musterte es mit Unbehagen und ich versprach ihm, ihn in keinster Weise mit hinein zu ziehen, sollte man uns erwischen. Dennoch wurde er nicht ruhiger. Ich konnte beobachten, wie er nervös wurde, sobald ich mich Mary-Ann nur näherte. Aus Angst, er würde Alarm schlagen wenn der Zuchtmeister hinein kam, schickte ich ihn immer öfter auf den Flur um Wache zu halten. Er sollte mich warnen, wenn der Zuchtmeister kam. Unauffällig und ohne eine Verbindung zu Mary-Ann und mir.

Als es ihr langsam besser ging, entspannte auch ich mich ein wenig. Ihr Fieber sank, aber ihr Husten bestand weiterhin. Manchmal, wenn ich in meinem Bett lag und zur feuchten Decke starrte, meinte ich sie husten zu hören. Natürlich war es nur Einbildung. Aber für diese kurze Zeitspanne, diese gut eine Woche , fühlte ich mich fast mit ihr verbunden. Ich meinte zu spüren, wenn sie an mich dachte, wenn es ihr schlechter ging oder besser. Ich meinte zu hören, wie sie meinen Namen flüsterte oder mir Wünsche und Träume sandte.

Und dann geschah es.

Ich war bei ihr. Mary-Ann saß wie eh und je vor mir und ihr schneeweißes Gesicht war gezeichnet von dunklen, grauen Augenringen und Flecken. Sie war wieder gesund, aber ganz erholen würde sie sich wohl nie. Nicht so lange sie hier war zumindest.

Wir saßen lange beisammen und schwiegen oder ich erzählte ihr von meiner Zeit im Kloster. Ich tat es heimlich, nebenher, stets, als würde ich über jemand ganz anderes reden. Sie durchschaute mich, aber korrigieren tat Mary-Ann mich nicht. Sie ließ mich gewähren und hörte zu. Es tat gut, sich auszusprechen. Ich erzählte ihr alles. Wie sehr ich meinen Lehrer im Waisenhaus hasste, wie sehr ich das Beichten hasste und wie sehr die Bußen und die Gebete. Ich gestand ihr alles, denn ich vertraute ihr, wieso auch immer. Es war vielleicht riskant all meine blasphemischen Gedanken einfach so herauszuplaudern – aber wem sollte sie es weitersagen? Sie erfuhr immer mehr von mir, unendlich viel. Selbst aber blieb sie weiterhin verschlossen. Mary-Ann gab mir keine weiteren Hinweise auf ihre Vergangenheit und wenn ich fragte tat sie, als hätte es unser Gespräch nie gegeben. Wir sprachen so lange miteinander, bis die Tür aufging. Ich drehte mich herum, damit rechnend, dass Pitt uns vor dem Zuchtmeister warnen wollte.

Aber es war nicht Pitt.

Nein, es war nicht Pitt, dieser große, lange Kerl mit wenig Verstand und viel Herz.

Es war nicht Pitt. Jener, der mir beistehen wollte, der mich warnen wollte.

Nein, es war nicht Pitt.

Es war der Meister selbst.

Der Zuchtmeister stand in der Tür und seine Augen zeigten mir, dass ich einen unwahrscheinlichen Fehler begannen hatte. Seine Anwesenheit war ähnlich wie ein Stein, der in einen See stürzte. Er erschien in der Tür und wie ein Wasserkreis schlug sein Dasein durch den gesamten Raum. Stück für Stück registrierte jeder, dass er da war. Ein Toller nach dem anderen schreckte zurück, wimmerte oder machte sich klein. All die Gestalten schrumpften hinab bis zum Boden, verbeugten sich bis zur Erde, umklammerten ihre Köpfe und drängten sich aneinander in die hintersten Ecken. Nur ich blieb stehen.

Der Zuchtmeister und ich standen da und starrten uns an. Ich sah in seinen Augen, dass er verdutzt war. Ein Blick zu meinem Hemd an Mary-Anns Körper, dann kam Erkenntnis. Er verstand, was hier vor sich ging und er hieß es nicht gut. Seine Augen wurden schmal, finster, fast schon verhasst.

„Was – bei Gott – tust du hier?!“, brachte er zwischen seinen Zähnen hervor, langsam und bedrohlich, als würde er mich mit den Worten ersticken wollen.

Ich wusste keine Antwort und sah unsicher zu Pitt, der hinter dem Zuchtmeister erschien. Er schloss gerade seine Hose, scheinbar hatte er sich erleichtert und seinen Posten dafür einfach verlassen. Nun erkannte er, was wegen ihm geschehen war. Er wurde leichenblass.

Dann sah ich wieder zum Meister zurück. Der Mann hatte sich nicht ansatzweise gerührt, aber ich registrierte, dass seine Finger leicht zitterten. Es sah aus, als würde er sich zurückhalten müssen, sich nicht auf mich zu stürzen.

Unsicher warf ich einen Blick zu Mary-Ann. Auch sie war in ihrer Angst verschwunden, untergegangen, verloren. Hatte sie mich vergessen? Würde sie mitbekommen, wenn der Zuchtmeister mich nun umbrachte? Oder würde sie es nicht einmal bemerken?

Plötzlich schrie er auf und stürzte auf mich zu. Ich zuckte zusammen und hatte gerade mal Zeit, ihn wieder anzusehen. Der Meister schrie und tobte, riss mich nach vorn und einem Satz landete ich auf dem Boden. Er verwandelte sich in ein Abbild des Wahnsinns und sein Gesicht zu einer Grimasse des Hasses und der Verachtung. Kaum stand ich wieder aufrecht, trat er mir in die Kniekehlen oder versetzte mir einen Kinnhaken. „Du Verräter!“, schrie er mich an. „Du wagst es, mit einer Tollen zu verkehren?!“, und „Ich habe dich gewarnt, halte dich fern! Du hörst nicht?! Dann prügele ich es dir eben ein!“

Ich hatte kaum eine Chance, ihm auszuweichen. Irgendwann hörte ich Knallen und Zischen durch die Luft, ohne es wirklich orten zu können. Erst wenige Sekunden, nach mehreren Schlägen, verstand ich, dass es der Lederriemen war. Schrie ich?

Jemand schrie. Aber alles ging so schnell, ich hatte nicht einmal Gelegenheit zu schreien. Wer schrie dann?

Verwirrt sah ich zu Mary-Ann, auf dem Boden liegend, gekrümmt. Sie saß in der hintersten Ecke, förmlich hinein gequetscht und hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Dennoch sah sie zu mir und ihre grelle Stimme fuhr durch den Raum:

„Nein! So lasst ihn doch!“

Doch der Zuchtmeister hörte sie gar nicht. Sie fuhr hoch und stürzte zu ihm, versuchte ihn zurückzuhalten und von mir fern zu ziehen, aber sie hatte kaum Kraft. Wutentbrannt stürzte er nun auf sie los. „Du hast ihn verhext!“, schrie er dabei, während er auf das Bündel am Boden einschlug. „Du Hexe! Verdammte Hure! Er ist ein Besessener!“, und als sie endlich aufhörte zu schreien, trat er weiter auf mich ein. „Du Elender! In die Hölle komme ich wegen dir! Ich werde dir deine Tollheit austreiben! Wahnsinniger! Besessener!“

„Ich bin nicht verrückt!“, schrie ich und versuchte zu entkommen. Ich kam auf die Knie und wollte vorwärts kriechen, doch meine Finger rutschten aus auf dem feuchten Boden. Ich stürzte in die braune Suppe und bekam keine Luft mehr. Seine Tritte trafen meine Seiten und meinen Brustkorb. Panik überfiel mich. Dann ein Tritt gegen den Kopf. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich bereits wieder auf den Knien war. Er war so fest, dass ich zur Seite schleuderte. Hilflos sah ich zu Mary-Ann. War sie tot?

Dann zu Pitt.

Er stand nur da. Stand in der Tür und glotzte. Weder mit Reue, noch mit Gehässigkeit.

Und dann sah ich nichts mehr.
 

Ich kam ausgesprochen langsam zu mir. Als erstes spürte ich meine Rippen, anschließend meinen Kopf. Wie in Trance stöhnte ich und drehte mich auf die Seite. Es schien fast, als würde der Schmerz mich in die reale Welt zurückziehen. Ich hielt mir die Stirn, als könnte ich den Druck damit verringern, aber es funktionierte nicht. Ich nahm verkrustetes Blut in meinem Gesicht war und metallenen Geschmack in meinem Mund. Etliche Körperteile und auch mein Gesicht erschienen mir geschwollen und ich bekam nur schwer Luft. Ich stöhnte erneut, diesmal vor Verzweiflung und Wehleiden. Erst dann öffnete ich die Augen.

Ich lag im Tollzimmer, auf dem feuchten Boden und mit einem Mal kamen der Gestank und der Ekel zu mir zurück. Ich würgte auf und erbrach mich auf dem Boden. Ich schaffte es nicht, mich aufzusetzen. Alles schien sich zu drehen. Der Raum wippte mal nach rechts, dann nach links, mein Blick konnte nirgendwo haften bleiben. Gequält schloss ich sie wieder. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir einfach zu sterben. Dann erinnerte ich mich daran, was geschehen war.

Ich sah Pitt vor meinen Augen. Wie er dastand, dieser verfluchte Idiot. Hass erfüllte mich, unbändige Wut. So stark, dass ich das Gefühl hatte, sie wurde mich übermannen. Dann hörte ich Mary-Anns angsterfüllten Schrei. Wie der Zuchtmeister sie schlug, wie sie auf dem Boden lag und sich dann nicht mehr bewegte. War sie tot? Das durfte nicht sein…! Ich zwang mich, mich aufzurappeln und kämpfte mich auf die Knie. Ich nahm den Raum nur verschwommen war. Die Tollen saßen schweigend da, immer noch in die hintersten Plätze gepfercht und starrten mich an. Ich würgte erneut, die Übelkeit nahm kein Ende und ich sah schwarze Punkte. Was war los mit mir? Kurz sackte ich zusammen, ehe ich mich erneut hoch kämpfte und langsam zu Mary-Ann kroch. Es kam mir vor, als würde ich mich kaum bewegen. Jeder Knochen in meinem Körper schmerzte, aber ihr Anblick ließ es mich einfach vergessen. Mary-Ann lag noch immer auf dem Boden, auf den Rücken gedreht, völlig regungslos. Doch ich war so geschwächt, dass nicht einmal Panik in mir aufstieg. Ich kniete neben ihr und wusste nicht, was ich tun sollte. Atmete sie noch? Hörte sie mich? War sie tot?

Ihre Brust hob und senkte sich schwach. Erleichtert atmete ich auf und fuhr durch ihre dünnes Haar. „Mary-Ann…“, meine Stimme war nur ein heiseres Flüstern und ich merkte, wie geschwollen meine Lippe war. „Mary-Ann, komm zu dir…!“

Doch sie reagierte nicht. Hilflos sah ich mich um. Wieso war ich noch im Tollzimmer?

Musste ich nun ewig hier bleiben? Das konnte nicht sein, das konnten sie nicht machen! Ich stand auf, schwankend und zittrig. Ich ging auf die Tür zu, mit ausgestreckter Hand. Sie schwankte und tanzte dämonisch hin und her, wuchs und schrumpfte. Meine Schritte hinterließen schmatzende Geräusche, die sich tausendfach vermehrten und diese wurden immer lauter, metallener, stärker. Sie nahmen meinen Kopf ein und raubten mir das Gleichgewicht. Als ich das Holz dann erreichte merkte ich, dass man abgeschlossen hatte.

Verzweifelt sackte ich zu Boden und ehe ich mich versah, war wieder alles schwarz.

Was war bloß los...?

Verdrehte Welten

Es roch nach Exkrementen. Nach Exkrementen und Blut. Das Eisen schien in der Luft zu hängen, schien mir sagen zu wollen: Hier sterben fast täglich Leute und du bist der Nächste…!

Es schnürte mir den Hals zu und wurde zu einer Art dünnen Nebel, der mir immer tiefer in die Kehle drang. Ich öffnete die Augen und sah den weißen Dunst, wie er umher flog, Kreise schlug und Schleifen drehte. Er wirbelte durch die Luft, als sei er ein Vogel ohne Flügel. Nur langsamer, fast engelsgleich und anmutig. Ich streckte die Hand aus, langsam und bedächtig. Ich wollte es greifen, dieses weiße Seil. Mich daran hinauf ziehen, aufstehen, doch es floss einfach durch meine Finger hindurch und erfüllte den Raum. Ich saß noch immer im Tollzimmer, jedoch nicht mehr an der Tür. War mein Weg dorthin ein Traum gewesen? Und wo war Mary-Ann? Sie lag nicht mehr auf dem Boden, sie war nirgendwo. Um mich herum waren noch immer die etlichen Gestalten in schmutzigen Leinenhemden, aber sie hatten keine Gesichter. Es war ein schwammiges Bild aus weiß und beige. Kein Blick, keine Augen, nur dunkle Flecken auf weißem Untergrund. Ich musste mir den Kopf gestoßen haben. Der weiße Nebel schwamm umher und zerschlug sich mit einem Mal. Er wurde zu Rauch. Der wellige Schwanz, den er hinter sich herzog, wellte in alle Richtungen wie die Freiheit selbst. Nun erstarb sie. Sie verschwand, löste sich auf und war verschwunden. Ich hielt mir den Kopf, er schmerzte unerträglich. Ein dunkler Schatten erschien vor mir, wie aus der Luft. Er war durch die Tür getreten, aber ich hatte es nicht gemerkt. Nun stand er plötzlich da. Verwirrt sah ich zu ihm hinauf. Auch er war nur ein riesiger Fleck, in der Lage, sich zu bewegen. Verzerrte Stimmen drangen zu mir hervor, wie durch eine unsichtbare Wand gepresst. Unverständliche Worte mit unheimlich starkem Echo.

„Er ist zu sich gekommen.“

„Wer?“, fragte ich, doch meine Stimme versagte. Ich hörte mich nicht. Stattdessen registrierte ich einen unheimlich bitteren Geschmack in meinem Mund. Etwas stimmte nicht. Meine Zunge war verfilzt und trocken. Sie brannte schmerzhaft, als hätte ich etwas zu heißes getrunken. Ich war nicht heiser, nein, ich war nur nicht in der Lage zu sprechen. Ich legte meine Hand an den Hals, war er noch da? Krächzend hustete und röchelte ich, schluckte und dehnte meinen Kiefer. Ich hatte Angst, zu ersticken und bekam schwerer Luft.

Ein zweiter Schatten erschien. Er war rötlich und dunkel zugleich. Die dunkelrote Farbe verwirrte mich und schmerzte in meinen Augen, ebenso wie seine Stimme.

„Lasst ihn, er soll erstmal klar werden. Bitte, so gebt mir doch den Tupfer. Ich danke, ich danke. Und nun-… Danke, sehr liebenswürdig. Aber nein, nicht so viel, nicht doch! Ja, so ist es gut.“, ich gab gequälte Laute von mir und schüttelte den Kopf. Doch so sehr ich mich wandte, der Schmerz in meinen Ohren hörte nicht auf. Der erste, dunkle Schatten hielt meinen Kopf an den Schläfen fest und man drückte mich in den Nacken. Ich wollte mich wehren, aber ich wusste nicht wie. Ich hatte vergessen, wie ich meinen Kopf bewegen kann und meine Arme heben. „Gut so, vielen Dank. So und nun zu dir. Ganz ruhig, Junge, du siehst ja schrecklich aus!“

„Wird er genesen?“

„Das will ich doch meinen, mein Lieber, das will ich doch meinen! Das wird den Armen beruhigen. Haltet ihn gut, nicht, dass er alles verschüttet!“

Man führte mir eine kleine Flasche an die Lippen. Ich bekam Panik und begann sinnloses Zeug von mir zugeben. Der Griff an meinem Kopf wurde fester und eine brennende Flüssigkeit ergoss in meinen Rachen und rann mein Kinn hinunter. Ich schrie, als der Alkohol in meine Wunden an Lippe und Innenseite der Wangen kam. Dann ließ man mich los und wimmernd und schluchzend sackte ich zurück zu Boden. Die Schatten erschienen mir riesig. Ich weinte wie ein kleines Kind, die Schmerzen wurden unerträglich und ihre Stimmen wie Hammer auf meinem Kopf. Mein Körper begann zu brennen, überall.

„Nun, das war es. Ich danke, mein Lieber.“

„Aber nicht doch, Doktor, ich helfe gern. Ich weiß, wie schwer es ist mit solchen Burschen. Ein undankbarer Haufen.“

„Für wahr, für wahr. Nun, dann gehe ich jetzt.“

„Aber Doktor!“, mischte sich eine freundliche Stimme ein. Ich erkannte sie, die Hausmutter. Hilflos suchte ich den Raum ab, auf meinem Bauch liegen und keuchend, während das irrsinnige Feuer auf meinen Rücken überging. Das Zimmer war nunmehr nur ein großes, schwammiges Bild. Flecken über Flecken, die sich bewegten und tanzten. „So bleibt doch für eine Tasse Tee. Wenn wir Euch sonst schon nichts anbieten können?“

„Aber gern meine Liebe, zu freundlich! Tee ist immer gut.“

All die Farben veränderten sich. Die dunklen Muster wurden immer mehr zu braun. Ich hörte die Tür und wie man abschloss und dann knallte ich zurück auf das Holz.

Die Medizin betäubte mich. Verzweifelt versuchte ich dagegen anzukommen. Ich überlegte, wie ich hinaus kommen konnte, wie ich mich wehren konnte. Ich sollte mich erbrechen, das war das einfachste! Doch ich konnte meine Hand nicht anheben, sie war wie aus Blei. Verzweifelt drehte ich mit aller Kraft meinen Kopf. Ich merkte, wie der Boden dabei an meinen Haaren klebte. Kraftlos sah ich zu meinem linken Arm, der reglos neben mir auf dem Boden lag. Ich versuchte, den Mittelfinger anzuheben. Stattdessen hoben sich zitternd dieser und der Zeigefinger. Ich verlor die Kontrolle über meinen Körper.

Nach gut einer Minute lag ich nur noch da. Ich lag auf dem Bauch und starrte in die bunte Welt, die vor mir flimmerte und tanzte. Elfen…, dachte ich. Überall Elfen…

Und tatsächlich erschienen kleine Wesen vor mir und die Punkte begannen zu leuchten und zu strahlen. Ein freches Mädchen mit schwarzen Zöpfen in einem grünen Kleid stand vor mir auf dem Boden und beugte sich schräg zu meinem Gesicht herunter.

Sie kicherte. Es klang wunderschön.

Dann rannte sie los, sprang und wurde ein glühender Funken, der wilde Schnüre in der Luft hinterließ. Stundenlang sah ich lächelnd den Wesen zu. Wie sie lachten, Späße trieben, sich jagten, tobten oder Händeklatsch-Spiele spielten. Irgendwann kamen die Schatten zurück, diesmal wehrte ich mich nicht und als ich wieder auf dem Boden lag, summte ich mit den Feen ein kleines Lied. Ich kannte die Melodie. Jemand hatte sie einst gesummt, irgendwann. Aber ich wusste nicht mehr, wer es gewesen war. Ich hatte Mary-Ann einfach vergessen.

Die Stimmen der Gestalten um mich herum ergaben keinen Sinn für mich, als würden sie in einer fremden Sprache sprechen und alles und jeder schien unwichtig für mich. Immer, wenn ich kurz davor stand, zu erwachen, sah ich die Gestalten und es war vorbei. Ich erkannte, wer ich war und was geschehen war. Manchmal überkam mich Angst um Mary-Ann. Und ehe ich reagieren konnte, versank ich erneut. Es ging nicht lange so, höchstens zwei oder drei Tage, aber Tag und Nacht. Ich war in einer Welt gefangen, aus der ich nicht mehr raus kam, bevor der Arzt es mir nicht erlaubte. Immer wieder aufs Neue zwangen sie mich, die Drogen zu nehmen.

Ein Mal erkannte ich den Zuchtmeister. Er saß vor mir, mich hatte er an einen Stützbalken gelehnt und sprach er mit mir und erklärte mir die Dinge. Dass ich hätte hören müssen und dass es nicht seine Absicht war, so dermaßen auszurasten. Aber passiert ist passiert. Und dann sagte er einen Satz. Immer und immer wieder:

„Du hättest nicht mit ihr schlafen dürfen, Sullivan O’Neil, das ist Sünde.“

Ich verstand diesen Satz nicht und am wenigstens seine Bedeutung. Zudem fühlte ich mich nicht in der Lage, darüber nachzudenken. Ich wollte es tun, aber ich schaffte es nicht. Sobald ich einen ernsten Gedanken fasste, trieb mich etwas anderes fort. Und wenn er fragte. „Das verstehst du doch?“, nickte ich, bis er mir lobend und sanft mehrmals auf die Wange klatschte. Dann überließ er mich wieder meinen Fantasien und dem Dämmerlicht im Zimmer. Ich wollte wenigstens mein Zeitgefühl nicht verlieren. Verzweifelt versuchte ich, auf Licht und Dunkelheit im Raum zu achten, um zu bemerken, wann Tag und wann Nacht war, doch ich schaffte es nicht. Teilweise erschien es mir, als wäre es tagelang nur dunkel und dann wenige Minuten hell.

Irgendwann hörte ich ein Geräusch. Gerade schien Tag zu sein, denn ich konnte helle Farben erkennen. Dieses Geräusch war mir unbekannt und weckte meine Neugierde. Noch immer saß ich am Balken, meine Arme hingen schlaff an mir herunter. Woher kam es?

Etwas Kleines rollte auf mich zu. Es war eine Erbse. Eine kleine, hellgrüne Erbse. Es dauerte, bis ich sie richtig erkannte. Fast, als müssten meine Augen sich erst auf sie einstellen. Sie rollte auf mich zu und wich den Gruben und Rinnen zwischen den Steinen im Boden gekonnt aus. Auf die Holzplatten, die auf Löcher und Risse gelegt worden waren hüpfte sie einfach hinauf. Es war eine kleine Hexenerbse oder ein Geist. Ein besessenes Stück Gemüse in hellgrün, doch es jagte mir keine Angst ein. Sie wippte vor meinen Augen hin und her, ehe sie sprang und dann durch die Luft flog. Ich kannte sie und ich erinnerte mich auch daran, woher:

Es war jene Erbse, die mit dem Schwanken der Caroline hin und her gerollt war, als ich hilflos darüber nachdachte, was ich tun sollte. Damals, bei meinem Gespräch mit Black.

Aber wieso hatte sie mich verfolgt? Was wollte sie von mir? Wie ein lästiges Insekt schwirrte sie umher und machte dabei ein summendes Geräusch. Sie erinnerte an eine Biene oder eine Fliege. Mal hielt sie an meinem Arm, dann auf dem Boden, am Balken oder woanders. Sie verschwand im Farbennebel und erschien dann wieder direkt vor mir.

„Wer bist du?“, wollte ich fragen, aber noch immer war ich wie stumm. Dann, plötzlich, erschien etwas Rosafarbenes. Die Hexenerbse flog gerade über meinem Kopf in Kreisen umher, plötzlich schnellte es vor, umschlang sie und zischte ebenso blitzschnell zurück. Verwirrt folgte ich der rosa Schlange und erblickte einen Frosch. Eher eine dicke, fette Kröte, deren Zunge es wohl gewesen war. Sie schmatzte und leckte sich über die riesigen, mit Warzen bestückten Lippen, ehe sie ausgiebig rülpste. Ein beißender Gestank erfüllte den Raum und grüner Nebel die Luft. Angewidert verzog ich das Gesicht.

„Das…“, sagte sie quarkig und verdrehte die Augen. „…war köstlich.“, sie blähte seinen Hals kurz auf, dann sank dieser wieder in sich zusammen und er sprang ein wenig auf mich zu. Seine grünen Füße machten schnalzende Geräusche dabei und er schien nur unheimlich mühsam vorwärts zu kommen. Ich wollte zurück weichen, doch ich konnte nicht aufstehen und der Stützbalken war noch immer in meinem Rücken. Auch der Frosch bemerkte meinen misslungenen Fluchtversuch. Er grinste und entblößte eine spitze, scharfe Zahnreihe. Seit wann hatten Frösche Zähne? „Jetzt werde ich dich fressen, dich samt Magen auskotzen und dann erneut fressen.“, erklärte er mir. „So, wie dein Bruder es dir erklärt hat.“

„Was?“, dann hörte ich ein Kratzen und Schaben. Ich sah nach rechts und erblickte die tote Katze aus Annonce. Es war die Katze, die tot zwischen lauter Müll gelegen hatte, in einer der Gassen. Nun kroch sie vorwärts, langsam und unbeholfen. Ihr Fell war blutverkrustet von den Bissen der Ratten und aus ihrer Seite lief eine stark riechende, braungelbe Flüssigkeit. Ich erkannte Maden, die zu Boden stürzten und sich unbeholfen wanden, ihres Futters beraubt. Schockiert starrte ich sie an. Ihr linkes Auge war verdreht und zeigte nach außen, scheinbar hatte man ihren Kopf von innen bereits fast zerfressen. Ihr rechtes hingegen war gar nicht mehr da. Ich starrte in das schwarze Loch, aus Angst, ein Lichtschein könnte mir ihr Inneres zeigen.

„Friss ihn nicht.“, flüsterte sie geheimnisvoll und mit krächzender Stimme. „Der ist viel zu groß für dich, dummer Frosch.“, und so kam sie zum Stehen und setzte sich auf den Boden. Sie ließ ihren Schwanz peitschen. Er war nur noch halb so lang, wie zuvor und hinterließ eine blutige Spur auf dem Boden. Die Katze putzte ihre Pfote. Ich hörte ihre raue Zunge auf ihrem Knochen schaben, denn an ihrem Vorderbein waren Fell und Haut längst verschwunden. Als sie fertig war, sah sie zu mir. Es war völlig absurd, ihr Auge schaute nicht ansatzweise in meine Richtung, aber ihr Kopf zeigte, dass sie mich sah. „Warten wir, bis er schläft, dann zerhacken wir ihn mit der Axt des Zuchtmeisters.“, sie grinste.

Der Frosch lachte und blähte seinen Hals dabei auf. „Ja! Ja, das ist gut, das machen wir!“

Die Katze grinste noch breiter und stand wieder auf. Sie setzte ihre Pfoten anmutig voreinander und kam langsam näher. „Ja, ganz recht.“, flüsterte sie. Ihr Mund stand leicht offen, Speichel tropfte herunter. Er schien zu leben, kleine Käfer waren darin und auf dem Boden begannen sie zu krabbeln und sich fort zu bewegen. Der Speichel hielt sie fest. Ein Wurm wandte sich und versuchte vergeblich sich zu befreien.

Umso näher mir die Katze kam, desto mehr grinste sie und ihr Gesicht wurde länger. Es zog sich immer mehr in die Länge. Ihre Ohren klappten zurück und verschmolzen mit dem Kopf, ihre Augen dehnten sich und ihre Lider flackerten. Sie wuchs zu einer Bestie heran, dann von dort aus zu einer Frau. Ihre Streifen verschwanden. An ihrer Stelle erschien helle, nackte Haut. Ihre Krallen wuchsen und wurden zu schmalen, dünnen Fingern. Und dann hockte Mary-Ann vor mir, auf allen Vieren kniend und kam näher, immer näher. Ich atmete schneller, ihre Augen glühten rot, ihr Gesicht glich dem puren Wahnsinn. Langsam öffnete sie den Mund und entblößte lange, blutverschmierte Zähne. Mit einem Satz sprang sie vor und biss mir in den Hals. Ich schrie auf, doch der Schmerz hörte einfach nicht auf. Im Gegenteil, er wurde unerträglicher und immer stärker. Ich kniff die Augen zusammen und schrie, dass mir der Hals nur umso schmerzte. Als ich sie wieder öffnete, waren Katze und Kröte verschwunden, aber ich sah Schatten und Flecken, schemenhafte Gestalten, Silhouetten und hörte Stimmen. Der Schrei hatte mir meine Kraft zurück gebracht und ich hielt mir die Ohren zu. Wimmernd kämpfte ich mich hoch. Die Stimmen waren zu stark, zu laut. Ich wollte weg, doch jemand hielt mich fest und man drückte mich zurück. Wild um mich schlagend wollte ich entkommen. Die Griffe waren fest und hart. Bestimmend. Erneut nahm ich die Flüssigkeit war, doch diesmal spuckte ich sie aus. „Nein!“, schrie ich wie wahnsinnig. „Hört auf, mich zu betäuben! Ich bin nicht verrückt!“

Und zeitgleich rief jemand: „Er ist völlig verrückt geworden! Die Tolle hat ihn angesteckt! So tut doch endlich etwas!“, es war der Zuchtmeister, unmittelbar neben mir. Ich stieß ihn beiseite und taumelte blindlings in jene Richtung, in der ich die Tür vermutete, doch man packte mich und schliff mich einfach zurück.

„Bleibt hier!“, sprach der scheinbare Doktor auf mich ein. „Ihr seid noch völlig verwirrt!“

„Bin ich nicht!“, fuhr ich ihn an und langsam sah ich klarer. Ich erkannte dunkle Flecken in seinem Gesicht, seine Augen. Er sah mich an und sein Blick war eine Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis. Aber er hatte falsche Ansichten. Er konnte mir nicht helfen. Er hatte gelernt, falsch zu denken und das Ergebnis wollte er nun an mir anwenden, davon war ich überzeugt.

Man packte meinen Schopf und beförderte mich unsanft zu Boden.

„Wag es nicht den Doktor anzuschreien!“, fuhr mich der Zuchtmeister an.

„Eine Unverschämtheit!“, das war die Hausmutter, irgendwo weiter rechts von mir. „Doktor, bitte, entschuldigt! Er ist ein Wahnsinniger!“

„Ganz gleich.“, näselte der Arzt hinter dem Taschentuch, das er sich vor die Nase hielt, um den Gestank zu ertragen. „Haltet ihn nur, dass ich ihm die Medizin geben kann und endlich aus diesem gottlosen Zimmer hinaus!“

„Aber ich brauche keine Medizin!“, flehend starrte ich ihn an. Der Zuchtmeister merkte sehr schnell, dass ich ihm Probleme machen wollte. Eine Kopfnuss warf mich zurück zu Boden.

„Keiner hat dir erlaubt zu sprechen!“

„So hört doch auf, den Jungen zu schlagen!“, forderte der Arzt schockiert. „So wird er ja nie gesund!“

Die Hausmutter winkte ab. „Ach… Der verträgt das. Der ist schlimmeres gewohnt.“

Und zeitgleich knurrte der Zuchtmeister: „Er soll nicht gesund werden, er soll ruhig gestellt werden! So tut doch endlich Eure Pflicht, verflucht noch eins!“

„Albert!“, schrie die Hausmutter schockiert. „Ihr flucht und das unter diesem Dach Gottes!“

Ich versuchte weg zu kriechen, aber der Zuchtmeister verpasste mir einen harten Tritt in den Rücken. Er schien die Hausmutter gar nicht zu hören.

„Du bleibst hier, verdammt! Doktor! So gebt ihm doch endlich den Trank!“

„Ich denke ja nicht dran!“, regte dieser sich nun auf. „Ich bin Arzt und kein Foltermeister! Ich habe ihn ruhig gestellt, weil Ihr sagtet, er wolle sich umbringen!“, und nun regte er sich so dermaßen auf, dass er sogar das Taschentuch von Mund und Nase nahm. „Wie könnt Ihr es wagen! Ich bin ein Mann Gottes!“

„Aber das wollte er doch.“, versicherte der Zuchtmeister.

„Das ist nicht wahr!“, schrie nun ich. Ich verstand kaum ein Wort, alles war gedämpft und verzerrt und ich spürte, wie ich schwankte.

„Halt den Mund!“, befahl der Meister, doch der Doktor stieß ihn von mir. Ich erkannte, dass er vor mir in die Knie sank und mich an den Schultern in Sitzposition zog.

„Junge, sag, wolltest du dir das Leben nehmen?“

„Was…? Nein…! Ja…! Nein, nicht hier…!“

„Er ist verrückt!“, die Hausmutter rang die Hände. „Vollkommen verrückt!“

„Nun betäubt ihn schon! Dieses alberne Gewäsch kann ja niemand ertragen!“

Doch der Doktor ignorierte sowohl Zuchtmeister, als auch Hausmutter. Er sah mir eindringlich in die Augen und bannte meinen Blick an den seinen. Ich sah nur noch ihn. Seine Augen waren grau, reines grau. Genauso wie sein Haar. Er schien, bis auf die Haut, völlig aus Stein. Dennoch war darin eine gewisse Wärme. „Nun, sage mir, Junge, wolltest du dich umbringen?“

„Nein…! So hört doch, nein…! Ja, damals, auf See…! Aber nicht hier!“, und verzweifelt schüttelte ich den Kopf und packte nun auch seine Schultern. „Bitte, so glaubt mir doch…!“

„Er lügt!“, donnerte der Zuchtmeister, doch noch einmal wagte er es nicht, mich anzurühren. „Er lügt, sobald er den Mund aufmacht! Der Teufel hat ihn!“

Ich umklammerte die schmalen Schultern des Arztes. „Das ist nicht wahr…!“ Es erschien mir, als würde alles von ihm abhängen. Wenn er mich los lässt, sterbe ich…, fuhr es mir durch den Kopf.

Der Doktor tat es dennoch. Ich sackte zu Boden und röchelte. Mir war wieder übel und in meinem Kopf dröhnten krachende Geräusche, wie die eines zusammen brechenden Hauses. Ich krallte mich an den Boden. Meine Nägel waren abgerissen und kaputt. Verwirrt sah ich auf meine Finger. Wie sie gelblich weiß wurden, als ich mich ans Holz klammerte. Ich bin nicht verrückt…! Ich bin nicht verrückt…!

„Nun.“, der Doktor wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und hielt es sich dann wieder vor Mund und Nase. „In meinen Augen ist er einfach nur durcheinander.“

„Er ist verrückt!“, keifte die Hausmutter los, wie ein aufgeregtes Huhn. Sie begann hysterisch zu kreischen und zeigte mit ihrem dicken, kleinen Finger auf mich. „Ein Wahnsinniger! Hat mich einen Mann genannt! Und unterhält sich mit dem alten Esel! Er kann nur verrückt sein!“

„Nun, meine Liebe.“, wandte der Doktor ein. „Wenn er mit einem Esel spricht ist das natürlich etwas anderes.“

„Er ist ein Mann!“, fuhr ich ihn verzweifelt an. „Der Esel ist ein Mann!“

„Er tut es schon wieder!“, die Hausmutter schlug die Hände an die geröteten Wangen. „Doktor, er schimpft den Esel einen Mann So tut doch etwas!“

Der Arzt sah hilflos von einem zum anderen.

„Nein!“, schrie ich, als er sich an mich wandte. „Er ist wirklich ein Mann! Ein alter Greis, unten, in der Küche! So glaubt mir doch…!“

Der Doktor wischte sich erneut über die Stirn. Er wurde zusehends nervöser. „Und… Und wieso… verkehrt Ihr mit einer Tollen?“

Ich starrte ihn an. Am liebsten hätte ich geschrieen: Mary-Ann ist nicht toll!

Aber hätte mir das geholfen? Wohl eher nicht. Und so wusste ich nicht, was ich sagen sollte.

„Ha!“, entfuhr es dem Zuchtmeister da und er zeigte nun ebenfalls auf mich, als hätte er den Beweis für all seine Behauptungen gefunden. „Da seht Ihr es! Verrückt ist er!“

„Bin ich nicht!“, schrie ich ihn an. „Und ich habe nicht mit ihr verkehrt!“

„Sondern?!“, schrie die Hausmutter und mit einem Mal war ihre Hilflosigkeit verschwunden. Wütend schnaubte sie und baute sich auf. „Was hast du dann gemacht, hä?! Sullivan?! Was dann?!“

„Nichts!“, flehend sah ich den Arzt an. „Ich habe nichts getan, nur meine Arbeit…!“

Aber noch ehe er etwas sagen konnte, fuhr die alte Frau mich an: „Ich kenne dich seit Kindesalter du verfluchter, kleiner Idiot! Nur Unsinn im Kopf hast du! Und Lügen und Flausen! Nicht mal das Kloster hat dir die austreiben können! Keiner glaubt dir!“, und dann wandte sie sich an den Arzt: „So tut doch etwas…! Er redet uns noch alle um den Verstand…!“

Doch der Doktor war nun vollends verunsichert. „Kloster?“, fragte er verwirrt. „Ich dachte, er wäre ein Seemann-…?“

„Ach was!“, unterbrach der Zollmeister ihn. „Das ist jetzt unwichtig, tut endlich was gegen sein Geschwafel, verflucht!“

„Albert!“, fuhr die Alte ihn an. „Fluche nicht!“

„Ach halt den Rand! Doktor, nun gebt ihm endlich die Medizin!“

Er entriss dem Arzt die Flasche, doch dieser riss sie zurück. „Halt! Wagt es nicht auch nur einen Finger mit meiner Medizin zu tun!“, er wandte sich an mich. „Ihr seid ein Mönch, Sullivan?“

Einige Sekunden antwortete ich nicht. Die alte Dame verdrehte stöhnend die Augen, ihr war das alles zu viel und der Zuchtmeister spielte mit dem Gedanken, mich einfach niederzuschlagen. Mühsam suchte ich den Raum nach den grauen Augen des Arztes ab. Später sollte ich mich an sein faltiges Gesicht kaum erinnern, voller Altersflecken und mit einer silberfarbenen Brille. Das einzige, was ich noch in Erinnerung haben sollte, waren seine kleinen, schmalen und grauen Augen. Dann erkannte ich ihn und nickte, fast ein wenig übertrieben. Mein Kopf war unheimlich schwer.

„Ja, Herr, ich bin Mönch, Herr! Im Kloster St. Marianne. Ich wurde schanghait, ich wollte nie zur See. Bitte glaubt mir doch, Herr! Ich bin nicht verrückt, das ist alles ein riesiges Missverständnis! Ich nahm nur die Beichte der Tollen ab, ich schwöre es Euch! Beim heiligen Vater!“

Nachdenklich richtete er sich wieder auf – er hatte sich zu mir gebeugt – und rückte seine Brille zurecht. „Wenn das so ist…“

Die Hausmutter war völlig verständnislos. „Ihr glaubt ihm?!“

„Wieso denn nicht?“, der Doktor zuckte mit den Schultern. „Gottes Wege sind unergründlich oder nicht?“

N-Natürlich.“, stotterte die Frau unbeholfen. Sie wollte nichts Falsches gegen den Allmächtigen sagen. „Aber… Aber er lügt! Doktor, er lügt!“

„Das lässt sich leicht überprüfen, denke ich. Fragen wir im Kloster an.“

„Fragen im-… Was?!“, schrie der Zuchtmeister. „Ist das Euer ernst?! Er ist verrückt!“

„Ich werde ihm jedenfalls nichts verabreichen, ehe ich nicht weiß, was er hat.“

Der Arzt wollte hinausgehen, doch die Alte Frau packte flehend seinen Arm. „Aber Doktor…! Er reimt sich das zusammen, er ist nicht bei Sinnen…!“

„Das werden wir sehen…“, und während er sich löste fuhr er fort: „…meine Liebe. Und nun entschuldigt mich, ich muss zum Kloster und mit dem dortigen Abt sprechen. Dringend.“

Dann drehte er wieder ab und ging hinaus.

Der Zuchtmeister starrte ihm ungläubig nach, dann zu mir. Ich hockte noch immer auf der Erde und schwankte bedrohlich. Der Raum wollte einfach nicht still halten. Gerade wollte er sich wieder auf mich stürzen, einen lauten Fluch ausstoßend, da hielt die Hausmutter ihn fest.

„Nein, Albert! Nicht! Du bringst ihn nur um!“

„Und wenn schon!“, er riss sich los, doch sie warf sich ihm erneut um den Hals.

„Nein, denk nur, was wird der Doktor dazu sagen!“ Und sie zwang ihn hinaus zu gehen und die Tür zu schließen.

Ich hockte weiterhin auf dem Boden. Verwirrt ließ ich alles auf mich wirken. Es dauerte, bis die neusten Ereignisse auch mein vollstes Bewusstsein erreichten. Als sie es dann endlich taten, überkam mich erneute Übelkeit. Der Trank des Arztes benebelte meine Sinne noch immer oder war ich einfach nur wahnsinnig geworden? Schwach ließ ich mich auf die Erde sinken und legte mich auf die Seite. Ich hörte die Verrückten hinter mir, wie sie mich musterten, tuschelten, flüsterten. Aber sie schienen weit entfernt.

„Ich bin nicht verrückt.“, flüsterte ich heiser. „Ich bin es nicht. Ich bin nicht verrückt. Ganz sicher nicht.“

Eine Sünderin und was sie zu einer Sünderin macht

Irgendwann mitten in der Nacht, es war noch immer stockdunkel und von draußen drang kein Laut zu uns herein, ging die Tür auf. Ich bekam es nur halb mit, weit entfernt und öffnete schwach die Augen. Sogar meine Augenlider erschienen mir viel zu schwer.

Eine Gestalt trat ein und die Silhouette zeigte mir, dass es der Zuchtmeister war. Er schlich sehr leise, wahrscheinlich dachte er, dass ich schlief oder er wollte die Tollen nicht wecken. Langsam kam er auf mich zu und ging dann dort noch langsamer in die Knie.

„Sullivan?“, flüsterte er.

Ich schloss die Augen und stellte mich schlafen. Ein Gespräch, mit ihm, jetzt?

Meine Knochen schmerzten noch immer und die Betäubung war mehr als nur stark. Seit Stunden hatte ich nicht schlafen können. Vergeblich versuchte ich meine Hand zu bewegen oder wenigstens einen Finger, jedes Mal aufs Neue völlig umsonst. Wenn er mich jetzt umbringen wollte, dann war ich machtlos. Wieso ihn dabei ansehen? Ich bezweifelte sogar, dass ich antworten könnte, sollte er mit mir reden.

„Sullivan?“, zischte er abermals, dann zog er mich an den Schultern hoch. „Was hat dir Mary-Ann erzählt?“ Nun begann es mich zu schwindeln, die ruckartige Bewegung tat mir nicht gut.

Verwirrt sah ich ihn an. Er war verrückt, das wurde mir nur umso klarer. benebelt fragte ich mich wer Mary-Ann war. Der Name bewegte etwas in meinem Innern. Etwas sagte mir, dass ich ihn kannte. Aber woher? Wer war Mary-Ann? Der Meister ruckte erneut an mir, deutlich fester, in der Hoffnung mich so zu wecken. „Junge, sprich mit mir! Was hat dir Mary-Ann erzählt, was weißt du?! Was hat dir die Hexe verraten?!“, aber auch, dass er lauter wurde, half nicht.

Es wurde nur wieder alles schwarz...
 

Die Betäubung ließ nach. Zwar nur langsam, aber bemerkbar drang alles in mein Bewusstsein zurück. Ich verstand, dass ich eine Chance hatte. Dass der Arzt meine Herkunft überprüfen wollte war ein gutes Zeichen. Vielleicht hatte ich Gelegenheit mit ihm zu sprechen und ihm alles zu erklären? Die Gedanken überschlugen sich, kaum, dass meine Augen geöffnet waren. Es schien, als hätte die Zeit lediglich einen Sprung gemacht.

Wenn ja, musste ich diese Chance nutzen, egal wie. Ich richtete mich langsam auf. Noch immer dröhnte mein Kopf und die dicke Luft des Raumes tat nicht wirklich etwas zu einer Besserung bei. Noch immer wirkte der Raum verschwommen auf mich und es fiel mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Die Tollen um mich herum hatten sich scheinbar an mich gewöhnt und ich verstand allmählich, wieso sie sich nicht gegen ihre missliche Lage wehrten:

Sie waren ebenso betäubt, wie ich es war. Das erklärte, wieso der Zuchtmeister Pitt, Charles und mir immer wieder ausdrücklich untersagt hatte, von ihrem Brei zu essen. Langsam sah ich mich um und versuchte das Schwindelgefühl zu ignorieren. Es dämmerte. War es morgens, oder abends? Die Tatsache, dass es minütlich heller wurde, ließ mich auf Ersteres schließen. Der Zuchtmeister war verschwunden. Das, was er gesagt hatte, erschien mir wie ein dunkler Traum und ich war sogar nicht sicher, ob es vielleicht wirklich einer gewesen war.

Wo war Mary-Ann?

War sie tot?

Ich hatte noch immer Hoffnung und wollte sie auf keinen Fall aufgeben. Sie durfte nicht tot sein, das durfte sie einfach nicht! Schwach taumelte ich durch den riesigen Raum. Die meisten schliefen noch, oder starrten leer vor sich hin. Mit Sicherheit konnten sie Dinge sehen, so wie ich und die wenigsten waren wohl angenehm. Einige der Verrückten wimmerten, andere lachten, wieder andere weinten. Es war ein Anblick, der mich schaudern ließ. Mehr als zuvor, nun, wo ich wusste, wie es ihnen wirklich ging. Wahrscheinlich sahen sie ettliche Dinge vor sich und vergaßen, was davon echt war und was die Fantasie des Sirups. Ich versuchte sie mir nicht genau anzusehen und die Gesichter der Menschen zu ignorieren. Zu viel Leid konnte ich jetzt wohl nicht vertragen. Ich war labil, nervlich schwach und mir war nach Weinen zumute. Ohne Frage eine weitere Nebenwirkung der Medizin, ich wollte schlafen, noch ein wenig davon haben und dann davon treiben, fort von hier.

Nach einigem Suchen erblickte ich Mary-Ann, zumindest glaubte ich das, denn erst war ich unsicher. Eine kleine, kauernde Gestalt lag auf der Seite vor dem Fenster, mit dem Rücken zu mir und mit kurzem, sehr kurzem Haar. Ich erkannte ihre zarten Schulterblätter, die Wirbel die an ihrem Rücken nach außen traten und ihren langen und schlanken Hals. Das konnte nur Mary-Ann sein.

Ich taumelte vor, allmählich wieder mehr Herr meiner Beine und ging hinter ihr in die Knie. Immer wieder flüsterte ich ihren Namen. „Mary-Ann…! Mary-Ann…!“, doch sie antwortete nicht. Regungslos lag sie da und atmete flach. Ich wagte es nicht, meine Hand von ihrer sich hebenden und senkenden Schulter zu nehmen, aus Angst, sie würde dann aufhören. Einfach sterben. Ihr Körper war voller blauer Flecken und an ihrer Schläfe befand sich eine blutige Wunde. Sie war bereits verkrustet und voller Schmutz. Wie lange lag sie schon hier? Und wieso kümmerte sich niemand um sie?

Hilflos sah ich mich im Raum um, aber keiner zeigte Interesse für sie. Jeder war versunken in seiner eigenen, kleinen Welt. Ich hob ihren Kopf an und legte ihn behutsam auf meinen Schoß. Wie leicht sie war, wie zerbrechlich. Abwesend unsere Melodie summend fuhr ich durch ihr kurz geschnittenes Haar und hoffte auf eine Reaktion, mehr als Warten konnte ich nicht.

Lange Zeit tat sich nichts. Wir saßen nur da und ließen die Zeit weiter laufen. Ich lauschte summend dem Atem aller Anwesenden und beobachtete ihre Brust. Sie atmete sehr schwach und kaum merkbar, ich hörte nicht auf es zu beobachteten, aus Angst, ich könnte ihren letzten Atemzug verpassen. Es war schon lange hell, als die Frau vor mir endlich reagierte. Schwach öffnete sie die Augen und sah an mir vorbei zur Decke. Wieder flüsterte ich ihren Namen. „Mary-Ann…“, doch sie reagierte erst beim dritten Mal. Es dauerte, bis sie mich zu erkennen schien und als sie den Mund öffnete um etwas zu sagen, erkannte ich einen bestimmten Geruch. Der süßliche und zugleich bittere Duft, der stets im Raum lag. Das war das Beruhigungsmittel und nun wusste ich es endlich. Nun wusste ich, wieso sie so verwirrt und gleichzeitig klar war. Mary-Ann lächelte schwach.

„Mein Prinz...“

„Mary-Ann, wie geht es dir?“, ich half ihr, sich aufzusetzen und an die Wand zu lehnen. Sie antwortete nicht. Schwach fuhr sie mir immer wieder über das Gesicht, als müsste sie sicher gehen, dass ich kein Traum war. Ihre knorrigen Finger strichen über meine Schläfen, meine Wangen und meine Lippen. Völlig unbeholfen ließ ich es geschehen. Bekam sie wirklich mit, dass ich es war? Erinnerte sie sich an die Geschehnisse der letzten Tage? Und was sollte ich tun, wenn sich die Tür öffnete? Wenn man uns erneut zusammen erwischte, würde selbst der Arzt mir nicht helfen können, aber unmöglich konnte ich sie einfach so hier liegen lassen!

Einige Zeit lang sah ich sie an und untersuchte ihren Körper, so weit ich es eben konnte. Ich war kein Arzt, aber ohne Frage hatte sie Prellungen und vielleicht sogar eine gebrochene Rippe. Ihr Atem rasselte leise und es fiel ihr schwer, Luft zu holen.

„Mary-Ann…“, flüsterte ich irgendwann und zwang sie, mich anzusehen. Es war beängstigend, wie ihr Blick ins Leere ging und sie verzweifelt versuchte, sich an mir zu halten. Selbst vor der Auseinandersetzung mit dem Zuchtmeister war es nicht so schlimm gewesen. Sowohl mit ihren kraftlosen Armen, als auch mit den Augen klammerte sie sich an mich und versuchte irgendwie hier im Raum zu bleiben. „Mary-Ann, hörst du mich?“

Es dauerte, aber sie nickte. „Ja. Ja, ich höre dich, mein Prinz.“

„Bitte. Weißt du, wieso der Zuchtmeister so zornig geworden ist? Wieso hat er uns geschlagen, wieso war er so wütend? Hat er etwas zu verbergen? Wenn ich dir helfen soll, dann musst du mit mir sprechen, Mary-Ann!“, ich erkannte an ihren Pupillen, dass sie versank und ich zwang sie, zu sich zu kommen. Ihre knochigen Schultern packend ruckte ich an ihr. Es würde wahrscheinlich Wochen dauern, bis ihr Körper gesund wurde, wenn er es überhaupt jemals schaffte. „Mary-Ann, konzentrier dich. Sag mir, was er verheimlicht. Was sollst du mir erzählt haben, sag es mir. Was ist es?“

„Verheimlicht…“; wiederholte sie abwesend und ihr Kopf sank nach vorne. Ich sah mich um, als würde ich so die Chance haben, etwas zu finden, was uns half, doch natürlich gab es dort nichts, als weitere, benommene Gestalten. Ihre Lippen waren spröde und gerissen, sie war völlig vertrocknet. Sie brauchte Wasser oder etwas zu essen und zwar dringend…! Aber woher nehmen?

„Ja, Mary-Ann.“, wiederholte ich eindringlich, damit sie bei mir blieb. „Der Zuchtmeister, was sollst du mir erzählt haben?“, dann packte ich sie erneut und schüttelte sie sanft. „Ich bitte dich, bleib bei dir. Rede mit mir! Was weißt du, was ich nicht wissen darf?“

„Vater… Er hat…“, sie schüttelte den Kopf, um die wirren Stimmen darin zu vertreiben. Es war ein verzweifeltes Bild.

„Dein Vater? Ist er dein Vater?“

„Nein... Nein, mein Prinz, nein...“

„Mary-Ann!“, ich sah mich erneut um. Gab es denn nichts und niemand, der ihr helfen konnte? Dann hatte ich eine Idee. Ich stand auf und mühsam zerrte ich sie nach oben. Ihren dünnen und knochigen Arm um meine Schulter legend begann ich damit, auf und ab zu laufen. Langsam, ganz langsam. „Komm, wach auf, du musst zu dir kommen!“

Sie hielt sich unbeholfen an mir fest: So schwach, dass sie sich nicht annähernd hätte halten können, würde ich sie los lassen. „Los, Mary-Ann, du kannst es! Beweg deine Füße! Du schaffst es!“

Wir liefen im Kreis. Die meisten Tollen sahen uns verwirrt zu und wie im Halbschlaf. Keiner schien zu verstehen, was hier vor sich ging. Ich lief mit ihr weiter und irgendwann schien sie zu reagieren. „Ja!“, feuerte ich sie an. „Ja, du kannst es! Mach weiter, Mary-Ann, gib nicht auf!“ Ihr Fuß schien sich bewegen zu wollen. Unbeholfen tat er einen Schritt nach dem anderen, tastete ins Leere, erfasste den Boden und festigte sich. Immer wieder aufs Neue verlor er den Halt, aber von Mal zu Mal wurde es besser. Erleichterung überkam mich. Es wirkte, als würde sie zurück ins Leben treten, als würde sie aus einer Welt kommen, in der sie etliche Tage und Nächte gefangen gewesen war.

Nach gut zwanzig Minuten schaffte Mary-Ann es, erste, feste Schritte zu tun. Noch immer musste ich sie halten, aber laufen tat sie alleine. „Hörst du mich?“, begann ich. Sie nickte. Es strengte sie ungemein an, bei Bewusstsein zu bleiben, aber durch die Bewegung konnte ihr Hirn sich nicht ausschalten. Wir keuchten beide und meine Schulter schmerzte, doch loslassen wollte ich nicht. Es war förmlich spürbar, wie der Saft seine Macht verlor, immer mehr erlangte ich die Kontrolle zurück. Mary-Ann musste es genauso gehen! Wir konnten der Mixtur entkommen, das wusste ich. Gemeinsam würden wir es schaffen! „Mary-Ann, spricht mit mir.“, forderte ich sie erneut sanft auf. „Was wollte der Zuchtmeister von mir? Was denkt er, hast du mir verraten, Mary-Ann? Wovor hat er Angst?“

„Ich… Ich kann nicht mehr.“

„Nein! Nein, lauf weiter!“, sie wollte sich hinsetzen und zu Boden sinken, aber ich hielt sie fest, mit aller Kraft. „Nein, du musst wach bleiben! Lauf weiter!“, sie gehorchte zitternd. Ich glaubte, in ihr Gesicht kehrte langsam die Farbe zurück. Zwar war meine Angst groß, sie würde das Bewusstsein einfach wieder verlieren, aber ihr Körper brauchte Kraft. Wie lange konnte ich sie zwingen, umher zu laufen? Nur der Teufel wusste, wie lange sie hier herum saß. Sicher hatten ihre Beine völlig verlernt zu gehen. „Mary-Ann, nun sag es mir bitte.“, allmählich schwand meine Geduld dahin, dennoch blieb ich sanft. Ich musste sie drängen, ich durfte das Thema auf keinen Fall aufgeben. „Ich bitte dich, es ist wichtig…! Wovor hat der Zuchtmeister solche Angst? Wenn ich dir helfen soll, musst du mit mir reden!“

„Ich… Mein Vater… Wegen meinem Vater. Er hat mich…“

Sie brach ab und schwankte, aber ich hielt sie fest. Ächzend unter ihrem Gewicht kamen wir kurz ins Stolpern, fingen uns aber gerade noch wieder auf.

„Hat er dich hier her gebracht?“, keine Antwort. Erneut hakte ich nach: „Mary-Ann, war er es, der dich hier einsperren ließ?“

„Bitte, ich will mich setzen… Mein Prinz, ich bitte dich…“

Es brachte nichts mehr. Ich schleppte sie mehr, als dass sie selbst ging... Selbst diese wenigen Schritte hatten gereicht, um die Frau völlig zu erschöpfen. Vorsichtig ging ich mit ihr zu Boden und ließ sie mit dem Rücken gegen die Wand sinken. Mary-Ann keuchte und rang nach Luft. Ihre Rippe schien ihr Probleme zu bereiten und ich konnte nicht anders, als leise zu seufzen. Mir fiel keine Möglichkeit ein, wie ich ihr helfen konnte... Ich wusste mir ja nicht einmal wirklich selbst zu helfen.

„Nun erzähl schon…“, bat ich sie und nahm ihre schmalen Hände. „Ich bitte dich. Wie bist du hier her gekommen? Und was hat der Zuchtmeister damit zu tun?“

„Ich… Meine Mutter hat geheiratet.“, ihre Augen irrten im Raum umher, als müssten sie sich neu orientieren. Ich suchte Blickkontakt und versuchte sie zu bändigen. So, wie der Doktor es bei mir getan hatte. Als sie mich erkannte, fuhr ein Lächeln über ihre unheimlich schmalen Lippen. „Sie hat mich mit in die Ehe gebracht.“

„Und?“, fragte ich verwirrt. „Wie kamst du hier her, Mary-Ann?“

„Ich konnte lesen. Und schreiben. Mutter lehrte es mich. Ich schrieb Bücher. Aber mein neuer Vater, er mochte das nicht.“, die Sätze kamen nur stückweise aus ihr heraus, als müsste sie sich für jeden Satz erneut sammeln. „Als sie starb, wollte er mich anklagen. Der Hexerei. Weil ich Schande über seinen Namen brachte. Ich…“, die Tolle schluckte schwer und fuhr sich über das kurze Haar, ein wenig erschrocken. Als würde sie erst jetzt merken, dass sie abgeschnitten worden waren. Dann fasste sie sich wieder etwas und murmelte verwirrt: „Ich habe geschrieben, Bücher und Gedichte… Er fühlte sich so dumm und gedemütigt…“

„Und weiter?“, leer sah sie mich an. Mary-Anns grüne Augen wirkten fast wie tot, als sie sich vorbeugte und geheimnistuerisch zischte:

„Er wollte mich verbrennen lassen. Er hatte mich eh nie gemocht. Mich, sein Stiefkind. Aber meine Schwestern flehten ihn an, mich am leben zu lassen. Und so kam ich hier her.“

„Er wollte dich aus dem Weg haben.“, nachdenklich sah ich zur Tür. Noch immer nagte in meinem Hinterkopf, dass niemand uns gemeinsam sehen durfte. Als ich mich wieder ihr zuwandte, war Mary-Ann wieder dabei zu versinken. Ich zwang sie aufzustehen und lehnte sie an die Wand, ihre dünnen Arme mit aller Kraft festhaltend. „Nicht einschlafen!“, bat ich dabei eindringlich. „Mary-Ann, sei stark! Lass nicht zu, dass die Betäubung wirkt!“, aber sie sah sich nur hilflos um und schüttelte schwach den Kopf. Die Tolle wollte wieder zu Boden sinken und sich lösen. Es kostete mich viel Kraft, sie aufrecht zu erhalten und noch mehr, zu ihr vorzudringen. Mehrmals musste ich fragen „Was hast du geschrieben?“, bis es zu ihr durch kam.

Irgendwann säuselte sie dann sinnlose Worte vor sich hin. „Die Kirche… Und der Priester… Seine Hilfe…“, bis sie mich ansah. In ihren Augen standen Tränen und sie packte mich kraftlos an den Schultern. „Mein Kind…! Er hat noch mein Kind…!“

Vollends verwirrt starrte ich sie an.

„Wer hat dein Kind? Der Priester?“

Mary-Ann nickte und flüsterte in mein Ohr: „Der Teufel… Ich sage es dir, der Teufel hat es... Und er wird kommen...“

Schon war sie wieder verloren. Mary-Ann war wieder in ihrer Welt und ich gab auf. Ich ließ sie zurück sinken und traurig betrachtete ich den zarten, dreckigen Körper vor mir. Sie summte ihre Melodie und wippte hin und her, nuschelte ab und zu ‚Der Teufel, der Teufel’ und wippte dann weiter, leise schluchzend. Es brachte nichts, es machte keinen Sinn. Ich musste woanders nach der Antwort suchen, denn hier würde ich nur noch mehr Fragen erhalten... Das, was ich verstand, ergab nur wirre Vermutungen, womöglich falsche. Es schmerzte mich, sie so zu sehen und zu wissen, ich konnte sie wohl niemals wirklich aus diesem Abgrund hinauf holen. Niedergeschlagen sah ich weg und wandte mich ab. Langsam ging ich zu meinem Stützbalken zurück, ließ mich auf den Boden sinken und lehnte mich mit dem Rücken daran, sie gedankenverloren anstarrend, wie sie sich ihrem Lied widmete und mit dem Finger Kreise auf ihren Handrücken malte. Es war vorbei.

Ich könnte versuchen zu fliehen und sie mitnehmen. Aber was dann? Ihr Körper war schwach, ihr Geist verwirrt. Wir würden keine ganze Woche versteckt bleiben können. Wo überhaupt?

Ich könnte versuchen die Tollen auf Entzug zu setzen, damit ihre Geister klar wurden. Sie würden vielleicht zu sich kommen und wir alle gemeinsam könnten ausbrechen. Und dann-...

Es war völlig absurd… Ich seufzte schwer. Keiner der hier eingesperrten Menschen konnte aufrecht gehen und wenn, dann nicht weit genug, als dass es hilfreich wäre. Wahrscheinlich standen fast alle kurz vor dem Hungertod und viele waren von Folter und Schmerzen zu geschwächt, um auch nur den Arm zu heben.

Als irgendwann die Tür aufging, hob ich nur langsam den Kopf, fast desinteressiert. Es war Pitt, der eintrat und noch langsamer und leise die Tür hinter sich schloss. Als ich die Schüssel in seiner Hand sah, verstand ich, dass er Essen brachte. Mürrisch sah ich weg. Er war schuld, dass ich in diesem Tollzimmer steckte.

Pitt beachtete meine Wut nicht und schlich zu mir. Er stellte sich unwahrscheinlich dumm dabei an und knarrte mehr beim Laufen, als fünf Betrunkene. Davon abgesehen schlurfte er, weswegen seine Stiefel hörbar über das Holz schabten.

„Sullivan!“, flüsterte der Trottel. „Sullivan!“

Entnervt sah ich ihn an. „Was ist?!“

Pitt hatte sich vor mich gehockt. Aus der Schüssel stieg beißender Geruch auf und sofort erkannte ich den Brei, den man den Irren zu Essen gab und auch den Geruch des Rauschmittels darin. Als er sie mir hinhielt, wurde mein Blick finster. Die Versuchung war groß, ihn zu essen und das alles hier leichter für mich zu machen, doch ich widerstand.

Pitt ließ die Schüssel entschuldigend sinken. „Es tut mir Leid. Bitte, iss. Ich bekomme Probleme, wenn nicht.“

„Das interessiert mich nicht.“, und leise zischte ich: „Verräter!“

Pitt schien wirklich getroffen zu sein. Er ließ den Kopf sinken und stellte die Schüssel neben sich auf den Boden, ehe er unbeholfen aufstand und nervös an seinen Fingern herum spielte.

„Es tut mir leid. Ehrlich.“

Kühl erwiderte ich: „Das bringt mir nicht viel.“, und verschränkte die Arme. „Deinen Fraß kannst du selbst essen. Und dem Zuchtmeister kannst du sagen, dass er zur Hölle fahren kann. Am besten sofort!“

Geschockt starrte er mich an. „Sullivan! Sag das nicht, er wirft dich ins Gefängnis!“

„Soll er doch.“, ich sah Pitt in die Augen. Er zuckte zusammen und in seinen Pupillen lag Angst. Ich war unsicher, weswegen. Hatte er Angst vor mir? Angst um mich? Oder einfach vor der Vorstellung, dem Meister das sagen zu müssen? „Alles ist besser, als dieses Zimmer hier. Als dieser Fraß. Denkt ihr, ich esse ihn? Dann täuscht ihr euch. Ich habe endlich kapiert, wie das hier funktioniert und ich werde gewiss nicht mitspielen!“

„Du wirst angehört. In zwei Tagen.“, lenkte er ein. „Ich habe die Hausmutter und den Meister belauscht. Sie wollen dich loswerden, dringend. Du kannst doch nicht so lange hungern!“

Was? Das erweckte mein Interesse. Ich setzte mich etwas auf, starrte hoch in Pitts Augen und versuchte, ein wenig netter zu klingen. „Erzähl mir mehr.“

Pitt reagierte auf meine plötzliche Freundlichkeit. Er lächelte leicht und wurde stolz. Das kam mir zugute, er dachte nicht nach. „Nun… Ich war in der Küche, also, davor. Und er hat gesagt, dass du weg musst, dringend. Weil du zu viel weißt.“

„Was weiß ich denn?“

Ein Schulternzucken war die Antwort. „Keine Ahnung, wirklich. Aber es ist halt so. Und deswegen wurde deine Anhörung vorgezogen. Eigentlich wären wohl erst sechs andere dran.“

„Weiß der Meister, dass du gelauscht hast?“, Pitt schüttelte seinen blonden Kopf. Nachdenklich fasste ich mir ans Kinn und sah vor mich. Ich schwieg eine Zeit. Es war natürlich gut, dass ich endlich vor den Richter durfte. Aber irgendetwas stimmte nicht. Was, wenn ich frei gesprochen wurde? Scheinbar meinte der Zuchtmeister, ich könnte eine Gefahr für ihn werden. Er konnte dann unmöglich riskieren, dass ich frei herum lief. Und wenn er mich umbringen wollen würde, dann hatte er bereits mehrere Chancen verstreichen lassen. Als ich wieder aufsah, merkte ich, dass Pitt mich noch immer anstarrte. Er sah unentwegt in meine Augen, wie ein Tier, das auf Anweisungen wartete. Ein treu ergebener Hund. Dennoch vertraute ich ihm nicht ganz und gar. Sollte ich ihn in meine Gedankengänge einweihen? Er könnte eine Gefahr für mich werden. „Was weiß du noch?“, fragte ich stattdessen nur leicht kühl.

Pitt wischte sich über die Nase und während er erklärte, fuhr er sich über den Bauch, um den Rotz an seiner Hand wieder los zu werden. „Nun, nicht viel. Aber Mary-Ann: Der Meister meinte, sie wäre krank und würde alle anstecken. Außerdem meinte er, sie wäre eine Ketzerin.“

„Was?“, ich erschrak etwas und meine Kälte ließ sofort nach. Stattdessen wich sie Besorgnis.

Pitt sah unsicher zu Mary-Ann hinüber, als könnte sie ihn anspringen oder verhexen. „Ja.“, flüsterte er dabei. „Er meint, sie ist gefährlich. Er hat den Priester geholt und mit ihm gesprochen. Ich war dabei, ich habe Kartoffeln geschält. Ich…konnte nicht richtig zuhören.“, gab er zu. „Er spricht komisch, so wie du, nur noch schlimmer. Lange Sätze und so… Richtig übel halt und so.“

„Was hat er gesagt?“, drängte ich ihn.

„Wer?“

„Der Priester! Der Zuchtmeister! Wer auch immer geredet hat! Pitt, denk nach!“

Er sah mich unsicher an. Ich setzte ihn unter Druck, das erschwerte ihm das Denken, aber er gab sich Mühe und klopfte sich mehrmals gegen den Kopf, während er auf seiner Unterlippe herum kaute. Das tat er öfters, denn er meinte, dass sein Gehirn manchmal feststeckte. Wenn man dagegen schlug, dann funktionierte es wieder – so seine Ansicht.

„Also, ähm, also.“, begann er dann zögernd. „Also, der Meister hat gesagt, sie steckt alle an und ist total verrückt und redet vom Teufel und so. Und dass er alles versucht hat sie zu heilen. Und der Priester hat immer genickt und genickt und dann… Habe ich neue Kartoffeln geholt, aus dem Lager. Und dann… Kam ich wieder und da hat er immer noch geredet und der Priester genickt und dann-…“

„Mein Gott, Pitt!“, ich sah ihn eindringlich an. „Zu welchem Ergebnis kamen sie?!“

„Sie soll geläutert werden.“, Pitt starrte mich an und dann Mary-Ann. „Er meinte halt, sie sei besessen. Also, der Priester meinte das.“

Mein Herz blieb stehen, dann sah auch ich zu Mary-Ann. Sie schien zu schlafen, denn sie regte sich nicht und gab keinen Laut mehr von sich. In meinem Hinterkopf spukte Markus herum. Jener Mönch, der damals verbrannt worden war, mein damals bester Freund.

Mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen und ich musste schwer schlucken, um ruhig zu bleiben.

„Sie wollen sie verbrennen, diese Schweine!“, flüsterte ich leise.

Pitt sah mich an. Ich spürte Unsicherheit. „Aber…das ist doch richtig so. Ich meine, sie ist besessen. Willst du auch besessen sein? Wenn sie ansteckend ist und so, dann ist das doch total gefährlich!“

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, dann schüttelte ich den Kopf. „Nein, natürlich will ich das nicht.“, war das einzige, was ich sagte. Er würde es ohnehin nicht verstehen, was hier vor sich ging und wahrscheinlich war ich der einzige Mensch auf Erden, der registrierte, dass diese Hexenverbrennungen nichts weiter als Mord waren. Ja, vielleicht war ich auch einfach nur angesteckt, verrückt, aber ich musste Mary-Ann hier raus holen, irgendwie.

Ganz gleich wie.

Ich musste es einfach...

Der Brief (3)

Werter John Anderson O’Hagan, Beauftragter der heiligen Mutter Kirche und inquisitorischer Gouverneur der Bereiche Esas, St. Katherine und Otori,
 

nun sind wir bereits am Ende des Anfangs, gleichwohl am eigentlichen Beginn angelangt. Ich bin sicher, meine kleine Geschichte geht weit über Eure Fantasie hinaus. Mehr noch:

Ich glaube sogar, Ihr hättet Euch niemals zu träumen gewagt, aus welch erbärmlichen Verhältnissen ich kam, ehe ich Euch Euer kostbares Leben zur Hölle gemacht habe.

Stimmt es Euch zufrieden, zurückzublicken in meine Euch bisher völlig unbekannte Vergangenheit und Euch zu suhlen in meinen Erlebnissen, meinen Qualen, meinem Schmerz? Ich sehe Euch vor mir, in Eurem Morgenmantel, mit dem Manuskript in der Hand und Eurem hämischsten Grinsen. Oh ja, Sullivan O’Neil, der Bastard des Teufels, eingesperrt und gedemütigt an der untersten Stelle! Im Tollzimmer, zwischen Exkrementen und Irren! Oh ja, Sullivan O’Neil, diese erbärmliche, gottlose Kreatur… Endlich dort, wo sie hin gehört!

Aber darf ich Euch daran erinnern, dass ich dort nicht war, als wir auseinander gingen, mein Freund? Oh nein, ich stand oben. Weit oben… Nicht so weit oben wie Ihr vielleicht, aber dennoch auch nicht gerade unten. Man könnte behaupten, ich habe viel erreicht in meinem Leben. Vielleicht sogar mehr als Ihr?

(Ich hoffe, Ihr empfindet diesen Satz nicht als tiefe, persönliche Beleidigung. Es ist eher als unwahrscheinlicher Spott gemeint.)

Ich lache Euch aus, mein Freund. Vor der ganzen Welt, vor Gott, vor dem gesamten Sein. Ich lache voller Hohn über Euch, der denkt, ich sei ein Wesen der Gosse, Abschaum und Dreck. Ist es nicht so, dass ich Euch immer wieder einen Kinnhaken verpasste in unserem unerbittlichen Kampf?

Ist es nicht so, dass ich Euch mehr Streiche spielte, als den Adligen in meinen Kindertagen?

Ist es nicht so, dass Ihr ergraut seid vor Frust und Zorn, weil ich einfach nicht zu fassen war?

Oh ja, ich habe wenigstens etwas für mein Ansehen getan. Und Ihr? Was habt ihr dafür getan? Ich gehe besser nicht näher darauf ein, sonst muss ich so sehr lachen, dass ich noch das Tintenfass umwerfe!

Ich habe Euch gern diesen Teil meines Lebens beschrieben, in allen Einzelteilen. Ganz recht, ich schreibe nunmehr für Euch, als für den ehrwürdigen Richter. Ich möchte, dass Ihr Euch in meinem Leiden aalt. Umso schrecklicher werden jene Tage, an denen ich auf Eurer Nase herum tanzte, ehrenwerter O’Hagan. Ihr seid ein Clown, der lacht, wenn andere hinfallen und sich den Kopf stoßen. Aber Fakt ist doch:

Ihr seid der Clown. Also werdet Ihr viel, viel öfter fallen, damit wir, die Zuschauer Eurer grandiosen Darbietung, lachen können!

Im Übrigen:

Es ehrt mich zutiefst, Gottes schützende Hand über mich zu wissen, mein Freund. Ihr habt Euch nicht verlesen, Gouverneur. Ein Priester war bei mir und nahm mir die Beichte ab und nicht nur das. Wir beteten gemeinsam zum Allmächtigen um meine Seele und mein Seelenheil. Meine Verurteilung wurde ein weiteres Mal hinaus gezogen. Amüsant, nicht wahr?

Ihr hättet den Kuttenträger sehen sollen. Totenbleich war er, als er erfuhr, wer sein kleines Lämmchen war:

Sullivan O’Neil, der größte Verbrecher und Ketzer aller Zeiten.

(Ein sehr außergewöhnlicher Titel, findet Ihr nicht?)

Ich glaube, ich habe noch nie ein Gebet mit so vielen Verwünschungen gebetet. Er merkte davon nichts und wird Euch wohl auch nichts von meiner Beichte sagen, aber seid nicht traurig: Ich dachte bei jedem meiner Flüche nur an Euch, mein Freund.

Erneut musste ich mit tiefer Niedergeschlagenheit feststellen, dass ein Schriftstück Eurerseits ausblieb. Ich bekam keine Antwort auf meine Briefe und auch keinen Kommentar zu meinen bisherigen Schriftstücken. Aus diesem Grund werde ich meine Schreiben etwas länger und ausschweifender verfassen. Ich schreibe für uns beide, sozusagen. Man muss sich immerhin austauschen. Ihr glaubt nicht, wie viel Leben in solch einem Kerker herrscht!

Vielleicht bemerkt Ihr es an meiner Art mich auszudrücken? Ich verfüge heute über außerordentlich gute Laune. Ich bin mir sicher, es ist nicht notwendig zu erwähnen, wieso ich so guter Dinge bin, aber dennoch, um Missverständnissen auszuweichen, werde ich ein wenig näher darauf eingehen. Euch zuliebe:

Mit unwahrscheinlicher Freude musste ich heute Morgen erfahren, dass Geschichten über mich die Runde machen und zwar nicht nur in unserer geliebten Stadt Annonce, oh nein, im ganzen, gesegneten Land St. Katherine! „Der Ketzer, Sullivan“, nennen sie mich „der O’Hagan zur Weißglut trieb.“ Ich habe eine wage Vermutung, fast eine Befürchtung, dass meine Manuskripte, die ich hier mir Herzblut verfasste, irgendwie an die Öffentlichkeit geraten sind. Tatsächlich soll es bereits drei Ausdrucke geben, die im belesenen Volk umher gereicht werden. Ist das nicht wunderbar? Ob es wohl möglich wäre, mir eine solche, gebundene Ausgabe zu besorgen?

Ich denke, während meiner Freizeit werde ich an einem Theaterstück arbeiten. Man soll den Glanz schließlich nutzen – so sagt man – um den Ruhm weiter auszubauen. Ich bin mir sicher, es gibt viele Menschen, die sich über ein Theaterstück von mir freuen würden. Ich dachte an eine Geschichte über zwei Männer – Ihr und Ich – und wie diese zwei sich jagen. Natürlich gewinne in jedem Fall ich – wir wollen schließlich realistisch bleiben.

Des Weiteren verfolge ich mit Freude Euer Vorgehen in der von Euch angestrebten Hauptstadt Chichao in Otori und auch Eure Maßnahmen, die dort lebenden Menschen zur Gottesfürchtigkeit zu ermahnen. Wie ich hörte habt Ihr mit Eurem kleinen Kreuzzug kläglich versagt? Das ist bedauerlich. Ich möchte Euch hiermit meine Überraschung kundtun, dass Ihr nicht bereits vorher wusstet, dass Ihr in einer solchen Stadt keine Chancen habt! Wie wollt Ihr eine Stadt zur Frömmigkeit bewegen, wenn sie die einzige, kleine Kapelle eigenhändig eingerissen haben? Ich bin mir nicht sicher, ob Euch zu vollem Ausmaß bewusst ist, welche verheerende Folgen Euer Verhalten in fremden Städten für Euer Ansehen hat. Ich mache keinen Spaß, wenn ich offenkundig behaupte, dass sogar die hier stationierten Wachen über Euch lachen. Ich weiß, das ist nichts Ungewöhnliches. Aber ist es nicht bedenklich, dass sie es nun sogar schon laut tun? Mein lieber Freund, ich bitte Euch! Ein Dreitagebart bei einer öffentlichen Ermahnung? Ist das Euer Ernst?

Ich musste mich schütteln, als ich das hörte. Schütteln vor Lachen! Und ist es wahr, dass Ihr die ganze Zeit über Taubenscheiße auf Eurem Jackett hattet, sogar bei der Begrüßungszeremonie für den Kaiser? Daran merkt man, was für einen außerordentlich guten Einfluss ich auf Euch hatte, wenn ich das mal so anmerken darf. Zu unserer Zeit habt Ihr Euch wenigstens noch Mühe gegeben mit Eurem Aufzug!

Als weiteres und letztes möchte ich anmerken, dass ich den Kerker als immer angenehmer empfinde. Meine peinliche Befragung ist vorüber und seit geraumer Zeit sind fast alle meine Wunden verheilt. Ich gewöhne mich allmählich an den hier herrschenden Alltag. Essen, Trinken, Besuch… Ich fürchte, der Priester hat Gefallen an mir gefunden. Er will nun jede Woche vorbei kommen, um meiner Seele Unterstützung zu bieten. Liebenswürdig, nicht wahr? Ich freue mich über seine Gesellschaft und seine recht amüsierenden Neuigkeiten über das Weltliche dort draußen. Vielleicht solltet Ihr ihn auch einmal aufsuchen. Ihr habt viel gemeinsam mit ihm. Der Priester ist dick und hasst Tauben. Empfindet Ihr dies nicht auch als ideale Basis für eine weitgehende Freundschaft?
 

Ich verbleibe hiermit,
 

Oliver Sullivan O’Neil.
 

Postscriptum:
 

Ich hatte gestern einen Traum, werter Gouverneur. Und er handelte von Euch. Aus diesem Grund möchte ich ihn Euch an diesem Punkt näher beschreiben. Ich denke, er kam mir in den Sinn, da ich mein komplettes Leben wieder aufrolle und durchgehe. Da beginnt man schon mal vor dem Schlafen gehen über das eine oder das andere nachzudenken. Oft fürchte ich, ich sei ein alter Mann geworden, aber dann kommt mir in Erinnerung, wie alt Ihr teilweise ausgesehen habt und es ging mir stets sofort wieder besser.

Der Traum spielte in einem Wald, Ihr habt mich gejagt – wie so oft. Erinnert Ihr Euch daran?

Diese Szene ist wirklich passiert auch wenn ich mich nur schemenhaft zurückerinnern kann.

Wahrscheinlich war ich zu aufgeregt und alles ging viel zu schnell.

Ich träume also von einem Erlebnis unserer gemeinsamen Vergangenheit… Jedoch anders, passt auf:

Ich stand mit dem Rücken an einen der grün schimmernden Bäume gelehnt, es regnete, alles war nass und es roch nach Moos. Irgendwo wart Ihr, weiß der Teufel, wo genau. Es ging um Leben und Tod. Dann hörte ich ein Geräusch. Ein Knacken, unmittelbar neben mir. Sofort wusste ich, wer gleich aus dem Gebüsch springen sollte, um mich zu packen, also nahm ich Reißaus und rannte um mein Leben.

Als ich mich umdrehte sah ich Euch. Ich drehte mich nicht lange herum, nur gut eine Sekunde, dann rannte ich weiter. Aber innerhalb dieser Sekunde erkannte ich meinen Verfolger.

Ihr ranntet mir nach, hechtetet über die Bäume und durch das Geäst, wir rannten durch Gestrüpp und Laub und das alles in einem rosa Ballkleid.

Werter John Anderson O’Hagan…
 

… Zum Teufel noch mal, habt Ihr mir etwas zu beichten?

Schnapps und Teufel

Meine Idee Mary-Ann zu befreien war leicht gesagt, mehr aber auch nicht.

Ich verbrachte die Nacht sitzend und grübelnd, doch auf eine Idee kam ich nicht einmal annähernd. Pitt hatte mich allein gelassen, den Brei jedoch neben mir hin gestellt. Ich rührte keinen Bissen an. Als der Morgen kam, wollte er mich erneut zum Essen bewegen, jedoch ignorierte ich jeden seiner Versuche. Ich fand es seltsam, dass der Zuchtmeister nicht erneut zu mir kam, nun, wo ich wach war. Dass ich im Tollzimmer untergebracht wurde, war ebenso merkwürdig. Und wieso wollte der Zuchtmeister unbedingt, dass ich von dort verschwand?

Es musste bedeuten, dass ich ihm außerhalb dieses Gebäudes weniger gefährlich werden könnte. Also musste sein Geheimnis hier sein, irgendwo, gut versteckt.

Sie stellten Mary-Ann ruhig. Ich vermutete, in ihrem Essen war von nun an eine höhere Dosis von dem Beruhigungsmittel. Ich schaffte es nicht mehr annähernd, zu ihr durchzudringen. Sie saß nur da und starrte leer vor sich hin, nicht einmal mehr eine Melodie gab sie von sich. Ich nahm mir fest vor, hier her zurück zu kehren, sobald ich frei gesprochen worden war. Man musste sie retten, ehe sie verbrennt wurde. Unbedingt!

Dann war es so weit, meine Anhörung. Der Zuchtmeister persönlich holte mich aus dem Zimmer, schweigend wie eh und je. Er war unfreundlich, schob und zog mich und sagte kein einziges Wort. Es schien fast so, als wäre nie etwas passiert, als hätte es nie eine Auseinandersetzung gegeben und als wäre ich ein normaler Insasse. Interessanterweise wurde er stets von zwei Wachmännern begleitet, was mir Nachfragen nicht möglich machte. Ich beschloss kühl zu wirken. Nicht umsonst hatte ich Wochen, fast drei Monate, Zeit gehabt, um mir mein Verhalten genaustens zu überlegen. Ich wollte stolz sein und stark wirken, aber dennoch irgendwie unschuldig. Logisch und intelligent. Ich wollte, dass, wenn ich anfing zu reden, sie mir einfach alles glaubten. Es musste einfach stimmen, was ich sagte, denn ich war schließlich nicht dumm. Diese Wirkung auf Menschen zu haben war schwer, besonders bei einem Richter - aber es war sicherlich nicht unmöglich.

Ich wurde auf den Hof gebracht und dort sollte ich mich ausziehen, was ich tat, ohne zu murren. Sie übergossen mich mit Wasser, um den beißenden Gestank des Tollzimmers los zu werden und gaben mir ein neues Leinenhemd und eine alte Hose. Das Hemd erkannte ich wieder. Die Hausmutter hatte es einem der Insassen abgenommen und ohne Frage war auch die Hose Eigentum eines Gefangenen. Man band meine Hände vor meinem Bauch zusammen und so warteten wir. Um mich herum waren vier Rotröcke postiert. Scheinbar war ich nicht der einzige, der angehört werden sollte. Ich ignorierte die gehässigen Blicke der Hausmutter und auch das düstere Gesicht des Zuchtmeisters. Viel mehr sah ich mir das alte Gebäude genaustens an. Ich inspizierte von Weiten die Fenster, die Simse darunter und auch die Wände. Ich hatte nicht viel Zeit, bald würde man Mary-Ann sicherlich abholen. Vorher musste ich einen Weg ins Tollzimmer finden – und wieder hinaus. Das zweite war ohne Frage das schwerste Unterfangen.

Eine Gruppe aus acht Gefangenen wurde zu uns eskortiert. An ihrer Spitze war Robert McGohonnay. Ich musste unwahrscheinlich lachen, als ich ihn erkannte und ließ es mir nicht nehmen, zu rufen:

„Na, Robert?! Hat wohl nix gebracht, den Katholiken das Deck zu schrubben, was?!“

Denn tatsächlich war er einer der vielen gewesen, die einen Vertrag bei O’Hagan unterschrieben hatten, um ihren Kopf zu retten. Robert schnaubte vor Wut und wollte auf mich losgehen. Man hielt ihn fest und ich lachte nur umso mehr.

Aber nicht nur er war reingelegt worden. Auch vier weitere Verräter waren dabei. Zudem ein dritter Matrose und Mathew Hullingtan Black. Der Alte Seebär war mürrisch und sichtlich mies gelaunt, großartig verändert hatte er sich im Laufe der Wochen aber nicht. Er hinkte auf seiner Krücke am Ende der kleinen Gruppe, seinen Dreispitz auf dem Kopf und mit gestutztem Bart. Ich fragte mich, wie er es angestellt hatte, in einem Gefängnis seinen Bart zu schneiden. Es war ein interessanter Anblick. Den roten Mantel hatte man ihm abgenommen, ebenso die Musketen, Messer und seinen Säbel. Dennoch wirkte er imposant und herrisch. Sein weißes Hemd war verdreckt, seine Hose voller Staub und Schlamm. Als er mich erkannte, grinste er und zwinkerte mir mit seinem Glasauge zu. Ich grinste zurück.

Die Soldaten waren mit ihm völlig überfordert. Erst wollten sie seine Hände auf den Rücken binden, dann nach vorn, dann seine Beine zusammen und immer wieder erinnerte Black sie freundlich an sein Holzbein oder seine Krücke. „Aye…“; brummte er und warf ein kurzes, amüsiertes Lächeln zu mir herüber. „Wenn die Herren so nett wären, zu beachten, dass ich den Arm zum Laufen brauche?“

Die zwei Rotröcke tauschten unsichere Blicke aus. Irgendwie mussten sie ihn schließlich fesseln. Einer von ihnen schien eine Idee zu haben und wollte die Schlaufe um Blacks Bauch binden, jedoch war dieser viel zu dick. „Bei der Jungfrau Maria – wenn es sie denn gibt!“, lachte der alte Pirat dabei. „Wollt Ihr mich umbringen? Ich ersticke!“, ich konnte mir ein Grinsen kaum mehr verkneifen und sah unschuldig zu Boden. Wie hatte ich den alten Seebären vermisst! Der nächste grandiose Plan war, die Schlaufe um Blacks Hals zu legen. „Gewöhnung für den Galgen.“, nannte Black das. Aber die Seillänge war so geringe, dass er gebeugt laufen müsste, würde man ihn am nächsten Gefangenen festbinden. Sie kamen zu dem Schluss, dass sie ihn nur um das Handgelenk fesselten, an einem Arm und so beließen sie es dann auch. Mehrmals sahen die Rotröcke unsicher nach allen Seiten. Scheinbar hatten sie Angst, erwischt zu werden.

Als alle gefesselt waren, kam wieder jener Mann von unserer Ankunft. Der dicke Kerl mit den roten Kleidern, die viel zu eng waren. Wie auch beim ersten Mal war sein Kopf puterrot. Er befahl den Soldaten Stellung zu nehmen, dann griff er eine Liste hervor und begann zu notieren. Er kritzelte unsere Namen und irgendwelche unlesbaren Dinge auf sein Pergament. Black musterte währenddessen das Werk seines Fesselkünstlers, als würde er ein Kunststück betrachten. Er drehte seine Hand und mit einem Mal war die Schlaufe schon ab. Freundlich sprach er den Rotrock darauf an und dieser band ihn wieder fest.

Ich hielt die Luft an, um nicht zu lachen, denn schon nach wenigen Sekunden war Black bereits wieder los. Der Alte beschloss, es aufzugeben. Die Soldaten waren ohne Frage zu nichts zu gebrauchen. Er seufzte, schüttelte den Kopf und nahm das Seil einfach in die Hand.

Als der Dicke fertig war, ließ er seinen Blick kreisen, um sicher zu gehen, dass er niemanden vergessen hatte und dass alle wirklich gesichert waren. Ihm fiel Blacks kleiner Unfall nicht auf, was uns nur umso mehr amüsierte. Und schon gingen wir los.

Ich war enttäuscht, als ich merkte, dass wir diesmal nicht gefahren wurden. Wir marschierten quer durch die Stadt, stets die Augen der Rotröcke im Nacken. Mehrmals kam mir in den Sinn, einfach los zu rennen, aber sicherlich hätte ein schneller Hieb mit dem Degen mich binnen weniger Augenblicke nieder gestreckt. Auch wenn ich die wage Vermutung hatte, sie würden es erst nach einigen Sekunden registrieren, dass ich überhaupt weg war, doch ich wollte nichts riskieren.

Die Bewohner der Stadt musterten uns und machten einen großen Bogen um die so schrecklichen und blutrünstigen Gefangenen. Einige Kinder liefen mit uns mit, andere wurden von ihren Eltern weg gezogen. Vorne an lief der Dicke, direkt hinter ihm Robert, dahinter fünf andere Matrosen deren Namen ich nicht kannte, drei weitere Männer, ich und zuletzt hinkte Black.

Wir alle schwiegen eine Zeit lang, aber ich wollte mit Black reden. Ihm ging es genau so, denn ich merkte, wie er versuchte schneller zu humpeln, um mich zu erreichen und so blieb ich stehen und stöhnte, während ich mir den linken Knöchel hielt: „Verdammt…!“

„Hey!“, einer der Rotröcke trat vor und sofort hielt die gesamte Gruppe an. „Was soll das?! Weiter!“

„Ja, ja.“, langsam richtete ich mich wieder auf und wollte weiter laufen, doch ich konnte nur humpelnd gehen. „Verflucht!“

„Was ist los?!“, fuhr mich der Rotrock an.

„Mein Fuß schmerzt, ich kann nicht so schnell!“

„Weiter, sage ich!“

„Ja doch!“

Die Gruppe ging weiter, etwas langsamer. Keiner der Rotröcke hatte großartige Lust, mich zu schleifen oder gar zu tragen. Black holte auf und stützte mich.

„Aye, Son, die Beine sind das Schlimmste, was?“, ich hörte ein Grinsen in seiner Stimme.

„Da sagt Ihr was.“

„Schon Angst vor dem Galgen?“, Blacks Grinsen stieg. Durch das schlechte Essen roch sein Atem mehr nach Verwesung als sonst und ich musste kurz warten, ehe ich Luft holen konnte. Ich schüttelte den Kopf und zischte: „Ich bin unschuldig, schon vergessen? Ich war nicht auf der Liste und habe den Kodex nicht unterschrieben.“

Einer der Rotröcke warf uns einen unsicheren Blick zu. „Hey. Hört auf damit, auseinander!“

Black klopfte mir auf die Schulter und während er mich wieder ließ flüsterte er: „Aye, der runde Robin geht um, Son. Und auf seiner Stirn steht sein Name.“

Erst verstand ich ihn nicht, doch dann sah ich Roberts Blick. Er hatte sich umgedreht und mich angegrinst. In seinen Augen flimmerte Wahnsinn und Hass. Er verfluchte mich und wünschte mir mehr als nur den Tod. Ich erstarrte. Er hatte mich verraten. Jemand hatte meinen Namen auf den roten Robin geschrieben und es war offensichtlich, wer das war.

Ich hörte Black ein Liedchen pfeifen, Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste. Er pfiff die Melodie und mich befiel die Gänsehaut. Ich schaffte es nicht, den Blick von Robert zu lösen und der Hass lähmte mich innerlich fast voll und ganz. Wie in Trance lief ich weiter, ich vergaß zu humpeln und die glotzenden Gesichter um uns herum waren nichts weiter, als lebendiger Hintergrund. Ich hatte verloren, ich kam an den Galgen, ich war auf der Liste der Meuterer. Und ich stand ganz oben drauf. Dieser Verräter, dieser Bastard…!

Dann begann Black zu singen:

„Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste,

Yohoho und 'ne Flasche voll Rum!

Schnaps stand stets auf der Höllenfahrtsliste

Yohoho und 'ne Flasche voll Rum!“

Und leise flüsterte ich:

„Schnaps und Teufel brachten alle um...“

Stück für Stück begann jeder der Gruppe mitzumachen und auch wenn die Wachen uns zum Schweigen aufforderten, wir sangen weiter. Nur Robert schwieg.

Es wirkte wie ein letzter Kampf, wie eine Art Siegeszug zur Niederlage. Die tiefen Männerstimmen hallten durch die Straßen und mit jedem Schritt fiel mir das Atmen schwerer. Ich fiel mit ein, um die Enge in meinem Innern los zu werden, um die Todesangst zu verdrängen. Ich stand auf dem Robin, ich stand oben drauf. Es war aus, vorbei. Wäre ich doch nur geflohen, als ich noch die Zeit dazu gehabt hatte…! Die Chance…! So sehr es ging, versuchte ich Stärke und Kraft in meine Stimme zu legen.

„Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste,

Yohoho und 'ne Flasche voll Rum!

Fünfzehn Mann schrieb der Teufel auf die Liste,

Schnaps und Teufel brachten alle um!“

Meine Knie wurden ein wenig weich, aber ich wollte das nicht. Ich wollte mir keine Schwäche eingestehen, ich wollte stark sein, irgendwie. Den Männern vor mir erging es ähnlich wie mir, nur wussten sie bereits seit längerer Zeit, dass ihr Ende nun gekommen war.

Jedes Mal, wenn wir am Ende des Liedes ankamen und es von neuem begannen, brach meine Stimme etwas bei der Zeile Schnaps und Teufel brachten alle um. Wir gingen quer über den Marktplatz und passierten den Galgen. Noch nie zuvor war er mir so riesig erschienen. Er stand bereits seit Uhrzeiten da, ich hatte den Marktplatz nie ohne ihn erblickt, aber an diesem Tag schien er mich bei Weitem zu überragen. Sein Querbalken war lang genug, um genau zehn Menschen in den seligen Tod zu stürzen. Ich schluckte schwer beim Anblick der Stricke und für einige Augenblicke verklang unser Lied. Dann sangen wir weiter, intensiver, überzeugter. Das war unser Weg, da führte nichts drum herum. Drei Männer waren gerade damit beschäftigt die vor uns Gehängten herunter zu holen und auf einen alten Holzkarren zu werfen. Beißender Geruch drang zu uns herüber und einige Krähen schreckten hoch. Sie flatterten hörbar auf, wie die Boten des Todes. Mein Blick heftete sich wie gebannt auf eine einzelne, schwarze Feder, die hinunter segelte und dann auf die Leichen. Sicherlich hatten sie gut eine Woche dort gehangen und im Wind umher gebaumelt. Aus einem von ihnen tropfte gelblich-weiße Suppe auf den Boden und die Schmeißfliegen waren so stark vertreten, dass man sie noch von weitem hörte. Ich roch das Salz und den Teer, wir waren in der Nähe des Hafens und zwischen den herunter gekommenen Häusern erkannte ich das Meer. Es glitzerte mir zu, als würde es mir die Freiheit zeigen wollen.

Dann erreichten wir das Richtergebäude. Wahrscheinlich war es das größte und einzige Haus, das in so guter Verfassung war – abgesehen von der Kirche und dem Kloster. Es war aus rotem Backstein mit hohen Fenstern und zwei riesigen Türen, fast einem Tor. Man musste eine winzige, abgerundete Treppe hinauf, die unten breiter war als oben und an deren Seiten große, dicke Geländer waren mit steinernen Kugeln an den Enden. Wir wurden hinein geführt. Ich starrte hinauf zu dem imposanten Steinwappen. Ein Stück Stein, bemalt und verziert. Es war blutrot mit einem schwarzen, eingravierten Pferd umgeben von weißen Sternen und wirkte fast wie neu. Seitlich an der Wand waren zwei Flaggen befestigt, ebenfalls jene mit dem Wappen St. Katherines und darunter war ein Schild:

„Gericht.“

Wir gelangten gerade erneut an die zweite und letzte Strophe und unser Gesang verwandelte sich in Flüstern, ehe er völlig verklang. „Und Schnaps und Teufel brachten alle um.“ Dieser Satz hallte lange in meinem Kopf nach. Während wir durch die riesigen, befliesten Flure gingen, matt beleuchtet durch die hohen Fenster und die reich wirkenden Lampen an den Wänden. In einigen Abständen standen Rotröcke bereit, stur geradeaus starrend und ich erkannte viele Türen und einige Treppen.

Dann erblickte ich ihn. Unsere Truppe hielt an und wartete, bis er an uns vorbei war. John Anderson O’Hagan. Jener Mann, den Black, ebenso der Esel der Teufel nannten.

Wie auch damals auf See trug er seinen roten Mantel, passend zu seinem Hut und eine weiße, stechend weiße, Perücke. Der Gouverneur blieb vor dem Dicken stehen. Er sah uns nicht an, im Gegenteil, wir schienen wie Luft für ihn. Er nahm dem Dicken lediglich das Schreiben ab und studierte mit kalten, eisblauen Augen das Gekrakelte. Anschließend reichte er es zurück und ging zum Richtersaal.

„Und der Teufel…“, flüsterte ich leise und schluckte schwer. „...brachte alle um...“

Das erste Duell

Wir setzten uns wieder in Bewegung und mit einem Mal lag der Tod schwer vor uns in der Luft. Der Saal schien riesig, aber kaum genutzt. Bis auf den Richter und ein paar Rotröcke war niemand im Raum, nicht einmal Geschworene oder dergleichen. Nur eine einzelne, kleine Frau saß auf einer der Zuschauerbänke. Als sie uns bemerkte, stand sie auf und starrte uns suchend an. Sie trug ein weinrotes Kleid, mit einem dunklen, schwarzen Ledermieder über der Hüfte, gefolgt vom beachtlichen Ausschnitt. Selbst von Weiten erkannte ich den übergroßen, gezeichneten Schönheitsfleck zwischen ihren Brüsten und über den viel zu roten Lippen. Ihr Gesicht war umrahmt von dunkelblonden Locken und ihr restliches Haar hatte sie zu einer beeindruckenden Frisur hoch gesteckt. Auf dem ersten Blick wirkte sie wie eine billige, für Annonce typische Prostituierte auf mich.

Black stöhnte leise: „Heiliger Jesus, wenn es ihn denn gibt, reicht ein Teufel denn nicht aus? Muss auch noch die Hölle dazu kommen?“, er zog seinen Dreispitz tiefer ins Gesicht und lief rechts neben mir, um sich zu verstecken. Ich musste grinsen, als ich verstand.

Blacks Frau reckte den Hals und versuchte den Seebären zu erkennen, aber vor lauter Rotröcke funktionierte es scheinbar nicht.

Der Richter und O’Hagan begrüßten sich sehr freundlich. Sie nickten sich zu und tauschten unwichtige, kaum ernst gemeinte Höflichkeiten aus. Ich nutzte die Chance, den Richter genauer zu mustern. Er wirkte im Sitzen recht klein und seine Lockenperücke hing an den Seiten hinunter bis zu seinen Schultern. Er war Richter mit Leib und Seele, das sah man ihm an. Obwohl die Anhörung nicht einmal begonnen hatte, hielt er bereits den Hammer in der Hand. Auf einem kleinen Schild vor ihm stand groß und lesbar Even Fulligan und ich erinnerte mich an den Mann im Käfig am Kai. Auf dem Schild hatte gestanden, dass das Urteil von Fulligan gesprochen worden war. Vielleicht hatte ich Glück und musste nicht an den Galgen, sondern wurde lediglich in einen kleinen Käfig gesperrt, schmerzhaft gebeugt mit Krähen, die mich zerpickten und versuchten, an meine Eingeweide zu kommen. Wunderbar!

Panik überkam mich und ich atmete etwas schneller. Ich wollte nicht sterben und schon gar nicht so!

Sie stellten uns in einer Reihe auf und O’Hagan stellte sich etwas abseits, rechts hinter uns. Der Richter musterte unsere Gruppe mehr als nur missgelaunt und lies seinen zusammengekniffenen Blick in aller Ruhe schweifen. Er erinnerte mich an einen Maulwurf. Sein Kopf ging von links, nach rechts. Er zuckte einige Male mit seiner blass gepuderten Nase, die an der Spitze leicht nach oben ging, doch dann stockte er und fuhr mit seinem Kopf zurück an den Anfang der Reihe. Verdutzt beugte der alte Mann sich vor und kniff die Augen noch ein Stücken weiter zusammen. Ich wurde unsicher, ob er mich anstarrte, doch als er sich die Brille aufsetzte, verstand ich.

„Mathew Hullingtan Black!“, rief er erstaunt.

Der alte Pirat grinste und hob den Hut an, eine Verbeugung andeutend. „Aye, stets zu Diensten, Käpt’n, Fulligan, Sir.“

„Aber seid-… Seid Ihr nicht verurteilt worden?“, verwirrt blätterte Fulligan in den Pergamenten neben sich herum, er konnte es nicht fassen und hielt seine Brille fest. Blacks Grinsen wurde breiter.

„Muss wohl ein Irrtum gewesen sein, Käpt’n, Sir. Bin lebendiger, als ’ne Heckwelle.“, und dabei setzte er sich den Hut wieder auf und stützte sich lässig auf seine Krücke.

Fulligan sah ihn an, wie einen Geist, dann blätterte er weiter. Irgendwann gab er auf und rückte seine Perücke zurecht, während er sich vernehmlich räusperte.

„Nun… Dann fangen wir an. Was liegt vor?“

Noch ehe er überhaupt aufsah trat O’Hagan vor. Mit den Armen hintenrum verschränkt und gestrafften Rücken gab er lautstark bekannt:

„Neun Männer, angeklagt der Piraterie, des mehrfachen Mordes, Raubes, des Angriffs auf Land und Krone, des Widerstands gegen die heilige, allmächtige Mutter Kirche, der Schändung gottesfürchtiger Frauen, der Blasphemie, der Meuterei und des öffentlichen Fluchens, sowie unsittlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit.“

Fulligan nickte, nahm ein Pergament und begann etwas zu kritzeln. O’Hagan trat wieder zurück. Gespannte Stille lag im Raum, keiner wagte es auch nur laut zu atmen. Als Fulligan dann wieder aufsah, hielten alle die Luft an.

„Gut, bringt sie zum Galgen.“, sprach er lediglich.

Die Rotröcke packten uns an den Armen und wollten uns weg führen. Geschockt starrte ich den Richter an, dann den hinaus gehenden O’Hagan. War das alles?! Das sollte die Anhörung gewesen sein?! Dafür hatte ich fast zwei Monate gelitten und geschuftet?!

Ich schrie:

„Halt! Das ist nicht wahr, das ist gelogen! Lügen! Ich kann es beweisen!“

„Ruhe!“, donnerte der alte Mann und schlug mit seinem Hammer. „Ruhe im Saal!“

O’Hagan hielt und drehte sich auf dem Absatz herum und auch die Rotröcke blieben unsicher stehen. Black lachte leise:

„Aye, jetzt geht’s rund!“

„Wer wagt es hier so herum zu brüllen?!“, schrie der Richter.

„Ich!“, man stieß mich vor, meine Hände waren noch immer gefesselt und erst jetzt merkte ich, dass Fulligan etwas höher saß, als ich stand. Dennoch fühlte ich mich nicht schwächer oder kleiner. „Das ist gelogen.“, sprach ich ruhig.

Fulligan beugte sich etwas vor und musterte mich genaustens. „So? Und wer sagt das?“

„Oliver Sullivan O’Neil, Sir.“, und ich sprach meinen Namen voller Stolz aus. „Bruder Oliver Sullivan O’Neil.“

Der Richter rümpfte jedoch nur die Nase. „Der Anführer, war ja klar. Die sind immer die Schlimmsten.“, er sah wieder auf sein Schreiben, als wäre unser Gespräch damit beendet.

„Ich bin nicht ihr Anführer.“, stellte ich kühl fest. „Ich kann ja nicht mal einen Knoten binden.“

Fulligan sah wieder auf. „Aber Ihr wisst, dass man einen Knoten binden muss auf See.“, Er zog eine Augenbraue hoch und rückte seine Brille zurecht. „Das erscheint mir jetzt nicht so, als wenn Ihr nichts wüsstet von der Seefahrt.“

„Mit allem Respekt, Euer Ehren.“, begann ich. „Einen Knoten binden, das muss man fast überall können. Sogar im Kloster.“

„Also könnt Ihr doch einen Knoten binden?“, der Richter wirkte amüsiert.

„Ich bin Mönch!“, ignorierte ich seine stichelnde Frage. „Ich wurde schanghait! Es gibt Zeugen!“

„Das ist wahr.“, bestätigte Black.

Der Richter warf ihm einen finsteren und drohenden Blick zu. „Ihr seid leise, Black! Von Euch habe ich allmählich genug!“, und das „Aye, Käpt’n.“, vom Seebären ignorierend, wiederholte der Richter spöttisch: „Schanghait.“, er sah zu O’Hagan. „Schanghait, mein Freund, habt Ihr das gehört?“

O’Hagan lächelte emotionslos. „Höchst amüsant, Euer Ehren.“

Fulligan wandte sich wieder an mich: „Wenn Ihr entführt worden wärt, hättet Ihr einen Antrag auf Befreiung bei mir abgeben müssen.“

Kurz stockte ich. „Einen was?!“

„Oder eine Entführung melden oder was der Teufel was! Wenn man entführt wird, dann will man befreit werden. So sieht es nun einmal aus. Und jetzt, hinaus mit ihnen!“

„Das könnt Ihr nicht machen!“, brüllte ich los und wehrte mich mit aller Kraft. „Ich bin unschuldig! Ich habe den Kodex nicht unterschrieben! Seht nach! So seht doch nach!“

Fulligan stöhnte entnervt und erneut hielt alles inne. Er griff einen Stapel altes Papier, blätterte abermals herum und warf ihn dann achtlos zurück auf den Tisch.

„Ja, dann habt Ihr das wohl nicht.“, brummte der alte Mann abfällig. „Ein Zettel weniger für unser Archiv.“ Er sah mich an und seine alten Augen wirkten entnervt. „Und jetzt genug. Hinaus mit ihm!“

„Aber ich habe nie einen Heuervertrag unterschrieben!“, ich gab nicht auf, ich wollte nicht. Dieser verfluchte Idiot musste doch einsehen, dass ich rein gelegt worden war!

„Das ist wahr, Käpt’n.“, pflichtete Black mir, ausgesprochen höflich, bei.

Der Richter sah ihn kurz an. Könnten Blicke töten, wäre Black wohl gestorben. Nachdem er ihn mit den Augen ein wenig bedroht und beschimpft hatte, drehte sich Fulligans Kopf zurück zu mit.

„Kein Heuervertrag? Also kommt wohl noch unerlaubtes Betreten eines fremden Schiffes hinzu.“

„Ich bin Mönch!“, schrie ich abermals. „Fragt im Kloster nach!“

„Fragt nach, guckt nach!“, keifte er plötzlich los und rang die Hände. „Genug, sage ich, genug!“

„Aber Käpt’n, Sir.“, Black trat einen Schritt vor und zog abermals den Hut, leicht entschuldigend. „Der Junge hat Recht, er ist unschuldig.“

Ich starrte Black an, dann den Richter. Dieser wiederum starrte nur zu Black. Für einige Sekunden herrschte Stille, ehe Fulligan leise, sich zur Ruhe zwingend sagte: „So? Gibt es denn mehr, als Euch, Black, die das bezeugen können?“, er sah in die Runde, aber natürlich antwortete keiner. Zufrieden lehnte er sich zurück. „Scheinbar nicht.“

Ich richtete mich etwas mehr auf und zog eine Augenbraue hoch. „Es gibt aber auch keinen, der das Gegenteil behauptet, außer Ihr!“

„Doch, mich.“, grinsend trat nun auch Robert einen Schritt vor. „Ich weiß, dass Sullivan O’Neil die Meuterei geplant und sich ausgedacht hat.“

In mir stieg von einer Sekunde zur anderen unbändiger Hass hoch. Er war so stark, dass ich begann zu schreien, als sei ich besessen. Zwei Rotröcke schossen vor und hielten mich, als könnte ich mich auf ihn stürzen.

„Weißt du nicht! Verräter! Mistkerl! Du hast meinen Namen auf die Liste geschrieben! Du warst das!“, ich riss mich los und stürmte an den Richterpult. „Euer Ehren!“, rief ich, fast schon flehend, aber eher verzweifelt. War dieser Kerl denn blind?! „Er war es! Er hat meinen Namen auf die Liste geschrieben!“

Der Richter zeigte sich jedoch eher unbeeindruckt. „Auf welche Liste?“

„Auf den runden Robin!“

„Ihr wisst davon... Sullivan, richtig?“, das war O’Hagan. Ich fuhr herum und starrte ihn an. Fast die ganze Zeit über hatte O’Hagan geschwiegen, aber nun stand sogar in seinem sonst so kalten Gesicht Schadenfreude. „Ihr wisst davon?“

„Natürlich. Ich war dabei, als er angefertigt wurde. Aber ich habe nicht unterschrieben! Sie wollten mich zwingen, aber ich habe verneint!“

„Wie armselig.“, der Inquisitions-Kapitän sah wieder nach vorn. Ich war seiner Blicke scheinbar nicht mehr würdig. „Es ist erbärmlich, wie sehr Ihr versucht, Euren Hals aus der Schlinge zu bekommen… So ist das mit den Piraten. Erst hinein in den Dreck und dann wieder hinaus wollen.“

Black lachte leise. „Ihr müsst ja wissen, wie es ist.“, aber keiner ging darauf ein.

Fulligan sah von einem zum anderen, dann räusperte er sich wieder und sagte nachdenklich:

„Nun… Dann schlage ich vor, nein, dann bestimmte ich sogar, jeder soll seine Version preisgeben und dann werde ich entscheiden, wer denn nun gehängt wird. Und die anderen sollen schon mal weg gebracht werden.“, alle schwiegen und sahen den Richter erwartungsvoll an, während die Besagten heraus gebracht wurden. Nun waren nur noch O’Hagan, natürlich der Richter, Black, Robert und ich im Raum. Abgesehen von der Frau hinter uns. Aber da sie niemand sah, wurde sie auch nicht weiter beachtet. Ich schätze, sie hatten ihren Mann neben mir nun bereits erkannt. Schon allein, weil man seinen Namen genannt hatte, aber er selbst schien sie vergessen zu haben.

Als Ruhe eingekehrt war, wandte Fulligan sich an mich. Er wirkte eher desinteressiert, als wirklich neugierig. „Nun? Dann erzählt mal Eure Version dieser Geschichte.“, und mit einer weg werfenden Handbewegung fügt er hinzu: „Aber eilt Euch. Es warten noch andere darauf gehängt zu werden.“

Einige Sekunden schwieg ich. Ich hatte viel Zeit gehabt, mir meine Geschichte zu überlegen, aber nun war sie einfach weg. Mein Kopf war leer. Es gab nur noch Zorn und Wut. Wut auf den Richter, weil er so verdammt blind war. Wut auf O’Hagan und seine arrogante Art. Und Wut auf Robert, weil er mir meine Freilassung vermiest hatte. Als ich dann alles ein wenig sortiert hatte, erklärte ich:

„Ich bin unschuldig. Ich bin ein Mönch aus dem Kloster hier in Annonce, St. Magdalene. Ich bitte Euch, wenn Ihr mir nicht glaubt, so fragt doch nach! Der Abt kennt mich, Vater Mauritius wird es Euch sicher bestätigen! Ich sollte Erledigungen für das Kloster machen, in der Stadt und da wurde ich niedergeschlagen und entführt…! Von Wilkinson…!“

O’Hagan stieß abfällig die Luft aus. „Sehr amüsant.“, Fulligans Blick wechselte zu ihm. Er sah mich höhnisch an, während er fort fuhr: „Wer würde denn bitte einen Mönch für seine Crew entführen? Nicht einmal die Inquisition nimmt Mönche in die Reihen auf.“

„Aber es war so!“, beteuerte ich. „Fragt Black!“

Die Blicke wechselten zum alten Seebären.

Dieser räusperte sich, scheinbar durfte er endlich sprechen und trat einen Schritt vor.

Dann antwortete er, lang und ausgiebig:

„Aye.“

Und sofort sahen alle wieder mich an.

„Nun…“, Fulligan rückte seine Perücke zurecht. „Und was sagt Ihr dazu, McGohonnay?“, nun sahen alle ihn an. Ich knirschte die Zähne und ballte die Fäuste. Widerwillig trat ich einen Schritt zurück und er einen Schritt vor.

Nach einigen Sekunden erklärte er knapp und recht kühl:

„Son hat angeheuert, vor einem halben Jahr. Bei Wilkinson, als Schiffsjunge. Wollte die Stadt verlassen, Euer Ehren. Hat ’ne Menge Mist gebaut und einen Haufen Leute auf dem Gewissen.“

„Das ist nicht wahr!“, schrie ich ihn an.

„Ihr seid leise!“, als ich den Mund hielt, wandte sich Fulligan erneut an Robert. „Weiter.“

„Nun…“, der ehemalige Maat warf mir einen gehässigen Blick zu. „Er hat vier unserer besten Männer getötet, euer Ehren.“

„Mord…!“, stellte der Richter fest und sah mich an.

„Pirat.“, ergänzte O’Hagan missbilligend, als wäre das nichts Besonderes.

Mir fehlten die Worte. Sie glaubten ihm mehr, als mir?! „Das ist nicht wahr!“, protestierte ich abermals. „Ich habe niemals jemanden umgebracht!“

Fulligan sah mich skeptisch an und hob eine Augenbraue. „Würdet Ihr das auch unter Eid beschwören?“

Ich meinte auf Roberts Gesicht ein Grinsen zu sehen. Ich hätte damals in der Kombüse nicht angeben sollen, dass Kai durch mich umgekommen war. Unsicher starrte ich zum Richterpult und auf die dort liegende Bibel. „Ich-…“

Doch O’Hagan unterbrach mich kühl: „Der Schwur eines Piraten ist nichts wert.“, er machte sich nicht die Mühe, seine Abscheu mir gegenüber zu verbergen. Der Inquisitionsmann drehte sich nicht einmal zu mir, als er scheinbar von mir zu sprechen begann: „Er hat die Zeit bis zur Anhörung im Tollhaus gearbeitet, Euer Ehren.“, an dieser Stelle wurde der Blick des selbstverständlich völlig neutralen Richters angewidert und er lehnte sich etwas zurück, um Abstand zu gewinnen. „Der zuständige Zuchtmeister hat mehrere Beschwerden eingereicht. Der Angeklagte soll die Tollen geschlagen und zu gottlosem Verhalten angestiftet haben.“

„Euer Ehren!“, unterbrach ich ihn wütend und trat abermals vor. „Wie soll man Gottlose zu gottlosem Verhalten anstiften?!“

„Euer Ehren.“, unterbrach abermals O’Hagan, jedoch weiterhin völlig ruhig. Ein Duell begann. „Es ist die Aufgabe des Zuchtmeisters sie zu reinigen. Dieser Mann hat sämtliche Erfolge zunichte gemacht.“

„Erfolge?!“, ich schnaubte verächtlich. „Diese Menschen verhungern und erfrieren, ich sehe keinen einzigen Erfolg!“

„Menschen!“, O’Hagan wurde ein wenig aufgeregter, langsam verlor er die Fassung. Es gefiel ihm nicht, dass man die Zeit mit mir verschwendete und sein Können als Gerechtigkeitshüter anprangerte. Black und Robert, ebenso der Richter, sahen immer zu ihm, dann zu mir. Als würde ein kleiner Ball hin und her fliegen. Wir stattdessen sahen nur nach vorn. „Menschen nennt Ihr diese abtrünnigen Gestalten Satans?!“

„Wenn sie Satans Gestalten sind, dann verbrennt sie, statt sie reinigen zu wollen!“, zischte ich zurück. O’Hagans Augen funkelten verhasst, als er leise entgegnete:

„Ich verbiete Euch, der Kirche vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen hat!“

„Also schön?! Dann versucht weiter Menschen zu reinigen, die verkommen sind und voller Bösem!“

„Ihr zweifelt die Macht Gottes an…!“, fauchte der Gouverneur mir drohend zu, bemüht nicht laut zu werden.

„Eher die Macht des Teufels, wenn ich anmerken darf, denn diese Räumlichkeiten gleichen er Hölle!“

„Ihr wagt es, ein Haus Gottes Teufelswerk zu schimpfen?!“

„Ich nenne es lediglich beim Namen!“

„Beim Allmächtigen!“, O’Hagan rang die Hände. „Und Ihr sollt Mönch gewesen sein?!“

Ich fuhr herum und warf ihm den verächtlichsten Blick zu, den ich besaß. Erst jetzt sahen wir uns an, die Luft knisterte förmlich. „Seid Ihr jemals in einem solchen Tollzimmer gewesen…?! Jemals…?!“

„Es ist ein Haus Gottes! Ich muss nicht dort sein, um zu wissen, dass alles seine Richtigkeit hat und dem Wege des Herrn entsprechend gehandelt wird!“

„Mit allem Respekt, ich war fast zwei Monate dort! Und es gleicht der leibhaftigen Hölle!“

Er zischte bedrohlich:

„Es ist ein Zimmer voller Besessene, was erwartet Ihr?! Das Paradies?!“

„Also gebt Ihr zu, dass es wie in der Hölle ist?! Euer…göttliches Reinigungs-was-auch-immer?!“

„Er hat Pfiff!“, lachte Black und nickte anerkennend, doch keiner beachtete den alten Seebären, wie so oft.

O’Hagan drohte mir: „Unterbindet diese blasphemischen Äußerungen auf der Stelle oder Ihr werdet mit starken Konsequenzen rechnen müssen!“

Ich wollte gerade etwas entgegnen, ihn anschreien, dass ich doch scheinbar sowieso hängen würde, die Wut hatte mich förmlich in ihrem Besitz - aber Fulligan schnitt mir einfach das Wort ab:

„Genug!“, wir schwiegen. Der alte Richter war sichtlich schockiert und wusste nicht, wen von uns er länger anstarren sollte und noch weniger, wem von uns Glauben schenken. Er vergaß vor lauter Aufregung mit seinem Hammer zu klopfen und tat es nun nachdrücklich etwas verspätet, um Zeit zu gewinnen, sich eine Antwort zu überlegen. Dann schnaubte er und rückte seine Perücke zurecht. Sicherlich konnte man mir ansehen, wie ich mich beherrschen musste. Nur langsam konnten O’Hagan und ich die Blicke voneinander lösen und zum Pult zurück sehen. Die Luft um uns knackte förmlich und ich meinte, Blitze zwischen ihm und mir zu spüren. Unsichtbare Spannungen, verhasste, lautlose Botschaften, gedachte Todeswünsche und Flüche.

Fulligan holte tief Luft, ehe er bemüht ruhig fragte: „Also gut... Ihr sagtet, er war im Tollhaus?“

„Als Arbeiter.“, O’Hagan nickte knapp und verschränkte die Arme wieder hinter dem Rücken. Es wirkte, als würde er nun wieder langsam zu Stein werden, aber die Tatsache, dass ich es geschafft hatte, ihn aufzuregen, verschaffte mir Genugtuung. Ich erinnerte mich an Wilkinson, an meine Begegnung mit dem Gouverneur an Bord der Caroline und auch an Wilkinsons Tod. Als der Kapitän getaumelt und gestürzt war, erschien es mir, als hätte O’Hagan etwas getan, was niemand anders hätte tun können. Seine Macht, die er über uns hatte und die er ohne zu zögern auch nutzte, verlieh mir Respekt und Ehrfurcht. O’Hagans Kälte ließ ihn unnahbar, unbesiegbar wirken. Aber nun hatte er sich aufgeregt. Er war wütend gewesen, er hatte gehasst:

Er hatte Gefühle.

Ich hatte es mit wenigen Worten geschafft seine Schale zu durchdringen. Es war nicht viel, aber mehr, als andere sich trauten. Und ich würde es wieder tun und wieder. Diese Welt musste einfach endlich begreifen, wie lächerlich dieser Mann war, mit seiner Welt, aufgebaut auf Lügen und Narretei!

„Ist der Zuchtmeister anwesend?“, Richter Fulligan sah sich im Raum um, aber natürlich war da niemand zu sehen. Dann wandte sich sein Blick an O’Hagan. „Ich würde gerne mit ihm sprechen.“

„Ich lasse ihn rufen.“, ohne auf eine Antwort zu warten drehte O’Hagan herum und ging mit großen Schritten aus dem Raum. Sein Mantel wehte und wortlos rauschte er hinter uns zur Tür. Fulligan schlug laut und stark mit seinem Hammer auf.

„Dann unterbreche ich hiermit die Verhandlung!“, und während er sich verwirrt umsah, murmelte er: „Nanu? Wo ist denn der Protokollant? Nicht da? Nun, dann soll er es nachträglich mitschreiben!“

Die Rotröcke packten Robert, Black und mich und wir wurden in eines der Nebenzimmer gebracht. Wir durften uns auf zwei sich gegenüber liegende Bänke setzen, gefesselt blieben wir dennoch und die Wachen verließen nicht den Raum. Robert setzte sich neben Black, in weiter Entfernung und sah mürrisch zu Boden. Ich war froh, dass er nicht begann zu sticheln. Mit Sicherheit hatte er Angst, würde er sich aufregen, würde er zu viel reden und dann würden seine Lügen auffliegen.

Black hingegen grinste mich unverwarnt an. Er hielt noch immer das Seil in der Hand und hatte es sich um die Handgelenke gewickelt. Es sah mehr als nur provisorisch aus, aber keiner achtete auf einen alten Mann mit Glasauge und Holzbein. Nun, wo er saß, fiel mir auf, wie viel er zugenommen hatte. Nicht enorm, aber doch bemerkbar. War es im Gefängnis etwa doch besser gewesen, als im Tollzimmer? Doch ein Blick auf den abgemagerten Robert ließ mich zweifeln. Etwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht.

„Aye, hat dem Kreuzkriecher ganz schön die Meinung gesagt, Son.“, zischte der Seebär mir anerkennend zu. Ich muss zugeben, dass mir dieses Lob gefiel und ich nicht wenig stolz war.

„Ich habe nur die Wahrheit gesagt.“

„Wahrheit zählt vor Gericht nicht, Junge. Nicht jetzt jedenfalls. Er sollte sich lieber um den alten Fulligan kümmern. Dass er ihn nicht hängt, das ist wichtig.“, er sah kurz zu den Wachen, dann beugte er sich vor. Ich tat es ihm gleich, um sein Flüstern zu verstehen, als er fort fuhr: „Und eines kann er mir glauben: Der alte Fulligan hängt gut und gern Piraten auf. Strick um den Hals und dann…“, er verdrehte die Augen und streckte demonstrierend die Zunge heraus, während er leise röchelte, doch sofort wurde Black wieder ernst. „Aber er hat ihn unsicher gemacht. Das ist gut. Vielleicht kann er das Ruder rum reißen, Son. Ich spüre Wind aufkommen. Er sollte ihn ausnutzen, eh die neue Flaute kommt.“, wie früher legte er mir seine Hände auf meine eigene, die ich auf mein Knie gelegt hatte. Ich spürte, wie hart und rau sie waren. Seemannshände…, dachte ich und es war mir unangenehm. Dennoch zog ich sie nicht zurück und sah ihn an. „Aye und er denkt doch an seine Mannschaft, das tut er doch?“

„Was meint Ihr, Black?“

Der Seemann grinste. Als ich seinen Goldzahn aufblitzen sah, wurde mir bewusst, wie lange es her war, dass wir miteinander geredet hatten. „Einer allein kann ein Schiff nicht segeln, Son, das weiß er doch?“

Ich musste unwillkürlich schmunzeln. „Keine Sorge, Black. Wenn ich hier heraus kommen sollte, nehme ich Euch mit. Ihr habt mein Wort.“

„So lobe ich es mir!“, Black lachte und lehnte sich zurück. „Er hat Pfiff, ich sage es immer und immer wieder. Nicht dumm der Junge, hab ich’s nicht von Anfang an gesagt?! Und wie ich das gesagt habe! Aus dem wird was!, habe ich gesagt, bei meinem Bart! An dem werden sich noch so einige die Zähne dran ausbeißen, was Robert?! Alter Scharlatan?! Feiger Hund?!“, doch Robert brummte nur und ignorierte den Seebären. Black lachte weiter und machte es sich gemütlich. Ich musste grinsen, schwieg jedoch.

Innerlich war ich aufgeregt. Ich fürchtete, sie würden den Zuchtmeister ausfragen, ohne mich anzuhören und ganz ohne meine Stellungsnahme entscheiden. Dann wäre es aus und vorbei. Ich stand kurz davor, ein Stoßgebet gen Himmel zu senden. Dann fiel mir O’Hagan ein.

Dieser gar nicht mehr stolze und starke Mann, oh nein. In meinen Augen war er falsch, verlogen und hinterhältig.

Ich werde ihn zu Fall bringen. Ich werde seine Lügen aufdecken. So wahr ich Oliver Sullivan O’Neil heiße…! Das nahm ich mir felsenfest vor. Und ich würde es in die Tat umsetzen, ganz sicher!

Wenn auch nicht heute.

Wer bietet mehr?

Als man uns wieder hinaus holte und zurück zum Richtersaal brachte, wurde ich mir zusehends unsicherer. Fulligan saß noch immer hinter seinem Pult wie zuvor, aber vieles hatte sich verändert. Als erstes Blacks Frau:

Sie hatte den Seebären nun erkannt und als wir eintraten, hob sie die Faust und begann zu keifen: „Mathew Hullingtan Black! Ist es also wahr, dass du wieder vor dem Gericht stehst?! Diesmal zahl ich sie nicht, die Kosten! Lass dir das gesagt sein! Zwanzig Silberlinge schuldest du mir, du Halunke!“

„Heilige Maria, wenn es sie denn gibt…“, fluchte er wieder leise und zog sich abermals den Hut tief ins Gesicht. „Kann dieses Weibsbild mich nicht endlich in Frieden lassen?!“, es klang fast wie ein verzweifeltes Jammern.

Ich beachtete sein Gesagtes gar nicht, mich zog etwas ganz anderes in den Bann:

Etwa zehn Rotröcke standen kerzengerade versammelt, wie aus Blei gegossen in einem großen Halbkreis hinter O’Hagan. Dieser war am Richterpult und flüsterte leise mit Fulligan, bis sie mich bemerkten. Sein Blick galt allein mir und in seinen Augen lag tiefer und ehrlich gemeinter Hass. Er wollte mir mit diesem Aufmarsch Respekt verschaffen und es gelang ihm. Ein Fingerschnippen und jeder der Soldaten würde mich aufspießen, ganz gleich, wie tot ich schon war.

Der Zuchtmeister war ebenfalls anwesend, genauso wie die Hausmutter. Sie hatten sich gesetzt, aber da es nun loszugehen schien, erhoben sie sich. Das gab mir etwas Hoffnung. Es könnte bedeuten, man hatte sie noch nicht angehört und so hatte ich eventuell Gelegenheit, dem Gesagten zu widersprechen.

Der Zuchtmeister hatte allem Anschein nach äußerst miese Laune. Er starrte mich an und grunzte leise und gereizt, wie ein aggressives Tier. Auch er wünschte mir das schlimmste Urteil.

Wir wurden wieder vor das Pult gestellt und ich meinte die Blicke der Rotröcke zu spüren. Fast, als würden sie genau wissen, wem O’Hagan am liebsten ein Messer ins Herz rammen würde. Dieser schlich hinter uns entlang, als würde er einen geeigneten Platz zum Stehen suchen. Er wollte uns damit nur nervös machen.

Bei Robert klappte es. Die ganze Zeit, auch während des Wartens, hatte er sich kaum gerührt und keinen Ton gesagt. Aber als ich ihm einen Blick zuwarf, erkannte ich kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn. Wahrscheinlich raste sein Herz mehr als meines. Ich hatte die Chance lebend hier heraus zu kommen – er nicht. Dennoch war ich von Feinden umgeben und hatte nur wenig Hoffnung.

Der Pirat neben mir ließ seinen Blick schweifen, ohne darauf zu achten, dass man seine Neugierde bemerkte. Dann lachte er ironisch anerkennend: „Beim Klabautermann, mit denen könnt Ihr aber nicht gerade eine Stadt einnehmen, was?!“

Diese Bemerkung lockerte mich etwas auf und ich musste grinsen. O’Hagan warf Black einen tödlichen Blick zu, dann begann Fulligan die Verhandlung. Er klopfte vernehmbar mit seinem Hammer herum, ehe er laut verkündete:

„Nun, wir haben uns heute alle hier versammelt, um, wie ja alle wissen, den Angeklagten Oliver Sullivan O’Neil zu verurteilen und zu hängen!“

„Oder frei zu sprechen.“, ergänzte Black höflich.

Mürrisch sah Fulligan ihn an, dann knurrte er: „Oder frei zu sprechen…“, anschließend räusperte er sich und nahm ein Zettelchen von seinem Pult. Mit zusammengekniffenen Augen las der Richter vor: „Er ist angeklagt der Piraterie, des mehrfachen Mordes, Raubes, des Angriffs auf Land und Krone, des Widerstands gegen die heilige, allmächtige Mutter Kirche, der Schändung gottesfürchtiger Frauen, der Blasphemie, der Meuterei und des öffentlichen Fluchens, sowie unsittlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit.“

Eine Frau begann zu lachen und fast wie mechanisch drehten sich alle zu Blacks Weibsbild herum. „Der junge Kerl?!“, sie schien sich kaum halten zu können und klopfte sich auf den Rock. „Dass ich nicht lache!“

Fulligan war verwirrt und holte mit einem Wink O’Hagan zu sich heran. Dann begannen sie zu flüstern. „Wer ist das, O’Hagan? Eine Zeugin?“

„Nein.“, gab der Gouverneur verlegen zu. „Ich fürchte eine Freundin der Piraten.“

„Eine Freundin?!“

„Ja, Euer Ehren. Es scheint so.“

„Und was macht sie hier?“

Der Gouverneur räusperte sich, salutierte leicht und befahl zwei Soldaten sie fort zu bringen. Dann fuhr man fort, als sei nichts gewesen. Ich sah zu, wie man die Frau an den Armen packte und hinaus schliff. Sie schrie und lachte wild durcheinander. Ich fragte mich, ob sie wohl betrunken war und dann waren die drei verschwunden. Ein Blick zu Black zeigte mir sein höhnisches Grinsen. Vorerst war er sie wohl wieder los. Noch lange hörte man ihre krächzende Stimme durch die Flure schallen und es fiel mir schwer, Fulligan weiter zuzuhören.

„Nun… In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei dem Angeklagten um einen Geistlichen des Klosters St. Marianne handelt, hat der Angeklagte selbstverständlich das Recht, angehört zu werden, ehe wir ihn verurteilen und hängen.“

„Oder frei sprechen.“, lächelte Black freundlich, seinen Hut leicht anhebend.

Fulligan wiederholte knurrend: „Oder frei sprechen…“, dann drehte er ab und wandte sich an den Zuchtmeister. „Nun… Ihr seid?“

„Albert Sillygan, Euer Ehren.“

„Albert Sillygan. Sehr schön, sehr schön. Und weiter? Was macht Ihr hier?“, verwirrt drehte Fulligan sich zum Gouverneur. „O’Hagan, was macht der Kerl hier? Kann man nicht mal mehr in Ruhe eine Verhandlung führen?!“

„Er ist der Zuchtmeister des katholischen Armenhauses, Euer Ehren.“

„Ah…“, Nun drehte Fulligan sich wieder zurück. „Nun, Mister Sillygan? Erklärt uns Eure Sicht der Dinge. Und Ihr…“, dies war an mich gerichtet. „…habt Pause!“

Albert trat vor und fingerte an seiner Mütze herum. Scheinbar hatte er sich das schäbige Wollstück aufgesetzt, da er meinte, es würde vornehmer aussehen. Stattdessen waren seine dünnen, ergrauten Haare nun aufgeplustert und erinnerten an einen alten Esel. Er sah mich kurz abschätzend an, als müsste er sich noch einmal eine feste Meinung bilden. Alle warteten geduldig. Als der Meister dann zu sprechen begann, galt seine Aufmerksamkeit nur Fulligan:

„Nun, der Kerl kam zu uns, Euer Ehren und wollte unbedingt Arbeit. Er sollte eigentlich ins Gefängnis… Das Mitleid, Euer Ehren, Ihr kennt mich. Hat gebettelt, er möchte ins Tollhaus. Gut, dachte ich mir, soll er kriegen. Hab ja so selten neue Jungs dort.“

„Und wie hat er sich so gemacht?“, fragte Black. „Hat Pfiff der Bengel, was?“

Drohend funkelte Fulligan ihn an. „Ich stelle hier die Fragen!“, und so fragte er den Zuchtmeister: „Und wie hat er sich so gemacht, Mister Sillygan? Wirkte Sullivan O’Neil gottesfürchtig auf Euch?“

Das brachte den Mann zum lachen. Er schnaubte verächtlich und winkte ab. „Gottesfürchtig?! Der?! Hat mehr gefressen als alle zusammen. Völlerei nenn ich das. Und gebetet?! Der?! Nie! Geprügelt hat der sich. Mit Arbeitern, mit den Tollen…“, ich wollte etwas einwenden, aber Fulligan ahnte es bereits und sein Blick brachte mich schnell zum Schweigen. „Nicht nur das… Gestohlen. In der Küche. Für noch mehr Essen. Der Kerl hat mir nur Scherereien gemacht. Dann hatten wir eine Überschwemmung, deswegen gab es keinen Platz im Gefängnis für ihn. Sonst hätte ich ihn ja einfach weg gesperrt…! Nun, dachte ich, musst du eben härter durchgreifen. Wenn was geklappt hat, dann nur mit Ohrfeigen.“, und dabei schlug er mehrmals demonstrierend mit der Faust in die offene Handflächen. „Bei solchen Kerlen muss man hart durchgreifen, Euer Ehren. Wolf im Schafspelz, ich kenn solche Lausebengel. Die werden nie erwachsen. Da darf man nicht nachlässig werden.“

O’Hagan nickte, schwieg jedoch.

Auch Fulligan bestätigte das Gesagte mit einem Nicken. „Ich verstehe…“, dann wandte er sich an die Hausmutter. „Und Ihr seid?“

„Margret Sillygin, Euer Ehren. Ich bin zuständig für die Verpflegung des Armenhauses. Ich leite die Küche.“, nun trat auch sie vor und machte einen übertriebenen Knicks, wobei ihre Brüste den Rosenkranz fast erdrückten. Die kleine, dicke Frau war enorm höflich und zeigte ihr schönstes Lächeln, als sie sich wieder aufrichtete. Fulligan erwiderte den Blick freundlich. Wenn er eines mochte, waren es gottesfürchtige Frauen. Die waren ihm sympathisch.

„Nun, was könnt Ihr berichten, Miss Sillygin? Empfandet Ihr Sullivan O’Neil als gottesfürchtig?“

Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Nein, Euer Ehren.“, und fast schon entschuldigend fuhr sie fort: „Ich habe wirklich alles versucht, alles… Aber ihm war einfach nicht zu helfen. Was er braucht ist eine ordentliche Behandlung, durch einen Priester vielleicht. Er war ja bereits als Kind in unserem Waisenhaus. Ein schrecklicher Junge! Hat gelogen, gestohlen! Wie oft hat der gute alte Vater Antonius sich seiner angenommen, wenn er uns besuchte, um den armen Kindern zu helfen den heiligen Vater zu erkennen? Der Jungen ist nicht mehr zu retten…, hatte er immer gesagt. Der hat den Satan im Blute…“, wütend starrte ich sie an, aber sagen tat ich nichts. Vielmehr erwiderte ich ihren hasserfüllten Blick, als sie sich zu mir drehte. Nach einer kurzen Pause seufzte sie theatralisch. „Es tat mir so leid, als ich ihn wieder sah. Habe ich ihn doch gleich erkannt! Oliver, mein Sorgenkind. Mein lieber, kleiner Oliver. Aber selbst die Zeit im Kloster hatte das Blag nicht verändert! Der Kerl hat mich beleidigt, gleich am ersten Tag und mich bestohlen! Heimlich genascht, gelästert! Und-...“

Fulligan unterbrach sie. „Danke, das reicht.“, und mit übertriebener Höflichkeit verneigte sie sich und trat wieder zurück. „Nun…“, der Richter sah mich mit abschätzendem Blick an. Er schien nicht sonderlich nachzudenken, jedenfalls wirkte er nicht so. Nach einigem Schweigen und nachdem er jeden einmal angesehen hatte, räusperte er sich vernehmlich. „Hiermit verurteile ich Oliver Sullivan O’Neil-…“

„Euer Ehren!“, entfuhr es Black und mir gleichzeitig. Instinktiv sah ich ihn an und ließ ihm den Vortritt. Der alte Seebär zog grimmig den Hut.

„Ich bin hier Zeuge!“

„Ihr Piraten haltet zusammen.“, brummte O’Hagan.

Black funkelte ihn finster an. „Aye, vielleicht, aber mit allem Respekt.“, er sah wieder zu Fulligan. „Auch Geistliche können das. Und ich als ehemaliger Klosterschüler-…“

Nun lachte O’Hagan laut auf. „In Kindertagen, Black! Ihr haltet den Mund!“

Düster sah Fulligan zum Gouverneur. „Er soll sprechen.“ Sowohl ich, als auch Black wussten, dass den Seebären nur sprechen ließ, da O’Hagan es ihm verboten hatte. Aus Trotz, als Beweis seiner Autorität. Aber Black genügte es und schon humpelte er ein wenig vor.

„Aye, ich weiß nicht viel. Ich war Seemann, mein Leben lang: Doch eines weiß ich ganz sicher: Der Junge hat Pfiff und ’nen verdammten Schiss vor dem da oben!“, und dabei zeigte er mit seiner Krücke zur Decke.

Fast alle folgten seinem Blick, ehe sie begriffen, dass er den Allmächtigen meinte. Dann sahen sie ihn wieder an.

Fulligan wirkte nicht sonderlich interessiert. „Und wie kommt Ihr darauf?“

„Das ist einfach, Käpt’n.“, Black grinste und nickte anerkennend. „Wenn die Mannschaft ihn gehasst hat, dann wegen seiner Gottesfurcht, mein Wort darauf. Hat gebetet der Hund, bei jedem Mahl.“

„Ich habe ihn nie beten sehen!“, warf Robert ein.

Black verdrehte die Augen. „Natürlich nicht! Hat’s dann gelassen. Aus Schiss vor der Mannschaft, Käpt’n. Raue Gesellen sind das. Will man nichts als Feinde haben.“

„Und weiter?“, fragte O’Hagan spöttisch. „Ist das alles, was Ihr dazu zu sagen habt? Dass er Tischgebete kann? Das wundert mich nicht, er war schließlich Mönch.“

„Beim Klabautermann!“, knurrte Black. „So lasst mich doch aussprechen. Ihr werft den Anker, ehe Ihr bei Land seid, verflucht!“, Black setzte sich mürrisch den Hut auf und lehnte sich auf die Krücke. „Als der alte Wilkinson ihn gekauft hat, war er sturzbesoffen, darauf können sich die Herren verlassen. Aber noch eines sollten sie wissen: Geheult hat er, wie ein Windelbalg! Der alte Robert, der ist abgezischt. Zum Wilkinson. Arschkriechen. Melden, dass Son ’ne absolute Landratte ist. Lorbeeren kassieren für seinen Fund, wie ein Köter, mein Wort darauf. Aber ich, ich bin bei ihm geblieben, beim Oliver. Son, heißt er bei uns, Son der Schiffsjunge.“

O’Hagan verdrehte die Augen. „Bei uns…“, wiederholte er entnervt. „Keinen interessiere die Kosenamen, die Ihr Piraten Euch gebt! Sagt endlich, was Ihr zu sagen habt oder geht zum Galgen, wo Ihr hingehört!“

„O’Hagan!“, fuhr Fulligan ihn an und schlug sein Pult mit dem Hammer so stark er konnte. „Nun ist aber genug! Ihr schweigt, wenn Ihr nicht gefragt seid!“

„Mit allem Respekt, Euer Ehren!“, O’Hagan zeigte aufgebracht auf den völlig ruhigen Seebären. „Dieser Mann leiert seinen Text hinunter, wie die Heiden die Gebete! Wir haben noch genug andere Angeklagte! Werft ihn in den Kerker und schickt ihn morgen früh an den Galgen, wie diese blasphemische Ratte es verdient hat!“

„Genug jetzt! Dies ist mein Richtersaal und hier wird mir niemand vorschreiben, was ich zu tun und was ich zu lassen habe!“, und bei seinem letzten Satz begann Fulligan so laut zu sprechen, dass seine Stimme piepsig wurde: „Weder Ihr noch der Papst höchstpersönlich!“, die zwei starrten sich wütend an, aber O’Hagan gab nach. Sofort wechselte sein Blick zu mir. Fast, als könnte ich etwas dafür, dass Black unbedingt sprechen wollte. Dieser zeigte sich amüsiert und räusperte sich etwas übertrieben. Fulligan schnaubte, dann wandte er sich an Black und rückte aufgebracht seine Perücke zurecht. Gereizt befahl er: „Fahrt fort! Und jede Unterbrechung wird nun mit einer Geldstrafe geahndet!“

Das ließ der Seebär sich nicht zweimal sagen und er holte zu einer weiten Geste aus. „Nun gut, ich will nicht zu ausschweifend werden… Hat jedenfalls geheult, dass er getrunken hat. Schlimmer als ein Fass mit Loch. Beim Allmächtigen, den es sicher gibt…“, er nickte O’Hagan zu, dann fuhr er fort: „Er hat getrunken der Junge, im Wirtshaus und dann war er weg. Er wollte gar nicht und hat gejammert und gewinselt. Er will ins Kloster zurück, Buße tun für sein Vergehen. Hat mir in seinem Rausch geschworen, dass man ihm das eingeflößt hat, ohne dass er’s merkte.“

„Das ist gelogen!“, schrie Robert aufgebracht dazwischen. Aber noch ehe Fulligan reagieren konnte fuhr Black herum, packte ihn am Kragen und zog den jungen Mann ganz nah an sein Gesicht. Er zischte hasserfüllt und nur für die zwei und mich hörbar:

„Robert Iven McGohonnay…! Überlege dir gut, was du zu sagen hast, sonst sagst du bald nichts mehr, mein Wort darauf…!“, dann stieß er ihn weg. Es ging so schnell, jeder starrte die beiden an. Black wandte sich lächelnd zurück an Fulligan, plötzlich ganz nett und freundlich. „Verzeihung, Käpt’n, manche Idioten vergessen, dass man andere nicht unterbrechen darf. Höflichkeitsformen? Auf See?“, er lachte. „Raubeine, sag ich doch, allesamt!“

Robert starrte ihn hasserfüllt an und rückte sein Hemd zurecht, schwieg jedoch. Unsicher sah ich von ihm zu Fulligan, aber keiner schien sich für die Kabbeleien zweier Piraten zu interessieren. Außerdem sprach Black bereits weiter:

„Dann der erste Sturm, bei meinem Holzbein, das war die Hölle!“, er sah O’Hagan entschuldigend an und hob den Hut. „Im übertragenen Sinne, versteht sich…“, entnervt zeigte O’Hagan ihm mit einem Wink, dass er einfach fortfahren solle. „Nun, da haben alle Schiss gehabt. Ist ja auch ne heftige Sache, wenn der Herr Gott richtig anfängt zu toben. Aber der Son… Der ist fast gestorben, im Kopf.“, Black tippte sich gegen die Schläfe. „Hier oben…! Absolutes Wrack. Hat nichts auf die Reihe bekommen, konnte nicht mal mehr gerade stehen. Der Bengel hat auf Deck gehockt, die Wellen an die Birne bekommen und gebetet, als wäre sein letzter Tag gekommen! Das nenne ich Gottesfurcht, Käpt’n! Einwandfreie Gottesfurcht! Und wehe, wenn sich jemand an seinem Teil vergriffen hat. Da ist er richtig gefährlich geworden!“

„Mathew Hullingtan Black!“ Fulligan starrte Black an, als hätte er sich verhört.

Ich tat es ihm gleich. Ich konnte spüren, wie meine Ohren rot anliefen und am liebsten wollte ich den Seemann zum Schweigen bringen. Aber dieser hatte nun die Erlaubnis zum Reden bekommen. Und das tat er auch.

„Aber nein! Nein, nicht das! Käpt’n, also wirklich! Was denkt Ihr?!“, der alte Seebär lachte, humpelte zu mir und legte seinen schweren Arm um meine Schulter. „Seinen Rosenkranz meine ich. Wenn den jemand haben wollte, dann war der Kleine hier mehr als nur wütend. Nicht aus den Augen gelassen hat er ihn. Sogar bei der Katze, aye und das war was. Wurde ausgepeitscht zu Anfang, weil er-…“

„Das interessiert uns nicht.“, stellte O’Hagan fest. „Ich bin der Meinung, wir haben genug gehört. Wie gottesfürchtig und loyal unser lieber Oliver Sullivan O’Neil war.“, er stellte sich auf – O’Hagan hatte sich gelangweilt gegen einen der Geschworenenpulte gelehnt – und ging hinter uns entlang zur anderen Seite. Völlig ruhig und gelassen.

„O’Hagan, ich bestimmte, wann es genug ist.“, knurrte Fulligan.

Doch der Gouverneur ignorierte diesen Satz und kam zum Stehen. Er drehte sich zu uns. „Gut… Dann steht es nun… Drei zu zwei.“

Unsicher sah ich O’Hagan an. „Drei zu zwei, Sir?“

Der Gouverneur wandte sich an den Richter. „Mister Black - Euer Ehren - und Sullivan O’Neil selbst sind der Ansicht, er wäre unschuldig und durch ein Missverständnis an die Verbrecher geraten. Mister und Miss Sillygin, so wie Robert Iven McGohonnay sind anderer Meinung. So steht es drei zu zwei. Er ist schuldig.“

„Moment!“, ertönte es dann hinter uns. Alle fuhren herum. Ich traute meinen Augen nicht. Der Arzt, jener aus dem Tollhaus, eilte herein. Er trug eine weiße Perücke und einen langen, schwarzen Gehstock bei sich. Im ersten Moment musste ich an Blackburn denken, jedoch war sein Mantel dunkelgrün und aus Samt. Er hatte goldene Verzierungen und an seinem Hemdkragen war ein spitzenverziertes Stück Stoff, fast wie ein Halstuch. „Ich sage, er ist unschuldig!“

Gereizt starrte O’Hagan ihn an. „Und Ihr seid?!“

„Stonelay. Doktor Stonelay.“, er kam zwischen Pult und der Gruppe zum stehen und nestelte an seiner kleinen Brille herum. „Ich habe diesen Mann behandelt. Im Tollhaus, Euer Ehren. Und aus Eigeninteresse überprüft, ob er wirklich ein Mönch war. Und dem war so.“

Fulligan starrte ihn nur an, dann nickte er unsicher. „Das ist uns bekannt.“

„Sehr gut, sehr gut. Aber noch etwas: Als ich den dort zuständigen Abt auf ihn ansprach – ein außergewöhnlich alter Mann, muss ich mit gebührendem Respekt hinzufügen – war er mehr als nur erleichtert, vom Wohl seines – wie sagte er? – Schafes zu hören. Oliver gilt als durchaus braver und wohlerzogener Gottesdiener. Man hat ihn tagelang suchen lassen, aus Angst um sein Wohlergehen.“

Der Richter nickte anerkennend und wandte sich an O’Hagan. „Nun, dann haben wir nun drei zu drei. Er ist unschuldig.“

„Vier zu drei.“, zischte O’Hagan hasserfüllt. Der Gouverneur trat vor und starrte mich an. Er kam ganz dich an mich heran und seine Augen waren so voller Wut und Abscheu, dass ich mich für einen kurzen Moment aus dem Saal wünschte. „Ich bin Zeuge, dass dieser Mann schuldig ist…!“, dann drehte der Gouverneur sich zu Fulligan herum und straffte sein Kreuz. Ruhig verkündete er: „Dieser Mann ist Pirat, mehr als das. Er ist ein Sinnbild des Abschaums, welcher durch den Abtrünnigen selbst auf dieser Erde wandelt…! Ich habe die Aufgabe, diese Stadt von solchen abstoßenden Kreaturen zu reinigen und das werde ich…! Ich, John Anderson O’Hagan, klage ihn an, von mir aus, außerhalb meines Dienstes. Somit steht es vier zu drei, Euer Ehren, schuldig!“

Ich hatte das Gefühl, zu fallen. Die ganze Zeit war ich still gewesen, doch nun überschlug es sich in meinem Kopf. Jeder, der für mich sprechen konnte, hatte ausgesagt. Wen sollte ich vor Gericht rufen lassen? Wer konnte mir noch helfen? Käse? Unmöglich! Er gehörte zu O’Hagan, er würde niemals für mich aussagen, schon gar vor Zuchtmeister und Hausmutter.

Mary-Ann?! Unmöglich…! Sie war eine Tolle und würde ohne Frage sämtliches Gesagtes nur noch mehr in Zweifel ziehen, als ohnehin schon…! Den alten Esel? Den könnte ich problemlos fragen, aber wer würde aus seinem Gewäsch schlau werden? Geschweige denn es verstehen? Doch dann klärten sich meine Gedanken von selbst, als Fulligan sprach:

„Ich jedoch sage, er ist unschuldig. Somit steht es vier zu vier. Unser aller Herr Gott soll das Urteil sprechen!“

DAS weiß nur der Allmächtige selbst...

Ich hatte den Richter angestarrt, als wäre er ein völliger Idiot und alle anderen taten es mir gleich. Doch keiner wagte es, etwas zu sagen. Es war offensichtlich, dass er dieses Urteil nur sprach, da O’Hagan sich abermals eingemischt, ihn sogar ignoriert hatte. Fulligan hatte nicht viel Macht, aber genug, um seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Und so wurde das Gottesurteil über mich gesprochen.

Man packte Black, Robert und mich und ehe wir uns versahen, wurden wir hinaus geschliffen. Ich konnte noch sehen, wie O’Hagan aufgebracht zum Pult schritt, doch der Richter schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr. Fulligan war wütend und beleidigt wie ein kleines Kind. Dann fegte O’Hagan an seinen Männern vorbei und holte uns ein. Er riss sich unterwegs die Perücke vom Kopf und entblößte sein dunkles, pechschwarzes Haar. Wütend blieb er stehen, fuhr herum und packte mich am Kragen. Ich schlug mit dem Rücken gegen die Wand und starrte in seine Augen. Sie waren fast blind vor Hass. Diese Demütigung, genauso wie jene davor, wirst du bereuen…!, schienen sie mir sagen zu wollen.

Ich starrte ihn hasserfüllt an, dann begann ich zu grinsen. Ich fühlte mich wie damals, als ich, naiv wie ich war, damit angegeben hatte, der Mörder von Kai zu sein. Ich hatte nicht vor, vor diesem Mann zu kriechen und immerhin war ich nicht schuldig gesprochen worden – nur halb.

Wie so oft stieg mir der kleine Sieg zu Kopf und ich wurde übermütig.

O’Hagans Augen sahen von meinem linken in mein rechtes und zurück. Immer wieder hin und her, wie ein unruhiges, aggressives Tier. Ich spürte, wie ihn mein Blick aufregte, wie er seine Wut steigerte. Er wollte mich weinen sehen, betteln oder wenigstens eine Entschuldigung. Stattdessen brachte ich ihm Hohn entgegen, auch wenn ich ihn nicht aussprach.

„Ich werde nicht zulassen, dass Ihr ungeschoren davon kommt, Sullivan O’Neil.“, zischte er wütend und sehr leise. „Ich habe noch nie einen Fehler gemacht.“

Ich lächelte höflich. „Es gibt für alles ein erstes Mal.“

„Ihr seid kein Mönch und das werde ich beweisen.“

Ein wenig finster zischte ich: „Ihr könnt Menschen nicht hängen, wenn sie nichts verbrochen haben, also lasst mich in Ruhe.“

„Oh doch, das kann ich.“, dann ließ er mich mit Nachdruck los. Langsam richtete der Mann sich auf und erhob den Kopf, fast ein wenig arrogant. O’Hagan war ein winziges Stück größer als ich, beeindrucken tat es mich jedoch nicht. „Ich werde Euch an den Galgen bringen… Ihr seid Pirat. Ich mache keine Fehler!“

„Ihr wiederholt Euch.“, merkte ich ungerührt an. Er bedachte mich abermals mit einem tödlichen Blick, dann verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und sprach, ohne den Augenkontakt zu mir zu unterbrechen: „Sperrt ihn weg. Allein. Dieser Mann ist allem Anschein nach Mönch und kein Pirat. Er hat eine Einzelzelle verdient. Wir wollen doch nicht, dass er sich mit den falschen Menschen anfreundet und auf Abwege gerät.“, dann sah er zu Black. Seine Augen waren eiskalt. „Und was diesen Verbrecher angeht… Hängt ihn, in drei Tagen, zusammen mit den anderen.“, O’Hagans Blick wechselte wieder zu mir und in seinen kühlen Augen war eine Spur Grinsen zu sehen.

Ich starrte ihn hasserfüllt an. Dieser Bastard…, dachte ich, wagte es aber nicht, es laut auszusprechen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, es hätte nicht funktioniert. Die Wut schnürte mir die Kehle zu. Die zwei Wachen neben mir hielten meine Oberarme fest, da sie vermuteten, ich würde jeden Moment auf ihn losgehen. Der Hass in meinen Augen schenkte O’Hagan etwas Befriedigung und er lächelte mir freundlich entgegen. „Selbstverständlich werdet Ihr der Hinrichtung beiwohnen, Sullivan. Ihr wart so lange auf See und davor umso länger im Kloster… Ich denke, eine solche Veranstaltung ist eine recht gesunde Abwechslung. Besonders nach den Strapazen eines Gottesurteils. Möge Gott alle jene schützen, welche fromm und gottesfürchtig sind.“, und dann ging er, ohne eine Antwort abzuwarten.

Man ließ mir keine Chance, mich von Black zu verabschieden. Noch ehe ich mich umgedreht hatte, packten die Rotröcke mich abermals und zerrten mich in die entgegengesetzte Richtung. Sie hatten Angst, ich würde den Kopf verlieren und das tat ich auch, jedoch weitaus schwächer als erwartet. Ich begann an den Armen zu zerren, so stark ich konnte, jedoch gab ich sofort wieder auf. Es brachte nichts, nun herum zu schreien, zu wüten und mich zu wehren. Das wollte O’Hagan. Er wollte mich vorführen. Zeigen, wie rebellisch ich war und meine Schuld beweisen. Mehrmals drehte ich mich um. Black ging wortlos mit den Wachen mit. Er gab sich nicht die Mühe, mich noch einmal anzusehen. Ich tat es ihm irgendwann gleich.

Ich weiß nicht, ob er mir Probleme ersparen wollte oder ob er sich mit seinem Schicksal längst abgefunden hatte. Aber das Letzte, was ich von ihm sah, war sein Rücken und wie er schweigend mit den Uniformierten mithinkte.

Das sollte ich O’Hagan niemals verzeihen… Niemals…
 

Man sperrte mich in eine einfache Zelle. So aufgebaut, wie man sie sich wohl am ehesten vorstellte. Ein kleiner Raum unter der Erde, kühl, feucht, mit Ratten, Fliegen und einem Fenster. Es war sehr hoch und winzig. Ich könnte mich auf die Pritsche stellen und vorsichtig hinaus sehen. Wahrscheinlich hätte ich dann den Marktplatz entdeckt, die Galgen und etliche Menschen. Doch die Tatsache, dass sie zusammenbrach, nur als ich mich hinaufsetzen wollte, verwehrte mir diesen unwahrscheinlich wunderschönen Ausblick, ironisch gemeint.

Die Rotröcke hatten mich hinein gestoßen und sich nicht die Mühe gemacht, mir die Fesseln abzunehmen und so stürzte ich hilflos auf mein Steißbein, als die beiden Ketten sich aus der Wand lösten und das Holzbrett unter mir nachgab. Zu allem Überfluss hatte man den Blechtopf für die Erleichterung unter die Liege gestellt und so knallte das Holz hinein und verschüttete sämtlichen Inhalt auf dem Boden. Ich seufzte schwer und etwas übertrieben, murmelte: „Da fühlt man sich gleich wieder, wie Zuhause…“, und blieb sitzen. Schlafen würde ich nicht können und das lag erstaunlicherweise nicht einmal an dem Gestank – an den hatte ich mich dank Tollhaus bereits gewöhnt. Es lag viel mehr an dem Gedanken daran, dass man Black hängen wollte. Es war mir klar gewesen, sogar unvermeidlich… Aber ich hatte nie vorgehabt es mit anzusehen. Zudem hatte ich mein Wort gegeben, ich würde ihn retten, würde ich für unschuldig erklärt werden.

Und da kam gleich das nächste Problem auf mich zu: Ich hatte ein Gottesurteil vor mir. Eine Probe, bei der der Allmächtige entschied, ob ich schuldig oder unschuldig war. Und je nachdem wie sie ausging, würde ich hängen oder eben nicht hängen.

Und damit gleich zu Punkt drei:

Selbst wenn ich für unschuldig erklärt werde, würde O’Hagan mich wohl nicht einfach davon kommen lassen. Dieser Mann hasste mich. Es war gegen seine Ehre, mich laufen zu lassen.

Am nächsten Morgen dann, ich war im Sitzen eingeschlafen, kamen erneut zwei Rotröcke herein. Es herrschte Dämmerlicht, scheinbar war die Sonne nicht einmal richtig aufgegangen. Sie zeigten sich nicht verwundert über das Chaos. Ich stand auf und noch ehe ich richtig aufrecht war, zerrten sie mich grob nach draußen.

Meine Verhandlung begann...
 

Auf dem Marktplatz waren mehr Menschen versammelt, als ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Ich versuchte sie zu ignorieren, aber es fiel mir sehr schwer. Sie alle waren gekommen, um dem Ordal beizuwohnen, dem Gottesurteil.

Jede Klasse war vertreten. Arm und reich, Mittelstand und Mittellos. Doch diesmal nahm ich nicht den Geruch dieser Menschen wahr. Ihren Schweiß, ihre Ausdünstungen.

In mir stieg Angst hoch und erst jetzt wurde mir bewusst, wie nahe ich dem Tode stand. Man brachte mich in meinen alten Fesseln bis zu einem Podest aus Holz und dann auf jenes hinauf. Für ein paar Sekunden fürchtete ich, dort oben einen Strick zu erkennen, aber es war kein Galgen. Viel mehr gab es zehn große, lange Holfpfähle, an den oberen Enden mit Pech bestrichen. Zwei Reihen, parallel zueinander stehend, auf jeder Seite fünf.

Sie reichten mir bis zur Brust und ich schluckte schwer, vage vermutend, was mir bevor stand.

Ich sollte durch diese zwei Reihen hindurch laufen, auf die andere Seite, während die Hölzer brannten. Ich kannte solcherlei Veranstaltungen aus meinen Kindertagen. Zwischen den Hölzern waren Ketten angebracht, eine auf Brusthöhe, eine weitere auf Kniehöhe, damit man keine Wahl hatte als vor- oder rückwärts zu gehen. Insgesamt war dieser Gang etwa sechs Meter lang. Ich hatte viele Menschen gesehen, die noch vor den Flammen zusammen gebrochen waren und es sich nicht über sich gebracht haben, hindurch zu rennen. Sie wurden dann entweder gezwungen oder erhängt. Das schlimmste war: Selbst wenn man es geschafft hatte hindurch zu rennen, so war das noch keine Sicherheit, dass man leben durfte. Es ging um die Wunden, die durch die heiligen Flammen entstanden sind. Würden sie problemlos heilen, war dies ein Zeichen für die Unschuld des Angeklagten. Würden sie eitern und sich entzünden, war das Gottes Zeichen für die Schuld und man wurde gehängt.

Ich erinnerte mich an einen Mann, welcher einst wie ich hier oben gestanden hatte. Auch er hatte die Feuerprobe abschließen müssen, jedoch war er weder zum Ende vorgedrungen, noch vor dem Eingang des Höllentunnels zusammen gebrochen. Er war hinein gerannt, hatte Panik bekommen und versucht seitwärts auszubrechen. Die Ketten haben ihn behindert und keiner hatte ihm helfen können. Binnen weniger Sekunden brannte er lichterloh und hilflos war er von einer Feuerseite in die nächste gestürzt.

Ohne es zu wollen begannen meine Knie zu zittern und ich spürte, wie Schweiß meinen Rücken hinunter lief. Er war außergewöhnlich kalt im Vergleich zu meinem restlichen Körper. In meinem Innern zog sich alles zusammen, mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Ich hörte seine Schreie. Sie waren so schmerzhaft gewesen, dass es nicht mehr menschlich war.

Ein Priester kam den Podest hinauf und legte mir freundlich seine Hand auf die Schulter.

„Mein Sohn, möchtest du Beichte tun, ehe der Herr dich auf die Probe stellt? Damit er dir auch wirklich beisteht?“

Ich starrte ihn an, ohne zu begreifen, was er von mir wollte. Unbewusst löste ich meine Schulter aus seinem Griff und er erschien mir unheimlich penetrant. Ich stand kurz vor meinem Lebensende, was brachte mir da die Beichte?! Sie würde vielleicht meine Seele retten, aber mein Leben war gerade weitaus wichtiger! Panische Angst stieg in mir hoch, als dann ein Soldat mit Fackel hinauf kam. Er sollte die Flammen entfachen.

Der Priester begann zu murmeln und schenkte mir beruhigende Worte, immer wieder seine Hand auf meine Schulter legend, aber ich hörte ihm nicht einmal zu und nach dem dritten Mal gab ich es auf, seinen Händen auszuweichen. Wie gebannt starrte ich auf die tanzende Flamme, dann zu der bebenden Menge. Die Menschen schienen es kaum erwarten zu können, dass die Fackel zum Einsatz kam. Manche riefen Schimpfwörter hinauf, andere, dass man endlich beginnen sollte. Ich glaubte, die wenigsten wussten überhaupt, was genau mir vorgeworfen wurde oder von wem. So sehr ich auch suchte, O’Hagan fand ich nicht. Einige Rotröcke waren um das Podest herum postiert und hielten die Menschen auf Abstand. Andere bereiteten bereits alles für meine Behandlung nach der Feuerprobe vor. Man stellte einen Eimer geweihtes Wasser bereit. Dann schliff man mich zum Rand des Podestes, wo man mir die Fesseln abnahm und mich grob aus dem Hemd zerrte, um mich dann in ein neues zu stecken. Es war extrem kühl und fest. Ich roch und spürte, dass man es in Wachs getränkt hatte. Der Stoff war dadurch so hart, er lag nicht ansatzweise. Etwas von dem Wachs bröckelte ab. Nun packte mich die Panik ganz und gar.

„Faltet die Hände.“, bat der Priester mich freundlich und legte mir einen Rosenkranz um den Hals. Ich war völlig verwirrt und starrte ihn nur an.

„Ich soll was-…?!“, krächzte ich.

Lächelnd half er mir die Gebetshaltung einzunehmen, dann band man meine Hände ebenso zusammen. „Der Herr ist mit all jenen, die ehrlich sind, treu und gehorsam… Also habt keine Angst, wenn Ihr ein reines Gewissen habt.“, das war alles was er sagte. Für ihn war der Fall klar:

Wenn ich unschuldig war, konnte mir nichts passieren.

Aber ich glaubte daran nicht – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich schuldig war!

Zwei Rotröcke nahmen mich an den Oberarmen und führten mich zu den Hölzern. Man stellte mich – mich nicht los lassend – vor die zwei Reihen und ich konnte zusehen, wie der Mann mit der Fackel jeden Holzpfahl langsam in Brand steckte. Ich spürte die Hitze, die von den Flammen ausging und wollte zurück weichen, aber man ließ mich nicht.

„Nein!“, flüsterte ich. „Hört auf, das ist Wahnsinn!“

Doch es gab niemanden, der mir zuhörte. Ein Tunnel aus Flammen tat sich vor mir auf. Die Flammen züngelten in alle Richtungen, als würden sie einen Wettkampf ausfechten, wer die meiste Luft verschlang. Als würden sie versuchen so viel zu verspeisen, wie nur möglich. Und als könnten sie es kaum erwarten, auch mich zu fassen zu bekommen. Es knisterte und knackte. Nicht mehr lange und die oberen Ketten müssen glühend heiß sein. Der Priester hatte sich abgewendet und begann zum Volk zu sprechen, mit einer Stimme, die an Honig erinnerte, voller Wohlwollen und Liebe. Ich hörte ihm nicht zu. Das Feuer hatte mich gebannt und lähmte mich.

Ich will nicht sterben…, dachte ich immer und immer wieder. Ich will nicht sterben…!

„Wir haben uns heute hier versammelt um Oliver Sullivan O’Neil beizustehen, bei dieser schweren Probe, seine Unschuld zu beweisen – wenn er denn unschuldig ist! Unser aller Vater wird das Recht schützen, denn er selbst ist das Recht… Möge er diesem Mann beistehen in dieser schweren Stunde und all jene drei Tage darauf, auf dass seine Unschuld bewiesen wird. Oder aber soll er diesen Sünder und Verbrecher strafen und peinigen für all seine Vergehen! Soll er ihn lehren, nie wieder in Ungnade zu fallen und das Böse in ihm zeigen!“

Mir wurde kurz schwarz vor Augen, als er mich Sünder nannte. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, für einen Moment flimmerte es und alles in mir setzte aus. Ich begann zu zittern und wollte stürzen, aber die zwei Männer ließen mich nicht los. Das Atmen fiel mir immer schwerer und ich spürte, wie das Hemd an meiner Brust zu kleben begann. Es wurde weicher, es schmiegte sich an meinen Körper wie flüssiger Teer. Am liebsten hätte ich geschrieen. Am liebsten wäre ich davon gelaufen. Hätte gerufen: „Ja, Ihr habt Recht! Ich bin ein Sünder, lasst mich gehen! Hängt mich, bitte hängt mich!“, aber ich konnte einfach nicht. Mir wurde unwahrscheinlich heiß und ich bekam immer schwerer Luft. Keiner bekam es mit.

Im Augenwinkel sah ich, dass die Menge einer kleinen Eskorte Platz machte. O’Hagan.

Er stellte sich in die erste Reihe, in sein teuerstes Gewand gekleidet und auf seiner Brust ein großes, goldenes Kreuz. Es blitzte, als würde es brennen wollen, ebenso wie ich brennen sollte. Ich vermied sämtlichen Augenkontakt mit ihm. Ich wollte diesem Mann auf keinen Fall zeigen, dass ich Angst hatte. Zwar war es offensichtlich, aber dennoch wollte ich auf keinen Fall noch mehr Schwäche zeigen. Der Priester fuhr fort:

„Wie auch bei dem heiligen Johannes einst werden wir heute die Feuerprobe an diesem Angeklagten vollziehen um Zeugen der Offenbarung, des göttlichen Zeichens, dem Urteil des Herrn, dem Wissen des Allmächtigen zu werden! Lasst Euch dies eine Lehre sein. Eine Lehre und eine Warnung! Als erstes wisset: Der Herr ist stets bei uns, uns allen. Er sieht all unser Handeln und Denken. Er urteilt niemals schlecht über uns. Seine Hand ist hart, aber gerecht! Also lasset euch niemals verleiten zu unsittlichen Taten, zu nicht christlichen Dingen. Jene Dinge, zu denen der Abtrünnige selbst uns verleitet und verführt. Zu all jedem, was er uns leise zuflüstert, uns schön spricht. Vertraut stets der Macht des Herrn, er wird uns führen und leiten, durch jede Hürde, durch jede Probe!

Und als zweites lasst euch dies eine Warnung sein… Beichtet und seid fromm. Gesteht Eure Vergehen und büßt für Eure Taten. Gott wird alles ans Licht führen, der allmächtige Herr weiß und sieht alles und wird jedem seine rechte Strafe erteilen. Verwickelt euch nicht, wie dieser Mann in Widersprüche und Ängste, lasst es nicht zu solch einem Test kommen! Wir alle sind Kinder Gottes… Seid dankbar dafür und tut niemandem Leid an!“

Er sprach noch lange weiter, aber ich konnte nichts davon verstehen. Ich sah nur die Flammen und spürte unwahrscheinliche Übelkeit in mir aufsteigen. Mir schossen Tränen in die Augen. Einmal, da mich das Licht unwahrscheinlich blendete und als zweites durch meine Angst. Hätten die Rotröcke mich nicht gehalten, wäre ich gestürzt. Ich bekam im Hinterkopf mit, wie die Menge mit jedem der Worte, welche der Priester sprach, ruhiger wurde. Jedoch auch angespannter. Das Spektakel sollte endlich anfangen. Sie wollten Spannung und keine vorgezogene Sonntagsmesse.

Doch die Worte des Gottesdieners zeigten auch bei mir langsam ihre Wirkung. In meinem Kopf war nicht nur Angst vor dem Verbrennen, nein, auch Angst vor dem Allmächtigen drang immer mehr zu mir ins Bewusstsein. Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie sündhaft ich gewesen war. Ich wünschte mich zurück zum Priester, ich wollte beichten. Ich wollte um Vergebung flehen, freiwillig Buße tun. Seit Monaten hatte ich keinen Gedanken mehr an den Herrn verschwendet und nun stand ich direkt vor seiner Strafe. Verzweifelt kniff ich die Augen zusammen und begann zu flüstern. Ich flüsterte wirres Zeug, aber auch ehrlich gemeinte, verzweifelte Worte. Begonnen beim Vater Unser bis hin zum Anflehen um Gnade und Hilfe. Ich war schuldig, da führte kein Weg drum herum. Und nun würde ich mich in den Flammen verlaufen und daran zugrunde gehen. Langsam verbrennen, bei lebendigem Leibe. Die wahrhaftige Hölle. Und desto mehr ich sprach, desto banger wurde mir. Ich wurde immer schneller, immer verzweifelter und mit jedem Satz unverständlicher. Immer mehr stieg mir das Wasser in die Augen.

Als der Gottesdiener endlich geendet hatte, kam er zu mir, legte mir abermals die Hand auf die Schulter und sagte freundlich:

„Möge der Herr mit dir sein.“

Ich sah auf. Ich sah ihn, sein langes, bleiches Gesicht und das tanzende Feuer in seinen mitfühlenden Augen. Und noch ehe ich antworten konnte stießen die Rotröcke mich vor.

Ich schrie auf. Und das, noch ehe ich die Flammen überhaupt spürte. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss war: Ich falle! Unbeholfen stolperte ich mitten zwischen die zwei Reihen. Die Menge begann mit einem Mal zu toben und zu jubeln. Tosende Rufe, Schreie, Anfeuern und anderes vermischte sich zu einem riesigen Ansturm aus menschlichen Lauten. Ich rannte los. Verzweifelt wollte ich vor mich sehen, doch außer Feuer und Rauch war da nichts und ich konnte die Augen nicht öffnen. Musste ich vorwärts gehen? Oder hatte ich mich durch den Stoß gedreht? Aber ich hatte nicht einmal eine Sekunde nachzudenken. Genauer gesagt dachte ich nicht einmal annähernd nach. Ich rannte einfach los, so schmerzerfüllt, dass mir die Stimme versagte. Auch Luft holen tat ich nicht.

Ich spürte, wie der Wachs mit einem Mal schmolz und wie manche Teile des Hemdes in Flammen aufgingen. Nicht große, aber spürbare an Rücken und linker Brust. Sofort dachte ich, ich brenne lichterloh. Mir wurde bewusst, wie wenig Überblick ich über meinen Körper hatte und meine Beine wollten mir den Dienst versagen. Die ganze Zeit hatte ich mir geschworen, nicht in den Flammen zu stürzen und nun verlor ich fast sämtliche Kraft. Die Flammen züngelten an meinem Gesicht vorbei, ich roch versenktes Haar. Fast wäre ich herum gefahren, als eines der Feuer mir das Ohr verbrannte. Doch ich zuckte nur und stolperte vorwärts.

Und dann war es vorbei. Noch ehe ich das Ende wirklich erreichte riss ich die Augen auf und stürzte vor. Ich krachte zu Boden und begann zu schreien. Irgendwie hatte ich das andere Ende erreicht. Ein Schwall Wasser klatschte mir ins Gesicht, eine Decke wurde über mich geworfen und drei Männer begannen die Flammen an mir auszuklopfen. Ich schrie weiter, bis mein Schrei in Wimmern erstickte. Ich muss ausgesehen haben, als sei ich aus der Hölle geflohen. Ich war schwarz und voller Ruß, hustete, weinte und jammerte und wollte mich winden vor unerträglichen Schmerzen. Es hörte einfach nicht auf und nahm mir die Fähigkeit zu Denken. Das heiße Wachs war wesentlich schlimmer als die Flammen, es wollte einfach nicht aufhören zu brennen und schien sich in meiner Haut zu versenken. Zwei Wachen rissen mich immer wieder aufs Neue nach oben, um mich dem Volk zu präsentieren, doch immer wieder krachte ich zurück. Ich schaffte es nicht zu stehen. Meine Beine zitterten und gaben nach. „Ich lebe…!“, keuchte ich nur. „Ich lebe…!“. Ich konnte nicht denken, nicht sehen. Nur husten und flüstern, unfassbar, völlig geschockt. Jemand klopfte mir anerkennend auf den Rücken, ich glaube, es war der Priester.

Als die Vorführung vorbei war, brachte man mich zurück. Die Männer mussten mich schleifen, meine Beine verwehrten mir den Dienst und mein Herz nahm mir jeden noch so kleinen Rest an Kraft. Ich hörte, wie der Priester seine Rede begann, um die Veranstaltung zu beenden und im Winkelblick sah ich O’Hagan. Er schien frustriert und wütend, aber mein Zustand schien ihm Befriedigung zu schenken. Er hatte wahrscheinlich einen höhnischen Blick, ein gehässiges Grinsen erwartet, aber dazu fehlte mir die Kraft. Das stimmte ihn fröhlicher. Mir war das egal. Ich hatte in diesem Moment kein Interesse daran, stärker zu sein, als er. Ich wollte nur weg von den Flammen. Weg für immer. Den ganzen Weg über zur Zelle zurück war ich ein nervliches Wrack. Ich heulte wie ein kleines Kind und erst als das Wachs aufhörte zu brennen, beruhigte ich mich ein wenig. Dennoch fürchtete ich aus einer sinnlosen Angst heraus, sie würden mich zu anderen Flammen bringen. Zudem spürte, dass die Hose zwischen meinen Beinen durchnässt war und das kratzte meinen Stolz enorm an. Ich wollte nicht schwach sein, aber ich war es.

In der Zelle ließ man mich allein. Zu meiner Erleichterung ließen sie die Fackeln an den Wänden aus und gaben mir eine Decke, um mich darin einzuwickeln. Ich tat es und verbarg meinen beschämenden Unfall. Man setzte mich auf einen Holzschemel und so ließ man mich allein, wenn auch nicht lange. Ich hockte nur da und zitterte, mich zur Ruhe zwingend. Es war vorbei, ich war am Leben. Jedoch war ich so nahe am Tode gewesen, ich konnte es nicht einfach schlucken. Allein der Gedanke an eine Kerze oder eine Fackel verstärkte meinen Schock und ich konnte meinen Körper vor Angst kaum noch kontrollieren, so sehr bebte er.

Nach einiger Zeit kam der Priester herein. Fast wie apathisch saß ich da und starrte vor mich. Nur kurz warf ich ihm einen Blick zu. Ich war nicht begeistert über sein Erscheinen, ich wollte meine Ruhe. Ich wollte diesen Schock verarbeiten und vergessen, so schnell wie möglich. Die Panik saß mir noch immer im Nacken. Ich war am Leben, ich war noch am Leben… Dieser Gedanke quälte mich unwahrscheinlich, denn – wie lange noch?

„Ich werde Euch das Hemd ausziehen und Eure Wunden verbinden.“, erklärte mir der Geistliche freundlich mit seiner Singsang-Stimme, während er die Tür schloss. In der Hand trug er eine Schüssel mit Wasser, über seinen Arm hatte er ein Hemd und eine Hose gehangen „In drei Tagen dann erfahren wir, ob Ihr die Wahrheit gesprochen habt.“, ich nickte nur. Und so kam der zweite, schmerzhafte Teil. Das Wachs war geschmolzen und nun wieder hart geworden. Es klebte an meiner Haut und an meinen Haaren. An meinen Wunden von der Prügelei mit dem Zuchtmeister und auch an meiner Kleidung. Es war eine unheimliche Prozedur, den Stoff von mir zu lösen. Zudem war ein wenig meine Hosenbeine hinuntergelaufen und klebte auch dort. Noch nie zuvor hatte ich die Haare an meinen Beinen so sehr verflucht. Einige Hautstellen waren verbrannt, besonders in meinem Nacken, aber zu meiner Erleichterung wirklich nur sehr gering.

Er wusch mir den Ruß ab und verband mich sorgsam und freundlich, jedoch ohne die Wunden zu säubern. Etwas zu freundlich, wie ich fand. Er machte keinen Hehl daraus, dass mein Körper ihn…interessierte. Zwar sprach er es nicht direkt an, aber die Zeichen waren offensichtlich. Ganz gleich, ob es um die eine oder andere hoch gezogene Augenbraue ging, wenn er mich berührte oder ein schmunzelndes Grinsen, als er sich vor mich kniete, um das Wachs aus meinen Haaren zu ziehen. Es widerte mich an und demütigte mich umso mehr. Ich wich ihm weitestgehend aus. Als der Priester fertig war, zog ich mich in die hinterste Ecke zurück, auf meinem Schemel hockend und mit dem Rücken zu ihm. Langsam hatte ich mich beruhigt, aber der Husten wollte nicht aufhören.

„In drei Tagen werde ich Eure Wunden untersuchen.“, erklärte er mir lächelnd. „Dann werden wir sehen, ob sie mit Gottes Kraft heilen oder ob das Abtrünnige zum Vorschein kommt.“

„Und was meint Ihr?“, flüsterte ich heiser. „Wie wird das Urteil aussehen?“

„Bereits vor dem Urteil sah ich viel Hoffnung für Euch.“, der Priester kam zu mir und beugte sich zu mir herunter. Ich sah ihn nicht an, er stand hinter mir. Freundschaftlich legte er mir seine Hände auf die Schultern und drückte mich herzlich. „Das werden wir sehen, wenn es so weit ist. Ich werde morgen wieder nach Euch sehen. Vielleicht lässt sich ja etwas machen, was denkt Ihr?“, ich meinte in seiner Honigstimme ein verruchtes Lächeln zu hören.

Angeekelt zog ich meine Schultern weg. „Ich bezweifele es.“

Der Priester schwieg. Er blieb noch einige Sekunden hinter mir stehen, ehe er die Schüssel nahm, die verbrannte Kleidung und dann hinausging. Und während er die Zelle verließ sprach er gut gelaunt, fast wie ein guter Freund: „Nun, angenehme Nachtruhe, Erholt Euch gut. Und seid gottesfürchtig, vergesst nicht zu beten.“, er schloss die Tür und fügte lächelnd hinzu: „Macht einen guten Eindruck auf mich. Vergesst nicht. Ich entscheide, ob Ihr schuldig oder unschuldig seid.“, dann fiel sie ins Schloss.

Ich seufzte schwer und schloss meine brennenden und tränenden Augen. Alles schmerzte und ich war müde. Unheimlich müde… Konnte dieser Kerl mich nicht einfach in Ruhe lassen?

Ich wartete einige Zeit, ehe ich vorsichtig die Verbände löste und begann, den Dreck aus meinen Wunden zu pulen. Die meisten erreichte ich nicht. Doch jene, die ich erreichte, kratzte ich blutig, um auch wirklich alles los zu werden. Ich war nicht sicher, ob es half, ich kannte mich damit nicht aus, aber auf keinen Fall durften sie entzünden. Als ich mich wieder verband, waren meine Fingernägel schwarzrötlich. Ich entfernte die Spuren mit den Zähnen, keiner durfte etwas von dem Betrugsversuch merken, dann starrte ich seufzend zum Fenster hinauf. Ich hatte mich an die Zellentür gelehnt, auf dem Boden sitzend, so weit von den ausgekippten Flüssigkeiten entfernt wie möglich. Den ganzen Tag über war ich allein. Egal wann ich einschlief, weckten mich Albträume von Feuer und Flammen. Bis zum Abend hin fand ich keine Ruhe. Ich lauschte dem Lied des Lampenanzünders, der singend durch die Straßen ging und die Uhrzeit verkündete, als Hinweis auf die Ausgangssperre. Wie ging es Black? Hatte er Angst vor dem Tod? So wie ich?

Und wie ging es Mary-Ann? War sie noch immer krank? War sie noch am leben?

Und auch diese Nacht ereilte mich kaum der Schlaf. Alles, was ich fühlte, waren Verzweiflung, Schmerz und Ekel.

Und Hass.

Bewunderung und Begehren

Die Nacht über war ich sehr melancholisch gewesen und hatte mich in die Gedankenwelt zurückgezogen. Die Schleifen in meinem Kopf nahmen einfach kein Ende. Mich beschäftigten Black, Mary-Ann und auch der Priester. Ich verfluchte mich für diese Schwäche und fühlte mich wie ein Weib. Zwischendrin packte mich die Verzweiflung und ich begann auf und ab zu laufen, wie ein Verrückter. Wie lange war es her, dass ich mich hatte frei bewegen können? Ein halbes Jahr? Während meiner Zeit im Tollhaus konnte ich gehen, wohin ich wollte, aber ich hatte lediglich die Auswahl zwischen dem Gebäude und dem Hof gehabt. Wie sehr wünschte ich mir eine Wiese, einen Wald, ein Feld, oder die Stadt. Der Gedanke zu sterben, ohne jemals wirklich frei gewesen zu sein, trieb mich fast in den Wahnsinn. Ich fluchte immer wieder und schlug gegen die Wand, bis meine Handflächen schmerzten.

„Reiß dich zusammen…!“, zischte dann eine Stimme in meinem Kopf. „Wenn du dir die Hände aufscheuerst, hast du noch mehr Wunden, die hätten heilen müssen!“

Ich wollte die Freiheit spüren… Deswegen war ich aus dem Kloster geflohen. Stattdessen war ich von einem Käfig in den nächsten gerannt, von einem Problem zum nächsten. Ich war auf der Caroline gefangen gewesen, dann auf einer Insel, dann auf dem Schiff von O’Hagan, im Tollhaus und nun in einer winzigen, stinkenden Zelle. Konnte denn nie etwas gut verlaufen? Konnte mir denn nie etwas gelingen? Und wie mich dieser O’Hagan mit Wut erfüllte!

Er hatte den Auftrag Black zu hängen nur gegeben, um mich zu demütigen und ich war völlig machtlos. Ich konnte nichts dagegen tun und Black nicht einmal retten. Ich war die Wände auf und ab gelaufen, aber sie waren aus hartem Stein. Mit den Fingern konnte ich wenig kratzen und schon gar nicht ein Loch durch die Wand hindurch. Das Fenster war gerade mal so groß wie zwei Hände breit sind und an der Tür hörte ich immer wieder Stimmen, Husten, Schnarchen oder Räuspern: Wachen, zwei Stück, ohne Frage bewaffnet. Im Halbschlaf malte ich mir aus, wie ein Komplize, vielleicht Black oder Pitt, Käse oder der alte Esel ans Fenster kam und mir ein Messer hinunter warf. Aber wieso sollte das jemand tun?

Keinem war ich so wichtig und wenn, dann war er irgendwo eingesperrt oder wusste nicht einmal, wo ich mich befand.

Mir kam der bittere Gedanke, dass ich mir scheinbar die falschen Freunde gesucht hatte.

Zum Sonnenaufgang dann ging die Tür auf und ein bewaffneter Soldat brachte mir etwas zu essen. Er war erstaunlich jung, vielleicht um die sechzehn Jahre und ohne Frage sehr unglücklich mit seiner Arbeit. Ich saß auf dem Boden, in der Ecke und starrte ihn an. Durch die Müdigkeit und den Schmutz musste ich unheimlich düster gewirkt haben, denn mein Blick schien ihn noch mehr zu verunsichern. Der Junge wollte bereits wieder hinaus, da erblickte er die kaputte Pritsche. Verwundert blieb er stehen. Der junge Rotrock schien zu überlegen, ob ich sie kaputt gemacht hatte.

„Sie ist zusammen gebrochen.“, erklärte ich, bevor es zu Missverständnissen kam. Er fuhr zusammen und starrte mich an, noch immer die Holzschüssel mit dem Brei in der Hand. „Scheint morsch zu sein.“

„Ich verstehe.“, nun räusperte er sich, dann kam er zu mir uns stellte die Schüssel in etwas Abstand auf den Boden und mit einem leisen „Euer Essen.“ Richtete er sich wieder auf.

Ich wollte wissen: „Was für Essen?“, er blieb stehen und sah mich aufmerksam an. Etwas in seinem Blick faszinierte mich. Seine Augen waren neugierig, aber beherrscht. Intelligent.

„Sir?“

„Was für Essen? Abendessen? Mittag? Frühstück? Alles zusammen?“

„Alle zusammen, Sir.“

„Na wunderbar…“, der junge Kerl musste schmunzeln, als ich mich beschwerte und bewegte sich kein Stück von mir weg. Stattdessen wollte er wissen:

„Seid Ihr Sullivan O’Neil?“

„Wieso fragst du?“, verwundert sah ich ihn an. Er grinste und deutete auf den Hocker in der hintersten Ecke.

„Darf ich?“, da ein Schulternzucken die einzige Antwort war und ich nur den Brei griff, zog der Junge den Schemel etwas näher und ließ sich sinken. Meine Aufmerksamkeit galt nur meiner ‚Mahlzeit’. Es schmeckte, wie ich es aus dem Kloster gewohnt war, nach Getreide und Salz. Nach einigen Bissen dann warf ich dem Fremden einen Blick zu. Er wirkte auf mich wie ein Frischling. Er schob sein Schwert umständlich beiseite und fummelte immer wieder an seiner roten Mütze herum. Es amüsierte mich ein wenig und zugleich fühlte ich mich unheimlich alt. Gleichzeitig fragte ich mich, seit wann man in so jungen Jahren in die Armee gezogen wurde. Damals, zu meiner Zeit, hatte man mindestens achtzehn oder zwanzig sein müssen. Der Blondschopf vor mir wirkte nicht so, als hätte er dieses Alter, geschweigedenn die Reife dafür.

„Also…“, begann er unsicher. „Wegen der Feuerprobe…“

„Hm?“, ich sah erneut auf. „Was ist damit?“

„Das fand ich wirklich…Wahnsinn. Beeindruckend, wirklich.“

Seine Augen strahlten vor Bewunderung für mich. Für mich, einen Gefangenen! Ich zog eine Augenbraue hoch, mehr als skeptisch. Machte der Kerl sich über mich lustig?

„Ach ja?“

Doch scheinbar nicht, denn das Strahlen wuchs. „Ja, Sir. Ich denke, ich hätte mich das nicht getraut.“, ich tat desinteressiert und aß weiter meinen Brei. Fast ein wenig gierig. Innerlich jedoch freute mich dieses Lob. Scheinbar hatte ich einen gewissen Eindruck hinterlassen – trotz nasser Hose - und vielleicht nicht nur bei ihm. Er rückte ein Stück näher, der Schemel schabte laut über den Boden. „Hattet Ihr keine Angst, Sir?“

„Angst? Vor dem Feuer?“

„Ja.“

Ich lachte, gekonnt: „Ich bin unschuldig, also wieso sollte ich Angst haben?“

„Ich glaube, ich hätte dennoch Angst.“, der junge Soldat nahm mir die Schüssel ab, nachdem ich fertig war. Die ganze Zeit hatte er mich beobachtet, fast ein wenig penetrant. Nun sah er mich anerkennend an. „Ihr seid wirklich mutig. Ich habe noch nie eine Feuerprobe gesehen, bei der jemand so mutig war.“

Ein spöttisches Schnauben. „Hast du denn welche gesehen?“ Hatte er denn nicht registriert, dass sie mich förmlich gestoßen hatten?

„Fünf oder sechs bestimmt, Sir. Aber ich denke es kommt immer auf den Wind an und den Ablauf… Und auf viel Glück. Sehr viel Glück.“

Kurz herrschte Stille. Irgendjemand ging oberhalb der Straße entlang und würde man sich auf die Zehenspitzen stellen, könnte man wohl einen Fuß durchs Fenster sehen. Dann war es erneut still. Ich erhob mich und streckte mich ausgiebig. Sofort stand auch er auf, mich nicht aus den Augen lassend. Ich merkte, würde ich auch nur die Andeutung machen ihn anzugreifen, wäre er darauf gefasst. Der Junge war auf alles vorbereitet. Ob er mich wirklich überwältigen könnte, war eine andere Frage.

„Du bist nicht dumm, Kleiner. Jedenfalls wirkst du nicht so.“, stellte ich fest.

„Ich danke, Sir.“, er lächelte und verbeugte sich leicht. „Ihr auch nicht, denke ich.“

„So?“, ich zog abermals eine Augenbraue hoch. „Und wie kommst du darauf?“

Es freute ihn, dass ich das fragte, das sah man. Er schob sein Schwert etwas gerade, ehe er erklärte: „Nur, wegen der Verhandlung. Ich war bei den Wachen dabei. Ihr habt den Richter gegen O’Hagan ausgespielt, Sir.“

„Habe ich?“, fragte ich leicht grinsend, ich konnte nicht anders.

Auch er begann zu grinsen. „Ihr wärt schuldig gewesen, hätte der Richter nichts gesagt, Sir. Es stand vier zu drei.“

„Wäre ich?“, mein Grinsen wurde breiter. Damit es nicht zu sehr auffiel, sah ich nach unten und begann, meine dreckige Hose ein wenig abzuklopfen. Sie war voller Ruß und Dreck.

„Ganz sicher sogar, Sir. Und der alte Pirat hat sicherlich auch gelogen. “

„Dann habe ich das wohl.“, nachdenklich kratzte ich mir den Kopf. „Und du wirst es jetzt weiter sagen, was?“

Der Bengel schüttelte den blonden Kopf, fast so stark, dass seine Mütze fast davon hüpfte. Schnell hielt er sie fest, ein wenig verlegen. „Nein, Sir. Selbstverständlich nicht, Sir.“

„So selbstverständlich ist das gar nicht, Kleiner. Ich bin mir sicher, du kannst dir einiges dazu verdienen, wenn du plaudern gehst.“

„Und ich denke, Ihr schuldet mir jetzt etwas, Sir.“, er grinste mir dreist entgegen.

Ich kam nicht ohnehin zu schmunzeln. „Du bist ganz schön frech. So etwas kann übel enden.“

„Es muss ja nichts großes sein…“, als ich aufsah, wich er automatisch einen Schritt zurück. Ich tat einen nach vorn und griff mir seinen Schemel. In aller Ruhe setzte ich mich hin. Viel Auswahl hatte ich aufgrund der zusammen gekrachten Pritsche ja nicht mehr.

„Nichts großes, so, so.“, murmelte ich dann und machte es mir so bequem, wie es eben ging. Die Brandwunde in meinem Nacken spannte etwas und ich spürte, dass Haare mit eingetrocknet waren. Wie sehr sehnte ich mich nach einem warmen, weichen Bett mit Decke und Kissen, einem guten Arzt, einer netten Kräutermixtur und vielleicht ein, zwei Gläschen Rum? „An was dachtest du?“, wollte ich nun wissen und musterte seine Augen. „Geld?“

„Ach… Wir werden sehen.“, er sah kurz zum Fenster. Ich folgte seinem Blick. Was hatte er da gesehen? Doch erblicken tat ich nichts. Als ich ihn wieder ansah, grinste er mir entgegen. Ich hätte es mir einbilden können, aber spielte er mit mir? Wahrscheinlich war ich einfach nur paranoid, aber es wirkte fast, als würde ein Ebenbild vor mir stehen. Nur jünger, dreister, mutiger. Ich gruselte mich vor mir selbst, vor diesem Gedanken, dieser verrückten Idee. Wenn ich leicht verrückt gewesen war, so hatte ich nun wohl vollends den Verstand verloren. Bemüht ruhig zu bleiben trotz dem innerlich, sich scheinbar nähernden Wahnsinns, fragte ich, ihm direkt in die hellblauen Augen sehend:

„Wie heißt du?“

„Jack, Sir.“

„Wie alt bist du?“

Er antwortete ohne zu zögern. „Siebzehn, Sir.“, nach einigem Zögern fügte er stolz hinzu: „Seit einundzwanzig Tagen.“

„Du kannst zählen.“, ein anerkennendes Nicken meinerseits.

„Und lesen, Sir.“

Ich fragte: „Schreiben?“

Doch er sah zu Boden. „Nur sehr schwer, Sir…“, mit schief gelegtem Kopf überlegte ich, ob er das in der Armee lernte oder von woher er stammen könnte und fast sofort sah er mich wieder an. Als hätte er es sich angeeignet, zu reagieren, sobald ich mich bewegte. Als würde er jede Bewegung wahrnehmen, wie ein aufmerksames Tier.

„Und wieso unterhältst du dich mit Gefangenen?“, ich lachte ein wenig. „Ist das neuerdings auch Aufgabe von Euch Rotröcken, uns vor Vereinsamung zu schützen? Wenn ja, schlag ruhig mal Prostituierte vor. Es ist teurer, aber effektiver.“

Seine Ohren liefen rot an. „Nein, Sir, natürlich nicht, Sir.“

„Dann geh lieber wieder an die Arbeit, ehe ich dir die Kehle durchschneide.“, meine Stimme verfiel einem leichten Singsang, amüsiert und ganz nebenbei. „Schon vergessen? Ich bin schuldig und Pirat. Ich bin gefährlich, Kleiner.“

Er starrte mich mit großen Augen an, jedoch anders, als erwartet. Sie zeigten keine Angst oder Entsetzen, sondern Faszination und Bewunderung. Dann nickte Jack grinsend und ging hinaus. „Ich bringe Euch morgen wieder etwas.“, verkündete er dabei gut gelaunt. Ich brummte nur und sah ihm zu, wie er verschwand. Dann wurde die Tür geschlossen.

Seufzend sah ich zur ehemaligen Pritsche. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er mir ein neues Bett brächte, statt Brei. Aber seine Bewunderung für mich gefiel mir und sicherlich konnte ich sie irgendwie nutzen, auch, wenn ich sie nicht ganz verstand. Wahrscheinlich war er einer dieser typischen Abenteurer-Jungen, die Piratengeschichten liebten, Räuber und Diebe. Jene, die die Realität vergaßen und nur noch wilde Fantasien und Geschichten sahen, mit Schätzen und geheimen Inseln.

Als ich mir durch die Haare fuhr erschrak ich etwas. Ich hatte kurze Haare gehabt, mittlerweile waren sie etwas nachgewachsen, aber der kleine Zopf an meinem Hinterkopf war weg. Der kleine Rest war zerfranst und um einiges kürzer. Scheinbar hatte die Feuerprobe mehr Spuren hinterlassen, als leichte Verbrennungen und Albträume.

Ich fand immer mehr Punkte, die mich störten und aggressiv machten. Das einzige positive war, dass sich mein Bettproblem löste. Gegen Mittag kamen mehrere Rotröcke hinein und reparierten die Pritsche. Sie schlugen gekonnt die Ketten zurück in die Wand und stellten mir sogar einen neuen Topf hin.

„Mit netten Grüßen von Pater Johannes.“, teilte mir eine der Wachen freundlich grinsend mit. Ich war mir nicht sicher, wie ich den Blick deuten sollte und noch unsicherer, wie die Geste des Priesters. Ich empfand Unbehagen, als ich mich auf das Holzgestellt legte und fand einfach keine Ruhe. Unentwegt starrte ich die Tür an, bis ich endlich einschlief. Als sie gegen Abend dann aufging, fuhr ich sofort in Sitzposition. Ich musst fest geschlafen haben. Den Gang der Sonne von Mittag zu Anfang Nacht hatte ich nicht mitbekommen und als Pater Johannes eintrat, hörte ich erneut den Lampenanzünder. Die Begegnung mit Jack erschien mir, als wäre sie ein Traum gewesen, so sehr war mein Rhythmus durcheinander geraten.

Der Priester lächelte freundlich, schloss die Tür und holte wortlos einen Schemel. Trotz der sofortigen Anspannung, zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ich hatte Hunger.

Wahrscheinlich erwartete er, dass ich ihn begrüßen würde, aber ich tat es nicht, also setzte er sich mir gegenüber. Mich widerte seine blasse Haut an, seine schmalen Augen und der kleine Zahn links unten in seinem Gebiss. Er war außergewöhnlich schief im Vergleich zu seinen restlichen, einwandfreien Zähnen. Aber am schlimmsten fand ich die Tatsache, dass er gerade Mal um die dreißig Jahre alt schien. Höchsten acht Jahre älter als ich.

„Guten Abend, mein Sohn.“, sprach er nun. Ich sah ihn nur an. Mehr als nur finster, fast entnervt. Etwas enttäuscht seufzte er: „Ihr scheint heute nicht sehr gesprächig.“, auch dazu sagte ich nichts. Ich hatte nicht vor, mit diesem Mann zu plaudern, der meine Situation scheinbar zu seinem Vorteil nutzen wollte. Etwas, was ich nicht verstand. Er sah nicht schlecht aus, er könnte sein Glück sicher auch ohne Zwang versuchen. Der Priester griff lächelnd nach meiner Hand. „Wie geht es Euren Wunden an den Fingern?“, doch ich zog sie weg.

„Fasst mich nicht an.“, ich versuchte drohend zu klingen, doch die Erschöpfung machte das sehr schwer.

„Was ist los mit Euch?“, er wirkte erstaunt und verwundert. „Ich muss mich nach Euren Wunden erkundigen.“

„In zwei Tagen, ja. Nicht heute.“

„Ich verstehe. Ihr wollt meine Hilfe nicht?“

„Ich bin nicht darauf angewiesen, allerdings nicht jetzt. Wenn Ihr also bitte gehen würdet?“

Wir sahen uns an. Ich ihn verhasst und voller Abscheu, er mich aufmerksam und traurig. Ich hatte nichts gegen seine Neigung an sich, nur gegen seine Art und seinen Charakter. Dieser Mann regte mich auf. Er nutzte seine Position aus und benahm sich ohne Frage sündhaft – als Gottesdiener. Etwas, was unverzeihlich war. Er hatte einen Eid abgelegt, einen Schwur und brach ihn, für so etwas.

„Wieso seid Ihr so unhöflich?“, versuchte er es weiter. „Ich bin Euer Beistand.“

„Mir wäre Abstand lieber.“, knurrte ich. Der Mann seufzte und beugte sich etwas vor. Frieden suchend legte er mir seine Hände auf die Knie und flüsterte:

„Ich glaube, wir missverstehen uns. Das gestern war kein Angebot. Es war ein nicht abzulehnender Vorschlag, Oliver.“

Nun legte ich meine Hände auf seine, beugte mich ebenfalls vor und flüsterte, ihm gehässig in die Augen sehend: „Und ich glaube Ihr wisst nicht, was ich davon halte. Ich konnte es im Kloster schon nicht leiden, wenn Ihr Pfaffen uns Kinder angepackt habt, also überlegt Euch, ob Ihr auch nur daran denkt, mir zu nahe zu kommen. Ich bin noch nicht so verzweifelt, dass ich so tief sinken müsste.“, dann stieß ich seine Hände weg und klopfte mich ab, als hätte er Schmutz auf meiner dreckigen Hose hinterlassen. „Und nennt mich gefälligst beim Nachnamen.“

Priester Johannes war sichtlich beleidigt. Er zog die Augenbrauen zusammen und setzte sich aufrecht, wie ein pikierter Hahn, dch dann fasste er sich sofort wieder und wurde die Liebe in Person. Er griff meine Hände und flüsterte:

„Aber Oliver, wieso bist du so kühl zu mir? Ich habe doch gar nichts gemacht.“

Er gab einfach nicht auf, es war zum verrückt werden!

„Lasst mich los.“, knurrte ich, hörbar gereizt. Er machte mich mit jeder erneuten Berührung nur umso aggressiver.

„Wie du meinst.“, dann zuckte ich zusammen. Ich riss meine Hände zurück, aber er ließ nicht locker. Ohne den Blick zu lösen und penetrant lächelnd drückte er mir seine Nägel in die verbrannten Handflächen. Dann ließ er los. Sofort riss ich sie zurück und starrte ihn an, leicht keuchend. Sein Lächeln wurde noch stärker:

„Und? Was machen deine Wunden? Oh, du blutest.“, mitfühlend sah Johannes zu meinen Händen. „Wie schade. Dabei wirktest du so unschuldig und rein auf mich... Das wird den Gouverneur sicher freuen, zu hören, meinst du nicht? Mein Sohn?“

„Ihr seid ein verdammter…!“, doch er unterbrach mich.

„Nicht fluchen.“, in aller Ruhe setzte er sich neben mich auf die Pritsche. Wütend starrte ich auf meine blutenden Handflächen. Ich kämpfte mit dem Drang aufzustehen, aber wo sollte ich hin? In die hinterste Ecke? Wo es keinerlei Ausweg mehr gab? Lieber blieb ich sitzen und konnte ihn notfalls hinunter stoßen. In meinem Hinterkopf ratterte es. Er hatte vom Gouverneur gesprochen, von O’Hagan, also wusste er von unserem kleinen Problem miteinander. Ich war unsicher, ob das gut war...und ich fragte mich, ob O’Hagan mir diesen Priester mit Absicht zugeteilt hatte. Johannes legte mir seine Hand auf die meinen, sanft und vorsichtig. Er beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr, leise und kaum hörbar. Ich spürte seinen Atem und Ekel stieg in mir hoch. Ich dachte an Kai und das verschlimmerte alles umso mehr. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf und ich wollte mich schütteln.

„Was ist nun? Soll ich dir helfen, Oliver? Oder möchtest du an den Galgen?“

„Wenn Ihr mich anfasst, bringe ich Euch um…!“

Ich hörte an seiner Stimme, dass er grinste:

„Ich denke, da lässt sich was machen.“, dann zog er eine meine Hände hoch und hauchte einen Kuss auf die wunde Stelle.

Ich starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

Mit Nachdruck zog ich sie weg. „Vergesst es! Ich hänge lieber, als mich für Euch zu bücken! Ein wenig Ehre habe ich noch und jetzt verschwindet endlich!“, das letzte sagte ich so laut, dass sogar die Wachen draußen es hörten, aber es schien sie nicht zu interessieren.

Er schwieg und seine Anwesenheit machte mich rasend. Nach einigen Minuten dann fuhr er mir durchs Haar. Dieser Idiot verstand einfach nicht, was ich ihm sagte! Wütend fuhr ich hoch und schlug seine Hand weg.

„Lasst das!“, schrie ich ihn an, doch selbst jetzt reagierte niemand von draußen. Wussten die Wachen bescheid? War die Bemerkung zur Pritsche deswegen so zweideutig gewesen? Von einer Sekunde auf die andere war ich wieder rasend vor Hass. Der Priester stand ebenfalls auf, jedoch langsam und ruhig. Immer noch lächelte er. Er fühlte sich überlegen und das verdeutlichte mir nur umso mehr, dass ich eindeutig im Nachteil war. Etwas stimmte hier nicht.

„Ich möchte dir helfen.“, begann er zu erklären.

„Nein, sagte ich! Verschwindet! Raus!“

Pater Johannes legte die Hände zusammen und sah zu Boden. Er schien ernsthaft nachzudenken. Am liebsten hätte ich ihn hinaus geprügelt. Ich blieb stehen und starrte ihn an, bemüht, ihn nicht zu packen und gegen die Wand zu stoßen. Ich musste ruhig bleiben, sonst würde das nur noch mehr Probleme mit sich ziehen. Vielleicht hoffte O’Hagan ja darauf? Sullivan O’Neil, der Pirat und Gottesdiener-Mörder? Als er wieder aufsah, lächelte er erneut. Es war nicht zu fassen!

„Ich sage es ein letztes Mal, Oliver: Ich werde dir helfen, wenn du mir dafür einen kleinen Dienst erweist.“

„Wenn Ihr jemanden nehmen wollt, sucht Euch eine Hure!“, zischte ich hasserfüllt.

„Niemand verlangt, dass du dich für mich auf die Pritsche legst.“, stellte er leicht kühl fest. „Es gibt auch andere Wege, mir eine Dankbarkeit zu zeigen. Höflichkeit zu Anfang und zum Ende hin vielleicht ein wenig mehr.“

„Dankbarkeit wofür?! Dafür, dass Ihr mich auf Grund laufen lasst in zwei Tagen?!“

„Ich gebe Euch mein Wort, dass…“, seine Kälte verschwand so schnell, wie sie gekommen war und er kam lächelnd einen Schritt auf mich zu. „… wenn du hier und jetzt vor mir auf die Knie gehst, ich dich frei spreche. In zwei Tagen.“, finster starrte ich ihn an. Er legte mir seine Hand auf die Wange und fuhr mit dem Daumen über meine Lippen. Angewidert löste ich mich. „Du musst dich nur hin knien, mich Vater nennen und den Mund aufmachen. Mehr nicht. Es ist ganz einfach und ich bin sicher, das kennst du schon von See. Ist es nicht so?“

Flüsternd gab ich zur Antwort: „Ihr seid ein perverses Schwein.“ Das schien ihn zu amüsieren und er grinste.

„Und du bist ein kluger Junge, also tu, was das Beste für dich ist. Denk an dich, mein Sohn. Mein Wort wiegt mehr, viel mehr, als deines. Ich brauche nur hier und jetzt hinaus zu gehen und behaupten, deine Wunden würden nur so strotzen vor Blut und Eiter. Keiner kontrolliert es, das weißt du. Ich bin der einzige Pater hier, nur ich darf sie sehen. Wer würde dir schon glauben? Und sie würden dich noch heute hängen. Klingt das verlockend für dich?“, wieder hob er die Hand, wieder strich er über meine Wange und diesmal wurde sein Blick anders, verträumter. „Ein paar Minuten, dafür ein freies Leben. Ist das nichts? Und keiner würde es erfahren, Oliver.“

Ich schwieg und er ließ mich gewähren. Die Abscheu lähmte mich. Ich hasste diesen Mann, von der ersten Sekunde an. Mittlerweile war ich sicher, dass O’Hagan sich gerade köstlich über den Gedanken amüsierte, dass dieser Mann hier bei mir war – gleiches galt wohl für die Wachen. Keiner würde es erfahren, hm? Wahrscheinlich wusste schon jeder zweite, was hier vor sich ging.

Doch dann dachte ich an Mary-Ann. In meinem Kopf sah ich sie, dünn, abgemagert und hilflos, wie man sie hinauszog und auf den Scheiterhaufen schliff. Ich hatte schon vielen Hexenverbrennungen beigewohnt. Es war nicht schwer, sich bildlich vorzustellen, wie sie dastand und schrie. Zuerst brannten ihre Füße, dann die Beine und wenn sie nicht gerade das Bewusstsein verlor – was die wenigstens taten – dann schrie sie weiter, lauter, als die jubelnde Menge. Der Pater beugte sich vor und hauchte mir kaum spürbar einen Kuss auf die Lippen. Zwar ließ ich es zu, aber mich bewegen oder reagieren tat ich nicht annähernd.

Ich sah Black vor mir, den alten Piraten, mit seinem Grinsen und dem Holzbein. Er brummte und lachte, doch dann sah ich, wie er auf dem Podest stand, die Arme hinter dem Rücken und auf einem Bein. Er fluchte, mit einem Strick um dem Hals. Der Henker brauchte nur den Hebel zu drücken und der Boden unter dem Seebären würde einfach nachlassen. Sein Hut fiel zu Boden, sein Körper zuckte, schwankte und dann erstarb er, langsam, ganz langsam.

Wenn ich den beiden helfen konnte, dann nur lebend. Ich wollte weinen, ich wollte schreien, ich wollte wüten und ich wollte schlafen. In mir herrschte Chaos und fast mechanisch sank ich zu Boden, als Pater Johannes mich sanft runter drückte. Ich hörte ihn leise lachen und das betäubte mich umso mehr. In meinem Kopf tauchten weitere Bilder auf, endlos viele. Mary-Ann, verbrannt und tot und wie man ihre Reste einfach auf einen Karren warf.

„Du wirst sehen, Gott heilt alle Wunden schnell.“, flüsterte eine Stimme sanft über mir.

Ich beschloss es zu ignorieren, es einfach zu vergessen. Als würde ich das nicht mitbekommen. In meinem Kopf machte es Klick! Und ich blendete alles aus. Als wäre ich weg, ganz woanders. Nicht gedemütigt und gebrochen, sondern frei. Er hob seine Robe und ich registrierte seine weiße Brouche und so ließ er sich mit gespreizten Beinen auf die Pritsche sinken. Er zog sie hinunter und mich zu sich. Ich sah und roch, dass er bereits erregt war und auf Anweisung hin öffnete ich den Mund. Erst ein Stück, doch ich war gezwungen, ihn weiter zu spreizen. Ich tat nichts dazu. Weder bewegte ich mich, noch sah ich ihn an. Und Vater nannte ich ihn schon gar nicht. Ich schloss lediglich die Augen und setzte meine Hände auf das Holz. Ich dachte nicht daran, dieses Schwein irgendwie zu befriedigen oder seine Fantasie zu beflügeln. Übelkeit stieg in mir hoch und desto tiefer er sein Glied in meinen Rachen schob, desto schlechter wurde mir. Umso stärker konzentrierte ich mich auf Mary-Ann. In meinem Kopf befreite ich sie aus dem Tollhaus und wir rannten um unser Leben. Schon nach kurzer Zeit konnte sie nicht mehr, aber das machte nichts. Sie brach zusammen, ich hob sie hoch und etwas weiter wartete Black auf mich, mit einem Karren vielleicht. Wir hievten sie hinauf und suchten das Weite, weg von hier, ganz weit weg. Vielleicht in eine andere Stadt, eine schönere als Annonce. Ohne Schmutz, ohne Inquisition, gab es so etwas?

Es wirkte fast wie ein lächerliches Spiel, bis der Mann vor mir irgendwann aufstöhnte und gieriger wurde. Ich würgte auf, als er sich zu tief in mich schob und fuhr zurück, doch er packte mich an den Haaren. Das war zu viel. Das Bild von Wiesen und Blumen zerplatzte einfach. Dieser Griff von ihm hatte mich zurückgeholt und mich geweckt. Statt Mary-Ann sah ich Kai, wie er mich packte, mich herumdrehte. Ich sah seinen Hinterkopf, sah sein Glied, seinen toten Blick und dann...

...biss ich zu.

Noch nie zuvor hatte ein Mann durch mich so laut geschrieen. Die Dinge überschlugen sich.

Die Tür wurde aufgerissen und zwei Wachen stürmten herein. Eine von ihnen starrte zu mir. Ich hockte auf dem Boden, erbrach mich, spuckte Blut und konnte mich nicht überwinden den Speichel herunter zu schlucken.

Die andere rief erschrocken: „Johannes!“, und stürzte zu dem sich krümmenden Priester. Dieser weinte und schrie. Er fluchte wie ein Besessener, während er die Hand zwischen seine Beine presste. „Du verdammter Mistkerl!“, fuhr mich der Wachmann an. „Dafür wirst du büßen!“, doch ich achtete gar nicht drauf, sondern spuckte immer wieder aus. „Schnell, wir müssen ihn zu einem Arzt bringen…!“, dann packten sie den weinenden und jammernden Mann an den Oberarmen und halfen ihm hinaus. Johannes konnte kaum laufen. Sein Gesicht war tränenüberströmt, an seinem Oberschenkel lief Blut und er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ich sah auf und nach, dann rappelte ich mich hoch und brüllte: „Gott heilt alle Wunden schnell! Sünder! Bastard!“, die Tür knallte zu und fluchend schlug ich dagegen. „Wir werden ja sehen, wer der Unschuldige ist!“ Natürlich bekam ich keine Antwort.

Erst nach langer Zeit verrauchte meine Wut und ich sank zurück auf das Holzbrett.

Nun würden sie mich hängen. Sie würden mich hängen und ich konnte niemandem helfen. Weder Black, noch Mary-Ann. Verzweiflung packte mich. Ich hatte meine Chance versaut und wahrscheinlich wurde ich gleich noch einmal angeklagt, ganz gleich wie meine Wunden aussahen. Und diesmal würde es nicht einmal eine Befragung geben. Das Wort eines Priesters galt viel, viel zu viel, damit hatte Johannes Recht. Ich seufzte schwer und sah auf meine blutigen Hände.

Dann musste ich grinsen.

Egal…, dachte ich. Das war es mir wert…

Selbst, wenn sie mich nun hängten: Ich würde mit Stolz sterben!

Drei Ketzer und ein kleines Geschenk

Den ganzen Tag darauf über ließ man mich in Ruhe. Ich saß im Zimmer herum und langweilte mich. Die Langeweile ließ etliche Gedankengänge zu und diese wiederum sorgten für meine Melancholie und so saß ich auf der Pritsche und wartete auf den Tod, denn zum Abend hin war mir ganz klar: Mich konnte nur der Tod ereilen. Ich war hin und her gerissen. Je nachdem wie es mir ging, verfluchte ich mich für meine Tat oder lachte den Priester aus. Aber so, oder so: Ich musste sterben.

Dann kam Jack. Wie froh ich war, ihn zu sehen! Aber zeigen tat ich es nicht. Ich rührte mich nicht einmal, als der Junge hinein kam, eine Schüssel in der Hand und die Tür schloss. Schweigend nahm er den Schemel, setzte sich zu mir und hielt mir den Brei entgegen. Wir sahen uns an. Beide mit ernsten Mienen, Masken und beide ganz normal. Doch dann begann er zu schmunzeln. Ich tat es ihm gleich, dann grinsten wir und am Ende brachen wir zwei in schallendes Gelächter aus.

„Sein Gesicht!“, prustete Jack. „Als O’Hagan ihn fragte, wie der Unfall passiert ist!“

Ein Gleichgesinnter, dachte ich.

An diesem Abend sprachen wir viel. Über den Priester und mein gelungenes Attentat. Offiziell war es natürlich beabsichtigt gewesen und das schenkte mir noch mehr Bewunderung von Jack. Der Junge schwärmte für meine Geschichte und beneidete mich um meine Abenteuer. Ich berichtete ihm von Black, wie ich es zuvor bei Käse tat. Von der Insel, von der geheimnisvollen roten Truhe und vielem mehr. Wie bei wohl jedem normalen Jungen entfachte ich Abenteuerlust und Neid. Auch er wollte Abenteuer erleben, zur See fahren, deswegen hatte er sich bei der Marine gemeldet und einen Zehnjahresvertrag unterschrieben. Doch statt auf den Schiffen zu arbeiten, musste er nun drei Jahre lang die Kerkerinsassen verpflegen. Er erzählte mir, dass er ein Wirtssohn sei. Sein Vater war der Wirt des schwarzen Katers, seine Mutter dort eine Prostituierte. Er hatte vorgehabt Geld zu verdienen, damit die Frau mit ihrer Arbeit aufhören konnte. Stattdessen, erklärte er traurig, verführte sie die Rotröcke, mit denen er was trinken ging. Aus diesem Grund nannten ihn die Soldaten des Gefängnisses Hurenbock und steckten ihm Geld zu, als Dank für seine Dienste als Vermittler. Dabei hatte er das so nie geplant. Jack hasste sich dafür. Er kam sich vor, als würde er seine Mutter verkaufen, dabei hatte er sie von ihrer Schande befreien wollen. Sie hasste ihn dafür und schlug ihn, wenn sie betrunken war. Aus diesem Grund war er zudem kaum noch Zuhause. Er vertrödelte seine Zeit mit manchen der Soldaten oder spazierte in der Stadt umher, wenn er nicht gerade im Wirtshaus aushelfen musste. Er verriet mir, dass er das Geld der Rotröcke heimlich beiseite legte, um sich aus dem Vertrag frei zu kaufen und mit dem Dienst so schnell wie möglich aufzuhören.

„Fünfhundert Goldmünzen wollen diese Mistkerle!“

Seit er bei den Rotröcken war, ging alles drunter und drüber. Man hatte heraus bekommen, dass sein Vater Geschäfte mit Ächat machte. Ächat war eine Insel weit im Norden, welche unter der Krone St. Katherines stand. Dort lebten Barbaren, die Ächaten, eigentlich Jakobiten genannt. Ich wusste damals nicht viel über dieses heidnische Land, nur jenes, was ich heimlich in der Bibliothek gelesen hatte, in der verbotenen und nur für die Priester gedachten Abteilung: Selbst die Männer trugen Röcke und man sagte, sie können nicht einmal richtig sprechen. Sie glaubten an Feen und andere, blasphemische Dinge. Die Königin unterjochte das Volk. Auch wenn die Insel Ächat nun zu unserem Land gehörte, nannte das niemand beim Namen. Auf Ächat gab es mehrere kleinere und größere Dörfer. Manche zahlten regelmäßig Beträge für ihr Leben, ihren Lebensraum und ihr Essen in Form Steuern in großer Menge. Andere, die das nicht mehr konnten, zahlten in Form von Sklaven aus ihren eigenen Reihen.

Doch niemand wollte etwas mit diesen Barbaren zu tun haben, sie galten nicht einmal als Menschen. Auf den Straßen von Annonce durften sie nicht herum laufen, außer in Begleitung ihrer Herren – aber wer wollte einen Ächaten als Sklave haben? Niemand.

Mir kam es verquer und unchristlich vor und ich fragte mich, wieso man sie nicht einfach allesamt verbrannte.

Die Antwort lag auf der Hand: Ale.

Der Alkohol aus Ächat wurde allgemein verboten, aber jeder wusste, dass es unter den Reichen zum Inventar gehörte – wenn auch nur heimlich. Es schmeckte weitaus besser als jenes Bier vom großen Kontinent, aber das konnten die Katholiken unmöglich genehmigen. Und mit eben diesem geschmuggelten Alkohol, genannt Jakobiten-Bier, verdiente Jacks Vater sein Geld.

Langsam verstand ich, wieso Jack mir das alles erzählte. In seinen Augen war ich ein Rebelle, ein freier Mann, eine Art kleiner Held. Eben das, was er sein wollte. Es war begeistert von dem Verhör, begeistert von der Feuerprobe und begeistert von dem verstümmelten Pater Johannes.

Und vor allem von unserem Gesang.

Er hatte uns gesehen, die Piraten, auf dem Weg vom Gefängnis zum Richtergebäude und er hatte unser Lied gehört. Die Wirkung, die wir auf ihn hatten, hatte in ihm einen Drang nach Freiheit geweckt. Er würde lieber sterben, als sein Leben lang Soldat der Krone zu sein und das sagte er auch, wortwörtlich.

Meinen Plan, ihn für eine eventuelle Flucht zu missbrauchen, schob ich beiseite. Dieser Junge hatte Pläne, Ideen, Intelligenz. Ich hätte es mir niemals verzeihen können, wäre er wegen mir in noch mehr Schwierigkeiten geraten. Sicherlich hätte er sich abgewendet, hätte ich das Wort Flucht auch nur erwähnt. Selbst wenn wir uns jahrelang gekannt hätten, wäre er einfach verschwunden. Es war einfach zu riskant. Er konnte keinen Gefangenen frei lassen, das wäre das Ende seiner gesamten Familie, sein Ruin. Er sah es als seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Probleme seiner Eltern ein Ende nahmen.

Bevor er ging, gab er mir ein Buch. Ich musste versprechen, es niemandem zu zeigen und es ihm zurück zu geben. Notfalls, wenn ich zum Tode verurteilt wurde, sollte ich es einfach verstecken, er würde es schon finden.

Das Buch war klein, rot und in Leder gebunden Es war sehr alt und die Seiten bröselten leicht. Als ich allein war, machte ich es mir einigermaßen bequem und schlug es vorsichtig auf. Es handelte sich um eine Art Notizbuch. Weder stand ein Name darauf, noch, worum es wirklich gehen sollte. Ich blätterte es mir durch um zu sehen, wie viel darin stand. Etwa fünfzig Seiten, gefüllt mit Sprüchen, Gedanken, kleinen Zeichnungen und vielem mehr. An einer Stelle lag ein gepresstes Gänseblümchen, an einer anderen eine winzige, weiße Feder.

Es gehörte Jack, das sah man an der unbeholfenen Schrift und ich war sehr dankbar für diese Beschäftigung.

Das Ergebnis des Gottesurteils sollte erst am Abend bekannt werden und so hatte ich einen weiteren, langen Tag in der Zelle vor mir. Ein Tag voller Langeweile und Melancholie.

Ein Besuch von Jack blieb aus. Sollte die Verurteilung negativ für mich aussehen – und das würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit – dann müsste ich sein Notizbuch verstecken, damit er es finden könnte. Doch ich tat es nicht. Fast die ganze Nacht lenkte ich mich damit ab, es zu lesen. Es war schwer. Teils war die Schrift krakelig und kaum lesbar, teils verschwommen, als wären einige Seiten nass geworden. Zudem gab es kein Licht im Gefängnis, außer jenes von der Hauptstraße, das durch das winzige Fenster hinein fiel.

Ein Großteil des Geschriebenen bestand aus kleinen Nebenbei-Anmerkungen. Er hatte sich für einige Sekunden hingesetzt und sie quer über das Blatt verteilt notiert. Gedichte, Reime und Gedankengänge. Viele Gedankengänge. Ich war erstaunt in welche Richtungen dieser Junge teils dachte. Er sinnierte über die Inquisition, ihren Aufbau, ihre Ansichten und über die Bibel, aber auch über andere Dinge, wie den großen Kontinent. Er dachte darüber nach, was geschehen würde, wäre der Große Kontinent nicht der einzige seiner Art. Hinter der Endlosen See lag das Weltende. Aber was, wenn nicht? Und was, wenn die Wesen dort viel mehr, viel stärker, gar viel intelligenter wären, als wir? Dann wäre die endlose See gar nicht endlos.

Auch dachte Jack viel darüber nach, dass, würden mehr Menschen gebildet sein, könnte St. Katherine sich viel schneller und besser entwickeln. Aber wohin entwickeln? In eine bessere Welt? In ein Land der Zukunft!

Es war ein Ketzers-Buch, von Anfang bis Ende. Ein Buch gegen die Kirche, gegen die Gesetze, gegen die Einteilung der Menschen in ihre Kasten, gegen alles. Ich begann mich zu fragen, wieso er es mir zum Lesen gegeben hatte. Unmöglich nur deswegen, damit ich es las, weil ich eine Art Idol für ihn geworden war. Gab es etwas, was er mir sagen wollte, es aber laut nicht konnte? Und wenn ja, was? Ich suchte und suchte, aber fündig wurde ich nicht. Was wollte Jack mir mitteilen? Was war es?

Irgendwann schlief ich ein. Das Buch hatte ich im Halbschlaf unter mein Hemd geschoben, aber sobald ich wach wurde, las ich weiter. Ich war es schnell durch. Viel darin stand nicht.

Mir fielen drei Stellen auf, die nicht ins Thema passten. Die erste war eine über seine Mutter, wie ich glaubte. Dort stand:

Wenn ich anheuern würde, könnte ich genug Geld verdienen, um sie heraus zu holen. Aber sie möchte es glaube ich nicht. Warum nicht? Sie könnte aufhören, aber wieso möchte sie nicht?

Die zweite Stelle war eine Art Tagebucheintrag, der einzige lange Eintrag im gesamten Werk. Ich erinnere mich nicht mehr an jeden seiner Sätze genau. Er hatte einen Tag im Wirtshaus gearbeitet und Brot gekauft, im Auftrag seines Vaters. Dabei war er einer Kutsche begegnet, in jener saß ein reich aussehender Mann. Er hatte geschäftlich im Laden nebenan zu tun und Jack wurde aufmerksam. Jenes, was er schrieb, als er abends zu seinem Buch zurückkehrte, war in etwa:

Ich habe gestern einen Lord gesehen. Ich glaube, dass es ein Lord war. Er war ganz in schwarz und wirkte wie ein Rabe auf mich. Er trug einen langen, schwarzen Frack und hatte einen Gehstock, so wie schwarze, glatte Haare. Ich habe noch nie einen Reichen in unserem Viertel gesehen. Alle sind stehen geblieben und haben ihn angestarrt. Als er mich gesehen hat, nickte er mir zu. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ob er mich für einen Adligen hielt? Ich glaube nicht, ich war barfuss. Ich wollte es Mutter erzählen, aber sie interessiert es nicht. Sie hat mich raus geschickt und deswegen schreibe ich es mir auf. Wenn man Dinge erzählt, vergisst man sie nie. Aber wenn man sie nicht erzählt, dann schon. Ich hoffe, wenn ich sie aufschreibe, vergesse ich sie nicht Ich möchte den Mann nicht vergessen. Ich wünschte ich wäre er. Er sah wirklich überwältigend aus, wie ein König. Das muss toll sein… Ich hoffe, ich sehe ihn eines Tages wieder. Dann sage ich ihm auch Hallo und bin nicht wieder zu feige, bestimmt. Sein Gesicht war ziemlich seltsam. Total weiß, aber es sah gar nicht so gepudert aus, wie ich mir die Reichen immer vorstelle. Ob er der Teufel war? Der alte McBeth, der Ladenbesitzer, ist heute Morgen gestorben. Ich glaube, der Lord hat sich seine Seele geholt.

Und dann gab es einen dritten Text. Dieser verwirrte mich. Er passte nicht annähernd ins Konzept. Jack hatte ihn in aller Ruhe verfasst und auf der letzten Seite. Wie auch alle anderen ohne Datum und nähere Details, jedoch gab es zu diesem Text ein Bild. Auf der linken Seite hatte er eine Frau gezeichnet. Sie hatte keine Pupillen, ein langes Nachthemd an und große, weiße Flügel. Es erinnerte an eine Engels-Statue. Man konnte Jack nicht gerade als Meister der Kunst bezeichnen und viele Details passten nicht zu anderen. Ein Arm war wesentlich größer, als ein anderer und ihre Augen sehr weit auseinander, dennoch hatte das Bild etwas Faszinierendes. Er hatte sich Mühe gegeben. Wesentlich mehr, als bei anderen Zeichnungen.

Der Engel streckte seine beiden Arme in die Luft und hatte den Kopf scheinbar erhoben. Rechts hielt er ein langes, großes Kreuz, links eine Art Wanderstab, der bis hinter seinen Rücken reichte. Viele Striche und Schnörkel sollten wohl so etwas wie einen Faltenwurf darstellen und an den Füßen waren Gras und Blumen. Rechts daneben stand in etwa folgendes:

Gestern schien die Sonne hell, gelb und strahlend weiß,

so grub ich neben Hundgebell in kaltem, kaltem Eis.

Erfror’n die Finger und die Haut, erfror’n sind sie zu Stein,

doch wenn’s im Sonnenlicht dann taut, das darf doch gar nicht sein!

Der Finger ab, er ist gefallen, zeigt mir den Weg den rechten,

Ach wär’s nicht schön, wenn Tote mir mein Glück nach Hause brächten?

So liegt er da, allein und tot, erfroren wie die Gräser,

ach hätt’ ich nur gehört in Not, auf die Trompetenbläser.

Diese Verse sprach ich immer und immer wieder durch in meinem Kopf, doch ich kam zu keinerlei Ergebnis. Weder war es ein altes Volkslied, noch eine alte Weisheit – zumindest mir nicht bekannt. Es machte mich unruhig, dass ich mir keinen Reim daraus machen konnte. Teilweise wurde ich durch meine Unwissenheit sogar so aggressiv, dass ich mich aufsetzte, mit den Beinen wippte oder auf und ab lief. Als würde das mein Wissen steigern sprach ich es mal langsam, mal schnell, mal leise und mal völlig tonlos vor mich hin, doch es half alles nichts. Auf der anderen Seite gefiel es mir von Mal zu Mal mehr und ich beschloss, es auswendig zu lernen. Ob er es wirklich selbst geschrieben hatte?

Das Licht in meiner Zelle verschwand wieder allmählich und das Essen blieb aus. Die Zeilen hatten sich in meinem Kopf eingebrannt wie ein Fluch. Immer wieder begann mein Kopf, es zu wiederholen, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. Teilweise hatte ich sogar vergessen, wo ich war und als man die Zellentür aufschloss, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Schnell versteckte ich das Buch hinter meinem Rücken und schob es unbeholfen in meinen Hosenbund. In Gedanken verfluchte ich mich für meine Unaufmerksamkeit.

Der erste, der eintrat, war Pater Johannes, direkt hinter ihm jene zwei Wachen, die ihn hinaus gezerrt hatten. Der junge Mann war blass, fast weiß und hatte tiefe Augenränder. Er wirkte fiebrig auf mich und geschwächt. Ich gab mir keine Bemühe, ihn zu begrüßen.

Man schloss die Tür und schloss ab, zu meinem Erstaunen jedoch von außen. Der Priester hatte die zwei Männer hinaus geschickt. Dann wandte er sich an mich.

„Ich bin hier, um Eure Wunden zu untersuchen.“, erklärte er leise und heiser. Ich musste schmunzeln und registrierte nur nebenbei, dass er diesmal auf die richtige Anrede achtete.

„Ist Eure nicht viel schlimmer?“

Diese Bemerkung ließ seine Ohren rot anlaufen. Johannes bemühte sich, meinem schadenfrohen Blick auszuweichen. „Nun? Wie geht es Eren Verletzungen?“

„Bestens. Wollt Ihr sehen?“, log ich. Ich ließ mich auf das Gestell sinken und lehnte mich lässig auf meine Oberschenkel. In Wahrheit hatten sich einige Stellen entzündet und eiterten nun leicht.

Johannes schüttelt den Kopf. „Nein, nein. Es geht schon.“, er räusperte sich erneut. „Ich glaube Euch.“, dann sah er mich an. Für eine Sekunde schien es, als würde er sich neben mich setzen wollen. Durch das Fenster drangen Kinderrufe zu uns hinunter und er sah nach oben. Eine unsinnige Handlung – er konnte nichts von der Straße sehen und gab mir für einige Sekunden freie Sicht. Ich betrachtete ihn eingehender und stellte fest, dass er nervös war, gar ängstlich. Aber diese Angst galt nicht mir.

„Nun? Dann war’s das wohl?“, fragte ich etwas patzig. Er sah mich wieder an.

„Wie meinen?“

„Ihr werdet mich schuldig sprechen oder nicht? Deswegen seid Ihr doch hier? Um zu sagen, dass Gott mich gestraft hat?“

Der Pater schüttelte erschrocken den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“, er kam unbeholfen und sehr langsam einige Schritte auf mich zu. Allem Anschein nach hatte er Schmerzen. Als der Gottesdiener meine Hände greifen wollte, zog ich sie jedoch weg und stand auf. „Ich habe Euch geschworen, dass, wenn ihr-... Also-…“, er fuhr sich verlegen durch die kurzen Haare und suchte auf dem Boden nach den passenden Worten. „Ich meine-… Dass, wenn Ihr-…“

„Dass Ihr mich freisprecht, wenn ich vor Euch in die Knie sinke.“, unterbrach ich ihn gespielt freundlich. Er wurde knallrot und lächelte mich verlegen an.

„Genau.“

„Mit anderen Worten…“, ich nahm mir die Zeit und sah kurz zum Fenster hinauf, dann wieder ihn an und schob meine Hände in meine Hosentaschen. In aller Ruhe ging ich an ihm vorbei, in einem so großen Bogen, wie die winzige Zelle zuließ und murmelte gedankenverloren: „Ihr habt mich erpresst. Mich gezwungen Euch zu helfen, sexuelle Befriedigung zu finden. Ich habe Euch gebissen – man könnte es als Strafe des Herrn sehen, aber so weit will ich nicht gehen. Ihr habt daraufhin geschrieen…“, dann hielt ich und sah ihn wieder an. „Und nun hat man gemerkt, was Ihr mit den Angeklagten treibt und Ihr hofft, wenn Ihr mich freisprecht, halte ich den Mund… Richtig?“

Er rang empört nach Luft. „Wie könnt Ihr es wagen-…?! Mich-…?!“

Ich stellte den Kopf schief. „Nun, wenn dem nicht so ist, bin ich Euch natürlich überaus dankbar. Und es wird Euch sicherlich nichts ausmachen, wenn ich noch heute gleich nach meiner Freilassung zum ehrenwerten Richter Fulligan gehe, um Euer Vergehen für Euch zu beichten, nicht wahr?“, Johannes erstarrte zu Stein, ihm fehlten die Worte. Ein erbärmlicher Anblick.

„A-aber ich spreche Euch frei!“, jappste er hilflos. „Ich spreche Euch doch frei!“

„Sicher.“, gab ich nachdenklich zu. „Aber es ist eine Sünde und auch ich sollt Beichte tun. Aber nicht nur das: Ich sollte Euch helfen, mit diesem Treiben aufzuhören! Ich weiß, wie es ist, seinen Trieben folgen zu wollen.“, ich tat einen Schritt nach vorn und legte meine Hände auf seine Schultern. Eindringlich sah ich ihm in die Augen und meine Stimme wurde fast mitfühlend. „Pater Johannes, Vater! Es ist Sünde, was Ihr tut, man muss Euch helfen! Und das werde ich, habt keine Angst. Und wenn man mich dafür hinrichtet…ich sterbe gern, wenn ich weiß, dass ich Euch geholfen habe. Was wäre mein Leben wert, wenn ich Euer ehrwürdiges einfach so kaputt gehen ließe? Ich werde gleich nach meiner Freilassung zur Kirche gehen und beichten!“

Johannes schüttelt den Kopf und hielt meine Arme, doch ich ließ ihn nicht los.

„Nein! Sullivan, ich spreche Euch frei, Ihr müsst es niemandem sagen!“

„Aber Pater…“, sprach ich freundlich. „Nicht doch… Ihr wisst doch selbst, was Gottes Wille ist, oder nicht? Denkt nur, was in der heiligen Schrift steht:

Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Greuel ist, und sollen beide des Todes sterben. Blutschuld lastet auf ihnen.

Daran glaubt Ihr doch?“

„I-ich… Ich-…“

„Ihr glaubt doch an Gott?“, ich griff seine Schultern fester und tat schockiert. „Seid Ihr etwa ein Ketzer, Pater?“

„N-Natürlich nicht!“

„Also glaubt Ihr an Gott?“

„Ja…!“, jammerte er verzweifelt und verwirrt. „Ja doch…!“

Ich nickte kurz. „Und auch an Gottes Wort?“

„Selbstverständlich…!“

Seine Augen starrten mich an und in ihren lag Panik. Angst vor dem Scheiterhaufen, Angst vor der Buße die er tun müsste und Angst vor dem Tod, vor der Hölle. Ich zwang ihn, mich anzusehen und registrierte im Winkelblick, dass ein Schweißtropfen seine Schläfe hinunterlief und in seinen schwarzen Haaren verschwand.

„Dann wollt Ihr doch für Eure Sünden büßen, nicht wahr? Zusammen mit mir?“

„Ja… Nein… Nein!“, er riss sich los und wich zurück. „Das könnt Ihr nicht machen!“, schrie er mich fast schon weinend an. „Ich spreche Euch doch frei, verflucht noch mal! Ich habe doch aus meinen Fehler gelernt!“

Ich hingegen blieb ruhig. „Aber Pater… Fluchen ist eine Sünde, sagtet Ihr das nicht?“, er war fassungslos und begann zu zittern. Schwer seufzend ging ich wieder auf ihn zu und legte erneut meine Hände auf seine Schultern. Sie bebten. „Wie verdorben Ihr seid… Lasst mich Euch helfen…“

Johannes schüttelte den Kopf und hielt sich an mir fest. Er hatte den Kopf sinken lassen, aber ich glaubte, ihn schluchzen zu hören. „Ich spreche Euch frei! Ich spreche Euch doch frei! Nun hört doch bitte auf von der Hölle zu sprechen...! Ich werde es ja nie wieder tun, ich habe es doch begriffen...!“

„Aber Pater, darum geht es nicht…“, dann legte ich meine Hand an seinen Hinterkopf. Es musste mitleidig wirken, aber in Wahrheit lachte ich ihn innerlich aus. Diese Tatsache jagte mir Angst ein, aber zugleich gab sie mir ein unheimliches Gefühl der Überlegenheit. Tröstend streichelte ich sein filziges Haar. „Lasst mich Euch helfen. Lasst mich Euch helfen, Eure Seele zu reinigen. Die heilige Kirche wird Eure Seele läutern, Ihr werdet in den Himmel kommen. Das wollt Ihr doch?“, er antwortete nicht. Ich zwang ihn, mich anzusehen. „Das wollt Ihr doch? Pater? Ihr wisst, ich war Mönch... Ich kann unmöglich gehen, ohne zu wissen, dass Ihr gerettet seid.“

„J-ja… Natürlich… Aber-…“

„Oder wollt Ihr in die Hölle, Pater?“

„N-Nein…!“

„Dann tut Buße.“

„Das werde ich!“, versicherte er mir und packte nun heulend meine Schultern. Ich ließ ihn gewähren. Er war verrückt, er war krank. Das sah man nun. Die Inquisition hatte ihn, wie mich, fest im Griff. „Aber bitte sagt es niemandem! Ich kann anders büßen, auch ohne den Tod, das versichere ich Euch! Ich spreche Euch frei, ich tue was immer Ihr wollt, aber sagt es keinem! Ich bitte Euch, ich flehe Euch an!“

Sanft löste ich mich und lächelte: „Aber ich würde mich damit selbst belasten. Ich war Mönch. Ich muss Euch beistehen, den rechten Weg zu finden.“, Stille. Für den Mann muss die Welt mit einem Mal ausweglos gewesen sein. Ihm fehlten die Worte und er stand einfach nur da und glotzte mich hilflos an. Ich ließ ihn einfach stehen, mehrere Sekunden lang. Es wirkte in diesem Moment wie Minuten. In dieser Zeit setzte ich mich wieder auf das Gestellt und beachtete ihn nicht weiter. Das Ignorieren quälte ihn. Er wollte weinen, schreien, auf sich aufmerksam machen, aber er wusste nicht wie. Es war fast, als hinge er an einer Angel und dutzende Fische würden um ihn herum schwimmen. Bisher hatte er wohl jeden freigesprochen und niemand hatte etwas gesagt, aus Angst, selbst angeklagt zu werden. Ich war anders: Ich drohte damit, zu einem anderen Priester zu gehen und Beweise für mein Gesagtes gab es unter seiner Robe wohl auch. Dann überlegte ich laut: „Aber vielleicht wäre es Buße, wenn Ihr jenen, die Ihr geschädigt habt, nun helft?“

„Ja!“, er stürzte vor und ging in die Knie. Flehend starrte er mich an. „Ja, ich helfe Euch! Ich spreche Euch frei!“

„Das ist keine Buße.“, stellte ich unheimlich kühl fest. „Damit werdet Ihr lediglich Eure Beichte los.“

„Dann sagt mir, wie ich büßen kann! Was kann ich tun, damit Ihr nicht redet?“

„Bestecht Ihr mich etwa?“, ich lachte.

„Nein!“, entfuhr es ihm und er stockte kurz. „Ich will Euch helfen! Ich will meine Taten bereinigen!“

Ich sah ihn prüfend an. Eine längere Zeit lang starrte ich ihm unbewegt in die Augen, bis auch sein letztes bisschen Kraft gebrochen war. Als ich dann zu sprechen begann, hätte er sich zu Boden geworfen, wenn ich das verlangt hätte. Kalt erklärte ich ihm, wie einem Idioten:

„Erstens: Ihr sprecht mich frei. Ihr behauptet, meine Wunden wären geheilt.“, ich wartete, dass er reagierte und wie ein Kind nickte er zum Zeichen seines Verständnisses. „Zweitens: Ihr sorgt dafür, dass Robert McGohonnay stirbt…“

„Das kann ich nicht!“, unterbrach er mich schockiert, doch ich deutete ihm zu schweigen.

„Ich verlange keinen Mord. Ich will lediglich, dass Ihr sicher geht, dass er wirklich hingerichtet wird. Ihr sollt Zeuge sein und Acht geben, dass er nicht flieht. Ihr sollte dafür sorgen, dass er Gottes gerechte Strafe erhält. Das ist doch auch Euer Wille oder nicht?“

„J-Ja, natürlich.“

„Sehr gut.“, dann fuhr ich desinteressiert fort: „Und als drittes werdet Ihr mir Geld geben.“

Nun war Johannes völlig geschockt. „G-Geld? Aber woher…? Ich besitze nichts!“

„Ihr nicht… Aber die Kirche.“, es kam völlig selbstverständlich über meine Lippen.

Der Priester rief entsetzt: „Das könnt Ihr unmöglich verlangen!“

Ich packte ihn und zischte: „Doch, das kann ich! Denkt nur, was Ihr mir angetan habt! Ihr habt mich befleckt! Mich, einen Mönch! Ich war stets fromm, stets gottesfürchtig, stets gehörig! Fragt den Abt des Klosters! Und Ihr, Ihr habt mich verdorben! In die Hölle gestoßen habt Ihr mich! Selbst die Feuerprobe habe ich mit Gottes Hilfe überlebt, ist es nicht so? ich war rein!“

„Nein!“, murmelte er. „Nein, das stimmt nicht, nein!“

„Oh doch, Johannes, das stimmt! Und das wisst Ihr so gut, wie ich es weiß…! Wenn ich diese Zelle verlasse, habe ich weder Hab noch Gut! Ich besitze nichts, bis auf dieses Hemd und diese Hose. Wollt Ihr, dass ich stehle? Gar morde vor Hunger? Ist das Euer Wille? Ich habe nicht mit der Hilfe des Herrn überlebt, um mich danach in die Hölle zu stürzen!“

„Natürlich will ich das nicht…!“

„Dann ist Geld das Mindeste, was Ihr für mich tun könnt.“, ich stand auf und zog ihn mit mir nach oben. „Pater, ich bitte Euch, bewahrt mich vor weiteren Sündtaten…! Gebt mir ein wenig Geld.“

„U-und wie viel…?“, stotterte der Priester heiser.

„Genug, um Mathew Hullingtan Black freizukaufen.“

„Was?!“

„Er ist unschuldig! Er ist vom rechten Wege abgekommen, so wie ich. Helft ihm!“

„I-ich werde sehen, was sich machen lässt…“, er suchte ein Tuch aus seinem Ärmel heraus, dann wischte er sich blass den Schweiß von der Stirn. „Aber versprechen kann ich nichts. Er soll schließlich noch heute Abend gehängt werden!“

„Dann verhindert das.“, sagte ich kühl. „Oder wollt Ihr, dass ich dem Richter etwas gestehen gehe? Und ihm einen Wink gebe, mal unter Eure Robe zu gucken?“

Pater Johannes verschluckte sich und schüttelte nur den Kopf. Dann machte er sich wie ein geschlagener Hund daran, die Zelle zu verlassen. Er klopfte drei Mal gegen die Tür. Das Schiebefenster ging auf, ein düsterer Wachmann erkannte ihn und dann öffnete man ihm.

Gerade hatte er die Zelle verlassen, da verschränkte ich die Arme und grinste:

„Ach…Und Pater?“, unsicher drehte er sich noch einmal herum. „Gott sei mit Euch.“

Der schwarze Kater

Man sprach mich frei und es war ein gutes Gefühl.

Am nächsten Morgen rüttelten mich die Wachen unsanft wach und geleiteten mich hinaus. Und das war alles. Kein feierliches „Ihr seid hiermit freigesprochen, Oliver Sullivan O’Neil!“, von Fulligan und auch kein „Ich kriege Euch noch, wartet nur ab…!“, von O’Hagan.

Sie stellten mich vor dem Gebäude ab, lösten meine Fesseln und schlossen das Holztor. Ich sah unsicher hinauf, tatsächlich hatte ich mich die ganze Zeit im Richtergebäude befunden, dann ließ ich meine Blicke kreisen. Die Straßen waren recht belebt, trotz so früher Stunde. Marktstände wurden aufgebaut und Waren vor die Schaufenster gehangen. Keiner nahm Notiz von mir. Niemand schien sich dafür zu interessieren, wer ich war oder woher ich kam. Ich könnte ein frei gesprochener Mörder sein, ein Vergewaltiger, schlimmer noch: Beides.

Keiner befasste sich mit diesem Gedanken. Zu viele wurden in diesen Komplex gezerrt oder wieder hinaus geworfen. Es war Alltag dieser Stadt geworden. Ein vornehmer Herr rempelte mich an und eine ältere Dame scheuchte mich beiseite, mehr nicht. Und da stand ich nun, ohne Anfang und ohne Ende. Ich war frei… Frei… Aber was tun?

Zurück ins Kloster? Oder ein Neuanfang auf einem Schiff?

Ich musste nachdenken, dringend. Sollte ich Mary-Ann nun befreien? Oder etwa nicht…?

Ich beschloss, mir einen ruhigen Platz zu suchen, um dann alles noch einmal zu überdenken.

Dann erblickte ich Pater Johannes. Er stand ungemein abseits in einer engen Gasse und winkte hektisch nach mir. Etwas übertrieben lugte er in alle Richtungen, als wäre es schon ein Verbrechen, überhaupt dort zu stehen. Ich musste grinsen und ging lässig auf ihn zu. Als ich in seiner Nähe war, zog er mich grob ins Innere der Gasse hinein. Trotz der dunklen Kutte und seiner riesigen Kapuze konnte man ihn problemlos erkennen. Sein Gesicht wirkte blass und eingefallen auf mich, als wäre er krank oder hätte kein Auge zugetan.

„So seid doch vorsichtig!“, zischte er mir angsterfüllt zu. „Sonst sieht man uns noch!“

Ich atmete tief durch, der Gestank war fast unerträglich. Irgendetwas schien in der Sackgasse hinter uns zu verwesen. Summen von Fliegen drang zu uns herüber. Ich versuchte es auszublenden. Johannes bemerkte von dem Gestank scheinbar nichts. Er steckte nur wieder seinen Kopf heraus, um zu gucken, ob denn jemand anderes guckte. Natürlich war das nicht der Fall, wieso auch? Wer sollte uns beobachten und wozu? Seine Paranoia amüsierte mich und ich gab mir keine Mühe, das zu verbergen.

„Und selbst wenn?“, fragte ich grinsend. „Was ist dabei? Niemand interessiert sich für mich oder Euch.“

Johannes beachtete meine Worte nicht, dann drückte er mir einen Geldbeutel in die Hand. „Hier, das ist alles, was ich kriegen konnte.“

Das kleine Stück Leder wog schwer und ich hob und senkte es Testweise. Als ich es leicht schüttelte, erklang das sanfte Rasseln von Münzen. Mit einem skeptischen Blick fragte ich: „Nicht wenig, nehme ich an?“

„Nein! Nein, gar nicht wenig.“, der Vater bekreuzigte sich und murmelte mehr zu sich selbst: „Ich fasse es nicht, dass ich das tue.“

Lächelnd tätschelte ich halbherzig seine Schulter. „Ihr tut es für einen gottesfürchtigen Mann.“

Nicht weit entfernt fuhr eine Kutsche vorbei und für einen Moment konnten wir bis auf die schwarzen Pferde und das ebenfalls schwarze Gestell nichts mehr von der Straße sehen. Johannes schien das noch nervöser zu machen, dabei hätte es ihn eigentlich beruhigen müssen, für einen kurzen Moment unsichtbar zu sein. Er zog seinen Kragen zurecht, als wäre er ihm zu eng. Nachdem sie verschwunden war und wieder das Geschrei des Marktes zu uns herein drang, gab ich ihm das Geld zurück. Verwirrt starrte der Priester mich an. Er war sich nicht sicher, was los war. Erst hatte er das Geld besorgen sollen und nun gab ich es ihm zurück?

„Ich kann Black nicht freikaufen.“, erklärte ich.

Johannes jappste erschrocken nach Luft. „W-Was meint Ihr?! Ihr… Ihr könnt nicht?! Wieso denn nicht…?! Es reicht, ich bin mir sicher! Ich habe so viel genommen, wie es ging! Oh Herr im Himmel, wenn man es bemerkt, bin ich ein toter Mann...!“, wieder bekreuzigte er sich.

„Ich glaube Euch ja…“, versuchte ich ihn vergeblich zu beruhigen. „Es ist nur… Ich möchte neu anfangen, da kann ich unmöglich dort hinein gehen und einen alten Seebären freikaufen. Sie würden sofort Verdacht schöpfen und mich nicht mehr aus den Augen lassen.“

„Aber ich bin Priester…!“, stammelte er hilflos und wieder zitternd. „Ich kann nicht-…“

„Ganz ruhig. Beruhigt Euch, ich weiß doch. Beauftragt jemand anderen.“, wir hielten inne. Eine ältere Dame humpelte langsam und gebeugt am Eingang der Gasse vorbei. Erst nachdem sie weg war, wandte ich mich erneut an den Mann. „Sucht einen Waisenjungen auf, gebt ihm ein paar Heller und schickt ihn, Black freizukaufen. Ich bin mir sicher, er würde es tun.“

„Einen Waisenjungen?“

„Richtig. Ich werde hier warten.“, ich sah mich kurz um. Hinter mir war eine Wand, feucht und bemoost, mit Müll und Dreck. Irgendetwas lag unter einem Stapel Holz, es war in Stoff gewickelt und scheinbar die Ursache des Gestanks. Vielleicht ein Mensch? „Oder zumindest hier in der Nähe.“, korrigierte ich mich etwas angeekelt. „Ihr habt eine Stunde, dann humpelt der alte Black da aus dem Holztor.“

Pater Johannes nickte schwitzend, aber das reichte mir nicht. Also fragte ich mit Nachdruck: „Habt Ihr das verstanden? Eine Stunde. Nicht länger.“

„Eine Stunde.“, erneut zog er an seinem Kragen.

„Wenn nicht…“, aber ich sprach den Satz nicht zu Ende. Johannes nickte, schluckte schwer und sah zum Richtergebäude. Sein Gesicht war blasser als blass, fast schneeweiß. Er murmelte irgendetwas Unverständliches zu sich selbst, ehe er losgehen wollte. Ich hielt ihn am Arm und zog ihn sanft zurück.

„Und noch etwas… Sagt Black nicht, dass ich es war, der ihm half.“

Der Pater nickte nur, dann eilte er davon.

Seufzend sah ich ihm nach. Mir blieb keine andere Wahl, als zu warten, ob Johannes wirklich das Verlangte tat. Ich sah ihm zu, wie er in der wilden Menge verschwand. Mittlerweile herrschte stärkeres Treiben. Die Menschen begannen nun ihre Einkäufe oder damit, Tratsch herum zu erzählen. Die Jungen aus den Handwerksläden hatten frei und durften herum toben, die Taschendiebe gingen nun ihren Geschäften nach und manche der Händler feilschten laut um ihre besten Waren Kurz: Es war voll und so beschloss ich, mir ein geeigneteres Plätzchen zu suchen, um das Richtergebäude zu beobachten. Viel Auswahl blieb mir leider nicht. Ich lief zwischen den Ständen umher und musterte die Waren. So lange, bis die Verkäufer mich finster anstarrten. Wenn jemand so oft an ihren Ständen vorbei schlich, konnte dieser schließlich unmöglich etwas Gutes im Sinn haben. Danach lungerte ich auf dem großen, runden Brunnen herum und beobachtete die Leute. Sie hatten die seltsamsten Angewohnheiten und Gesichter. Es fiel mir schwer, mich wirklich nur auf das Gebäude zu konzentrieren. Schielende Blicke und buckelige Gestalten hielten mich davon ab. Ich war Menschenmengen einfach nicht mehr gewohnt und hatte mich unbewusst nach solch einem Trubel gesehnt. Es dauerte länger als eine Stunde, doch dann kam Black tatsächlich in Begleitung eines Jungen hinaus. Beinahe hätte ich ihn übersehen, ein Karren mit Äpfeln lenkte mich zu sehr ab. Ehe er mich erkannte, stand ich auf und verschwand in der Menge. Warum genau ich ihn mied, konnte ich nicht erklären. Wahrscheinlich hatte ich einfach Angst, er würde mich in Schwierigkeiten bringen wie damals, bei Beginn meiner Reise. Aber vor allem wollte ich diesmal keine Hilfe, ob gut gemeint oder nicht. Ich wollte meine Dinge erledigen und dann mein Leben komplett neu beginnen – alleine, ohne Hilfe. Und ohne Piraten-Geschichten.

Als ich mich zurück drehte, war der Seebär bereits verschwunden. Leise verfluchte ich mich für meine Dummheit. Hätte ich Pater Johannes doch nur nach ein paar Münzen für mich gefragt! Und wäre ich doch bloß nicht so stur! Black kannte mit Sicherheit einige Leute, bei denen er nun Unterschlupf und eine warme Mahlzeit bekam. Ich hingegen stand nun da und hatte nicht einmal einen Wirt, den ich beim Namen kannte – abgesehen jener zwei, die ich kurz nach Verlassen des Klosters kennen gelernt hatte. Aber weder wollte ich erneut von Blackborns Komplizen auf ein Schiff verschleppt werden, noch unwissend von einer Hure ausgenommen. Annonce war die Stadt der Taschendiebe und Streuner. Es gab keinen ort, der ungefährlich war.

Niedergeschlagen irrte ich weiter umher. Ich war zu abhängig geworden. Abhängig vom Kinderheim, abhängig vom Kloster, abhängig von Black und dann abhängig von Pater Johannes. Es wirkte fast, als wäre ich zu nichts selbst im Stande. Etwas, was mich aufregte, aber vor allem kränkte. Ich wollte nicht so schwach sein.

Früher, bevor man mich gefangen und ins Heim gebracht hatte, da hatte ich ein anderes Leben gehabt. Ich lebte nicht von Almosen und aus der offenen Hand jener, die mich beherrschten. Ich klaute, was ich brauchte und log, wenn es mich weiter brachte. Ich hatte mir nie Sorgen darüber gemacht, ob das Sünde war und was mit mir geschah, wenn ich so weiter mein Unwesen trieb. Natürlich, ich war ein Kind und kannte die Hölle nicht. Aber es brachte mich scheinbar weiter. Seit ich das Kloster verlassen hatte, hatte ich so einiges erlebt und stets brachte es mich voran, zu sündigen. Ich war ein Mörder geworden, ein Lügner, ein Dieb, ein Ketzer und aus Armut heraus wohl zu einem Streuner. Aber ich fühlte mich gut. Wesentlich besser, als in einer Bibliothek oder hinter Klostermauern und das sprach für dieses Leben. Das Leben als Lump, als Aufsässiger. Ich brauchte nur noch etwas Zeit, mich wieder in diese Rolle zurückzufinden. Doch ich hatte nicht vor rebellisch zu werden, so wie Jack es wohl bei mir erhoffte. Viel mehr wollte ich wie ein Schatten leben. Ohne Name, ohne Gesicht und doch irgendwie…bekannt. Meine Kindheitsfantasien kamen in mir hoch und ich stellte mir ein einwandfreies Leben vor. Versteckt, in einem alten Haus oder vielleicht sogar so reich, dass ich mir ein Zimmer mieten konnte. Und niemand wusste, wer ich eigentlich war, aber jeder kannte mich. Bei jedem stand ich gut dar, hatte einen Gefallen schuldig und überall erzählte man Gerüchte über meine wahre Identität.

Leider wurde ich schnell in die Realität zurückgeholt. Weder hatte ich Geld für ein Wirtshaus, noch eine geheime Unterkunft und am wenigstens Menschen, die mir etwas schuldeten. Nicht einmal Black schuldete mir wirklich etwas. Im Gegenteil: ich hatte ihm viel geschuldet und ihn nun aus dem Gefängnis freizukaufen war wohl das Mindeste, was ich für ihn hatte tun können. Es war ein Versprechen gewesen, dass nun eingelöst worden war, mehr nicht.

Ich kam an den Fluss, der durch Annonce lief. Er entsprang in den Bergen, floss in großen Kurven quer über das Land, ins Klostergebiet um dort die Mühlen zum Drehen zu bringen, durch die Stadt hindurch und mündete dann letzten Endes ins Meer. Hier, zwischen Gebiet und Stadtmitte, war er sauber und rein. Anders als in der Stadtmitte, wo er gefüllt war mit Körpern, Müll und Unrat. Schweigend ließ ich mich auf der kleinen Holzbrücke nieder und die bloßen, verdreckten Beine baumeln. Ich gönnte mir Ruhe, ich musste nachdenken.

Das Holz unter mir bebte sanft, wenn Menschen hinter mir entlang gingen und das Wasser unter mir plätscherte leise. Weiter fern, am Ende der von der Brücke ausgehenden Pflasterstraße, war das riesige Tor zum Klostergebiet mit seinen alten Mauerresten. Die Glocke der dortigen Kapelle läutete, als würden sie mich nach Hause rufen wollen, ebenso wie die Möwen schrieen, weiter unten am Hafen. Ich entdeckte ein paar Karpfen. Als Kinder hatten wir oft versucht, sie zu fangen, aber gelungen war es uns nie. Ob das in meiner Natur lag? Das alles misslang? Sollte ich es wirklich riskieren, Mary-Ann zu helfen oder wäre das mein sicherer Tod? Durch die wenigen Tage in der Zelle war meine Zeit im Tollhaus schon fast völlig in den Hintergrund gerückt. Jeder noch so kleine Schritt dorthin zurück könnte mein letzter Schritt in Freiheit sein und die hatte ich doch erst vor wenigen Stunden erworben. Nach endlosem, stundenlangem Überlegen kam ich zu dem Entschluss, dass ich Mary-Ann helfen wollte. Aber erst nach gutem Pläne schmieden. Vielleicht war sie schon tot, vielleicht war sie längst hingerichtet worden, aber ich würde nicht für eine Tolle meine eigene Freiheit aufs Spiel setzen. Die Sache musste reichlich überlegt sein. Man würde sofort mich mit ihrer Flucht in Verbindung bringen und allein das verlangte nach einem gut überlegten Fluchtort. Zudem war sie schwach und betäubt durch die lange Gefangenschaft und die Medikamente. Die Wachen würden sicherlich nicht schlecht gucken, wenn ich mit einer Ohnmächtigen und halb Toten durch die Stadt rannte. Vielleicht würden sie sogar vor lauter Erstaunen eine Verfolgung völlig vergessen? Aber das wollte ich nicht herausfinden und das wiederum hieß, dass ich Hilfe brauchte. Ich konnte unmöglich eine Halbtote weg schleppen und gleichzeitig die Rotröcke ablenken. Ich möchte nicht behaupten, dass ich sonderlich entschlossen war, aber ich ging ohne zu Zögern los und fragte mich durch die gesamte Stadt. Es dauerte zwei Stunden, bis ich mein Ziel erreichte, was daran lag, dass ich mir dessen Namen falsch gemerkt hatte. Statt Schwarzer Kater, hatte ich Schwarzer Hund im Hinterkopf gehabt, weswegen ich nach endlos langem Suchen vor dem völlig falschen Wirtshaus stand. Aber am Ende dann fand ich das Richtige und war alles andere als begeistert. Weiß der Teufel, was meine Erwartungen gewesen sein mochten, erfüllt hat diese Ruine jedenfalls keine einzige. Sogar der kleine Schuppen unseres Klosters war größer und um einiges schöner, als dieses abscheuliche Bauwerk. Es war förmlich ein Sinnbild für Annonce: Ich stand vor einem zweistöckigen Wirtshaus, mit vermoosten Dachziegeln und schiefem Trapezgiebel an der Front. Darunter hing ein altes Schild, voller Ruß und mit einer dunklen, eingeschnitzten Katze. Noch nie zuvor hatte ich ein so hässliches Tier gesehen! Zwischen den zwei Stockwerken gab es einen morschen, splitternden Holzbalken, an dem seitlich abermals ein solches, hässliches Schild angebracht war, das beängstigend quietschte und scheinbar herunter fallen wollte. Ich stand lange da und wusste nicht, ob ich wirklich hinein gehen wollte. Ein Betrunkener kam hinaus, stieß mich an und rülpste dabei. Unsicherheit stieg in mir auf. Ich kann nicht sagen, was mich mehr erschrak: Sein Gestank oder jener, der aus dem Inneren des Hauses kam. Ich nahm einen tiefen Atemzug, dann trat ich ein.

Einige Sekunden blieb ich an der Tür stehen, um den beißenden Gestank auf mich wirken zu lassen und meine Augen an das Dämmern zu gewöhnen. Der typische Kneipengeruch war weitaus weniger schlimm, als das wenige Licht. Man hatte die Fensterläden geschlossen. Wie ich später erfuhr, vermied Jacks Mutter das Sonnenlicht, damit man ihre Falten nicht sah – ein recht misslungener Versuch, wie ich fand. Wer sie kannte, weiß, warum.

Über mir erschellte schmerzhaft eine schlichte, verstaubte Türglocke. Sie war schwarz, und auf der Haltestange war eine flache, kleine Katze abgebildet, die sich gerade streckte. Ihr Klang war das einzige Geräusch im gesamten Raum, es herrschte fast schon Totenstille. Zögernd tat ich einen Schritt vor und stolperte fast, denn direkt vor der Tür war eine Stufe. Man hatte einen Holzboden über den Sand gebaut, ein Zeichen von ärmlichem Wohlstand. Langsam begann ich zu erkennen:

Direkt vor mir war ein großer, viereckiger Stützbalken, an jeder Seite je eine Kerze. Er bezeichnete die Mitte des quadratischen Raumes. Links ging eine Tür ab, wahrscheinlich in die Küche. Davor war der Tresen, jedoch gab es keine Hocker. Zum Sitzen standen überall kleine, viereckige Tische herum mit je vier Stühlen. Rechts neben dem Tresen, in unmittelbarer Sichtweite des Wirtes, führte eine Treppe hinauf in das obere Stockwerk. Ich konnte erkennen, dass sie um die Ecke führte und auf der Knickebene standen ein kleiner, brauner Schrank und eine leere Blumenvase. Alles in allem wirkte es fast ein wenig nobel. Das einzige, was einen ärmlichen Hauch über alles warf, waren die riesigen Staubschichten auf den Deckenlampen, den Regalen, den umstehenden Fässern und Flaschen und den Fensterbrettern. Der Staub wirbelte durch die Luft wie Rauch und bewirkte ein Kratzen in meinem Hals. Ich war scheinbar allein. Nirgends waren der Wirt oder gar Gäste zu sehen und so schlurfte ich in die hinterste Ecke. Von diesem Punkt aus hatte ich alles im Blick:

Tür, Küche und Treppe. Etwas, was Black mir immer wieder gesagt hatte, während unserer gemeinsamen Fahrt:

Behalte stets jeden der Ausgänge im Auge. Man weiß nie, von wo die Presser kommen.

Und Presser suchten stets in solchen Behausungen ihre Männer für die Marine. Ich hatte auf alles Lust, aber nicht darauf, als Deserteur bezeichnet zu werden und einen Heuervertrag für zehn Jahre unterschreiben zu müssen.

Es dauerte gut zehn Minuten, ehe etwas passierte. Ein dicker Mann kam aus der Küche hinaus, in den Händen ein dreckiges Tuch und auf dem Kopf eine große, braune Stoffmütze. Er hatte eine rote Knollnase und seine Schürze war voller Fett und Schmutz. Bevor ich ihn sah, hörte ich den schlurfenden Gang seiner schweren Schritte. Er kam auf mich zu, grunzte und krempelte seine Ärmel hoch. Es wirkte fast, als würde er sich bereit machen, mich raus zu werfen. Mir fiel auf, dass ich gar nicht wusste, wieso genau ich mich gesetzt hatte. Eigentlich hoffte ich, auf Jack zu treffen und nun saß ich an einem Tisch, mit einem leeren Geldbeutel, einem roten Buch und einem knurrenden Magen.

„Gott zum Gruße.“, begann ich das Gespräch, noch ehe er mich erreichte.

Der Mann grunzte nur erneut und verschränkte die Arme. „Ihr wünscht?“

„Ein warmes Mahl wäre ganz angenehm.“, schlug ich zögernd vor.

Der Alte, er war um die vierzig aufwärts, zog eine seiner blonden, buschige Augenbraue hoch. „Ist aus, der Herr.“

„Aber Ihr habt doch gar keine Kunden.“, stellte ich erstaunt fest.

Seine Miene wurde etwas düsterer. „Ist aus, sage ich.“

„Dann… ein Stück Brot, bitte.

„Ist aus.“

„Oder etwas Brei?“

„Ist auch aus.“

Ein wenig beleidigt sah ich ihn an. „Habt Ihr denn überhaupt noch etwas da?“

„Bier.“

„Außer Bier? Nichts zu Essen?“

Der Mann dachte kurz nach, dann wog er den Kopf. „Vielleicht ein paar Linsen.“

„Dann Linsen und Bier, bitte.“

Der dicke Mann beugte sich vor und stützte seine mächtigen Hände auf den Tisch. Seine grünen Augen sahen direkt in die Meinen, während er drohend zischte:

„Kann der Kunde denn zahlen?“, er war ein Wirt aus Annonce, was erwartete ich? Leichtgläubigkeit und Naivität? Und das, bei meinem Aussehen? Ich war noch immer dreckig, meine Kleidung voller Ruß und Schmutz und stinken tat ich wohl auch. Schon, ich sah aus, wie jeder andere, einfache Bürger hier, dennoch kein schöner Anblick.

„Wenn Ihr mir Linsen und Bier bringt, soll es Euch an Geld nicht mangeln.“, log ich ruhig.

Er starrte mich an, dann schnaubte er und hievte seinen Oberkörper wieder nach oben. Der Wirt brummte: „Aber nur kalt. Warme Linsen sind aus.“

„Gibt es denn gar nichts warmes?“, jammerte ich.

Er schnaubte etwas Ähnliches wie: „Das Bier ist wärmer als Pisse, das muss dem verwöhnten Herrn schon reichen.“, und schlurfte zurück in die Küche.

Ich seufzte schwer und sah ihm nach, dann lehnte ich mich zurück. Mir wurde allmählich klar, warum das Haus keine Kunden hatte. Etwas im oberen Stockwerk krachte laut, doch nichts rührte sich, also blieb auch ich sitzen. Ich warf lediglich einige unsichere Blicke zur Decke hinauf. Sand rieselte hinunter, als ich Schritte über die Dielen stampfen hörte und ich konnte erkennen, wie manche der Holzbalken sich unter dem Gewicht bogen. Würde man eine Horde Pferde durch das Gebäude jagen, würde es wahrscheinlich in sich zusammenstürzen, wie ein Kartenhaus.

Irgendwann kam der Mann zurück. Er ließ eine Holzschüssel mit Linsensuppe vor mir auf den Tisch knallen. Das Wasser wirkte weißlich, die Linsen ungekocht. Dennoch bedankte ich mich, ebenso für den Krug Bier und nach einem verächtlichen Schnaufen, was ich als Bitte identifizierte, verschwand er wieder. Ich würgte das Mahl hinunter. Es fiel mir alles andere als leicht. Das Wasser schmeckte wie frisch aus dem Meer. Ein Trick, den man in vielen Wirtshäusern anwandte: man versalzte einem das Essen so sehr, dass man vor Durst fast umkam. Bier war teuer und somit eine große Einnahmequelle. Zudem hing nach dem dritten Bissen ein großes Haarknäuel an meinem Löffel, bestehend aus blonden und braunen Locken. Ob er es mit Absicht in mein Essen getan hatte?

Es war ein seltsames Gefühl, ganz normal in einem Wirtshaus zu sitzen. Ohne Mönchskutte, wie ein normaler, junger Mann. Trotzdem fühlte ich mich nicht willkommen, im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, als Geistlicher sogar mehr Ansehen gehabt zu haben, als ohne Robe und ohne Kreuz. Aber für diesen Weg hatte ich mich nun einmal entschieden.

Als ich aufgegessen hatte, saß ich lange Zeit alleine da. Ich hätte einfach aufstehen und hinausgehen können. Dem Besitzer des Wirtshauses wäre es sicherlich nicht einmal aufgefallen, aber ich beschloss zu warten. Laut Jacks Erzählungen kam er jeden Abend zum Schlafen hierher und so bewegte ich mich nicht vom Fleck. Trotz unheimlichem Durst trank ich mein Bier nur sehr, sehr langsam. Ich bewegte meinen Mund und spürte, dass meine Mundwinkel leicht verkrustet waren. Ich hatte seit Tagen nicht mehr richtig gegessen und getrunken, mein Körper schien ausgetrocknet. Gegen Mittag waren zwei Gäste gekommen und wieder gegangen und ich saß dort bereits an meinem dritten Bier. Wie ich mich verfluchte!

Wäre ich doch bloß erst nachmittags in die Schenke gegangen. Stattdessen verplemperte ich meine freie Zeit damit, die Tür anzustarren und die misstrauischen Blicke des Wirtes zu ignorieren. Er sprach mich nicht an, dennoch beobachtete er mich ganz genau. Egal, ob er nur die Tische abwischte oder lieblos einige der Krüge mit einem Lappen vom Bier säuberte. Die Schulden bei ihm wuchsen immer mehr und als er dann zur Abendszeit die Tür abschloss, aufgrund der Ausgangssperre, wurde mir etwas flau im Magen. Nun gab es kein Hinaus mehr, ich musste mir ein Zimmer nehmen. Der Wirt grunzte leicht, als er von der Tür zu mir, seinem einzigen Gast, hinüber schlenderte.

„Wie lange?“

Ich lächelte verlegen. „Was genau?“

„Für wie lange. Das Zimmer.“

„Ah… Ich bin nicht sicher. Kann ich nicht einfach hier sitzen bleiben?“, er wurde ein wenig düsterer.

„Wenn die Küche geschlossen ist, wird hier unten nicht mehr gesessen.“

„Schön, schön… Dann für einen Tag, bitte.“, bat ich unbeholfen und sah in meinen Bierkrug.

„Das macht 3 Silberlinge, der Herr.“

„Gut, gut.“

„Im Voraus.“

Unsicher sah ich ihn an. Der Wirt schien mieser gelaunt zu sein, als zu Anfang und scheinbar hatte er verstanden, dass ich kein Geld besaß. Schwer schluckend stand ich auf und begann meine Hosentaschen zu durchsuchen. Es stellte sich als unheimlich kompliziert heraus, ins Stoffinnere zu gelangen. Zu meiner Enttäuschung war der dicke Mann vor mir sehr geduldig und auch nach zwei Minuten Suchen stand er unverändert vor mir. Ich gab nicht auf, entschuldigte mich leise und drehte ihm suchend den Rücken zu. Mein Herz hämmerte. Was sollte ich machen? Zechpreller wurden hoch bestraft und sicherlich erinnerte Fulligan sich noch an mich.

„Sagt’s doch einfach.“, brummte der Wirt und verschränkte die Arme. „Dass Ihr nichts habt.“

„Ich… hatte etwas.“, schwer seufzend drehte ich mich zurück. „Scheinbar wurde ich bestohlen.“

„In dieser Gegend hier kein Wunder, was?“, er grinste.

Ich tat es ihm gleich. „Ja, allerdings!“

Doch dann wurde sein Blick eiskalt. „Aber in dieser Gegend klaut niemand. Denn hier gibt’s nichts zu klauen.“

„Ich kann das erklären!“, ich hob abwehrend die Hände, doch der Wirt machte keine Anstalten, auf mich zuzugehen. Ich sah nicht aus, als könnte ich kämpfen, war recht mager, voller Dreck und Verbände und zudem barfuss. Ein erfolgreicher Mörder und Dieb sah sicherlich anders aus. „Ein Junge sagte mir, ich würde ihn hier finden. Sein Name ist Jack. Ich war ganz sicher, ihn hier anzutreffen.“

Der Wirt zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. „Ihr wollt zu meinem Jungen?“

„Ja!“, rief ich erfreut aus. „Genau, so ist es.“

„Und er sollte dann Eure Bestellungen zahlen?“

„Ja! Äh… Nein! Ich dachte nur, das kleine Bier unter Freunden… Und ein paar Linsen…“

„Es waren fünf Bier.“, stellte der Dicke desinteressiert fest. „Und zwei Teller Linsen. Im zweiten war sogar Speck.… Ihr bezahlt oder Ihr geht vor’s Gericht. So einfach ist das.“

„Aber da komme ich doch her.“, wandte ich mich. „Vom Gericht. Außerdem seid Ihr es, der mit Jakobitenbier handelt.“

Nun wurde sein Blick fast schon tödlich. „Wir sind allein hier. Überlegt Euch, was Ihr sagt.“

„Oben habe ich Schritte gehört. So allein können wir also nicht sein.“, wandte ich ein. „Ich kann sehr laut schreien, wenn ich will.“

„Wie auch immer.“, der Wirt seufzte und griff den leeren Krug vom Tisch. Dann schlurfte er zurück zum Tresen und rief über die Schulter: „Erpressen könnt Ihr mich jedenfalls nicht. Bezahlt Eure Schulden oder seht zu, wie Ihr hinaus kommt!“, und damit verschwand er wieder. Ich sah ihm nach und kratzte mir verlegen den Kopf. Den Beginn einer jahrelangen Freundschaft hatte ich mir wahrlich anders vorgestellt. Einige Minuten blieb ich unschlüssig stehen, doch er schien nicht zurückkommen zu wollen, also folgte ich dem Wirtshausbesitzer. Die Tür zur Küche war nicht groß, ich musste mich etwas ducken und der Raum war noch dunkler, als die Schenke. Direkt vor dem Eingang gab es einen riesigen, quadratischen Tisch voller Gemüse und links an der Wand stand ein alter Steinofen. Der Wirt saß davor auf einer Bank und schnitt Kartoffeln. Als er mich bemerkte, sah er kurz auf. Durch das wenige Licht und seine zusammen gepresste Haltung wirkte er wie ein alter, trauriger Mann auf mich. Ich nahm mir schweigend einen Hocker, ließ mich vor ihn sinken und half ihm bei der Arbeit. Die einzigen Geräusche bestanden aus den Klingen der Messer, dem Knarren des Hockers wenn er sich bewegte, das Fiepen einiger Ratten und dem Knacken des Feuers neben uns. Wir schwiegen lange Zeit und ich erwischte mich mehrmals, wie ich in Gedanken abdriftete. Ich könnte ihn einfach nieder stechen, mit dem Kartoffelmesser. Es wäre schwer, seine Leiche zu verbrennen, aber bis man mit dem Löschwasser diese abgelegene Schenke erreichen würde, wären alle Beweise verbrannt. Vor lauter Pläne schmieden bemerkte ich gar nicht, dass er aufhörte und mir zusah. Meine Hände schmerzten, an manchen Fingern hatte ich Brandblasen, aber dennoch war ich noch immer sehr geschickt im Schälen. Während meiner Zeit als Küchenhilfe der Hausmutter hatte ich gemerkt, dass ich mir Blacks eigene Art des Schälens angewöhnt hatte. Zuvor war mir nie aufgefallen, dass dies eher ungewöhnlich war. Ich hatte es so bei Black gesehen und einfach übernommen. Während alle immer mit der Klinge von sich weg schnitten, als würden sie an einem Holzstück schnitzen, umfuhr ich das Gemüse und bildete lange Kartoffelschalen-Schlangen. Ich registrierte eher nebenbei, dass der Wirt nun versuchte es mir nachzumachen, doch die des Wirtes wurde beim Schälen dann so dünn, dass sie einfach rissen. Während er die Kartoffeln drehte und wendete und Stück für Stück von ihren Schalen befreite, war ich doppelt so schnell mit meiner Arbeit fertig. Ich musste grinsen und beeilte mich mit Absicht noch mehr, um ihm zu imponieren. Irgendwann lachte er und gab auf.

„Ihr seid schneller als ein Weibsbild!“, ich sah auf und tat verwirrt. „Was seid Ihr?“, der Wirt schien ernsthaft interessiert und warf sein Messer achtlos in den Eimer voller Schalen vor uns. „Schiffskoch oder so etwas? Nein, dafür seid Ihr zu blass.“

„Schiffsjunge trifft es eher.“, ich grinste ihn an, nicht wenig stolz, ihn beeindruckt zu haben. „Ich war kurze Zeit Küchengehilfe an Bord eines ehemaligen Marineoffiziers.“

„Die Marine!“, staunte er nicht schlecht. „Ihr seht nicht aus, wie ein Soldat.“

„Ja.“, lachte ich. Dann widmete ich mich wieder meiner Arbeit. Ich tat verlegen und senkte meine Stimme etwas, als würde es mir an Selbstbewusstsein mangeln. „Das sagen leider die meisten.“ Das Feuer neben uns knackte kurz, als ein Stück Holz abrutschte.

„Nun… Wenn Ihr so talentiert seid, dann arbeitet hier zwei, drei Tage für mich und Eure Schulden sind vergessen.“

„Ehrlich?“, staunend sah ich auf. „Für drei Tage Arbeit kann ich Essen und Schlafen?“

Das brachte den Wirt zum Lachen. „Oh nein, ich rede von Euren heutigen Schulden! Schlafen werdet Ihr in der Küche oder aber, Ihr arbeitet noch mehr.“

Ich protestierte: „Das ist ja Wucher! So viel Arbeit für warmes Bier und kalte Suppe?!“, doch der Alte antwortete nicht und nahm seine Arbeit wieder auf. Ich tat es ihm gleich, eher aus Langeweile und tat, als würde ich überlegen. In Wahrheit genoss ich die Wärme des Kaminfeuers und hoffte, er würde aufstehen und hinausgehen. Dann könnte ich mir die eine oder andere Kartoffel klauen. Stattdessen blieb er sitzen und holte nach einigen Minuten einen weiteren Sack voller Erdäpfel. Wir sprachen kein Wort, gut dreißig Minuten lang. Mehrmals spielte ich mit dem Gedanken, ihn nach Jack zu fragen oder nach Hilfe, wo ich ihn finden könnte, doch als ich ihn auf seinen Jungen ansprach, wirkte er fast schon desinteressiert. Es hatte ihn nicht sonderlich überrascht, dass ich ihn suchte. Ich nahm an, Jack würde noch kommen und er dachte, das wusste ich. Und so schälte ich munter weiter. Meine Handgelenke schmerzten mich irgendwann und wie zur Erlösung brummte der Wirt:

„Da ist er auch schon.“

Verwirrt sah ich ihn an. „Wer?“

„Der Junge.“, er seufzte und machte sich daran ein paar Holzscheite in den Ofen zu schieben. „Hat sich wieder rum getrieben, der Bengel.“

Unsicher sah ich zu ihm, dann hörte auch ich Schritte und das Rasseln eines Schlüssels. Jemand schloss die Tür zum Wirtshaus auf, schlich hinein und verschloss sie eilig wieder. Das alles, ohne das grässliche Gebimmel der Katze zu wecken. Unsicher stand ich auf und wischte meine Hände an meiner Hose ab. Der Kartoffelsaft hinterließ weißliche, krümelige Flecken auf meinem Stoff. Nach einigen Sekunden lugte Jacks strohblonder Kopf um die Ecke.

„Vater? Ich bin zurück.“, der Wirt brummte nur, ohne sich zu ihm zu drehen, also wollte der Junge schon wieder verschwinden, dann erblickte er mich. „Nanu? Sir? Ihr? Hier?“, er trat ganz in die Küche. Noch immer trug Jack seine Uniform und unter dem Arm hielt er seine rote Mütze. „Wieso das?“

„Ich habe dich gesucht, Junge.“, erklärte ich.

„Und gefunden!“, grinste er.

Unsicher sah ich zum Wirt. Dieser beachtete uns nicht, sondern begann ein Liedchen zu pfeifen. Ich folgte Jack hinaus in die Schenke. Mittlerweile war es völlig dunkel draußen und die meisten der Kerzen waren ganz hinunter gebrannt. Jack roch nach Bier und seine Stiefel hinterließen sandige Flecken auf dem Boden. Er schien sich über mich zu freuen, denn er grinste breit und flüsterte, sobald wir im Eingangsbereich standen: „Ihr seid freigesprochen, Sir? Das freut mich.“

„Ja. Mich auch.“, ich griff an meinen Hosenbund und überreichte ihm sein Buch. Meine Wärme hinterließ Fingerabdrücke auf dem kühlen Leder. „Hier. Das ist deines.“

„Richtig, danke!“, sofort ließ Jack es in seiner Jackeninnentasche verschwinden. „Das bedeutet mir viel. Ich war enttäuscht, als ich es nicht in Eurer Zelle fand.“

„Dachte ich mir.“

Wir sahen uns an und eine kurze, peinliche Stille machte sich breit. Jacks Vater klimperte laut herum und pfiff weiter seine schiefe Melodie. Ab und an sang er eine Zeile des Liedes – scheinbar die einzige die er kannte: Und sie hängten ihn kopfüber an das Kupferfass heran. Dann pfiff er munter weiter.

„Nun, wieso habt Ihr mich gesucht, Sir?“, lächelte Jack dann unbeholfen. Mit einem Mal fühlte ich mich unheimlich müde und ich bemerkte, wie erschöpft ich bereits war.

„Weil ich mit dir reden muss. Ich habe einige Fragen an dich.“

Jack wog den Kopf. „Gut, aber ich bin angetrunken und müde auch… Ich bin nicht sicher, ob ich Euch bei allem folgen kann. Die Jungs haben mich durch die Kneipen gescheucht.“, er gähnte demonstrierend.

Lächelnd winkte ich ab. „Das hat Zeit bis Morgen, ich bin ebenso erschöpft.“

„Ihr habt also ein Zimmer genommen, Sir?“

„Nein.“, gab ich beschämt zu. „Dafür fehlt mir leider das Geld.“

„Das macht doch nichts. Ich denke, das eine Mal kann ich Euch ein Bett geben. Aber ab morgen müssen wir eine neue Bleibe für Euch finden.“, ich nickte dankbar und folgte ihm die Treppe hinauf. Sie knarrte gefährlich unter unseren Schritten und ich spürte, wie einige Stufen sich sanft bogen. Jack wies mich an, eine zu überspringen.

„Sie lässt nach.“, erklärte er entschuldigend und desto weiter wir gingen, desto mehr bekam ich das Gefühl, er fühlte sich unwohl in diesem Haus. Als würde er sich für sein Zuhause schämen. Hinter der Treppe lag ein knapper Flur mit je drei Türen an einer Seite. Am Ende gab es ein verziertes Fenster mit Blick auf die Straße. Wir schlichen leise vorwärts und der Junge schloss mir die Tür ganz hinten rechts auf. Dann ließ er mich eintreten. Das Zimmer war nicht gerade groß, aber geräumig und bot mehr Platz, als ich in dem letzen halben Jahr gehabt hatte. Ein eigenes, großes Doppelbett stand mittig an der linken Wand, links daneben ein schiefer, dunkelbrauner Schrank und rechts ein Tisch mitsamt einem dreibeinigen, kaputten Stuhl. Jack ließ seine Blicke ebenso schweifen, während auch er eintrat, als müsste er sich erst vergewissern, dass es wirklich frei war. Er riss das Fenster gegenüber der Tür auf und murmelte entschuldigend: „Besser, wir lüften erst einmal…“, dann griff er den Nachttopf und zog ihn unter dem Bett hervor. Der Junge hielt ihn so weit von sich, wie möglich und entleerte ihn durch das Fenster, dann schob er ihn mit dem Fuß zurück unter das Holzgestell.

Ich wedelte mit der Hand, aber ich war zu glücklich, um auf den Wochen alten Geruch zu achten. Ich hatte endlich wieder ein ruhiges Plätzchen für mich, wenn auch nur für die Nacht.

„Decken sind im Schrank.“, erklärte Jack und deutete auf das schiefe Holzbauwerk. „Seid aber vorsichtig. Die rechte Tür nicht aufmachen, sie fällt sonst runter… Mein Vater nimmt dann Geld dafür, das macht er immer so. Wenn etwas ist, ich schlafe gegenüber.“

Ich nickte amüsiert. „Vielen Dank, Jack.“

„Keine Ursache, Sir.“, er legte mir einen Schlüssel aufs Bett. „Hier, für das Zimmer. Verliert ihn nicht, das würde teuer werden.“, lächelnd nickte er mir noch einmal zu und ging hinaus. „Gute Nacht.“, doch ehe er die Tür schloss, sah er mich noch einmal an und flüsterte: „Aber bitte nur im Notfall klopfen… Ich schlafe dort nicht allein.“

„In Ordnung. Vielen Dank.“, ich machte eine leichte Verbeugung.

„Ich helfe gern und wir haben eh kaum Gäste. Da ist es egal, ob jemand in dem Zimmer hier schläft. Gute Nacht, Sir.“

„Gute Nacht.“, dann schloss er die Tür hinter sich. Ich seufzte schwer, schloss ab und sah zum Fenster hinaus. Das Summen der Fliegen, die sich freudig auf das Ausgegossene stürzten, hätte mit etwas Fantasie Grillenzirpen sein können. Es fröstelte mich etwas und so stellte ich den Nachttopf angeekelt aufs Fensterbrett und schloss die Läden wieder. Es gab keinen Nachttisch und auch keine Kerze. Nach etwas Warten gewöhnten meine Augen sich an das wenige Licht aus dem Flur, das durch den Türspalt drang und so nahm ich mir die gemeinten Stoffdecken aus dem Schrank. Ein Insekt flatterte auf, mit Sicherheit eine Motte, doch ich ignorierte es. Ich konnte es kaum erwarten, mich in dem gewaltigen Bett breit zu machen. Ohne mich auszuziehen, ließ ich mich hinein fallen und streckte alle Gliedmaßen von mir. Ich versuchte trotz Dunkelheit und Flimmern vor meinen Augen die Decke auszumachen und so lauschte ich meiner neuen Umgebung. Der Wirt mochte mich scheinbar, der Junge war gutherzig und das Gericht nicht mehr an mir interessiert. Nun musste ich nur noch Jacks Hilfe bei Mary-Ann gewinnen und wenn sie erst einmal befreit war, konnte ich ein komplett neues Leben beginnen. Ich wusste noch nicht, wie. Ich konnte sie schlecht einfach stehen lassen, nachdem ich sie befreit hatte, aber diese Gedanken schob ich beiseite. Darüber konnte ich mir Sorgen machen, wenn sie gerettet war. Nicht jetzt. Ich drehte mich auf die Seite und konzentrierte mich auf den warmen Stoff. Mit Sicherheit würde ich von Feuer und Flammen träumen oder von entstellten Menschen in Tollhäusern. An diese Tatsache hatte ich mich gewöhnt und ich wusste nicht, wie ich das verhindern sollte. Wahrscheinlich würde ich nie wieder frei sein von der Melancholie und diese schlechten Erinnerungen niemals mehr loswerden – ebenso wenig wie die kleinen Narben. Ich nahm mir fest vor, die Ruhe zu genießen und meinen Schlafplatz ebenso. Egal wie oft ich wach werden würde, ich würde wieder einschlafen und den perfekten, ersten Tag in Freiheit beginnen: Wach, erholt und voller Tatendrang! Der wenige Uringeruch, der vom Laken ausging, war förmlich Luxus und gut gegessen hatte ich ebenso. Die Fliegen wurden aus meinem Hinterkopf verdrängt, der Gestank und auch das leise Flüstern der zwei Gäste aus dem Zimmer nebenan. Es gab nur noch mich, das warme Bett, die Stille der Nacht, das Fenster ohne Gitter und einen dicken Wirt, der pfeifend in der Küche stand und ab und an sang:

Sie packten den Mann und dann und dann?

Und sie hängten ihn kopfüber an das Kupferfass heran!

Ich war frei.

Freiheit?

Der Morgen kam für mich schleichend. Ich öffnete die Augen, es war dämmrig, ich schloss sie wieder. Und dann, als ich sie erneut öffnete, war es um einiges heller. Wenn Trägheit wirklich eine Sünde ist, so habe ich an diesem Tag meinen Vertrag mit dem Teufel unterschrieben. Es war mir egal, ob das Licht durch das Fenster fiel und es war mir auch egal, dass jemand im Hinterhof laut herum brüllte. Immer wieder zog ich die Decke über meinen Kopf oder drehte mich auf die andere Seite. Immer wieder schlief ich wieder ein, um aufzuwachen und weiter zu schlafen.

Gegen Mittag dann klopfte Jack an die Tür und erkundigte sich freundlich nach meinem Befinden. Ich hatte so viel geschlafen, dass ich wieder müde und erschöpft war. Benommen setzte ich mich auf und sah mich verwirrt um. Erneut klopfte es. Ich hatte das Gefühl, mein Körper war betäubt vom langen Liegen. Er fühlte sich steif an, als wären alle Muskeln starr geworden. Langsam öffnete ich die Tür, mir ging alles viel zu schnell. Es schien, als wäre mein Geist noch tief im Schlaf versunken.

Der blonde Junge begrüßte mich mit einem fröhlichen und gedehnten: „Guten Morgen, Sir!“, und trug ohne weiteres Warten ein Tablett an mir vorbei. Auf diesem erkannte ich Brot und Käse, so wie einen Krug mit Milch. Im Schankraum herrschte bereits wieder lautes Gemenge durch die Gäste, viel zu laut für meinen müden Kopf und so stammelte ich nur: „Morgen.“ und ließ verwirrt die Tür ins Schloss fallen. Ich drehte den Schüssel herum, dann folgte ich ihm. Jack stellte das Tablett auf das Bett, dann zog er den kaputten Stuhl heran und setzte sich. Ich tat es ihm gleich, jedoch auf den zerwühlten Decken. Nun, wo es Tag war, erkannte ich den Staub auf dem Boden. Meine Füße hatten Abdrücke in der weißen Schicht hinterlassen, ebenso wie Jacks Stiefel. Man musste mir ansehen, dass ich nicht mit einem Frühstück gerechnet hatte, denn er lachte. Verständnislos und langsam sah ich ihn an.

„Was ist so lustig?“

„Esst ruhig, aber lasst Philipp nichts davon wissen.“

„Philipp?“, ich ließ mir diese Einladung nicht zweimal sagen und griff nach dem Brot. Die Kruste war hart, aber die Teigware scheinbar nicht alt. Es schmeckte fast so gut, wie jenes Brot aus unserem Kloster. Fragend und kauend sah ich ihn an. „Wer ist Philipp?“

„Mein Ziehvater. Der Wirt.“, Jack wollte anfangen zu kippeln, doch dann erinnerte er sich scheinbar daran, dass der Stuhl nur drei Beine hatte. Er grinste mir entgegen. „Schmeckt es?“

„Ausgezeichnet, ich danke dir. Es ist ewig her, dass ich Milch getrunken habe.“, doch dann hielt ich inne. Die Milch schmeckte gut, das Brot schmeckte frisch, das Bett war weich. Alles in Allem sehr gute und angenehme Gefühle. Aber sollte nicht gerade das mein Misstrauen erwecken?

Jack begann nun auf dem Stuhl hin und her zu wackeln. Mal befand sich das eine der drei Beine ein wenig in der Luft, dann das andere. Es klapperte fast taktvoll, während er freundlich verkündete:

„Nun, Ihr wolltet mit mir sprechen?“

Er hielt kurz, bis ich auf sah, dann kippte er weiter hin und her. Das Geklackere begann mir etwas auf die Nerven zu gehen und ich konzentrierte mich aufs Essen. Ich begann etwas langsamer am Käse herum zu kauen. Der Junge sollte nicht denken, ich sei auf ihn angewiesen. Zwar war ich es vorerst, aber das musste ich ja nicht unbedingt herum posaunen. Zudem wollte ich nicht gereizt werden und mir damit eventuelle Dienste von Jack vermiesen. Aber wie sollte ich anfangen? Hallo, ich will eine Verrückte aus dem Tollhaus holen, hilfst du mir? Wohl kaum. Mir fiel auf, dass die Rettungsaktion zwar die ganze Zeit in meinem Hinterkopf geschwirrt hatte, aber ein grundlegender Plan fehlte mir. Wie sollte ich anfangen? Was würde ihn vertreiben? Oder würde er mich so oder so für wahnsinnig erklären? Konnte Jack mir überhaupt helfen?

„Ach, nichts besonders.“, begann ich dann, als ich mit Essen fertig war. Ich stellte das Tablett neben mich und zog eines der Beine an, dann stützte ich mich rücklings auf meine Hände. „Das tat gut... Ich danke dir. Gutes Essen habe ich wahrlich vermisst!“

„Keine Ursache.“

Ich lächelte ihn fast freundschaftlich an, schien die Ruhe in Person, entspannt und ausgeglichen, aber das Chaos in meinem Hinterkopf strafte dieses Bild Lügen. „Nun... Jack... Nur mal angenommen, ich hätte eine gute Freundin und diese Freundin wäre in Schwierigkeiten. Würdest du mir helfen?“

Ich beobachtete jeden noch so kleinen Gesichtsmuskel des Jungen, um kein Anzeichen für eine falsche Aussage zu übersehen. Jack hielt inne und sah mich an. Fragend, forschend und leicht misstrauisch. Dann stand er auf und sank vor dem Bett in die Knie. Der Junge lehnte sich mit dem Oberkörper gegen das Holzgestell. Er flüsterte: „Ich weiß nicht genau, was Ihr meint, Sir, aber ich werde Euch nicht helfen, jemanden aus dem Gefängnis zu befreien.“, seltsamerweise war seine Stimme leicht aggressiv und ich fragte mich, ob er als Soldat bereits öfters nach Hilfe gefragt worden war. Er fuhr fort: „Ich bin verdammt froh, dass ich endlich in den Zellen arbeiten darf, und nicht nur als Stallbursche der Soldaten. Das werde ich mir nicht vermiesen.“

„Keine Sorge. Davon spreche ich nicht. Ich möchte niemanden aus dem Gefängnis befreien.“

„Sondern?“, seine Gesichtszüge beruhigten sich etwas. Ich legte mich auf den Bauch und stützte den Kopf auf die Hände. „Nehmen wir mal an, jemand, den ich sehr gut kenne, wird für etwas gehalten, was er gar nicht ist.“

„Und das wäre?“, fragte Jack interessiert.

Ich wog kurz den Kopf. „Schau... Dein Buch. Du hast geschrieben, dass es vielleicht Land hinter der endlosen See gäbe. Dass die See also gar nicht endlos sei. Das ist schon etwas verrückt, findest du nicht?“

„Vielleicht ein wenig.“, gab er zu. Ich schmunzelte.

„Nun und wenn jemand das erfahren würde, das du da schreibst-...“

Er fuhr sofort hoch. „Sir! Wollt Ihr mich erpressen?! Das klappt nicht, keiner würde Euch glauben!“

„Nein, nein, keine Sorge.“, Jack sank zurück gegen das Bett. Sein wütender und misstrauischer Blick verwandelte sich immer mehr in Neugierde. „Es ist rein theoretisch. Nehmen wir an, jemand würde das erfahren und das Buch lesen. Man würde dich für verrückt halten, nicht wahr? Und vielleicht würde man dich der Ketzerei anklagen, aber nur vielleicht. Auf jeden Fall wärst du wohl verrückt. Und denk nur, wenn du hohe Freunde hättest. Einen Lord vielleicht, oder einen Lehnsherren.“

„Was wäre dann?“, wollte er wissen.

Ich tat nachdenklich. „Man würde dich vielleicht verbrennen wollen. Ich, als dein Freund oder Philipp vielleicht, wir würden zu diesen hohen Leuten gehen und sie bitten, dir zu helfen. Und vielleicht würdest du nicht verbrannt werden, sondern stattdessen nur für verrückt erklärt und ins Tollhaus kommen.“

„Ins Tollhaus?“, Jack sah mir aufmerksam in die Augen. „Ist das eurem Freund passiert?“

„Einer Freundin.“, gab ich leise zu. „Sie sollte verbrannt werden, wurde aber stattdessen nur eingesperrt.“

„Warum? Was hat sie getan?“

„Das weiß ich nicht.“, jemand verließ sein Zimmer und ging durch den Flur. Jack und ich lauschten angespannt, als würden wir ein unheimliches Verbrechen begehen und keiner sagte ein Wort. Wir hörten, wie die Person die Treppe herunter ging und dann das Schaben eines Stuhls in der Schenke. Die Stille legte sich über uns, wie ein Teppich aus Angespanntheit und Paranoia. Wir warteten lange, ehe der Junge sich neben mich auf das Bett setzte.

Leise fragte er:

„Woher kennt Ihr sie, Sir? Und wer ist sie?“, die Antwort fiel mir schwer. Der Junge schien interessiert und vielleicht auch dazu bereit, mir zu helfen, aber wenn er erfahren würde, dass ich sie nie außerhalb des Tollhauses kennen gelernt hatte, könnte er vielleicht zweifeln. Vielleicht würde ihm auffallen, dass ich gar nicht wissen konnte, ob Mary-Ann nicht doch verrückt war. Mit jedem Gedankengang kam mir die Sache nur umso absurder vor. Ich zweifelte selbst so an meinem nicht ansatzweise geplanten Vorhaben, wie sollte ich dann einen Jungen wie Jack davon überzeugen? Er war nicht dumm. Eine Tatsache, die mir alles noch komplizierter erscheinen ließ. Ich seufzte schwer. Mit einem Mal war ich wieder unendlich müde und so ließ ich mich auf die Laken fallen und starrte zur Decke. Mein Fall in den Stoff wirbelte Staub auf und ich bekam etwas ins linke Auge. Gequält begann ich daran zu reiben. Jack deutete mein Schweigen scheinbar als Betrübtheit. Er flüsterte entschuldigend: „Verzeiht, ich wollte Euch nicht zu nahe treten.“

Verwirrt sah ich ihn an, dann verstand ich und sah wieder nach oben. Gespielt traurig und leicht heiser flüsterte ich, wie zu mir selbst: „Es ist in Ordnung. Ich bin nur... sehr durcheinander, verstehst du?“ Mein Auge tränte nun.

„Liebt Ihr sie?“ Stille. Ich war mir nicht sicher, was die Antwort war und hatte darüber niemals nachgedacht. Dann schluckte ich schwer und nickte knapp. Als ich meine Hand wieder aufs Laken sinken ließ, lief mir eine Träne über die Wange. Der Junge war leicht erschrocken über meine starken Emotionen. „Verzeiht... Ich wollte wirklich nicht-... Ich wusste ja nicht-...“

„Es ist in Ordnung.“, flüsterte ich abermals. Dann sah ich Jack an und setzte mich langsam auf. Ernst nahm ich seine Hand und drückte sie, dem Jungen direkt in die Augen sehend. „Jack.“, flüsterte ich eindringlich dabei. „Hilfst du mir? Ich bitte dich von ganzem Herzen.“

„Sie aus dem Tollhaus zu holen?“, ich nickte abermals. Der Wirtssohn löste sich unsicher aus meinem Griff. „Ich bin mir nicht sicher.“

Eine Weile schaute ich weiter in seine Augen, dann nickte ich schweigend und senkte den Blick. Betrübt betrachtete ich die Laken vor mir, dann drehte ich mich ganz weg und murmelte fast tonlos: „Ich verstehe.“, ich spürte, dass es Jack unangenehm war. Er tat sich ohnehin schwer, Bitten abzulehnen und nun plagte ihn das schlechte Gewissen. Natürlich wollte ich diese Tatsache nicht für mich nutzen. Es wäre nicht rechtens ein naives Kind von solch einer gefährlichen Sache zu überzeugen und würde mich wahrscheinlich bis zum Ende meines Lebens verfolgen, wenn ich es dennoch täte. Er war nett und zuvorkommend gewesen, allein das sollte mir reichen. Und während ich darüber nachdachte flüsterte ich, meine verbrannten Fingerkuppen betrachtend: „Ich habe auch nicht erwartet, dass du mir hilfst. Ich meine, so lange kennen wir uns noch nicht. Und wer hilft schon gern einem Angeklagten wie mir, der eine Feuerprobe hinter sich hat? Niemand. Keiner hilft so jemandem. Das ist wohl normal.“, dann schwiegen wir. Jack sagte sehr lange nichts und mit jeder Sekunde lastete das Gewissen mehr auf seinen Schultern. Dann fragte er fast ein wenig gequält:

„Kann ich denn irgendwie helfen?“

„Nun ja, du bist Soldat.“, ich zuckte mit den Schultern. „Das eine oder andere könntest du gewiss herausfinden.“, der Junge sah vor sich. Er war hin und her gerissen. Aufmerksam musterte ich sein Gesicht. „Ohne Risiko, versteht sich.“, der Wirtssohn sah mich unsicher an. Er wagte es nicht, weiter zu fragen und ich erkannte an seinen Augen, am liebsten würde er einfach gehen. Doch ich beachtete es nicht, diesen Gefallen konnte ich Jack nicht tun. „Ich muss wissen, ob sie, Mary-Ann, noch lebt, ehe ich hingehe. Wenn ich sie befreien will und sie längst weg ist, habe ich ein Problem.“, und etwas leiser und eindringlicher fügte ich hinzu: „Wenn sie nicht längst tot ist, Jack.“

„Tot?“, er seufzte und sah vor sich. „Wieso tot?“

„Man möchte sie foltern und anschließend verbrennen.“, entgegnete ich knapp. „Na ja oder hängen. So oder so, man will sie umbringen und zwar langsam und schmerzvoll. Und das muss ich verhindern.“

„Und wie? Wo soll sie danach hin? Hier her etwa?!“, er zuckte zusammen, als die Türglocke im Schankraum schellte, als hätte er dieses abscheuliche Geräusch nie zuvor gehört. Ich musste schmunzeln über die Nervosität des sonst so wagemutigen und abenteuerlichen Jungen, überspielte es aber und schüttelte ernst den Kopf.

„Nein, nein, keine Bange. Ich werde dir nicht weiter zur Last fallen. Ich möchte nur, dass du für mich herausfindest, ob sie noch lebt. Du hast mein Wort, Jack.“

Ein erneuter Seufzer. Dann stand Jack auf, mit hängenden Schultern und niedergeschlagenen Gesicht.

„Ihr verlangt viel, Sir.“, murmelte er dabei bedrückt und mit belegter Stimme. „Und das, wo ich Euch nichts schulde. Eher andersherum.“

„Das ist wahr. Aber du rettest damit vielleicht einen unschuldigen Menschen. Ich würde dir ewig dankbar dafür sein und sicher werde ich es irgendwie zurückzahlen können. Irgendwann.“

Doch er schlurfte bereits hinaus und nickte nur nachdenklich. „Ich sehe, was sich machen lässt, jetzt muss ich zum Dienst. Aber versprechen tue ich nichts, Sir. Bis heute Abend dann.“

Lächelnd nickte ich und sah ihm zu. „Bis heute Abend.“, dann fiel die Tür leise ins Schloss.

Ich lauschte aufmerksam, wie er in das Zimmer gegenüber ging und leise mit jemandem sprach. Eine Frauenstimme fragte ihn, wieso er so betrübt aussähe, doch er antwortete so leise, dass ich Jacks Worte nicht verstand. Ihre Stimme ließ auf eine Frau um die vierzig Jahre schließen und sie hatte einen starken, westlichen Akzent. Sie sprach seinen Namen Dschagg, statt Jack aus und ich mochte es, wie stark sie das i beim Sprechen betonte. Ohne Frage handelte es sich bei der Frau um seine Mutter. Das Gespräch zwischen den beiden war kurz und knapp, ein Frage- und Antwort-Spiel, mehr nicht. Dann ging er hinunter.

Ich ließ mich zurück auf das Bett fallen und beschloss, mich noch ein paar Stunden auszuruhen. Alles in allem war ich zufrieden. Die Tatsache, dass Jack mir mit großer Wahrscheinlichkeit versuchte Informationen zu besorgen reichte mir und erfüllte mich mit neuer Hoffnung. Wenn wirklich alles gut lief und es keinerlei Probleme für den Jungen gab, dann würde sein Vertrauen mir gegenüber ohne Frage wachsen und vielleicht könnte ich noch mehrmals etwas für mich herausschlagen. Zudem machte sein Mut ihn mir sympathisch. Aus ihm konnte vielleicht irgendwann etwas werden – und zwar mehr als nur ein einfacher Soldat oder Wirt und vielleicht dürfte ich die Ehre habe, dabei zu sein. Man könnte sagen, das Wort Zukunft bekam vor meinen Augen eine völlig neue Bedeutung. Ich war nicht mehr gefangen, ich war nicht mehr allein, ich war auf dem besten Weg zur Genesung und vor allem:

Ich hatte das Leben nun vollends in eigener Hand.

Mein Leben. Und meine Zukunft.
 

Ich blieb mehrere Stunden allein und gönnte mir meine, wie ich fand, verdiente Ruhe. Wenn ich eines liebte, dann auf dem Bett zu liegen, ein paar Stunden so, ein paar Stunden anders. Gegen Abend dann verließ ich mein Zimmer. Wenn es tagsüber schon ruhig in der Schenke gewesen war, so herrschte nun Totenstille. Meinem Gehör nach befanden sich 5 Menschen im Haus:

Philipp, der Wirt; zwei Gäste, männlich, im Zimmer neben mir; eine Frau im Zimmer direkt gegenüber - vermutlich Jacks Mutter - und ein weiterer Mann im Zimmer links daneben. Mit Jack und mir gezählt waren es sieben. Eine recht übersichtliche Zahl und mir fiel auf, dass die drei Männer ihre Zimmer nie verließen. Nur, um gelegentlich etwas zu Essen oder zu Trinken hinauf zu holen und dann wieder zu verschwinden. Auch mir knurrte der Magen und ich wollte nun das Gleiche versuchen. Wieder knarrte die Treppe ächzend unter meinen bloßen Füßen, als würde sie sich über mein Gewicht beschweren und beinahe wäre ich der gebrochenen Stufe nicht ausgewichen. In gut einer Stunde würde die Ausgangssperre beginnen und so drang auch von den Straßen kein Laut herein, zudem herrschte vollends Dunkelheit. Heute hatte Philipp sich nicht die Mühe gemacht, die Lampen anzuzünden. Nur aus der Küche kam ein wenig flackerndes Licht durch wenige Kerzen. Ich schob mich am Tresen entlang, um keinen ungesehenen Tisch oder Stuhl anzurempeln. Das Tablett von Jack stellte ich dort ab, dann betrat ich die Küche. Philipp brummte noch ehe ich wirklich eingetreten war ein tiefes: „Ah, also doch ein Zimmer.“

Ich lächelte verlegen und ließ mich wieder auf meinen Schemel vor dem Ofen sinken. Die Metalltür war verschlossen, dennoch war es dort wesentlich wärmer. „Ja. Jack war so freundlich.“, er brummte nur. Der Wirt hatte kein Interesse daran, mich anzusehen.

Er stand mit dem Rücken zu mir am Tisch und knetete eine große, weiße Masse Teigwaren. Einige Minuten sah ich schweigend zu. Immer wieder donnerte er es auf den Tisch, rollte es zusammen und warf es wieder zurück. Dann sah ich ihn an. Von hinten wirkte sein Kreuz noch breiter und ich erkannte eine kahle Stelle auf seinem Hinterkopf. Nach kurzem Räuspern, da er mich zu ignorieren schien, fragte ich:

„Kann ich helfen?“

„Mhm.“, bejahte er. Philipp donnerte den Teig nun etwas härter auf die Tischplatte. „Mir fehlen ein Krug und ein Teller.“

Sofort stand ich auf. „Ich hole sie. Jack hatte mir etwas zu Essen gebracht.“

„Ich weiß.“, knurrte er nur. „'N Tablett fehlt mir auch.“, dann sah er mich düster an. „Ach... Und Brot und Käse auch. Ziemlich teurer Käse sogar.“

„Hier ist alles teuer.“, scherzte ich. Er brummte nur und fuhr mit seiner Arbeit fort. Seufzend ging ich die wenigen Schritte hinaus, holte das Tablett hinein und stellte es neben ihn auf den Tisch. „Es tut mir leid.“, sagte ich dabei ernst und leise. „Ich habe nichts, weder Hab und Gut, noch Freunde oder Obdach. Ich werde Euch alles zurückzahlen, sobald es geht, Ihr habt mein Wort.“

„Sobald es geht, hm? Wer nichts hat...“, stellte Philipp kühl und desinteressiert fest. „...der sollte auch nichts vergeben. Auch kein Wort an Jemand.“, er drehte ab und brachte den Teig weg. Kurz wurde es heller im Raum und ein rot-orangener Schleier legte sich über ihn und mich, als er die Ofentür öffnete. Nachdem das Brot versorgt war, ließ er sie scheppernd wieder zu fallen und säuberte seine Hände am Handtuch. Geduldig sah er mich an. „Nun? Was könnt Ihr noch, außer zu schälen, wie ein Küchenmeister?“

Mein Gesicht hellte sich etwas auf. „Schreiben, Herr und Lesen. Putzen schaffe ich auch ganz gut.“

„Was habt Ihr denn gearbeitet, bevor Ihr ins Gefängnis kamt?“, er ließ sich schwerfällig auf den Schemel sinken. Verlegen betrachtete ich meine Finger.

„Ach... Mal hier, mal da. Eine Zeit war ich in einem Bücherladen, dann auf See in der Küche. Ach und im Armenhaus habe ich ausgeholfen.“, ich sah auf. „Freiwillig.“

„Katholik, hm?“, ich nickte. Philipp wog den Kopf. „Nun, zumindest scheinbar kein Verbrecher. Gut, dann macht Euch nützlich. Ihr seid ein erwachsener Mann. Ihr seht selbst, was zu tun ist. Wenn Ihr ein Zimmer und zwei Mahlzeiten wollt, müsst Ihr schon mindestens zwanzig Stunden arbeiten.“

„Zwanzig Stunden!“, entfuhr es mir. „Für lausiges Brot und verstaubte Betten?!“

Er machte eine einladende Geste. „Wenn es dem Herrn zu viel ist, so kann er gern gehen. Aber er sollte nicht vergessen, dass Diebstahl ab 5 Heller mit dem Galgen bestraft wird.“

Ich sah ihn finster an, schwieg jedoch. Philipp erhob sich wieder und warf mir das Tuch entgegen. „Wenn Ihr auf das Zimmer verzichtet, sind zehn Stunden genug. Ab jetzt schlaft Ihr in der Küche, der Ofen ist warm genug und der Staub auf dem Boden weich. Und wenn es dem feinen Mann immer noch zu viel ist, so soll ihn doch der Teufel holen! Faule Leute sind hier nicht erwünscht. Ihr solltet froh sein, dass ich Euch nicht längst raus geworfen habe.“

Ich fing das Tuch etwas angewidert. Es war feucht und stank. Dann sah ich den Wirt an. Nach einigem Schweigen seufzte ich, brummte gewohnheitsmäßig ein leises: „Aye.“, und verließ die Küche. Philipp ließ noch eine Bemerkung fallen, die so ähnlich klang wie: „Aber anständig, ich kontrolliere!“, dann begann ich Staub zu wischen. Die Kerzen ließ ich aus, trotzdem merkte ich, wie viel auf Tischen und Fensterbrettern lag. Schüttelte ich das Tuch, fielen dicke Flusen zu Boden, wie kleine Wolken und wenn ich zur Küchentür sah, tanzten sie im Licht. Es stellte sich heraus, dass Wir sehen uns heute Abend. für Jack so viel hieß, wie Wir sehen uns gegen drei Uhr nachts. Er tauchte einfach nicht auf. Ich hatte bereits alle fünfzehn Tische und sechzig Stühle abgestaubt, sämtliche Fensterbretter, den Boden gewischt und sogar die Treppe. Immer wieder trug ich einen Eimer mit fast schwarzem Wasser zur Tür - Philipp hatte sie extra für mich aufgeschlossen - und goss ihn über der Straße aus. Erst als ich begann, die herunter gebrannten Kerzen zu erneuern, regte sich endlich etwas vor dem Eingang. Die Tür ging auf und das schrille Geräusch der Katze erfüllte den Raum. Die Kühle des Abends wirbelte den Geruch von frischem Brot auf und die Tatsache, dass Ausgangssperre herrschte, legte sich über den Gast, wie ein dunkler Schleier und ließ ihn wie einen finsteren Verbrecher wirken. Der Gast kam hinein und betrat knarrend die kleine Anhöhe. Dort blieb er stehen und wartete, bis seine Augen sich an das wenige Licht gewöhnten. Drei weitere Männer folgten. Die Lampe, die außen neben der Haustür angebracht war, warf riesige Schatten auf den hölzernen Boden. Dann fiel die Tür laut zurück ins Schloss. Ich wich einen Schritt zurück, in den dunkelsten Teil der Schenke und Philipp kam entnervt nach vorn. Vier Rotröcke standen vor ihm und bauten sich mies gelaunt auf. Aber Jack war nicht unter ihnen. Der Größte von ihnen räusperte sich, dann knurrte er:

„Wir sind auf der Suche nach einem Mann, Wirt. Er hat gestern Abend eine Frau mitsamt ihrer zwei Mädchen erstochen und in den Fluss geworfen.“, er nickte zwei Männern zu, diese eilten die Treppe hinauf. Dann wandte er sich wieder an Philipp und verkündete voller Hass:

„Für jeden nützlichen Hinweis gibt es zwanzig Silberlinge, wer ihn schützt, macht sich zum Mittäter. Sein Name ist Oliver.

Oliver Sullivan O'Neil.“

Neue Freunde und Feinde

Der Wachmann schwieg und wartete geduldig auf eine Antwort, während seine Augen die Schenke absuchten. Der letzte Soldat, der noch an seiner Seite stand, postierte sich vor der Tür. Unbewusst hielt ich die Luft an und wich einen weiteren Schritt zurück in die Dunkelheit. Dass sie nachts zu uns kamen, war ein Vorteil. Es war stockduster und durch die geschlossenen Fensterläden drang auch kein Licht von der Straße herein.

Unsicher sah ich Philipp an. Er hatte mich bisher noch nicht mögen gelernt und sicherlich waren die zwanzig Silberstücke mehr als nur verlockend für ihn. Es handelte sich dabei um viel Geld, doch er zeigte keine Regung. Entweder er hatte kein Interesse daran, mich zu verraten oder aber er kannte meinen Namen gar nicht. Mit einem Mal wusste ich gar nichts mehr. Hatte ich ihm meinen Namen jemals verraten? Hatte Jack ihm meinen Namen gesagt? Und von was für einem Mord sprachen die Wachen? Mir fiel als letztes auf, dass das Gesagte eine Lüge war und mein vor Angst und Schreck rasendes Herz pochte nun vor Wut. Wer hatte diese Lüge behauptet?! Robert?! Der Priester?! Oder gar Black?! O’Hagan?!

Philipps ruhige Stimme durchbrach meine Gedanken und betäubte mich. Seine Gelassenheit schien auf mich über zu gehen, als er sagte: „Nichts gesehen, nichts gehört. Wie immer. Seit Ihr hier jede Woche auftaucht bleiben die Kunden nämlich aus.“, desinteressiert drehte er sich weg und nahm zwei Krüge. „Bier die Herren?“

Der Rotrock brummte bejahend. „Nur für mich.“, bestimmte er dann. Er legte eine Hand auf den Tresen und drehte sich halb zu mir. „Düster hier.“; stellte er fest. Nun war es Philipp, der bejahend brummte. Mürrisch stellte er den Krug vor den Soldaten. Der Rotrock griff ihn und stellte kühl fest: „Geht auf's Haus.“, dann nahm er einen kräftigen Schluck und stellte das Bier zurück. Philipp beobachtete ihn mürrisch und schweigend. „Und? Keine Gäste, sagtest du, Wirt?“

„Keine Gäste.“, bestätigte er. „Nur drei Fremde, über die ich nichts weiß.“

„Also doch Gäste.“, der Rotrock wirkte etwas amüsiert. Philipp brummte nur. Nach einem weiteren, kräftigen Schluck knurrte der Soldat: „Dein Bier schmeckt scheiße.“

Philipp sah ihn an. Sein Blick schien sagen zu wollen: „Dann trinkt es nicht.“, aber er schwieg und wartete geduldig weiter. Nach einiger Zeit hörte man Schritte. Die zwei Soldaten des Mannes kamen wieder hinunter, einer schrie auf und es krachte laut, gefolgt von Poltern und einen weiteren Schrei, als letztes dann ein dumpfer Aufprall. Einer der Rotröcke war auf die kaputte Stufe getreten und nun samt seinem vorderen Partner hinunter gekracht.

Philipp schmunzelte. „Vorsicht die Herren, die dritte Stufe von oben is’ kaputt.“

Wütend richteten die Gestürzten sich wieder auf. Ich musste fast lachen und hielt mir den Mund zu. Um ihre roten Gesichter nicht zu sehen, schaute ich auf den Boden vor mir.

„Drei Gäste, Sir.“, meldete der Dickere von den beiden und beschämt kamen sie zum Tresen.

Der Hauptmann starrte sie finster an, dann räusperte er sich und richtete sich leicht auf. „Und? Wie viele belegte Zimmer?“

„Fünf, Sir.“, meldete der Dickere wieder.

„Fünf.“, der Hauptmann zog eine Augenbraue hoch und sah Philipp fragend und lauernd an. „Bei drei Gästen?“

Der Wirt zuckte mit den Schultern. „Meine Frau und mein Junge.“

Das schien den Wachmann zufrieden zu stimmen und er leerte seinen Krug mit einem Zug. Anschließend spuckte er hinein und stellte ihn abfällig zurück auf den Tresen. „Widerwärtig. Einfach widerwärtig.“, murmelte er dabei. Mit einer Drehung sah er sich noch einmal um, dann wandte er sich wieder an Philipp: „Nun, dann durchsuchen wir doch mal den Rest.“

„Den Rest?“, wollte der Wirt wissen, doch man ignorierte ihn.

„Ein Mann in die Küche!“, befahl der Hauptmann schroff. Sofort setzte einer der Rotröcke sich in Bewegung. Grinsend sah der Hauptmann Philipp an. „Dachtest wohl, ich übersehe was, hm?“, doch nach einigen Sekunden lauten Suchens kam der Rotrock kopfschüttelnd wieder hinaus. Wütend funkelte man ihn an, dann deutete man zum Rückzug. „Wir kriegen dich noch, Saufkopf!“, waren die Abschiedsworte des Hauptmanns, ehe die Tür ins Schloss fiel. Das war das erste Mal, dass der Klang der schrecklichen Katze wie Musik in meinen Ohren klang. Ich atmete lautstark aus und sank auf einem der Stühle in mich zusammen. Wir lauschten wie die Rotröcke sich fluchend entfernten. Einer von ihnen versuchte durch die Fensterläden hinein zu sehen, vergebens. Zweien wurde unfreundlich befohlen, Wache zu halten.

Philipp stampfte wütend zur Tür und schloss sie ab. „Dämliche Rotrockschweine!“, schimpfte er dabei. Dann drehte er sich zu mir. „Oliver Sullivan O'Neil also.“

„Ich habe diese Frau nicht erstochen!“, beteuerte ich und fuhr sofort wieder hoch.

„Das ist mir klar.“, entnervt stampfte er zurück zum Tresen und säuberte den Krug mit dem Handtuch. „Ihr wart gestern Abend schließlich hier, oder nicht?!“, ich merkte nicht, dass er mich duzte. Ich sank nur zurück und sah ihm zu. Mein Herz raste, ich hörte das Blut in meinem Kopf. Sinnloser Weise sah ich zum abgedunkelten Fenster.

„Sie suchen mich.“, flüsterte ich leise. „Aber wieso?“

„Das weiß nur der Teufel.“, Philipp gab auf, er war zu wütend für seine Arbeit.

„Der Teufel.“, wiederholte ich leise. Dann schlug ich mir gegen die Stirn. „O'Hagan.“

„O'Hagan?“, fragend sah Philipp mich an, dann kam er näher. „Was meint Ihr? O'Hagan? Der O'Hagan hat es auf Euch abgesehen? Der O'Hagan?“

Stöhnend stützte ich meine Ellenbogen auf den Tisch und vergrub mein Gesicht in den Händen. „Werft Ihr mich nun raus?“

Der Wirt lachte und setzte sich vor mich. „Seid nicht albern. Jeder, der dem ans Bein pisst ist bei mir willkommen! Wieso hast du das nicht gleich gesagt?!“, diesmal sprach er per du und unsicher sah ich auf, aber sein Grinsen zeigte mir, dass Philipp es ernst meinte. Ein wenig erleichtert setzte ich mich aufrecht. „Wieso?“, fragte ich dann. „Was hat er getan?“

„Was er getan hat?“, Philipp machte eine umfassende Geste. „Sieh dir meinen Laden doch an! Seid seine Männer hier rein gestürmt sind und alles auseinander genommen haben, traut sich keiner mehr hier her! Das macht dieser Mistkerl bei jedem Wirtshaus, welches sich weigert seinen Soldaten Unterkunft und Verpflegung zu geben.“, er schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Ausbeute. Sie zahlen keinen Heller und dafür benehmen sie sich wie die Schweine! Sie saufen, prügeln und bedrängen die Gäste. Und die Schenken, die den Dienst verweigern werden besonders hart beobachtet, so dass kein Gast mehr einen Fuß hinein setzt. Eine Minute über die Ausgangssperre und sofort geht es ins Zuchthaus! Eine kleine Prügelei und ab vor den Richter! Es ist eine Schande!“

Philipp hatte sich richtig in Rage geredet und wischte sich nun seufzend über die Stirn. Er versuchte wieder ruhig zu werden und kurz schwiegen wir. Ich gab ihm einige Minuten, sich wieder zu fassen, dann seufzte ich schwer und flüsterte: „Und nun will er mich festnehmen,

nur weil ich nicht für schuldig erklärt worden bin. Er wird mir immer unsympathischer.“

„Nur deswegen? Wohl kaum.“, Philipp sah zur Tür, aber nichts regte sich. Mies gelaunt stand er auf und trottete in die Küche. Er kam mit einem Holzspan wieder und entzündete eine der Kerzen über uns. „Da muss es mehr geben, als nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. O'Hagan hat zu viel zu tun, als dass er jedem frei gesprochenen hinter her rennen könnte, den er angeklagt hat.“

„Es ist aber wirklich nichts passiert. Und ich habe nichts getan!“

„Weswegen wurdest denn angezeigt?“, schwerfällig ließ er sich mir gegenüber auf den Stuhl sinken. „Was hast du ausgefressen?“

„Nichts. Ich wurde schanghait und auf ein Piratenschiff gebracht. Aber ich war an keinem Raubzug beteiligt und auch an keinem Mord! Nicht einmal an der dortigen Meuterei!“

Philipp brummte nachdenklich und betrachtete die Kerze. Dann schüttelte er den Kopf. „Ganz ehrlich, Oliver, wenn du die Wahrheit sagst, dann stimmt da was nicht. Ganz und gar nicht.“

„Wem sagt Ihr das?“, niedergeschlagen ließ ich meinen Kopf zurück in meine Hände sinken. Den ganzen Abend über verhielten wir uns ruhig, als würden wir nur darauf warten, dass man herein kam, um uns abzuführen. Ab und an hörten wir das Husten einer Wache von draußen oder aber, wie sie patrouillierten, um sich die Beine zu vertreten.

Sie wollen mich festnehmen. Mich, Oliver Sullivan O'Neil. Und das, wo ich doch gerade erst frei gekommen war. Nur warum? Wirklich nur, weil ich mir solche Frechheiten erlaubt hatte? Ich schalt mich immer wieder für meine Dummheiten und verfluchte mich für meine Arroganz. Am liebsten wollte ich hinaus rennen und fliehen. Aber was brachte das? Wahrscheinlich würde ich den Wachen nur geradewegs in die Arme laufen. Das Beste Versteck war hier im schwarzen Kater. Aber woher wusste O'Hagan überhaupt, dass ich hier war? Wer hatte mich verraten? Jack? Oder hatte er mich einfach von Anfang an unter Beobachtung gestellt? Dann wusste er vielleicht auch von meinen Angelegenheiten mit Pater Johannes?

Philipp blieb bei mir sitzen, bis einer der Gäste hinunter kam. Ich sah neugierig auf, meine erste Regung nach gut einer Stunde. Er war fast lautlos hinunter gekommen und ich fragte mich, wie lange er wohl dort gestanden hatte, ehe wir ihn bemerkten. Der Wirt schien ihn bereits zu kennen, denn Philipp fragte nichts und auch der Fremde sprach kein Wort. Er wartete nur ruhig am Tresen, bis man ihm einen Teller Suppe und ein Laib Brot dazu brachte. Ich betrachtete ihn in dieser Zeit genauer. Er war so weit entfernt vom Kerzenschein kaum zu erkennen, zudem war sein Gesicht unter der dunklen Kapuze seines Umhanges fast vollkommen verborgen. Auch den Rest seines Körpers konnte ich nicht sehen. Ich erkannte lediglich leicht gebräunte, vernarbte Haut und schmale, ausdruckslose Lippen. Eine silberne Schließbrosche in Form eines fliegenden Adlers blitzte im wenigen Licht und seine schwarzen Schuhe wirkten im Vergleich zu seinem Überwurf fast grau. Während er da stand und wartete, schien er meine neugierigen Blicke zu bemerken und drehte den Kopf fast mechanisch zu mir. Schnell starrte ich auf den Tisch. Seine Anwesenheit machte mich nervös und ich verstand nicht, warum. Nachdem Philipp ihm alles hingestellt hatte, griff er es wortlos und ließ ein Silberstück auf den Tresen fallen. Es drehte sich auf seinem Rand im Kreis. Dann verschwand er wieder nach oben. Ich sah ihm nach, daraufhin zu Philipp. Auch er schaute zur Treppe, als müsste er sicher gehen, dass der Gast wirklich verschwand. Irgendwann fiel das Silberstück zur Seite und wippte fast qualvoll laut auf und ab, ehe es vollends zum Stehen kam. Brummend schob der Wirt es in seine Tasche. „Was ein düsterer Geselle.“, er schlurfte zurück in die Küche. Neugierig sah ich zum völlig im Schwarz endenden Treppenaufgang.

„Allerdings.“, murmelte ich dann. Seufzend vergrub ich mein Gesicht wieder in den Händen. „Aber er wird wenigstens nicht gesucht…!“
 

Lange saß ich so da, niedergeschlagen und in Gedanken versunken. Philipp stellte mir einen Krug Bier hin, den er mehrmals nachfüllte, um mich ruhig zu stellen, außerdem noch den Topf mit kalten Suppenresten des Tages. Das Meiste war bereits eine feste, breiartige Masse geworden, doch es stillte den Hunger und so reichte es mir. Ich war ihm sehr dankbar dafür. Es war eine geringe Art von Beistand, die ich nicht überall finden konnte – wenngleich ich mir auch nicht sicher war, ob es sich um eine kostenfreie Hilfe handelte. Es fiel mir schwer meine Gedankengänge zu sortieren, mehr als ohnehin schon. Die vergangenen Monate erschienen mir wie das pure Chaos.

Irgendwann in der tiefen Nacht tauchte Jack in der Uniform der Rotröcke auf. Er schlich zur Tür, schloss auf, schlüpfte hinein und schloss sie eilig wieder, damit keiner der Wachposten ihn bemerkte. Dann seufzte er schwer und rief: „Ich bin zurück!“

Von Philipp erhielt er keine Antwort. Der Wirt hantierte in der Küche herum und ehe er dort nicht fertig war, konnte ich nicht schlafen gehen. Und so saß ich noch immer an meinem Tisch. Ich grüßte Jack müde und leicht benommen mit einem lieblosen Wink, bemüht ein wenig zu lächeln. Jack verbeugte sich knapp und ging zum Tresen. Umständlich schlüpfte er aus den Stiefeln, während er zu seinem Ziehvater hinein zischte:

„Draußen stehen Rotröcke. Ist etwas passiert?“

„Das Übliche.“, war die gelangweilte Antwort. „Schikane.“

„Verstehe.“, Jack warf seine Schuhe hinter den Tresen, dann wandte er sich zu mir. „Ihr seid noch da.“, stellte er fest.

Ich nickte nur und sah in mein Bier. „Scheint so.“

„Das freut mich. Ich denke Ihr wisst es schon, aber man sucht Euch.“, Jack warf einen kurzen Blick zur Küchentür, doch der Wirt ließ nur Töpfeklappern vernehmen. Scheinbar zufrieden gesellte Jack sich zu mir. „Man sucht Euch.“, wiederholte er.

„Das weiß ich.“, der Junge fummelte einen Rest Speck aus meinem leeren Topf und steckte es sich in den Mund. Ich fragte mich, ob diese Mahlzeit eigentlich für ihn gedacht war. Ich seufzte, als ich feststellte, dass ich schon wieder zu denken begann. Es hatte mich ganze drei Bier gekostet, mein Hirn zum Schweigen zu bringen und nun brachte dieser Junge das Uhrwerk wieder zum Drehen. Wieder spürte ich Aggressionen tief in mir drin. Leicht desinteressiert sah ich ihn an. Meine Augen waren mit Sicherheit glasig und unter ihnen tiefe Augenringe. Ich fühlte mich langsam und betäubt. Im Dämmern beschloss ich, den Alkohol wieder zu reduzieren. Es würde die Wachen zwar sicherlich freuen, würde ich betrunken direkt in ihre Arme torkeln, aber diesen Gefallen hatten sie sich nicht verdient. „Und? Hast du dir die Sache überlegt?“

„Habe ich.“, Jack nickte entschieden. „Ich werde Euch helfen. Nach dem, was ich heute gehört habe, wäre es unverzeihlich, wenn ich Euch nicht helfen würde.“, mein Blick wurde fragend, aber meine Zunge erschien mir zu schwer, um nachzuhaken. Jack schien das zu merken. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Die Kerze über uns flackerte kurz und mir fiel auf, dass er nicht nur außerordentlich müde war, sondern auch noch ein rechtes, blaues Auge hatte. „Sie haben allerhand über Euch geredet. Über den Mord gestern Abend. Erst war ich schockiert, das gebe ich zu, doch dann habe ich nachgedacht. Das kann gar nicht passiert sein. Ich saß fast die ganze Nacht hier unten. Ich hätte Euch gesehen, wärt Ihr an mir vorbei geschlichen.“, ich nickte und seufzte leise. Jack schwieg ebenfalls. Er schien auf eine Antwort zu warten, doch ich hatte beschlossen, erst wieder klarer zu werden. Es brachte nichts, als halber Idiot Pläne und Ideen zu schmieden, nur um sie am nächsten Tag wieder zu verwerfen. Und so fuhr er fort: „Ich werde Euch helfen. Mit dieser Frau. Ihr werdet ungerecht behandelt, wie wir alle hier. Und das mindeste, was wir tun können, ist zusammen zu halten und uns zur Wehr zur setzen. Vielleicht können wir damit das Leben dieses Volkes nicht ändern, aber vielleicht das Eure und jenes dieser Frau und allein das ist es mir wert.“

„Du hast dir scheinbar zurechtgelegt, was du sagen wirst. Du sprichst sehr überlegt.“, murmelte ich abwesend in mich hinein.

Jack zuckte mit den Schultern. „Kann schon sein.“

Philipp rief aus der Küche zu uns herüber: „Reden kann der Bengel gut und viel, mehr aber auch nicht!“, dann kam er hinaus und spuckte in den Kautabak-Eimer neben dem Tresen. Ein leises, hohles Klong! Ertönte kurz. „Du verbrennst dir die Finger, Junge. Kümmere dich lieber um deine Arbeit, statt das Leben anderer in Gefahr zu bringen. Ich weiß zwar nicht, worum genau es geht, aber-...“

„Ich weiß, was ich tue.“, antwortete Jack leicht trotzig und bemüht ruhig. „Ich bin alt genug.“

„Sicher bist du das.“, Philipp seufzte und fuhr sich über das zause Haar. Es schien fast, als würde er bereits jetzt jegliche Diskussionen aufgeben. „Geh rauf und kümmere dich um deine Mutter. Sie hat nach dir gefragt.“

„Sie fragt den ganzen Tag nach mir.“, Philipp seufzte und räumte das Besteck ab, Jack und ich schwiegen. Nachdem der Wirt verschwunden war, zischte der Junge: „Ich werde Euch trotzdem helfen!“, und verschwand dennoch gehorsam die Treppe hinauf.

Ich sah ihm benommen nach, dann stand ich auf. Mit einem Mal war mein Kopf unheimlich schwer und meine Knie zitterten. Ich musste mich am Tresen halten, auf dem Weg zur Küche und als ich die schmutzige Decke vor dem Ofen sah, sank ich fast dankbar darauf. Der Wirt klopfte mir beim Vorbeigehen auf die Schulter. Er murmelte etwas, was klang wie: „Nacht. Morgen sieht alles anders aus.“, ehe er die Kerze nahm und hinaus schlurfte. Ich schwieg und drehte mich auf die Seite. Ein wenig kühl war es schon. Der Ofen war aus, die restliche Hitze wärmte meinen Rücken, doch auch diese würde wohl bald erlöschen. Ein wenig schaudernd beobachtete ich den verschwindenden Kerzenschein und zog einen Deckenzipfel so weit über mich, wie es ging. Sie roch nach Hund und Schimmel, aber der Alkohol und meine Müdigkeit ließen es mich bereits nach wenigen Minuten vergessen. Zudem passte es zu mir, so, wie ich dalag. Immer mehr driftete ich ab in die Welt des Schlafs und mit jeder Minute meinte ich mehr, wieder in meinem alten Klosterzimmer zu sein. Ich begann, davon zu träumen. Von meiner Zeit im Kloster, meine Zeit in Ruhe und Frieden und mein Leben vor meiner Reise mit Black. Es tat gut, solches zu sehen. Mehr, als die Feuerprobe immer wieder und wieder zu wiederholen. Dennoch war es nicht erholsam.
 

Annonce lag im Schlaf, aber selbst dort erklangen stets die Geräusche der Nacht. Betrunkene, die während der Ausgangssperre herum liefen und von den Wachmännern aufgegriffen worden waren schrieen und wüteten, Kinder weinten, Frauen stöhnten. Ein Straßenhund bellte und die Ratten arbeiteten sich mit kratzenden Krallen über die Steinböden. Ich war mitten in der Nacht wach geworden und nun hinderten mich all diese Geräusche daran, wieder einzuschlafen. Ich wusste nicht, was ich von all diesen Dingen halten sollte und am wenigsten, was nun zu tun war. Ich hatte ein freies Leben gewollt. Stattdessen sollte ich nun verfolgt und im gnädigsten Fall aufgeknüpft werden. Ich rechnete damit, dass mitten in der Nacht jemand an die Tür klopfte, um eine erneute Untersuchung durchzuführen. Sollte ich mich dann stellen? Was geschah dann?

Es gab keine Beweise für meine angebliche Tat. Aber brauchte O’Hagan solcherlei überhaupt? Wohl kaum. Wieso verfolgte dieser Mann mich? Ich konnte ihn unmöglich so dermaßen gekränkt haben und allem Anschein nach gab es mehr Menschen, als nur mich, die sich ihm widersetzten. Und hängte man diese? Philipp und Jack sahen meiner Meinung nach noch sehr lebendig aus.

In der Küche wurde es immer kühler, die staubige Decke half kaum. Ich rückte etwas näher an den Ofen heran. Er lag viel zu weit über mir, als dass sein wärmendes Metall auch nur irgendetwas gebracht hätte, aber ich wollte das Feuer nicht entzünden. Ein rauchender Schornstein mitten in der Nacht? Das wäre zu auffällig. So blieb mir nichts anderes übrig, als ganz still dazuliegen und nicht an die Kälte zu denken. Ich umwickelte meine Füße mit einem Lappen, zog die Beine an und klemmte meine Hände zwischen die Oberschenkel, um so warm zu werden, wie nur irgendwie möglich. Mit über den Kopf gezogener Decke atmete ich konsequent durch die Nase, um die Luft unter dem Stoff aufzuheizen, aber selbst das half nichts. Seufzend setzte ich mich auf und umklammerte meine dünnen Arme. Sie zitterten leicht. Wenn das so weiter ging, würde ich an einer Grippe sterben, ehe ich den Galgen auch nur sehen dürfte. Mir die Oberarme reibend warf ich einen Blick zum Fenster. Es war geschlossen, so dass ich nur Schwarz sah, wie fast auch im restlichen Raum. Vor wenigen Minuten war der Nachtwächter herum gelaufen. Er hatte gesungen:

Hört, Ihr Herrn, und lasst euch sagen,

unsere Glock' hat vier geschlagen.

Vierfach ist das Ackerfeld…

Mensch, wie ist dein Herz bestellt?

Also dauerte es immer noch gut zwei Stunden, ehe ich wieder herum laufen, etwas Essen oder Trinken konnte. Seufzend stand ich auf und sah mich um. Jedoch lagen weder Kartoffeln herum, noch konnte ich andere Arbeit finden, um mir die Zeit etwas zu verkürzen. Die Treppe reparieren konnte ich auch nicht, aufgrund der Gäste und das meiste an Putzarbeit hatte ich bereits am Vorabend verrichtet. Also was tun? Ich begann auf und ab zu laufen, wie ein eingesperrtes Tier. Die Luft in der Küche war unerträglich, aber ich wollte dennoch nicht in die zugige Schenke. Seufzend öffnete ich die Ofentür, aber auch sein Inneres war vollkommen abgekühlt. Etwas enttäuscht schob ich sie wieder zu. Ich werde erfrieren…, dachte ich. Oder ich bekomme Fieber. Hoffentlich stecke ich die Rotröcke an, wenn sie mich abführen. Oder O’Hagan.

Ich lachte leise, als ich mir den Gouverneur vorstellte, im Bett mit roten Wangen und glasigen Augen. In meiner Fantasie jammerte er wie ein Kind seinem Tode entgegen und wenn er Fieberträume hatte, kreischte er wie ein kleines Mädchen.

Dann zuckte ich zusammen.

Ich hatte Schritte gehört, in der Schenke. Wie ein gedrillter Hund fuhr ich herum und huschte hinter den Türrahmen. Mein Herz raste und mit einem Mal waren Kälte und Müdigkeit vergessen. Jemand war in der Schenke. Aber er war nicht die Treppe herunter gekommen! Hatte Jack abgeschlossen? Das hatte er doch?!

Erneut hörte ich schleichende Schritte, sie näherten sich der Küche. Wer auch immer dort war, er hatte mich gehört und nun bemerkt. Ich drückte mich gegen die Wand. Panik stieg in mir hoch. Ein Rotrock! Hektisch sah ich mich in der dunklen Küche um. Meine Decke würde jedem verraten, dass ich da war. Das war mein erster Gedanke. Es gibt kein Entkommen mehr! Dann entdeckte ich das kleine Küchenmesser auf dem Tisch. Ich packte es und umklammerte zitternd den Griff, die Augen starr auf die Tür direkt neben mir gerichtet. Ich sah es bereits vor mir: Das Gesicht des Rotrockes. Wie er ins Zimmer schlich und sich umsah, mich nicht bemerkend. Ich würde direkt neben ihm stehen, ihn überraschen… Er würde so nahe bei mir sein, dass ich hören könnte, wie er Luft holte. So nah, dass ich ihn vielleicht sogar riechen könnte. Ich würde vorstürzen, sobald er an mir vorbei war und ihm das Messer von hinten in den Rücken rammen. Ich würde ihn zu Boden werfen, überwältigen und töten… Er war allein, und er würde allein bleiben. Und er würde mich nicht festnehmen, niemals!

Doch im Zimmer neben mir regte sich nichts. Es herrschte absolute Totenstille und das verunsicherte mich umso mehr. Mir fiel auf, wie laut ich atmete und so hielt ich die Luft an und schluckte kurz. Mein Körper war ungemein angespannt und ich meinte, die Anwesenheit des anderen zu spüren. Die Ratten irritierten mich und ich begann mir Geräusche einzubilden. Lief er? Stand er? War er geflohen? Sollte ich nachsehen? Und mit jeder Sekunde, in der meine Ungewissheit wuchs, stieg auch meine Angst.

Es klapperte direkt hinter mir, mitten in der Küche, aber das konnte doch gar nicht sein? Wie sollte er hier hinein gekommen sein? Einmal, ganz kurz. Ich zuckte zusammen und tat es als Einbildung ab, doch dann hörte ich es erneut, lauter, intensiver. Echt. Sofort fuhr ich herum. Er war da!

Kaum hatte ich mich umgedreht, packte mich eine Gestalt von hinten durch die Küchentür. Sie griff mich an den Haaren, riss schmerzhaft meinen Kopf in den Nacken und hielt mir eine Klinge an den Hals. Es ging so schnell, dass ich nicht einmal Luft holen konnte und nur wie zu Stein erstarrte.

„Lasst die Waffe fallen.“, raunte mir eine dunkle und leise Stimme ins Ohr, seelenruhig, aber bedrohlich. Ich gehorchte ohne zu zögern und erhob demonstrierend die leeren Hände. Ein Ruck und ich knallte mit dem Gesicht gegen die Wand. Der Fremde lehnte seinen Oberkörper gegen meinen Rücken und zwang mich so, dem Messer an meinem Kehlkopf stand zu halten, während seine ruhige Hand mich untersuchte. Als sie fertig war, stieß man mich vor zum Ofen.

Ich drehte mich um und stand dem Mann des Vorabends gegenüber. Er stand gelassen vor mir, in seinem schwarzen Umhang gehüllt und sah mich finster an. Ich erkannte fast eisblaue Augen, beißend hell und eine Narbe, die seiner linke Augenbraue diagonal durchtrenne. Sein Blick durchbohrte den meinen und verunsicherte mich. Ich konnte nicht sagen, ob er meine Augen betrachtete oder mein Gesicht, zudem beunruhigte mich seine Ruhe. Es schien, als würde er sämtliche Gelassenheit aus mir heraus saugen. Langsam tat er einen Schritt nach links, fast lautlos und versperrte mir so den Ausgang. Der Mann stellte den Kopf schief, seine Kapuze verdeckte seine Gesichtshälfte im Schatten und er fragte flüsternd: „Was wird hier gespielt?“ Er sprach unheimlich langsam, die ganze Zeit über. Es schien, als würde er ununterbrochen nachdenken, selbst während des Sprechens.

„Ich weiß nicht, was Ihr meint.“, kurz sah ich zum liegenden Messer, dann wieder zu ihm. Er war meinem Blick nicht gefolgt. „Ich dachte, Ihr wärt ein Einbrecher.“

„Was treibt Ihr in der Küche?“, der Mann kam einen Schritt auf mich zu, sich ansonsten nicht regend. „Nachts?“, doch dann sah er die Decke hinter mir und stellte den Kopf wieder aufrecht. „Ihr schlaft hier.“, stellte er nachdenklich fest. Sofort sah er mich wieder an. „Wieso?“

„Wieso nicht?“, fragte ich trotzig.

Ich sah ihn schmunzeln. „Ah, Ihr könnt Euch also kein Zimmer leisten.“, dann senkte er den Blick etwas und alles was ich noch sehen konnte, war sein Mund. Sein rechter Mundwinkel war leicht angehoben. „Verzeiht, ich wollte Euch nicht wecken. Ich dachte ebenfalls, Ihr wärt ein Räuber. Da haben wir wohl das gleiche gedacht.“

„Vielleicht.“, ich fasste mich wieder etwas. Dieser Mann schien mir nichts tun zu wollen, sonst hätte er es wohl bereits getan. Diese Tatsache beruhigte mich. Ich ignorierte seine Anspielung auf mein kleines Geldproblem. Etwas kühl fügte ich hinzu: „Allerdings gibt es hier wohl nichts zu klauen oder?“

„Dann sind wir wohl beide Idioten.“, er drehte um. „Angenehme Nachtruhe.“

„Und Ihr?“, er hielt inne, drehte sich aber nicht zu mir. „Was macht Ihr hier? Nachts? Euer Zimmer ist oben, soweit ich weiß.“

„Ich dachte, es wären Einbrecher im Haus.“, er sah mich über die Schulter hinweg an. Zumindest glaubte ich das, denn seine Augen erkennen konnte ich nicht. „Deswegen kam ich hinunter.“

„Sehr aufmerksam von Euch.“, stellte ich fest. Ich machte keinen Hehl daraus, dass ich seine Aussage für eine Lüge hielt.

Wieder grinste er leicht. „Der gute Einfluss meiner Mutter, schätze ich.“

Ich hob das Messer auf und legte es zurück auf den Tisch. Das machte ihn aufmerksam. Der Mann kam zu mir und drehte es herum. Vorher hatte es auf der rechten Seite gelegen, nun lag es auf der linken.

„Nicht so auffällig. Der Wirt…“, erklärte er dabei. „…legt es so herum… Er schält mit der verbotenen Hand.“, dann sah er mich wieder an.

„Ihr auch.“, ich nickte zu seiner Linken. „Ihr habt es mit links gegriffen.“

„Sehr aufmerksam.“, bemerkte er, deutlich amüsiert.

„Wohl der gute Einfluss meines Vaters.“ Ich zuckte mit den Schultern.

Sein Blick wurde ernster, forschender. Ich spürte, dass er nichts mit mir anzufangen wusste. Er hatte keine Ahnung, wie ich einzuschätzen war. Ich verstand nicht, wieso, aber er war mir sympathisch. Sein Misstrauen, seine Aufmerksamkeit und seine Vorsicht. Das gefiel mir.

„Ich denke, dieser kleine Zusammenstoß sollte unser Geheimnis bleiben.“

„Wieso? Weil man von Eurem Spaziergang erfahren könnte?“

„Ihr meint, es wäre…unverständlich, wieso ich hier herum laufe?“

Ich lächelte leicht. „Nein. Nur, wieso Ihr das komplett angekleidet tut, schleichend und dann auch noch, ohne den Wirt zu bitten, aufzuschließen. Es schien fast, als hättet Ihr von anfang an vorgehabt, in die Küche zu gehen.“

„Vielleicht habt Ihr Recht.“, sein Gesicht verschwand wieder größtenteils.

„Vielleicht habt Ihr hier ja etwas…zu verbergen?“, ich sah mich demonstrierend um. Als ich den Mann wieder ansah, erkannte ich ein Grinsen.

„Einigen wir uns darauf, dass ich eine Naschkatze bin, die sich gerne ein, zwei Brotstücken gratis besorgt.“, er hob seinen Arm und etwas flog leicht durch die Luft. Dann fiel ein kleine Silbermünze auf den Küchentisch. Wie am Tresen zuvor drehte es sich erst eine Weile, ehe es auf dem Holzbrett liegen blieb. „Sagen wir… für die gesamte, restliche Woche.“

Ich sah es an, dann ihn und anschließend nickte ich.

„In Ordnung.“

„Übrigens, esse ich gern ab und an mal…allein.“, er betonte das letzte Wort mit besonderem Nachdruck.

Ich verstand den Wink und nickte leicht. „Verstanden.“

Er drehte erneut ab. „Gute Nacht. Ach nein… Möge Gott über Euch wachen.“, und so verschwand er die Treppe hinauf. Ich sah unsicher nach, dann zum Silberstück hinüber. Ich konnte es mir nicht nehmen lassen, es zu testen und tatsächlich war es echt. Die Schritte des Fremden waren so leise, dass ich nicht hören konnte, ob er die Treppe wirklich hinauf ging. Erst als ich seine Zimmertür hörte, war ich beruhigt und sank zurück auf meine Decke. Nachdenklich drehte ich das Geldstück zwischen meinen Fingern. Wer war dieser Mann?

Ohne Frage war sein letzter Satz eine Anspielung auf meine Herkunft gewesen. Ich wartete lange, bis ich völlig sicher war, dass er sich oben befand, dann stand ich wieder auf, verstaute das Stück in meiner Hosentasche und begann die Küche zu durchforsten. Langsam und vorsichtig, vor allem leise. Egal, was er gewollt hatte, es hatte sich in dieser Küche befunden. Ob ich ihn überrascht hatte? Was mochte es wohl sein? Doch ich wusste nicht, wonach ich suchen sollte und so fand ich nichts. Weder zwischen den Erbsen, Linsen und Kartoffeln, noch in den Schubladen oder Schränken. Ich sah in jedem Krug nach und testete sogar die Bodendielen. Nirgends war etwas zu finden. Es war zum verzweifeln…! Vor allem, da ich sehr leise sein musste.

Als ich aufgab, ging nicht wenig später die Sonne bereits auf. Der erste, der wach war, war Philipp. Er kam die Treppe hinunter und bog sofort in die Küche ein. Ich war eingenickt und lag zusammengekauert vor dem Ofen. Mit einem leichten Tritt weckte er mich und brummte: „An die Arbeit, es ist Tag.“

Gequält stöhnend drehte ich mich auf die andere Seite. „Lasst mich schlafen…“

„Nicht, ehe du deine Schulden bezahlt hast, du Lump!“, knurrte er und zog mich in Sitzposition. „Aufstehen, sage ich oder soll ich dich erst mit Wasser abschütten?“

Müde wehrte ich mich und hielt ihm meine Silbermünze entgegen. „Da, und jetzt lasst mich! Ich bin müde, verdammt noch mal…“, ohne eine Antwort abzuwarten sank ich zurück, rollte mich zusammen und zog die Decke über meinen Kopf. Damit waren meine Schulden bezahlt, also sollte er mich lassen. Philipp stand da, wie angewurzelt. Völlig verdattert und verwirrt hielt er das Silberstück in der Hand. Sein Blick zu mir war misstrauisch. „Wenn du das einem Gast geklaut hast…“, drohte er mir, eine Antwort bekam er aber nicht.

Ich wollte schlafen. Und nachdenken... Was wollte dieser Kerl hier in der Küche?

Viele Fragen

Philipp ließ mich nicht schlafen, obwohl es gerade mal sechs Uhr war. Er brauchte den Platz vor dem Ofen und eine Silbermünze war – angeblich - zu wenig, für Zimmer und Verpflegung, also musste ich mich hoch raffen, ob ich wollte oder nicht.

Glücklicherweise ließ er mich in Ruhe, bis ich richtig wach war. Ich setzte mich in den Schankraum und döste vor mich hin, mit knurrendem Magen, brennenden Augen und Kopfschmerzen. Ich fragte mich, wieso Philipp überhaupt noch den Laden öffnete. Solange die Rotröcke vor dem Haus postiert waren, würde ohnehin niemand das Wirtshaus betreten. Zu meiner Verwunderung jedoch stellten wir fest, dass sie verschwunden waren.

Vorerst, wie Philipp meinte.

Die nächtliche Begegnung mit dem Fremden erschien mir wie ein Traum und nun im Nachhinein beunruhigend. Was, wenn ich durch diese Geheimnistuerei in etwas verwickelt wurde, in das ich nicht verwickelt werden wollte? Was, wenn er mich in noch größere Schwierigkeiten hinein zog, als ohnehin schon? Ich hatte versprochen den Mund zu halten und ihn nachts in die Küche zu lassen. Was hatte er dort vor? Und galt das, was ich tat, als decken? Deckte ich womöglich einen Verbrecher?!

Aus dem oberen Stockwerk drang immer wieder Lärm herunter. Die Frau schrie hysterisch herum und Philipp erklärte mir, dass sie seit Tagen Fieber hätte. Es handelte sich wirklich um seine Ehefrau und der Wirt schien sie nicht sonderlich zu schätzen. Er sprach zwar nicht abfällig von ihr, jedoch auch nicht sonderlich liebevoll. Sie wirkte eher wie eine Last, als eine Lebensgefährtin, ausgesucht mit Liebe und Leidenschaft.

Jack, ihr Sohn, kam immer wieder hinunter um Wasser zu holen, Brot oder Suppe. Er wurde so gehetzt, dass er mir nicht einmal Guten Morgen sagte. „Sie will keinen Arzt.“, war das einzige, was er sprach.

Ich beschloss bis zum Mittag zu warten, irgendwann musste schließlich sogar dieses Weibsbild Ruhe geben. Dann würde ich mit Jack sprechen bezüglich Mary-Ann. Ich hatte ihm einen Tag Zeit gegeben, mehr hatte ich nicht. Nun musste ich beginnen Pläne zu schmieden. Aber bis dahin beobachtete ich den Alltag des Gasthauses.

Wie ich erfuhr war Jacks Mutter starke Alkoholikerin und durch die Temperatur nicht mehr klar bei Verstand. Jedoch fühlte Jack sich seiner Mutter verpflichtet und Philipp sich für Jack, weswegen der Wirt das Frauenzimmer nicht hinaus werfen wollte – dem Jungen zuliebe. Eine verzwickte Geschichte, die so leicht nicht zu lösen war. Er behandelte sie stets gut und mit Respekt. Etwas, was in meinen Augen eine Leistung war, denn manchmal schwang in seiner Stimme Abscheu und Hass mit. Das einzige, was er ihr verweigerte war Geld, da sie dieses zum Fenster hinaus warf für Rum, Bier, Schminke und teure Kleidung. Zwei Wochen lang hatte Philipp einst im Bett gefiebert und in dieser Zeit hatte sie es geschafft, sie hoch zu verschulden. Es hatte ganze drei Jahre gedauert, alles wieder abzubezahlen. Niemals wieder würde seine Frau eine Münze auch nur ansehen dürfen, außer sie verdiente sie sich selbst. Und das tat sie.

Wenn sie nicht gerade wehleidig im Bett lag und nach ihrem Sohn schrie, verkaufte sie sich an die wenigen Gäste. Nicht selten musste Jack sie in der Stadt suchen gehen, da sie das eine oder andere verdient und in verschiedenen Wirtshäusern versoffen hatte. Dann saß seine Mutter benommen vor einer Schenke, rief nach Jack und rührte sich keinen Zentimeter, ehe er nicht da war. Man könnte fast meinen, sie liebte ihren Sohn über alles.

Auf der anderen Seite, erklärte mir Philipp, gab sie jedoch ihm die Schuld für ihr Leben. Sie behauptete, sie hätte wegen der Geburtsschmerzen angefangen zu trinken und weil die Schwangerschaft sie hässlich und dick gemacht hätte.

Irgendwann krachte es oben, als wäre ein Tisch zu Bruch gegangen, dann knallte Jack die Tür zu und stampfte wütend hinunter. Er zitterte vor Zorn und seine Haare waren ganz zaus. „Bleib unten.“, brummte Philipp nur. „Die kriegt sich auch ohne dich wieder ein.“

Jack setzte sich an einen der Tische. Philipp stellte dem Jungen und mir einen Teller Suppe hin, dieser nickte nur schwer seufzend. Doch bereits nach fünf Minuten Rufen war er wieder nach oben verschwunden. Er konnte seine Mutter einfach nicht ignorieren.

Mir kam dies zugute, denn ich machte mich auch über seinen Teller her und versuchte, mich aus den Familien-Angelegenheiten raus zu halten. Nach einer Weile dann gesellte sich der Wirt zu mir. Wir begannen uns zu unterhalten, über meine Pläne, meine Ideen und meine Gedanken. Scheinbar wollte er herausfinden, was genau Jack und ich vorhatten, aber als erstes wusste ich es noch nicht und als zweites war ich nicht sicher, ob es klug war, ihn einzuweihen. Ich hielt mein Leben so gut aus dem Gespräch heraus, wie es ging. Ich erwähnte nur, was ich bereits gesagt hatte und schmückte es etwas feiner aus. Dass ich auf See gewesen war, auf einem Piratenschiff und dass ich dort als Schiffsjunge gearbeitet hatte. Von Black, Robert oder gar Kai erzählte ich nichts. Zwar sagte ich, dass ich im Tollhaus gearbeitet hatte, aber ich behauptete nur, ich hätte in der dortigen Küche geholfen. Ich erwähnte weder Mary-Ann, noch Pitt oder Charles. Am wenigstens den Zuchtmeister oder dass ich bereits als Kind dort gelebt hatte. Ich galt als freiwilliger, katholischer Arbeiter, der diese Arbeit aus Überzeugung angetreten hatte. Ich berichtete alles so freundlich und zuversichtlich, dass man meinen könnte, es hätte mir Spaß gemacht etwas Gutes für diese verlorenen Seelen zu tun.

Philipp gefiel meine Einstellung, wenn er auch offen sagte, dass er niemals kostenlos arbeiten würde und schon gar nicht in der Küche. Er überlegte, ob er mich als feste Arbeitskraft einstellen sollte. Ich müsste nur fleißiger werden und mein langes Schlafen unterlassen. er hatte vor das Wirtshaus wieder aufzubauen, aber ohne O'Hagan. Bald würde es keine Wirtshäuser mehr geben, in denen keine Rotröcke waren. Diejenigen, die den Soldaten ausweichen mussten, würden dann zu ihm kommen. Philipp hatte vor, die Preise dann zu senken. Momentan waren sie so hoch, da Geldmangel war aufgrund der wenigen Gäste. Ich könnte bei ihm schälen, kochen und putzen, vielleicht sogar Botengänge erledigen und ab und an kellnern. Da ich die Umsetzung dieser Ideen erst in weiter Ferne sah stimmte ich zu. so schnell würde das Haus ohnehin nicht wieder aufgebaut sein, wenn seine Träume überhaupt realisierbar waren und bis dahin hatte ich ein billigeres Leben und konnte mir vielleicht sogar etwas dazuverdienen.

Jack kam in seiner Zukunftsvision nicht vor. Er wollte den Jungen zur Schule schicken, damit er etwas Anständiges wurde. Sein Sohn war intelligent, gebildet und er konnte etwas erreichen, was andere nicht konnten. Das wusste Philipp zu hundert Prozent. Er hatte früher einmal den Priester von Annonce bezahlt, damit dieser dem Jungen nach den Sonntagsmessen etwas Unterricht im Lesen und Schreiben gab. Leider besaß er nicht genug Geld und so hatte sein Sohn nur drei Wochen am Unterricht teilnehmen können. Er selbst war einfach nicht gut genug und hatte keine Zeit dazu ihn in etwas zu unterrichten und so blieb die Schulung des Jungen auf der Strecke.

Ich nutzte die Gelegenheit mich als Lehrer anzubieten. Aufgrund meiner Klosterzeit beherrschte ich die Schrift einwandfrei und konnte Jack sicherlich einiges beibringen. Damit war Philipp einverstanden, so dass ich dem Jungen für ein festes Mahl Unterricht erteilen sollte.

Später kam der Fremde die Treppe hinunter. Sofort stand Philipp auf und ging an den Tresen, ich hingegen blieb sitzen und musterte den Mann genauer. Er wiederum mich ganz und gar nicht. Es schien fast, als hätten wir uns nie zuvor gesehen und schon gar nicht so, als hätten wir miteinander gesprochen. Diesmal war sein Umhang grau, an den Enden leicht ausgefranst, denn das Kleidungsstück war scheinbar bereits etwas älter. Er stellte Philipp den Suppenteller samt Löffel hin, ehe er leise sagte:

„Ich gehe aus. Wenn jemand nach mir fragen sollte, teilt es ihm mit. Wenn er in mein Zimmer möchte, lasst ihn hinein.“, dann deutete er auf die Kerze am Ende des Tresens. „Zündet sie an, wenn jemand oben ist.“

Der Wirt nahm den Teller entgegen und nickte knapp. „Sehr wohl. Soll ich die Tür wieder eine Stunde länger offen lassen, der Herr?“

„Nicht nötig. So spät wird es dieses Mal nicht werden. Wenn, dann komme ich morgen früh. Bitte stellt mir etwas vom Abendessen ans Bett.“, er drehte ab und ging hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten. Philipp bejahte brummend und sah ihm nach. Dann schüttelte er den Kopf und brachte das Geschirr in die Küche.

Ich sah zu, wie der Fremde die Schenke verließ und die Katze fürchterlich zum Läuten brachte, ehe ich seinen Schritten lauschte, bis sie verklungen waren. Es hatte etwas geregnet, die Straßen waren feucht und so hörte man die Ledersohlen seiner Stiefel auf dem Pflaster. Fragend sah ich Philipp an, als dieser wieder seinen Platz mir gegenüber ansteuerte.

„Komischer Kauz.“, begann ich unschuldig das Gespräch, ganz nebenbei.

Er brummte. „Da sagst du was.“, dann lehnte er sich zurück. Der Stuhl knarrte bedrohlich unter seinem Gewicht. „Aber immerhin ein Gast. Einer von wenigen.“

Ich nickte und gähnte leicht, zur Tür sehend, durch welche der Gast verschwunden war. Ich schwieg eine Weile, als würde ich nachdenken müssen. Aber in Wahrheit hatte ich meine Frage die ganze Zeit vor Augen: „Was treibt er so? Er muss gut verdienen, wenn er sich diese Wucherpreise hier leisten kann.“

Das brachte den Wirt zum Grinsen. „Ja, stimmt schon.“, auch Philipp sah zur Tür, obwohl längst niemand mehr zu sehen war. „Was er treibt, weiß ich nicht. Aber er zahlt gut und pünktlich und das ist die Hauptsache. In meinem Geschäft stellt man besser keine Fragen. Zumindest nicht in Annonce.“

„Mir habt Ihr Fragen gestellt.“, wandte ich ein. Ich schob die zwei Suppenteller beiseite und stützte mich auf dich Tischplatte. „Und sicher habt Ihr doch Vermutungen? Fragen stellt man als Wirt zwar selten, aber Gerüchte gibt man umso öfter weiter.“

„Man munkelt, er sei ein Lord, der vor seiner Verantwortung flüchten will.“, gab Philipp nach einigem Grübeln zu.

„Ein Lord... In so einer Baracke, wie dieser hier?"

Philipp stand wieder auf und griff die zwei Teller. „Früher war dieses Haus ein wahres Prachtstück.“, verteidigte er sich dabei. Mit schlurfenden Schritten ging er Richtung Küche. Das tat er immer dann, wenn er keine Lust auf Gespräche hatte. „Der Kerl wohnt bereits seit sechs Monaten hier. Und jetzt genug. So viel Neugierde hält ja kein Mensch aus.“

„Sechs Monate...“, ich starrte Philipp nach, dann abermals zum Ausgang. Leise murmelte ich: „Meine Güte, der Kerl muss ja reich sein.“ Ein Lord, hm?
 

Mit den Gedanken, dass ich ohnehin nicht außerhalb arbeiten konnte, aufgrund der Rotröcke und dass es innerhalb des Wirtshauses nichts mehr zu tun gäbe, hatte ich mich mehr als nur geschnitten. In Bezug darauf Beschäftigungen zu finden, stellte sich Philipp als großes Talent heraus. Nachdem die Glocke der Kapelle die Mittagszeit eingeläutet hatte begann ich auf Knien den gesamten Boden zu wischen. Zu meiner Enttäuschung überließ er mir nicht vollends die Arbeit. Er nahm als erstes den Lappen, hockte sich umständlich auf den Boden und schrubbte einen Teil der Dielen so sauber, wie es nur ging. Und so, sagte er, sollte am Ende des Tages jedes einzelnes Brett aussehen. Ein Ziel, das nur schwer zu erreichen war.

Nach gut drei Stunden war ich noch immer nicht fertig. Meine Arme schmerzten und mein Rücken ebenso. Ich fühlte mich an alte Zeiten erinnert und seufzte mehrmals, laut hörbar, wie zur Beschwerde.

Doch nicht nur diese Körperstellten: Sobald ich Schritte hörte fuhr ich hoch und stieß mir den Kopf an der Unterseite eines Tisches oder eines Stuhles. Ich glaube noch nie zuvor an einem einzelnen Tag so oft geflucht zu haben, wie an diesem. Als ich endlich fertig war, hatte ich wunde Finger und Knie, aber die Arbeit hatte sich gelohnt. Philipp hatte registriert, dass ich dunkle Fußabdrücke auf dem Boden hinterlassen hatte und sich die Zeit genommen, mir sein altes Paar Schuhe zu suchen. Ich nahm sie mehr als nur dankbar entgegen, denn seit meiner Ankunft auf dem Schiff hatte ich keine mehr besessen. Eigentlich waren sie für Jack gedacht, aber der Junge wuchs nicht mehr. Die Schuhe waren einmal prächtig gewesen, doch nun war das schwarze Leder abgenutzt und an manchen Stellen ausgefranst, zudem viel zu groß. Aber wenn ich sie eng genug schnürte, waren sie erträglich. Abgesehen von den zwei kleinen Löchern in der rechten Sohle und den hellen Flecken an der linken Außenseite. Ich nahm mir fest vor, mir neue Kleidung zu besorgen, abgesehen von den Schuhen, denn noch immer trug ich die Hose und das Hemd, das man mir im Gefängnis bereitgestellt hatte. Von Außen wirkte ich wie ein Bettler, schlimmer noch. Es war kein Wunder, dass der Mann in schwarz mich so seltsam gemustert hatte, als er mich das erste Mal sah.

Philipp hatte sämtliches Geschirr zwar in die Küche getragen, aber das Abwaschen überließ er mir. Dasselbe galt für das Schälen der Kartoffeln, das Befreien der Erbsen von den Schoten, das Reinigen des Ofens, das Abkratzen des Wachses von den Tischen, das Putzen der Scheiben – die sicher seit zehn Jahren nicht einmal mehr angesehen worden waren – das Waschen der Bettbezüge, das Reparieren der Treppe und Stühle, so wie das Ausnehmen eines Huhnes für den nächsten Tag. Als Lohn bekam ich einen Teller kalte, dickflüssige und stinkende Suppe, so scharf gewürzt, dass mir Zunge und Mund fast weg brannten. Umso näher der Abend rückte, desto mehr beschlich mich das ungute Gefühl, es war ein Fehler gewesen, auf Philipps Angebot einzugehen. Ich versuchte der Arbeit zu entkommen, indem ich Jack zu einem Gespräch aufforderte, aber zu meiner Enttäuschung war er verschwunden, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ich verfluchte mich dafür und beschloss, nichts zu trinken. Ich musste mit ihm reden, dringend! Und zwar mit klarem Verstand. Auch Philipp war aufgefallen, dass es kein Gespräch zwischen mir und dem Jungen gegeben hatte. Er jedoch schien sehr zufrieden damit zu sein. Allem Anschein nach machte Philipp sich große Sorgen darum, dass sein Junge sich in Schwierigkeiten bringen könnte. Und so sympathisch ich ihm aufgrund meiner politischen Einstellung auch war, es glich dennoch nicht die Tatsache aus, dass ich versuchte Jack in Schwierigkeiten zu bringen. So sehr er mir auch half und gute Worte schenkte, so machte er mir dennoch klar, dass ich es bereuen würde, würde Jack auch nur das Geringste wegen mir geschehen.

Nachdem ich endlich mit meiner Arbeit fertig war, es herrschte längst Ausgangssperre, sank ich völlig kraftlos und unter Schmerzen auf mein Lager. Keiner hatte nach dem schwarzen Mann gefragt, kein Gast war hinunter gekommen da Philipp ihnen alles nach oben gebracht hatte und von der Mutter gab es auch keine Anzeichen, dass sie überhaupt da war. Noch nie zuvor hatte ich einen so langweiligen und zugleich anstrengenden Tag erlebt. Die Aussicht auf einen weiteren, solch glorreichen Tagesablauf brachte mir miese Laune. Ich begann wütend auf Philipp zu werden, aufgrund meiner Unzufriedenheit. Endlich war mein Leben nicht mehr langweilig – ich wurde verfolgt! Und dennoch hätte ich auf diesen Tag schlichtweg verzichten können. Würde er einfach verschwinden, wäre es mir sicherlich nicht einmal aufgefallen – abgesehen davon, dass man sich in Fenstern und Boden spiegeln konnte und dass kein Stuhl mehr unter einem nachzugeben drohte.

Der Wirt begab sich sehr früh zu Bett. Seine Woche war anstrengend gewesen und da es nur noch die zwei Gäste gab, die ihr Zimmer verließen, hatte er keine Arbeit mehr. Ich blieb vor meinem Ofen sitzen, genoss die restliche Wärme und wartete auf Jacks Rückkehr. Ich hatte mich auf eine lange Wartezeit eingestellt, dennoch kam die Müdigkeit rasch. Ich überlegte kurzzeitig, ob ich mich ein wenig hinlegen sollte, bis er kam, wagte es aber nicht, aus Angst, ich würde seine Ankunft verpassen. Das Haus war totenstill, stiller als am Tage und auch die Stadt schien zu schlafen. Ich hörte den Nachtwächter, dann eine weitere Person, ansonsten fast nichts. Es schien, als wären sämtliche Anwohner gestorben. Dann, gegen drei Uhr hallten die Stimmen betrunkener, junger Männer durch die Gassen. Es müssen etwa fünf oder sechs gewesen sein. Wahrscheinlich klapperten sie gerade sämtliche Wirtshäuser ab, jedoch waren sie zu unvorsichtig. Es dauerte nicht einmal drei Minuten, schon hörte man etliche Schritte auf dem Weg zu ihnen und anschließend Stöhnen und Streiten. Man nahm sie fest, da sie die Ausgangssperre ignoriert hatten. Sollten sie sich jetzt noch gegen die Wachmänner wehren, war ihr Leben mit großer Wahrscheinlichkeit vorbei.

Mir wurde bewusst, wie ausweglos meine Lage war. Noch war sie ruhig, man hatte mich nicht gefunden. Aber bald würde man das tun und dann waren auch meine Tage gezählt.

Dieser Gedanke half mir eine Zeit lang, wach zu bleiben. Ich begann wieder zu grübeln, warum und wieso man mir das antat und was geschehen würde, würden sie mich kriegen. Dennoch wurde mir der Ernst der Lage nicht wirklich bewusst. Ich hatte neben dem Rotrock gestanden und er hatte das Wirtshaus einfach verlassen. Dieser Triumph verweigerte meinem Hirn sie als ernsthafte Gegner anzusehen. Ein Fehler, den ich später bereuen sollte.

Ein Klopfen an das Fenster ließ mich zusammen fahren und als hätte mich jemand gestochen, fuhr ich hoch. Ich starrte die Fensterläden an, doch natürlich verriet mir das Holz nicht, wer genau geklopft hatte. Dann klopfte es erneut, eindringlicher, fester.

„Ich weiß, dass Ihr da drin seid, Sullivan!“, flüsterte eine Stimme kaum hörbar. „Ich bin es, macht auf!“, doch ich öffnete nicht. Vielmehr zögerte ich und spürte meinen raschen Herzschlag. Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass es der Mann in Schwarz war, der da vor dem Fenster stand. Er klopfte abermals und das bewegte mich dazu, die Fensterläden aufzusperren. Es bedurfte eines festen Rucks, ehe ich das Fenster aufbekam. Kühler Wind kam mir entgegen und ich konnte den Mann gar nicht erkennen, so schwarz war es draußen. Die Lampe neben der Tür war aus, obwohl ich hätte schwören können, Philipp hatte sie angezündet und nur ein schwaches Straßenlicht reichte bis an das Küchenfenster heran. Während er flink ein Bein auf einen hinausragenden Stein über dem Boden stützte und so gekonnt in die Küche sprang, wurde mir bewusst, wie unvorsichtig ich gewesen war. Was, wenn er mich verraten hatte? Was, wenn hier überall Rotröcke nur darauf warteten, dass er ihnen mein Gesicht zeigte? Ein wenig übereilt schlug ich die Fensterläden wieder zu. Es krachte leise, als eines der linken Scharniere nachließ und ich musste Gewalt anwenden, um es dennoch zu schließen. Nun war das Fenster schief verschlossen und geringes Licht kam hinein. Hektisch drehte ich mich zu ihm herum. Ich fühlte mich wie ein Idiot.

Der Fremde stand vor mir, wie aus Blei gegossen. Sein grauer Umhang wirkte im nicht beleuchteten Raum wie aus Pech und ich erkannte nicht einmal mehr seinen Mund. Alles, was mir verriet, dass er da war, war seine Silhouette und ein Stück Schulter, das sich im Licht befand. Aber noch ehe ich etwas fragen konnte, hörte ich Stimmen.

„Wo ist er?!“, rief ein Mann.

„Er ist dort entlang!“, ein anderer.

Dann rannten mehrere Männer am Wirtshaus vorbei. Ich hielt den Atem an und erst, als sie bereits längere Zeit nicht mehr zu hören waren, drehte ich mich herum. Unsicher, was ich denken oder fühlen sollte, starrte ich den Fremden an. Sah er zurück? Er stand noch immer da wie zuvor. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er mich töten möchte. Warum weiß ich nicht, aber ich wich zurück.

„Danke.“, flüsterte er mir entgegen. „Ich habe es nicht nach oben geschafft.“, dann verschwand seine Silhouette aus dem Licht. Ich lauschte, um zu erfahren, wo er war, doch es gab nicht den geringsten Hinweis. Der Wind trug die Stimmen der Wachmänner als undefinierbare Laute durch die Straßen. Unsicher tat ich einen Schritt nach links auf die Tür zu. Meine Augen wanderten umher in der Hoffnung auf irgendeinen Anhaltspunkt, wo er war – vergeblich. Ich empfand ihn als Feind, als gefährlich, ohne zu verstehen, warum eigentlich. „Ihr wurdet verfolgt.“, flüsterte ich dann, in der Hoffnung auf eine Antwort. Lange Zeit kam nichts.

Dann sprach er hinter mir, scheinbar in der Tür stehend: „Scheint so.“

Sofort fuhr ich herum und stolperte einen Schritt zurück. „Wieso schleicht Ihr so herum?!“

„Ich stehe nur hier. Ihr bewegt Euch hin und her, nicht ich.“, und nach einiger Zeit fügte er hinzu: „Entzündet doch den Ofen, dann ist es heller.“

„Der ist aus.“

„Wieso?“

Stille, etwas raschelte. Eine Ratte neben mir rutschte von einem Kartoffelsack hinunter und krabbelte über den Steinboden. „Wegen der Wachen.“

„Ist das nicht ein wenig paranoid?“, ich spürte, wie er an mir vorbei ging. Abermals wich ich zurück und registrierte, dass es die Dunkelheit war, die mich ängstigte. Er machte sich am Feuer zu schaffen und nachdem es entzündet war, legte sich auch etwas meine Nervosität. Der Fremde ließ die Ofentür einen Spalt offen und ein schwacher Lichtschein legte sich über das Zimmer. Schweigend sah ich zu, wie er die Fensterläden richtig schloss. Nun, wo es heller war, war dies um einiges leichter. Nachdem er fertig war, drehte er sich zu mir. Da der Mann mit dem Rücken zum Feuer stand, war sein Gesicht für mich fast unerkennbar. Dunkle Schatten lagen über seinen Augen und ließen sie wie tiefe, schwarze Höhlen erscheinen, ebenso wie der Bereich unter seiner Nase. Ruhig erklärte er mir: „Sie haben mich am Arm erwischt. Deswegen konnte ich nicht durch das Fenster rein. Ihr habt mich sozusagen gerettet.“, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nicht der Rede wert., erschien mir unangebracht. Gern geschehen., oder Keine Ursache. ebenso. Er merkte scheinbar meine Hilflosigkeit und schmunzelte leicht. „Habe ich Euch wieder geweckt?“

Das lockerte mich etwas und ich schüttelte den Kopf. „Nein, nein.“

„Dann ist gut.“, er sah sich kurz um, als müsste er sichergehen, dass wirklich alles so war, wie er es kannte.

„Ich esse lieber allein.“, murmelte er nachdenklich. „Also, wenn es Euch nichts ausmacht? Es dauert nicht lang.“

„Ich habe Euch das Leben gerettet.“, protestierte ich leise. „Ist das nichts wert?“

Daraufhin sah er mich kurz an und wandte sich ab. „Da ich dieses Haus verlassen muss, ist es ohnehin egal.“

Ich sah ihm zu, wie er zum Geschirrschrank ging. Ein altes Gestell. Unten ein Fach mit zwei Türen, darüber ein Regal in dem Teller standen und darüber abermals ein geschlossenes Fach. Er rückte ihn vorsichtig ab.

„Wieso müsst Ihr gehen?“, fragte ich ohne Scheu, ihn aufmerksam beobachtend. Der Mann hatte nun einen kleinen Zwischenraum zwischen Schrank und Wand geschaffen, vorsichtig und fast völlig lautlos. Er hatte ihn etwas angehoben, damit er keine Spuren auf dem Boden hinterließ. Nun griff er dahinter und hob ein winziges Stück Diele an. Es war gerade mal so groß, dass seine Hand hinein passte. Er sank vollends auf die Knie, für einen Moment konnte ich eine tiefschwarze Stoffhose erkennen, und steckte den Arm umständlich tiefer in den Boden hinein. Scheinbar reichte das Loch bis unter die Mauer. Er zog einige gefaltete Blätter Papier heraus und dazu einen kleinen Lederbeutel, der leise klimperte.

„Weil ich Probleme habe. Das muss Euch als Erklärung genügen.“

Dann machte er sich daran, alles wieder so aufzubauen, wie zuvor. Keiner von uns sagte ein Wort und als wäre ich gar nicht da, setzte er sich auf den Küchentisch, entfaltete eines der Pergamente und beugte sich darüber. Leise kam ich einige Schritte näher und lugte über seine Schulter. Ich erkannte eine Karte der Stadt Annonce. Links das Kloster, der Fluss, der sich durch die Straßen schlängelt, rechts der Hafen. In der Mitte der Marktplatz nahe dem Rathaus. Überall waren Kreuze und Kreise, zudem Notizen in schwarzer und roter Tinte. Ich konnte die Buchstaben entziffern, aber die Wörter verstand ich nicht. Es schien, als wären sie in einer anderen Sprache. Neugierig musterte ich sie eine Zeit lang und sah zu, wie er mit Kohle ein paar der Kreuze und Kreise verschmierte. An seinem Handgelenk erkannte ich herunter gelaufenes, getrocknetes Blut. Ich wagte es nicht, zu fragen, warum er das tat und auch nicht, woher genau das Blut kam. Dennoch plagte mich die Neugierde. Nachdem er fertig war pustete er die Kohlereste hinunter und klappte sie wieder zu. Seine Finger hinterließen schwarze Fingerabdrücke auf dem Pergament. Er ließ das Papier im Innern seines Umhanges verschwinden, leckte kurz an seiner Handinnenfläche und verrieb den Schmutz, bis seine Finger einigermaßen gereinigt waren. „Ich gehe zu Bett.“, verkündete er dabei.

„Ich habe Euch das Leben gerettet.“, wiederholte ich abermals ruhig. „Ich möchte mit Euch reden. Das ist das Mindeste.“

Der Fremde hob seinen Blick und sah mich seelenruhig an. „Ihr werdet keine Antworten erhalten. Zumindest keine, die Euch interessieren oder befriedigen würden.“

„Das dachte ich mir. Aber vielleicht könnt Ihr mir trotzdem ein wenig weiter helfen.“

Ich sah, dass er grinste, als er sich ganz zu mir drehte. „Wenn es um Geld geht, Ihr solltet dankbar für den Silberling sein, ansonsten könnte es Eurerseits sehr teuer werden.“

Abwehrend hob ich die Hände und sagte ernst: „Keine Sorge. Ich werde nicht den Fehler machen, Euch zu erpressen. Ich bin nicht dumm und weiß, dass es schmerzhaft werden kann, mit Feuer spielen zu wollen. Ich wollte nur wissen, wer Ihr seid und auf welcher Seite Ihr steht. Zumindest…ungefähr.“

Er nickte. „Mein Name ist Nevar. Und ich bin auf der – von mir aus gesehen – rechten Seite.“

„Auf der rechten?“, fragte ich verwirrt.

„Jene, die in meinen Augen die Richtige ist.“, grinste Nevar mir entgegen. „Und meist jene, die mich weiter bringt.“

„Also seid Ihr ein Meuchler?“

„Nein.“

Ich schwieg kurz, dann sah ich nachdenklich zu Boden. „Ein…Spion?“

„Nein.“

Fragend sah ich ihn wieder an. „Was dann? Ein Dieb vielleicht?“

„Nein.“, sein Grinsen wurde wieder zu einem Schmunzeln und er schloss die Ofentür. Das Licht verschwand wieder. „Ich heiße Nevar. Nehmt es hin, das ist sicherer. Für uns beide.“

Ich seufzte leise, da er mir nicht einmal annähernd weiter half, ehe ich spüren konnte, wie er an mir vorbei ging. Nevar wollte die Küche verlassen und auf sein Zimmer. Reflexartig ging ich einen Schritt vor, streckte die Hand nach ihm aus und bekam ein Stück Stoff seines Umhanges zu fassen. Ich packte zu und das nächste, was ich spürte, war die Spitze einer Klinge an meinem Hals. Es ging unheimlich schnell.

Er befahl mir ruhig: „Lasst los.“, doch das hätte er nicht mehr tun müssen. Erschrocken war ich zurück gestolpert und hatte meine Hände abwehrend erhoben.

„Ich wollte Euch nichts tun!“, versicherte ich dabei. „!ch wollte Euch nur daran hindern, zu gehen!“

Nevar antwortete nicht. Einige Sekunden war ich unsicher, ob er verschwunden war, ehe er leise erklärte: „Ihr werdet mit großer Wahrscheinlichkeit keine Antworten erhalten, Sullivan. Aber wenn Ihr es dennoch versuchen wollt, begleitet mich auf mein Zimmer. Ich habe noch zu tun und nicht mehr viel Zeit, zu schlafen. Ihr haltet mich auf.“

Unsinniger Weise nickte ich, obwohl es wohl für keinen sichtbar war und so folgte ich ihm hinauf. Ich spürte, dass er die Treppe fast hinauf tanzte. Mal trat er links auf eine Stufe, dann besonders weit rechts, fast nie mittig. Sie gab unter seinen Füßen keinen Laut von sich und so sehr ich ihn auch nachzuahmen versuchte, ich brachte eher ein misslungenes Schleichergebnis Zustande. Als wir oben ankamen, öffnete er die erste Tür ganz links, die über Küche und Schankraum lag. Rechts daneben, in der Mitte der linken Seite, befand sich das Zimmer von Jack, Philipp und seiner Frau. Er zog einen Schlüssel und schloss auf, langsam und so leise wie nur möglich, dann schlüpfte er hinein. Kaum war auch ich eingetreten spürte ich den Luftzug der sich schließenden Tür und hörte anschließend das Schloss. Einige Zeit blieb ich stehen. Es war zu dunkel, ich hatte keine Orientierung und wusste nicht, wohin ich mich bewegen sollte. Dann entzündete Nevar eine Kerze.

Man sah seinem Raum an, dass er seit gut einem halben Jahr bewohnt wurde. Statt nur einem Bett, einem Schrank, einem Tisch und einem Stuhl gab es bei ihm noch mehr, viel mehr Einrichtungsgegenstände. Scheinbar hatte er sich das Zimmer wohnlicher gestaltet. Es war länglich, gegenüber der Tür gab es das Fenster, ansonsten nichts. Links stand der Tisch an die Wand gerückt, darüber waren zwei Regale angebracht. Sie waren überladen mit Büchern der verschiedensten Arten, ebenso wie der Tisch selbst. Rechts gegenüber stand das Bett, mit dem Kopf zur Türseite und einem winzigen Nachttisch daneben. Dahinter, neben dem Fenster, war ein großer Schrank. Er hatte zwei Türen und an der einen war ein runder, kleiner Spiegel angebracht. Links, dem Schrank gegenüber, stand eine Holztruhe mit Schloss. Nevar stellte die Kerze auf den Schreibtisch, zwischen ein Tintenfass und eine Pfeife, dann wandte er sich den Büchern zu. Er begann nach etwas zu suchen, wofür er die linke Hand ausstreckte und die Buchrücken entlang fuhr. Mich beachtete er nicht. Ich nahm mir die Zeit, sein kleines Reich näher zu erkunden. Vorsichtig machte ich ein paar Schritte durch sein Zimmer. Meine bloßen Füße liefen über einen weichen, karmesinroten Teppich, während ich das gewünschte Essen auf dem Nachttisch sah und den geschlossenen Krug Wein. Zu meinem Erstaunen lag dazu noch eine Keule des Huhnes bereit, das ich am Tag zubereitet hatte. Ich hatte nichts davon abbekommen. Neben dem Essen lag ein winziges, schwarzes Buch. Neugierig beugte ich mich herunter, um den Einband zu lesen. Mit goldener Schrift stand darauf: La Sacra Bibbia.

Nevar hatte das gesuchte Buch scheinbar gefunden, dann er zog einen dicken, grünen Schinken aus dem Regal und ließ ihn auf den Schreibtisch sinken. Dann begann er ihn zu durchblättern. Durch den Windzug flackerte die Kerze leicht und das Licht im Raum flimmerte. Ich sah zum Fenster. Es war durch einen schwarzen Vorhang verdeckt, der mit zwei Nägeln festgemacht worden war. Dies war die einzige Stelle im Raum, die nicht nobel wirkte, sondern eher provisorisch. „Wie lange seid Ihr bereits hier?“, fragte ich neugierig und ließ mich auf das Bett fallen. Es federte leicht und Staub wirbelte hoch. Fast wirkte es so, als wäre es bereits seit Tagen ungenutzt.

„Fünf Monate.“

„Eine Menge Zeit.“, er brummte nur. Scheinbar war das Buch doch nicht jenes, das er suchte, denn er griff nach einem neuen, diesmal roten. Dieses legte er auf das aufgeklappte, erstere und durchsuchte es. Bei jedem Seitenumschlag versuchte ich etwas zu entziffern. Ab und an hielt er eine Seite fest, um etwas zu lesen. Dann erkannte ich Wörter wie:

Paese, andare, Cittá, Monastero, oder Mare. Dazwischen waren kleine Zeichnungen und Karten von Orten, die ich niemals zuvor gesehen hatte. Ozeane, Berge, riesige Prärien oder gar Städte. Manche waren durchgestrichen, andere hektisch überkrakelt. An den Seiten gab es kleine Notizen und Anmerkungen. Desto länger ich ihm zusah, desto klarer wurde mir, dass ich es mit keinem Mann vom Festland zu tun hatte. Dann fand Nevar scheinbar das Gesuchte. Er riss eine Seite heraus und hielt sie in die Kerze. Der Geruch von verbranntem Papier erfüllte den Raum und ich hatte das Bedürfnis, zu lüften. Stattdessen hielt ich jedoch den Mund und wartete, dass er Zeit für mich fand. Nachdem Nevar alles vernichtet hatte, was zu vernichten war, schob er die Bücher zurück in das Regal. Er tat es so, als würde er das gesamte Geschehen rückwärts durchgehen. Als erstes legte er jenes, welches außen stand an die anderen, dann schob er das zweite zurück zwischen die Beiden. Es erschien mir umständlich, ich hätte sie nacheinander aufgestellt.

Mit einer kurzen Bewegung ließ er seine Kapuze hinunter sinken. Als er mich ansah, zuckte ich fast ein wenig zusammen. Nevars eisblaue Augen wirkten durch sein schwarzes, kurzes Haar noch heller und beißender. Sie standen in alle Richtungen ab, wie bei einem verwilderten Hund. Etwas amüsiert fragte er: „Bequem?“

Erschrocken sprang ich hoch. „Verzeihung. Ich war nur so in Gedanken.“

„Setzt Euch ruhig, wohin Ihr wollt.“, er öffnete die Vogelbrosche seines Umhanges, indem er die Flügel auseinander hakte, dann hängte er den Stoff in den Schrank. Das erste Mal erblickte ich seine Kleidung ganz und gar: Eine Stoffhose, ein Gürtel, ein langärmliges Hemd, alles in schwarz gehalten. Um die Unterarme trug er schwarze Ledermanschetten bis zu den Ellen, die mit zwei silbernen Schnallen zu verschließen waren. An seinem Gürtel hing eine kleine Ledertasche und an der linken Seite war ein Eisenring befestigt. Ich fragte mich, wofür er da war, während ich zurück auf das Bett sank. Nevar musterte sein Gesicht im Spiegel und versuchte sein Haar zu bändigen, aber schon nach wenigen Sekunden gab er auf. Sie waren geladen von der Kapuze und von Natur aus zu widerspenstig. Anschließend schlüpfte er aus seinem Hemd. Sein Körper war sehr muskulös und wie sein Gesicht leicht dunkel, zudem über und über besetzt mit kleineren Narben der verschiedensten Arten. Striemen, Schnitte, Kreise, Punkte, Brandstellen. Alles schien vertreten zu sein. Sowohl an Rücken und Seiten, als auch an Brust und Bauch. An seinen Oberarmen hatte er je einen Lederriemen angebracht, an denen je fünf kleine Messer befestigt waren. Diese löste er nun und legte sie in den Schrank. Ich erblickte eine kleine, schwarze Zeichnung in seinem Nacken, sie schien in die Haut eingraviert worden zu sein. Ein Vogel, der die Flügel von sich streckte, ohne Beine und mit seitlich gehaltenem Kopf. „Nun?“, fragte er und musterte im Spiegel eine tiefe Schnittwunde in seiner linken Schulter. Sie blutete und schien nicht mehr aufhören zu wollen. Seelenruhig betrachtete er sie mal von links, dann von rechts, dann öffnete er abermals den Schrank und begann darin herum zu suchen.

„Ich habe viele Fragen an Euch. Aber ich möchte Euch wirklich nicht belästigen.“

„Fragt nur. Noch habt Ihr Zeit.“

Ich räusperte mich verlegen. Die gesamte Situation erschien mir unangenehm und ich bereute es insgeheim, mitgegangen zu sein. Das Zimmer, seine Bücher, seine Verletzung. Das alles wirkte auf mich, als hätte ich das nicht sehen und wissen dürfen. Nevar tränkte ein weißes Stück Stoff in einer nach Alkohol stinkenden Flüssigkeit, anschließend hielt er dieses an die Wunde. Geduldig sah er mich an und wartete.

„Also… Als erstes möchte ich wissen, was Ihr treibt.“

„Aber das werde ich Euch nicht sagen.“, er schmunzelte und setzte sich mir gegenüber auf den Tisch.

„Das wiederum dachte ich mir.“, gab ich zu und faltete die Hände. Ich betrachtete sie nachdenklich, um ihn nicht ansehen zu müssen. Im Vergleich zu seinem Körperbau kam ich mir klein und schwach vor. „Und als zweites wollte ich wissen, woher Ihr meinen Namen kennt.“

„Ihr habt Angst, dass ich ein Feind bin.“, stellte er amüsiert fest.

Ich nickte, ohne aufzusehen und murmelte: „Ja, wahrscheinlich.“, fragend hob ich den Blick. „Was wisst Ihr von mir, Nevar?“

Kurz überlegte er, dann wog der Mann den Kopf. „Ihr solltet fragen, was ich nicht von Euch weiß. Die Antwort würde kürzer sein.“

„Gut. Was wisst Ihr nicht von mir?“

Kurz hob Nevar das Tuch an, um die Wunde zu betrachten, dann warf er es in hohen Bogen vor den Schrank. Während Nevar erklärte, griff er in eines der drei, nebeneinander liegenden Schubfächer des Tisches, zog einen Verband hervor und begann, seine Verletzung damit zu umwickeln. „Ich weiß nicht, wie Ihr es geschafft habt aus dem Gefängnis frei zu kommen und auch nicht, ob Ihr wirklich schanghait wurdet. Auch weiß ich nicht, wieso Ihr nach Eurer Freilassung ausgerechnet hier her kamt… Versteht mich nicht falsch, ich spioniere Euch nicht nach.“, er nahm kurz das eine Ende des Verbandes in den Mund und machte drei feste Knoten. Erst danach sah er mich ernst an. „Es ist Zufall, dass wir im gleichen Wirtshaus sitzen. Ich denke, Ihr seid auf dieses Gasthaus gekommen, da es Jack gewesen sein könnte, der Euch im Gefängnis versorgt hat. Aber ob es stimmt, weiß ich nicht. Ich kann nur Vermutungen anstellen.“

„Und wieso tut Ihr das?“, fragte ich verwirrt. „Wieso stellt Ihr Vermutungen über mich an?“

„Sagen wir, ich bin durch Zufall auf Euch gestoßen. Ich habe keinerlei Interesse an Euch. Aber ich habe durch unbeabsichtigte Umstände einiges über Euch erfahren.“

„Was für Umstände?“, hakte ich nach.

Nevar grinste leicht, als er merkte, wie groß mein Interesse war. Ich glaubte, er spielte mit dem Gedanken, mich zappeln zu lassen. „Ich habe Euer Gottesurteil gesehen. Ihr habt meinen Respekt. Ihr saht nicht so aus, als würdet Ihr an Eure Unschuld glauben. Dennoch seid Ihr durchgelaufen. Etwas nass geworden...aber immerhin.“, Nevar stieß sich vom Tisch ab, ging zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. Er sah hinaus, als würde er etwas suchen. „Jedenfalls war es nur Zufall, dass ich so häufig auf Euch getroffen bin. Erst sah ich Eure Verhandlung, dann Euer Gottesurteil, dann hörte ich die Beschwerden von O’Hagan über Euch.“

Ich fuhr hoch. „Ihr seid ein Mann von O’Hagan…!“

„Bin ich nicht.“, leicht gelangweilt ließ er den Vorhang fallen und sah mich an. „Ich kann ihn genauso wenig leiden, wie wahrscheinlich jeder andere dieser Stadt.“

Etwas zögernd sank ich zurück. Es fiel mir schwer, ihm zu glauben. Andererseits, wenn er zum Gouverneur gehören würde, dann wäre ich wohl längst tot. „Für wen arbeitet Ihr dann?“

Nevar schwieg und sah zu Boden. Nach einigen Sekunden fragte er außergewöhnlich ernst:

„Wem folgt Ihr, Sullivan. Gott, oder Teufel?“

„Gott.“, antwortete ich sofort. Seine blauen Augen sahen mich an, als wäre ich ein verständnisloses Kind.

„Und woran erkennt Ihr, wer wer ist?“, Nevar ging zu dem kleinen Buch neben seinem Abendessen und betrachtete es nachdenklich. „Viele denken, O’Hagan sei der Teufel. Andere glauben fest daran, er sei der Vertreter Gottes.“, dann sah er mich an und ließ es achtlos auf sein Kopfkissen fallen. „Ich glaube, dass er beides ist. So wie ich oder Ihr. Zwei Teile sind nötig, um ein Ganzes zu sein. Nur die eine Seite geht nicht. Ich folge beiden Seiten. Ich nehme mir nicht das Recht heraus, zu entscheiden, wer gut und böse ist. Gut und Böse, das gibt es gar nicht. Und im Grunde ist es mir auch egal.“

Ich hatte ihn aufmerksam angesehen und zugehört, nun sah ich zu dem schwarzen Buch. Aus irgendeinem Grund musste ich es in die Hand nehmen. Grübelnd strich ich über die goldene Schrift, sie war in den Einband gestanzt und an manchen Ecken bereits kaputt. Dann flüsterte ich: „Ich verstehe, was Ihr meint. Und oft habe ich die gleichen Gedanken.“

„Wenn dem so ist…“, flüsterte Nevar mit Nachdruck und stellte den Kopf leicht schief. „…wem folgt Ihr dann wirklich, Sullivan O’Neil?“

Wem folgt Ihr?

Ich schwieg lange, ehe ich Nevar eine Antwort geben konnte. Natürlich hatte er völlig Recht, man konnte Böse nur schlecht von Gut unterscheiden. Aber gar nicht?

Ich empfand mich selbst als gut, doch dann fielen mir Kai und der andere Matrose ein. Die Tatsache, dass ich oft gelogen hatte und auch, wie ich ohne Zögern bereit gewesen wäre, Nevar und Philipp zu töten. Mit einem Mal fühlte ich mich schlecht und hassenswert, verachtenswürdig. Als ich ihn wieder ansah, zitterte ich ein wenig und ungewollt bekam ich es wieder mit der Angst zu tun. Angst vor der Hölle, Angst vor den Folgen, Angst um meine Seele. All das, was mir in den zehn Jahren im Kloster anerzogen worden, war kam wieder in mir hoch.

Nevar sah es mir an. Die ganze Zeit über hatte er schweigend vor mir gestanden, nun ließ er sich wieder auf den Tisch sinken und lächelte leicht. „Was meint Ihr?“, fragte er leise, als hätte er meine Gedanken erraten. „Kommt Ihr nach Eurem Ableben in Himmel oder Hölle?“, ich schwieg. Er nahm es als Antwort und stellte abermals den Kopf schief. Als würde er in mir forschen und nach Antworten, nach Geheimnissen suchen, drangen seine eisblauen Augen in meinen Geist. „Ich komme in die Hölle. Ich hab gemordet. Und auch wenn es…nur zu meinem eigenen Schutz war, so war es doch Mord, das weiß ich. Dieser Gedanke ist befreiend, findet Ihr nicht?“

„Nein.“, zischte ich bitter und sah weg. „Ganz und gar nicht.“

„Ihr klammert Euch an Eure Erziehung, Sullivan. Ihr macht Euch zu einer Marionette. Nein, Ihr lasst Euch dazu machen. Wenn Ihr einmal glaubt, in die Hölle zu kommen, gibt es kein zurück mehr.“, Nevar strich über das Holz neben sich. Ein wenig verträumt fuhr er fort: „Man wird jeden Tag daran denken. Und egal was man tut, man wird niemals wissen, ob man dem Himmel wieder gerecht wird. Sullivan.“, eindringlich sah der Fremde mich wieder an. „Ihr werdet davon nie mehr erlöst werden. Ihr werdet niemals erfahren, wohin Ihr kommt und ob es diese Orte wirklich gibt. Befreit Euch davon.“, schweigend hob ich den Blick und sah ihn an. Er hatte Recht und dieser Fakt ließ mich Schwäche fühlen. Ich wollte schlafen gehen und nie mehr mit ihm sprechen. Nevar stellte mich vor die Gedanken, die ich seit Wochen verdrängt hatte. Er fuhr ernst und leise fort: „Die katholische Kirche hat Macht über die Menschen, weil sie ihnen Angst macht. Angst vor dem Ungewissen. Der Mensch wird niemals wissen können, ob es das Paradies wirklich gibt und wenn ja, dann niemals, ob er dieses betreten darf. Diese Angst nutzt sie für sich aus und die Idioten folgen dem. Irgendwann wird es das nicht mehr geben. Menschen wie ich werden überall sein, Sullivan. Menschen die darauf pfeifen. Keine, die an andere Dinge glauben – Menschen, die an nichts glauben.“

„Das ist unmöglich.“, ich wurde skeptisch und schüttelte den Kopf. „Eine Welt, in der es keinen katholischen Glauben gibt, ist gar nicht möglich. Niemand würde mehr arbeiten, alle würden lügen. Die Welt würde untergehen.“

„Nein.“, Nevar verschränkte die Arme und schmunzelte amüsiert. „Irgendwann wird es keine Scheiterhaufen mehr geben. Und ohne diese Angst davor, wird es immer mehr geben, die nicht mehr in die Kirche gehen. Sonntagsmessen werden ablaufen wie Beerdigungen, die heilige Schrift wird in immer weniger Häusern vertreten sein, vielleicht wird man irgendwann sogar über die Kirche spotten und Witze machen über Gott und Teufel. Nicht heute, nicht morgen… Aber vielleicht in einhundert, zweihundert Jahren. Und dann merken sie daran, dass die Welt eben nicht untergeht, dass es auch ohne Gott und Teufel voran geht. Immer mehr wenden sich ab, Sullivan. Und Ihr solltet es auch tun. Ansonsten setzt Ihr Euch freiwillig in einen Käfig, aus dem Ihr nicht mehr hinauskommt.“

„Ihr seid ein Lästerer.“, flüsterte ich. „Ihr sprecht blasphemische Dinge und schämt Euch nicht einmal dafür.“, aber aufstehen tat ich nicht. Ich hätte hinausgehen müssen und beten für das, was ich gehört hatte. Stattdessen saß ich auf dem Bett und starrte ihn an, nicht glauben wollend, was ich da hörte.

Nevar schwieg einige Sekunden, dann zuckte er gelangweilt mit den Schultern.

„Wie oft habt Ihr einen Neuanfang versucht?“, ich antwortete nicht, sondern starrte ihm trotzig entgegen. Nevar genügte mein Schweigen. „Egal wie oft Ihr es noch probiert. Solang ihr es auf einem religiösen Gerüst aufzubauen versucht, wird es scheitern. Denn Eure Religion unterstützt diesen Neuanfang nicht.“

„Das weiß ich.“, seufzend sah ich auf das schwarze Buch in meinen Händen.

„Ihr habt Angst, dass Gott Euch strafen wird, wenn Ihr Euch abwendet. Vielleicht sagt Ihr es nicht offen, aber in Eurem Innern ist diese Angst vertreten.“, fuhr Nevar im Plauderton fort. „Und so lange das so ist, werdet Ihr Euch immer und immer wieder selbst an den Pranger stellen.“

Mit belegter Stimme fragte ich: „Und was schlagt Ihr vor?“

„Lasst das Thema Religion endlich sein und folgt den Wegen, denen ich folge. Ich kenne Euch zwar nicht gut, aber gut genug, um zu wissen, dass Ihr mehr könnt, als im Staub zu kriechen, wie ein Wurm.“

„Ich krieche nicht im Staub!“, zischte ich ihn etwas aggressiver an.

Nevar grinste etwas. „Ihr seht nicht so aus, als wärt Ihr stolz und ehrenhaft. Eher wie ein Lump, der vor einem Ofen schläft, den Boden wischt und Kartoffeln schält. Ist das Eure Version von einem freien Leben?“, er ließ seine Worte, indem er in aller Ruhe zum Schrank ging. Ganz nebenbei öffnete er ihn und warf das blutige Tuch vom Boden achtlos hinein. Dann schloss er die Tür leise und machte sich abermals an seinen Haaren zu schaffen.

Wütend starrte ich zu Boden. Es griff meinen Stolz an, dass er über mich redete, als wäre ich irgendein Bettler. Aber am meisten, dass es stimmte, was er sagte. Ich hatte mir Freiheit anders vorgestellt, ganz anders. Vor meinem inneren Auge war ich durch Wälder und Wiesen gestreift, hatte fremde Städte gesehen und die köstlichsten Speisen genossen.

In Wahrheit hatte ich mich selbst in ein Wirtshaus gesperrt und musste nun Männer in roten Röcken fürchten. Nevar glättete seine widerspenstigen Haare so gut es ging, leckte leicht seinen rechten Daumen und strich sich seine linke Augenbrauen gerade. Noch mitten darin vertieft sah er wieder zu mir. „Ich weiß nicht, was genau Ihr mit der Tollen vorhabt. Aber solltet Ihr es überleben, bin ich bereit, Euch zu helfen.“

Verwirrt starrte ich ihn an. „Was?“

Nevar richtete sich wieder auf und lehnte sich rücklings an das Fenstersims. „Ich frage Euch, ob Ihr Interesse habt, für mich zu arbeiten.“

„Wieso solltet Ihr das tun?“, erwiderte ich misstrauisch.

„Ihr seid einer der Gesuchtesten Männer. Ihr wisst es vielleicht nicht, aber O’Hagan gräbt die gesamte Stadt nach Euch um. Und er wird nicht Ruhe geben, ehe er Euch findet.“, Nevar sah kurz zur Kerze, als diese besonders stark flackerte. Doch sie blieb an und so sah er beruhigt wieder zu mir. „Er denkt, dass Ihr etwas besitzt, was ihm gehört.“

Verwirrt zog ich die Stirn kraus. „Was soll das sein?“

„Das weiß ich nicht.“

„Ich auch nicht.“

„Das wiederum weiß ich.“ Nevar kratzte sich den Nacken. „Wenn Ihr es hättet, wärt Ihr auf seine Verfolgung schließlich vorbereitet gewesen und hättet sicherlich nicht unmittelbar neben dem Rotrock gestanden. Jedenfalls seid Ihr aufgrund dessen sehr gefragt… Sagen wir, es wäre nicht in meinem Interesse, wenn er Euch jetzt schon kriegen würde. Hättet Ihr Interesse, für mich zu arbeiten?“, er sah mich an und ich starrte unsicher zurück. Die Dinge in meinem Kopf überschlugen sich etwas und mir fehlten die Worte. Ich wusste nicht einmal, was dieser Mann für eine Arbeit hatte, wie sollte ich ihm da helfen können? Mir war nur klar, dass er etwas nicht Legales tat und das könnte bedeuten, dass er Möglichkeiten für mich kannte, unterzutauchen. Allerdings gefiel mir seine Einstellung nur teilweise und seine offene Art und Weise weckte mein Misstrauen. Erst war er mir ausgewichen und hatte kein Wort gesagt und nun offenbarte er mir seine religiöse und politische Einstellung? Er gab mir Zeit zu antworten und als er merkte, dass meinerseits kein einziges Wort kam, nickte er verständnisvoll. „Es kommt plötzlich, das gebe ich zu. Vieles versteht Ihr nicht. Dies ist eines der wenigen Dinge, die Ihr in Kauf nehmen müsstet.“

„Was noch?“, schoss es aus mir heraus, ein wenig übereilt vielleicht. Wenn ihm mein Misstrauen nicht aufgefallen war, so hatte ich es ihm nun wohl mitten ins Gesicht geschlagen.

„Ihr werdet Aufträge erfüllen, von denen Ihr nur das Nötigste wisst. Seht es so: Umso weniger Wissen, desto weniger Risiko.“, dann wurde es schwarz im Raum. Der Docht der Kerze hatte sein Ende erreicht und die Flamme war mit einem leisen Zischen erloschen. Ich spürte, dass Nevar an mir vorbei ging und hörte, wie er eine neue zu suchen begann. Dafür tastete er den Schreibtisch ab, öffnete die linke Schublade und holte sie heraus. Es dauerte einige Sekunden, ehe er die Kerze auf den Ständer gesteckt hatte und auch entzündet. Er ließ sich allem Anschein nach Zeit. Nebenbei erklärte er völlig ruhig und leise: „Ihr habt mein Wort, dass Euch nichts geschehen wird, wenn Ihr Euch an alles haltet, was ich Euch sage. Zudem bekommt Ihr genug Geld, um davon leben zu können. Fünf Silberlinge pro Auftrag. Ich lasse Euch vorerst verschwinden, so dass die Rotröcke Eure Spur verlieren und Ihr dürft mit mir zusammen von hier fort gehen.“, die Kerzenflamme erhellte wieder den Raum und Nevar drehte sich zu mir. „Da Ihr keine Informationen kennt, seid Ihr für niemanden eine Gefahr und könnt jederzeit aus dem Geschäft aussteigen.“

Ich sah ihn an, dann zu Boden und murmelte: „Ich…bin nicht sicher.“

„Nehmt Euch ein paar Minuten. Noch habt Ihr Zeit.“

„Ihr setzt mich unter Druck, um ein schnelleres und womöglich falsches Ergebnis zu erzielen.“, flüsterte ich und stand auf. Entschlossen sah ich ihn an. „Ich sage nein. Mir ist gleich, ob Ihr mich tötet oder verratet oder sonst etwas in dieser Art. Ich möchte ein freies Leben, das ist wahr. Aber kein Leben als Verbrecher und das seid Ihr.“

Nevar ließ mich eine Zeit lang im Raum stehen und kurz wusste ich nicht, ob ich einfach gehen sollte. Dann stellte er sich aufrecht und sagte leicht amüsiert:

„Ihr zieht es in Erwägung, dass ich Euch umbringen könnte und dennoch sagt Ihr nein?“

„So ist es.“, ich nickte entschlossen. „Und allein die Tatsache, dass Ihr nicht widersprecht zeigt mir, dass Ihr ein Verbrecher seid. Vielleicht habt Ihr anfangs getötet, um Euch zu wehren, aber mittlerweile ist dem sicher nicht mehr so. Ehe ich nicht weiß, wer Ihr seid oder was Ihr tut, werde ich Euch auch nicht unterstützen. Erst wollt Ihr nichts von mir wissen, dann sucht Ihr plötzlich eine Partnerschaft?“

„Dann ist dies wohl Eure Entscheidung.“, Nevar wirkte weder enttäuscht, noch sonderlich überrascht. Er sah mich wartend an und wieder machten seine Augen mich unsicher. Sie waren berechnend und kalt und irgendwie fremdartig. Als wären es nicht seine Augen, sondern etwas ganz anderes. Eine Art höhere Macht, die nach mir griff und mich auseinander nahm. Er blinzelte nicht und ich schaffte es ebenso wenig. Ich fühlte mich schwach und nackt, wie ein hilfloses Bündel und wollte weg, einfach nur weg. Doch dem konnte ich unmöglich nachgeben. Ich hatte zu viele Fragen im Kopf und zu wenig Antworten erhalten.

Irgendwann ließ Nevar mich los und musterte die Flamme neben sich. Etwas erleichtert sank ich zurück auf das Bett. In meinem Innern zitterte ich und ich spürte, dass mir leicht fröstelte.

„Ich möchte noch etwas wissen.“, begann ich zögernd. Da Nevar mir keine Antwort gab, fragte ich irgendwann einfach: „Woher wisst Ihr diese Dinge von mir? Die Dinge, mit der Tollen? Und mit dem Rotrock, neben dem ich stand?“

Nevar wog den Kopf. „Ich war zufällig im Flur, als Ihr mit Jack gesprochen habt.“

„Ich habe geflüstert!“, zischte ich ihn an.

Amüsiert sah er mir entgegen. „Oh, habe ich gar nicht bemerkt.“

„Bitte macht Euch nicht über mich lustig, Nevar. Ich weiß Eure Künste zu schätzen und bin mir sicher, ihr beherrscht viel mehr, als ich bisher gesehen habe. Dennoch wäre es nur gerecht, mir wenigstens das zu beantworten!“

Er nickte nach einigem Überlegen. „Sagen wir, ich bekomme fast alles mit, was in diesem Haus hier passiert. Ich höre fast jedes Gespräch und kenne fast jedes Geheimnis. Das ist in meinem Geschäft einfach wichtig.“

„Was ist das für ein Geschäft?“, drängte ich ihn. „In was wollt Ihr mich hinein ziehen? Gehört Ihr einer Gilde an? Arbeitet Ihr wirklich nicht für O’Hagan?“, ich zeigte mit dem Finger auf seine überfüllten Bücherregale. „Was sind das für Bücher? Und was hatte die Karte von Annonce zu bedeuten? Bitte gebt mir doch bitte einen Hinweis darauf, wer Ihr seid oder was Ihr tut…! Wie sollte ich Euch da folgen können?“, doch Nevar gab keine Antwort, sondern sah mich nur geduldig an. Er hatte scheinbar keine Lust, sich ein weiteres Mal zu erklären und so wartete er, bis ich selbst begriff, dass er nicht antworten würde. Seufzend ließ ich den Kopf hängen und sah auf den Teppich. Seine rote Farbe war wunderschön und obwohl er sehr alt schien, hatte er etwas Adeliges.

„Alles, was Ihr wissen müsst, ist, dass ich heute Abend etwas erfahren habe, was mein Interesse an Euch weckte.“, sofort sah ich ihn wieder an, doch Nevar sprach bereits weiter: „Ich gebe zu, anfangs erschient Ihr mir nicht sonderlich interessant. Schon, die Rotröcke suchen die Stadt nach Euch ab, aber so etwas tun sie öfters. Heute jedoch habe ich etwas gehört, was mich Euch helfen lässt. Ich möchte Euch helfen, zu überleben. Für eine gewisse Zeit. Dass Ihr darauf nicht vertrauen könnt, weiß ich. Ich hätte Euch für einen Idioten gehalten, wärt Ihr ohne Zögern auf mein Angebot eingegangen. Aber mehr kann und werde ich nicht sagen. Und Ihr solltet es dabei belassen.“, Nevar schloss kurz die rechte Hand. Ich hörte, seine Finger leise knacken. Ohne von mir weg zu sehen, flüsterte er: „Hört auf zu fragen. Noch ist Euer Tod unwichtig für mich. Geht, so lange es noch so ist.“

Ich erhob mich langsam und nickte. „Und wie lange wird das noch so sein? Dass mein Tod unwichtig für Euch ist?“

Das brachte den Mann zum schmunzeln. „Ich denke, das werdet Ihr dann schon merken.“

„Und ich hoffe, bevor es zu spät ist.“, scherzte ich.

Er grinste nur und nickte Richtung Tür. Ich verstand den Wink. Langsam öffnete ich sie, ging hinaus und schloss sie hinter mir, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Kaum stand ich im Flur, begann mein Herz zu rasen. Ich war erleichtert, ungemein erleichtert. Wahrscheinlich hatte ich die ganze Zeit unterschwellig Angst vor ihm gehabt, wissen tat ich es aber nicht. Während des Heruntergehens sang die Treppe fast lauter, als die Türglocke, aber zumindest war die Küche angenehm warm. Ich setzte mich auf meine Decke, hielt die Hände vor die warme Ofentür und lauschte angespannt. Ich fand die gesamte Nacht kaum Schlaf, aus irgendeinem Grund fühlte ich mich in diesem Haus nicht mehr sicher. Erst einige Stunden später beruhigte sich mein Herz ein wenig, doch da war es bereits viel zu spät zum Schlafen. Die Sonne begann aufzugehen und von Jack gab es nirgends eine Spur. Ich war die ganze Nacht wach geblieben und das scheinbar völlig umsonst.

Kaum war die Sonne dabei alles zu erhellen, vernahm ich Philipps schwere Schritte. Seufzend erhob ich mich, um seinen unfreundlichen Tritten auszuweichen, mit denen er mich für gewöhnlich weckte. Er staunte nicht schlecht, als er sah, dass ich bereits wach war. Jedoch, zu meinem Vorteil, dachte er, ich wollte ihm damit meine Zuverlässigkeit beweisen.

Mit einem Stück Brot und einem Teller Brei setzte ich mich in die hinterste Ecke, stocherte herum und schlief samt einem Bissen in meinem Mund ein. Ich wurde erst wieder wach, als mich jemand unfreundlich, mehrmals am Arm ruckte. Irgendwann rutschte ich, knallte mit dem Gesicht auf die harte Tischplatte und war wach.

Im Schlaf hatte mich Nevar verfolgt und ich konnte nur erahnen, was er vor gehabt hatte. Selbstverständlich wusste ich es nicht zu hundert Prozent, jedoch gab er mir mehrere, gut deutbare Hinweise. Zum Beispiel schrie er immer wieder: „Ich bringe dich um! Ich bringe dich um, Sullivan O’Neil!“, wobei er mit einem blutigen Messer wedelte.

Umso erschrockener war ich, als der Wirtssohn mich mit seinen hellblauen Augen anstarrte und mit Nachdruck sagte: „Sir! Sir, so wacht doch endlich auf! Es ist dringend!“

„Was ist denn los?“, fragte ich heiser und rieb mir die schmerzende Stirn. Nur langsam registrierte ich, wo ich mich befand.

„Es geht um diese Mary-Ann!“, Jack saß vor mir, in der Kleidung der Rotröcke und starrte mich eindringlich an. Neben ihm lag sein beißend roter Hut. Ich sah ihm verständnislos entgegen und setzte mich langsam auf. Das Brot in meinem Mund war völlig vertrocknet und meine Mundinnenseiten waren filzig und spröde. Bevor ich antwortete nahm ich einen tiefen Schluck des Bieres neben mir. Es schmeckte schal und war wärmer, als ohnehin schon. Angewidert würgte ich es hinunter und hustete. Der Junge packte mich an den Schultern. „Sir, sie lebt! Aber nicht mehr lange…! Ich habe wie Ihr wolltet herum gefragt. Die Wachen am Tor haben für mich jene aus dem Gefängnis gefragt und die wiederum sagten, die Pest würde umgehen. Sie wollen sämtliche Tolle verbrennen, um ihre Seelen zu erretten!“

Nun war ich wach. Geschockt fuhr ich zusammen und erstarrte. „Ist das dein Ernst?! Das macht doch keinen Sinn!“

„Ja, O’Hagan soll die Papiere noch heute Abend unterzeichnen!“

Ich sprang auf und registrierte nur weit im Hinterkopf, dass es bereits mittags war. Ich hatte den gesamten Vormittag verschlafen und nicht einmal Philipp hatte sich die Mühe gemacht, mich zu wecken. Hals über Kopf wollte ich zur Tür hinausstürmen und ohne einen weiteren Gedanken zum Tollhaus rennen. Ich musste Mary-Ann retten, so schnell wie möglich!

Jack hielt mich fest. Er riss mich zurück und zischte: „Wartet! Sie werden Euch töten, wir müssen uns etwas ausdenken!“

„Dafür ist keine Zeit!“, zischte ich zurück und riss mich los. Verständnislos starrte der Junge mich an, aber wie sollte er auch verstehen? Er konnte nicht wissen, dass der Zuchtmeister nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, Mary-Ann zu verbrennen. Ihre Verhandlung hätte lange gedauert, viel zu lange und sicherlich hätte es hohe Kosten gegeben. Sie aufgrund von Pestverdacht mitzutöten war das idealste, was ihm passieren konnte! Doch ehe ich ein weiteres Wort an Jack zu richten schaffte, hörten wir Schritte. Nicht die eines einzigen Mannes und auch nicht die von Zweien oder Dreien. Gut zehn Leute kamen durch die Straßen und der Junge zischte: „Die Rotröcke!“

Panik überfiel mich und nun war ich ganz und gar nicht mehr denkfähig. Ich starrte zur Tür, dann zur Treppe und ohne zu zögern rannte ich hinauf.

Philipp kam gerade in den Schankraum, um mich zu warnen. Jack wollte mich zurückhalten und rief: „Nein, dort werden sie Euch finden!“, zu spät.

Die Tür zum schwarzen Kater wurde aufgerissen und die Katze darüber ertönte laut und schmerzhaft. Etwa zehn Rotröcke traten ein. Ich hechtete die Treppe hoch, wie ein Besessener und warf fast die Vase um, die in der Windung stand. Die Katze quietschte, als würden die Männer sie zerreißen, Stühle polterten, Tische schabten über den Boden und Männerstimmen lachten laut über den Lärm. „Bring uns dein bestes Bier!“, grölte einer von ihnen.

„Jack, mein Junge, sei so gut und bring uns Eure Suppe!“, ein anderer.

Und ein Dritter rief mit donnernder Stimme: „Los, fünf Mann nach oben. Wenn wir den Bastard erst einmal haben, dann können wir feiern, bis wir am Boden liegen!“

Noch ehe ich oben ankam, packte mich eine Gestalt und mit einem harten und festen Ruck knallte ich mit dem Rücken gegen die Wand. Nevar hatte mich am Kragen gepackt und sah mich ernst an. Er hielt seinen Finger vor seinen Mund, um mir zu deuten, still zu sein. Er trug wieder seinen pechschwarzen Umhang und ich erkannte sein Gesicht kaum. Schritte näherten sich und begannen hinauf zu gehen. Sofort starrten wir hinunter.

Wir hörten, wie Jack sie bat unten zu bleiben, da seine Mutter schlief. „Halt den Rand!“, schrie man ihn dafür an und dann krachte er wohl gegen einen der Tische, denn wir hörten ihn aufschreien.

Nevar zögerte nicht lange. Er riss mich mit sich und schlich eilig durch den Flur. So leise er war, so laut war ich. Eine weitere Tür ging auf, die mittige auf der linken Seite. Eine verwirrte, stark geschminkte Frau sah uns an – Jacks Mutter. Wie ihr Junge hatte sie helle, blaue Augen. Dazu trug sie eine rote Perücke, passend zu ihren roten Lippen auf blasser, gepuderter Haut. Ihr Dekolleté war bis zum Äußersten geschnürt und ihr rotes Mieder drohte zu platzen, wenn sie sich bewegte. Keiner von uns achtete aber wirklich auf sie. Nevar riss die Tür seines Zimmers auf, stieß mich hinein, folgte und schloss sie wieder. Dann blieb er mit dem Rücken zum Holz stehen und lehnte das Ohr daran. Keuchend sah ich ihn an und zischte:

„Wieso helft Ihr mir?!“

„Wieso nicht?“, er schloss ab, ohne sich umzudrehen und hockte sich vor den Teppich. Verwirrt sah ich zu, wie er die Ecke umschlug und durch ein winziges Loch im Boden sah. Ich verstand, wie er mich hatte beobachten und alles mitbekommen können. Dann blickte er auf und flüsterte: „Da unten ist die Hölle los, wir müssen einen anderen Weg nehmen.“ Tatsächlich hörte man lautes Poltern und Lachen. Die Soldaten randalierten in der Schenke wie es ihnen passte und verlangten nach Bier und Fleisch. Ich wollte mir nicht ausmalen, was für ein Chaos dort herrschte. Ruhig hob er eine andere Ecke an, sah auch dort durch und flüsterte mehr zu sich selbst: „In der Küche ist auch einer. Wenigstens hat Philipp Euer Lager versteckt.“

„Ich sagte, ich will nicht mit Euch zusammen arbeiten!“

Leise zischte er mir zu: „Ich will Euch nicht verlieren, dafür seid Ihr mir noch zu wichtig. Also werdet Ihr mitkommen, ob Ihr wollt oder nicht!“

Jemand rüttelte an unserer Tür und ich fuhr zusammen.

Nevar hingegen ignorierte es, stand auf und packte kleinere, wichtigere Sachen in einen schwarzen Sack. Ich starrte ihn ungläubig an, so viel Ruhe war mir unerklärlich. Man konnte hören, wie die Rotröcke die Zimmer absuchten und die Gäste aufscheuchten. Jacks Mutter schrie erschrocken auf, als man sie Beiseite stieß und damit begann ihr Hab und Gut zu verwüsten. Dann rüttelte es erneut an unserer Klinke. Sie versuchten hinein zu kommen, schafften es aber nicht auf Anhieb. Anschließend krachte es, da sie sich gegen das Holz warfen.

Panik stieg in mir hoch. „So beeilt Euch doch!“, drängte ich Nevar. „Sie sind jeden Moment hier!“, aber er ließ sich nicht hetzen, sondern befahl mir ruhig:

„Schiebt das Bett vor die Tür. Ich habe zu tun, wie Ihr seht.“

Ich gehorchte zögernd und mit großer Mühe. Hatte ich eine andere Wahl?

Das Gestell wollte erst nicht über den Teppich, dann nicht bis vor die Tür. Nachdem er alles gepackt hatte, machte er sich am Fenster zu schaffen. Nevar riss den Vorhang hinunter und öffnete die Fensterläden leise.

Es wurde etwas heller im Zimmer und ich erkannte das Haus gegenüber. Die Gasse auf dieser Seite des Gebäudes war eng, gerade mal einen Meter breit. „Kommt oder sterbt.“, sagte Nevar ruhig, warf mir den grauen Umhang zu und kletterte über das Sims hinaus. Jemand schrie im Flur, dass die Tür nicht aufginge und dass sie Hilfe bräuchten. Panisch sah ich zu ihr, dann zu Nevar, aber er war verschwunden. Ich ging nur zögernd zu dem Fenster hinüber und sah hinunter. Das Haus war wirklich nicht hoch, aber bei dem Gedanke daran, dass man nun scheinbar hinaus klettern sollte, erschien es mir um einiges höher. Meine Knie wurden weich und zitterten leicht. Ich spürte, wie kalter Schweiß sich an meinen Schläfen sammelte. Alles, was ich sah, war feuchter Boden und verriegelte Fenster. Das Haus gegenüber stand scheinbar leer. Nirgendwo war ein Rotrock zu sehen und auch keine Passanten. Dann sah ich nach rechts. Nevar stand auf dem Geschossgesims des ersten Stockes und winkte mir, ihm zu folgen. Noch ehe ich verstehen konnte, kletterte er weiter die Wand entlang. Ich schluckte schwer, schloss den Umhang und kletterte gehorsam hinaus. Das alte Gestein bröckelte unter meinen Füßen und ich spürte kleinere Steine in meine Fußsohlen stechen. Hätte ich Philipps Schuhe doch bloß zum Schlafen angelassen! Stattdessen hatte ich nun wunde Stellen von ihnen, so wie Blasen an Zehen und Hacken. Diese platzten auf, durch die von der Wetterung zerfressenen Bauteile. Unbeholfen klammerte ich mich an die Pilaster, die zwischen Dach und Sims angebracht waren. Auch diese bröckelten und ich musste mehrmals zupacken, ehe ich wirklich Halt fand. Ich wagte es nicht nach oben zu sehen. Der Wind blies mir um die Ohren und mit jedem Schritt wurde mir schwindeliger. Als ich mich traute, den Blick nach links zu wenden, erkannte ich Nevars flatternden Umhang. Er hatte ein Seil erreicht, das nach oben zum Dach ragte. In kleineren Abständen war es verknotet, so dass man es als provisorische Leiter nehmen könnte – und zu meinem Schrecken tat er das auch. Nevar begann daran hinauf zu klettern.

Als auch ich das Seil erreichte, starrte ich ungläubig nach oben. Meine Haare versperrten mir die Sicht und meine Hände drohten loszulassen.

Nevar hockte auf der Rinne des Daches und hielt mir die Hand entgegen. Dadurch, dass das Gebäude ein Walmdach hatte und er unter einer der Traufseiten hockte, wirkte die Höhe umso imposanter für mich. Ich musste den Kopf senken und schloss die Augen. Verzweifelt klammerte ich mich an die Wand und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Mein Körper war völlig bewegungsunfähig.

„Sullivan!“, zischte er mir zu. „Nun kommt schon!“

„Ich kann nicht!“, flüsterte ich heiser und kniff die Augen zusammen. „Ich kann da nicht hoch!“

Nevar hörte mich nicht, aber er konnte sich denken, was ich sagte. Dann krachte etwas laut.

Die Rotröcke hatten die Tür endlich durchbrochen und ein rotes, braunhaariges Gesicht sah zum Fenster hinaus.

„Da ist er!“, brüllte der Mann. Ich zuckte so sehr zusammen, dass ich fast abrutschte und instinktiv das Seil umklammerte. Hilflos starrte ich den Rotrock an, dann hinauf. Nevar war verschwunden. „Rühr dich nicht vom Fleck!“, brüllte mir mein Jäger entgegen, dann nahm er unbeholfen meine Verfolgung auf. Wie gelähmt starrte ich ihm entgegen. Der Rotrock folgte meinem Beispiel und kam immer näher, doch er war wesentlich dicker als ich. Immer wieder verlor er fast das Gleichgewicht und wenige Meter vor mir gab er fluchend auf und wollte zurück. Sein Bauch ließ es nicht zu, dass er sich umdrehte. Hätte er sich falsch bewegt, wäre er in die Tiefen gestürzt.

Da ich das Seil unmöglich hinauf klettern konnte, ohne hinunter zu stürzen, kroch ich weiter nach links, bis ich das Wandende fast erreichte. Unter mir befand sich weit unten eine tiefe, schmale Mauer. Daneben bog das Haus ab zum Hinterhof, in dem der Heuwagen stand. Würde ich den erreichen, dachte ich, könnte ich hinein springen und vielleicht fliehen. Ein weiterer Rotrock schaute hinaus und erkannte mit Schrecken, was sein Kollege dort trieb. Doch statt auf deren Hilfeschreie zu hören, verschwand sein Kopf wieder. Ohne Frage würde er nun die anderen von meiner Flucht in Kenntnis setzen und nicht mehr lange, dann würden auf dem Boden sämtliche Soldaten versammelt sein.

Hilflos klammere ich mich an das Seil und sah erneut nach oben. Die Sonne wurde immer schwächer, der Himmel immer dunkler. Mir kam es vor, als wär dies ein Zeichen für mein Ende. Schritte waren zu hören und wurden immer lauter, anschließend rief jemand direkt unter mir:

„Da oben ist der Mistkerl!“

Ich schloss die Augen wieder und blendete alles aus. Jetzt ist es vorbei, jetzt ist es zu Ende. Ich würde fallen und sterben und wenn nicht, dann im Laufe der nächsten Tage. Mary-Ann mit mir.

Etwas flog unmittelbar neben mir gegen die Wand und Putz rieselte in kleinen Staubwolken hinunter. Die Rotröcke lachten und suchten neue Steine, um mich hinunter zu holen. Zwei andere machten sich auf den Weg, Bogenschützen zu organisieren.

„Komm runter!“, brüllte einer zu mir hinauf. „Wir haben was für dich!“

Etwas hartes traf mich in den Rücken und ich rutschte ab vor Schmerz. Meine Füße verloren den Halt, der Stein unter mir gab nach und meine Hände packten instinktiv nach dem Seil. Verzweifelt versuchte ich mit den Füßen Halt zu finden, aber immer wieder rutschte ich ab und immer neue Steine krachten laut zischend neben mir in die Mauer. Mein ganzes Körpergewicht war gegen mich. Es zog mich in die Tiefe und ich musste alle Kraft aufbringen, um mich wieder hoch zu ziehen. Doch kaum stand ich aufrecht, sackte ich erneut nach unten. Es half alles nichts, ich musste hinauf. Irgendwie musste ich es schaffen!

Dann gab das Sims nach.

Erst bröckelte es nur, gefolgt von einer großen Staubwolke und ehe ich mich versah, hing ich schreiend in der Luft. Das Seil schnitt mir ins Fleisch, aber ich konnte nicht los lassen. Die Rotröcke brüllten erschrocken auf, als das Gestein sich über ihnen ergoss. Sie verfluchten mich lautstark und der Steinregen wurde härter.

Der Fette Soldat neben mir brüllte immer lauter: „Holt ihn endlich herunter, ihr Idioten! Der haut ab!“, auch er versuchte wieder an mich heran zu kommen. Seine dicken Finger suchten nach mir und wollten meinen Umhang zu fassen bekommen.

Ich hatte dafür keinen Gedanken frei, meine Aufmerksamkeit galt nur dem Knoten vor mir. Ich umklammerte ihn und schwankte hilflos hin und her. In meinem Kopf herrschte Chaos. Panikattacken und –visionen von ausgekugelten Schultern und abgerissenen Oberarmen machten mir Angst und ich fürchtete, mein Körper würde mich zerreißen. Wie ein Käfer auf dem Rücken strampelte ich, aber das Seil war nicht lang genug, als dass ich es mit den Füßen berührt hätte. Dann fasste ich Fuß. Mit der wunden Sohle berührte ich die Wand, stützte mich hoch und griff das Seil etwas weiter oben. Ein Stein, ein Schrei und ich rutschte ab. Erneut schrie ich, als ich mit dem Fuß gegen die bröckelige Stelle knallte und mir den Nagel des großen Zehs einriss. Er war übergeklappt und der Schmerz schoss mir wie Blut in den Kopf. Verzweifelt versuchte ich es erneut.

Dann erkannte ich im Augenwinkel sich nähernde Bogenschützen. Sie sahen sich verwirrt um und ließen sich hektisch zeigen, wie ich die Flucht versuchte. Immer mehr Steine trafen mich und die Bogenschützen bezogen Stellung. Sie waren nervös und unbeholfen, scheinbar waren nur junge Soldaten in der Nähe gewesen und dies war ihr erster Einsatz.

Mir genügte allein die Aussicht auf einen Pfeil im Rücken um mir noch mehr Panik zu machen – ganz gleich wie erfahren die Schützen waren. Ich zog mich immer weiter hoch, Stück für Stück, rutschte ab und schnitt mir tiefer in die Handflächen. Ich hatte das Gefühl sie würden bald vollends durchgeschnitten sein und meine Finger fielen dann in die Tiefen. Alle vier auf einmal, wie ein makaberer Kamm. Nach den etwa zwei Metern bekam ich die Rinne zu fassen, klammerte mich fest und merkte, dass ich nicht kräftig genug war, mich hoch zu ziehen. Ich hatte weder die Muskeln, noch die Übung von Nevar. Hilflos gab ich mir alle Mühe, nicht los zu lassen. Zu meinem Nachteil hatte es in der Nacht geregnet. Das Moos der Rinne war feucht und löste sich unter meinen Griffen. Ich rutschte und musste erneut zupacken, was mich immer mehr Kraft kostete. Ein besonders harter und spitzer Stein schoss mir ins Kreuz. Ich wimmerte leise vor Schmerz, schloss die Augen und gab auf.

Ich schaffte es nicht hinauf zu kommen. Nevar war viel schneller, stärker und besser als ich, in so vielen Dingen. Niemals könnte ich seinen Stand erreichen. Und ohne diesen Stand war ein Sieg gegenüber den Rotröcken unmöglich. Ich hätte Ja sagen sollen. Ich hätte ihm folgen und begleiten sollen, ohne Fragen zu stellen. Wie viel hätte ich gelernt…! Wie viel hätte ich eines Tages gekonnt…!

Nun war es zu spät. Ich hatte ihm gesagt, ich wollte seine Hilfe nicht und er hatte es akzeptiert. Das Seil war das Mindeste gewesen, allein schon seine Flucht ins Zimmer. Mehr konnte ich nicht von Jemandem erwarten, mit dem ich keine Zusammenarbeit wollte.

Ein Pfeil schoss durch die Luft, dann rammte sich dessen Spitze nur wenige Millimeter neben meinem Ohr ins Holz.

„Nicht auf den Kopf, du Idiot!“, wurde der Schütze angefahren. „Wir brauchen ihn lebend!“

„Ich gebe auf…“, flüsterte ich leise. Meine linke Hand ließ nach, ich hatte keine Kraft mehr. Egal wie oft ich die Rinne neu packte, sie erschien mir nur umso rutschiger und schwerer zu greifen. „Ich gebe auf!“

Dann ließ ich los.

Tote Rote und noch mehr Tote

Kaum hatte ich mit der linken Hand losgelassen, packte mich jemand am rechten Handgelenk. Man zog mich mit aller Kraft und mit aller Mühe hinauf. Ich war geschwächt und zitterte vor Angst und Verwirrung, so war ich nicht in der Lage meinem Retter irgendwie zu helfen. Die Rinne drückte mir schwer gegen die Brust und Pfeile hagelten durch meine hilflos zappelnden Beine. Ich hörte sie ins Gestein schießen und wie unten Hektik ausbrach, als ich mein Ziel scheinbar erreicht hatte.

Lange lehnte ich auf dem Bauch, ehe ich mich auf den Rücken rollte und Nevar keuchend ins Gesicht starrte. „Ihr seid…noch da?“, flüsterte ich dabei fast tonlos. Er grinste nur und blieb neben mir stehen. Wie ich war er an das schiefe Ziegeldach gelehnt. Zwischen den Tonteilen befanden sich Dreck und Moos und ich hatte Angst, würde ich mich bewegen, würde ich samt Überdachung in die Tiefen stürzen.

Der Boden war für mich nicht mehr sichtbar. Alles, was ich erkannte war die Rinne, verunstaltet durch mein unbeholfenes Gehampel.

Dann begannen die Schmerzen mir langsam bewusst zu werden. Stöhnend sah ich auf meinen blutigen Zeh, dann auf meine geschundenen Handflächen. Es wollte nicht aufhören zu brennen und ich wagte es nicht, die Hände zu schließen. Nevar musterte die Wunden kühl, ehe er leise sagte: „Es sieht schlimmer aus, als es ist.“

„Wieso habt Ihr mir nicht geholfen?“, als ich ihn ansah merkte ich, wie verschwommen mein Blick war. Durch die Anstrengungen waren mir Tränen in die Augen gestiegen. Zu meiner Erleichterung begann es leicht zu regnen, weswegen die wenigen Tränen nicht weiter auffielen. Nevar sah zum Rand, über welchen ich gekrochen war.

„Das habe ich. Keiner weiß, dass ich hier bin. Ein Vorteil. Sie suchen Euch, nicht mich. Zieht Euren Umhang aus.“

Von unten her drang lautes Rufen nach oben. Die Rotröcke suchten einen Weg hinauf zu kommen und umstellten das Gebäude. Uns blieb nicht viel Zeit und egal wohin wir gehen würden, sie würden uns dabei sehen. Es gab keinen Weg ins Innere des Hauses und selbst wenn, würden auch dort bereits Rotröcke auf uns warten.

Zitternd gehorchte ich. Es fiel mir schwer, meine Hände traute ich kaum zu benutzen und der Wind versuchte mir den Stoff zu entreißen. Nevar half mir, so gut es ging, warf mir seinen schwarzen um und schloss ihn mit einem schnellen Griff. Dann schlüpfte er selbst in den grauen. Ich ließ ihn gewähren. Ich war kraftlos und müde, das Adrenalin ließ nach und betäubte mich nun. Weiter entfernt erkannte man die Rotröcke. Wie Ameisen rannten sie alle zum schwarzen Kater. Scheinbar war jeder darauf aus, den Triumph zu feiern, mich in die Hände zu bekommen. Verzweifelt schloss ich die Augen. Das darf doch alles nicht wahr sein…

Nachdem Nevar wieder verhüllt war, griff er mich an der Schulter und steckte mir ein Messer in die Hand. Ich umfasste es, als würde der Schmerz mich bei Bewusstsein halten und sah ihn verständnislos an

„Wir würden jeden Kampf verlieren!“

„Wir werden nicht kämpfen.“, erklärte er ruhig. Ein paar Pfeile flogen hinauf und verfehlten uns meterweit. Scheinbar versuchten die Schützen blind ihr Glück, uns zu treffen. Nevar ignorierte es und sah mich eindringlich an. „Hört mir gut zu… Ich werde jetzt fliehen, über die Dächer. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sie mir folgen. Ihr wartet hier, Sullivan.“

„Aber-…“

„Still, hört zu.“, er sah kurz zum Dachrand, dann wieder mich an. „Ich werde sie weg locken. Und ihr wartet, bis es ruhiger ist. Dann folgt Ihr den Dächern in die entgegen gesetzte Richtung.“, Nevar zeigte mit seinem Finger in Richtung Süden. Dort hinten lag das Kloster. Man konnte durch manche der Häuser den Fluss sehen und wenn man die Augen zusammen kniff und den Rauch der Schornsteine ignorierte, dann sogar das Kreuz des großen Gebäudekomplexes. Aber vorher kamen endlos viele Häuser und alte Gemäuer, zwei Wachtürme und mehr, viel mehr. „Seht Ihr die Kirche?“, fragte er eindringlich.

Ich nickte, selbstverständlich sah ich sie. Nicht weit entfernt, nur einige Häuserblöcke weiter stand die St. Elena Kirche, ein altes Gemäuer in grauer, fast hellbrauner Farbe. Der quadratische Turm war im Dach des Haupthauses eingearbeitet und an jeder Ecke mit säulenartigen Gebilden versehen. Sie endeten Spitz, genauso wie der hohe Turm, an dessen höchster Stelle, direkt über den Glocken, das riesige Kreuz prangte. Am anderen Ende des Gebäudes und auch in der Mitte des Hauptgebäudes war abermals je ein Kreuz angebracht.

Nevar ließ mir kurz einige Sekunden durchzuatmen, ehe er mir erklärte: „Dort geht Ihr hin, sobald es hier ruhiger ist. Ihr folgt den Dächern, bis zu dem schwarzen Dach, kurz vor der St. Elena. Dort gibt es ein Loch im Dach, über welches Ihr hinein klettern könnt. Verlasst das Gebäude durch den Hintereingang und wartet vor der Kirche auf mich.“

Er wollte sofort aufbrechen, ohne auf eine Antwort zu warten, doch ich packte ihn zitternd am Arm und starrte ihn an. Diesmal verlangte Nevar nicht, dass ich ihn los ließ. Geduldig drehte er sich zu mir.

Leise zischte ich: „Ich muss zum Tollhaus…!“

„Das geht jetzt nicht.“, er löste sich und wollte gehen, doch ich packte Nevars Umhang. Verzweifelt flüsterte ich:

„Nevar, bitte, ich muss zum Tollhaus! Gibt es einen anderen Weg?“

Zögern.

Die Soldaten brachten langsam Ordnung in ihre Lage und verteilten sich systematisch an den wichtigsten Plätzen. Ich sah den mir eigentlich völlig Fremden an und hielt seinen blauen Augen stand. Unmöglich konnte ich nun mein Leben retten und Mary-Ann einfach im Stich lassen. Auch Nevar verstand das scheinbar. Er schien meine Gedanken zu erahnen, seufzte und zischte mir leise zu: „Nein, es gibt keinen anderen. Folgt meinen Anweisungen und geht von dort aus, wohin Ihr wollt. Ich werde sie ablenken.“

„Wieso tut Ihr das für mich?“, wollte ich wissen. Meine blutige Hand ließ seinen Stoff nicht los.

„Ich will wissen, wieso Ihr so wertvoll für O’Hagan seid. Und im besten Falle Profit draus schlagen. Mehr nicht.“, mit einem Ruck befreite er sich und nickte zum Messer. „Benutzt es, wenn es drauf ankommt.“

„Werdet Ihr mir nicht helfen?“

„Ich habe genug geholfen.“

Das war alles, was er sagte. Hilflos sah ich zu, wie er über das Dach schlich, bis zum äußersten Rand. Im Gegensatz zu mir zitterte Nevar nicht im Geringsten. Auf den letzten Schritten beschleunigte er und sprang. Ziegel rieselten hinunter, die Soldaten riefen „Da oben!“ und ehe ich mich versah, schossen Pfeile in die Luft. Nevar landete krachend auf dem Dach des gegenüber liegenden, leer stehenden Hauses. Dort richtete er sich auf und sah hinunter. Sein Umhang wehte im Wind, sein Gesicht war durch die Kapuze verborgen und dann blähte der Stoff sich auf. Er sah aus wie ein riesiger, schwarzer Rabe. Ein schwarzer Geist, ein böser Dämon... Stolz und unnahbar, imposant.

Der dicke Rotrock, der noch immer unbeachtet auf dem Sims stand und nach Hilfe rief schrie auf, als ein Messer sich in seinen Rücken bohrte. Dann hörte man einen dumpfen Aufprall. Nevars Angriff brachte die Soldaten in helle Aufregung und alle schrieen durcheinander ihre Befehle und Ideen. Als sie dann sahen, wie der geglaubte Sullivan O’Neil sich davon machte, rannten sie wie losgelassene Hunde hinterher. Irgendwann musste er schließlich hinunter kommen, richtig?

Ich an meiner Stelle jedoch blieb nur reglos stehen, starrte ihm nach und fühlte mich unvorstellbar schwach. Ohne Nevar an meiner Seite erschien mir die Sache gescheitert, ehe ich es auch nur versucht hatte. Erst nach etwa zehn Minuten wagte ich es, mich vom Dach zu lösen und umzudrehen. Mit dem Bauch an den Ziegeln rutschte ich schräg Stück für Stück zum hinteren Teil des Hauses. Wieder sah ich den Heuwagen, wieder war die Verlockung groß, aber ich riss mich zusammen. Bis zur Kirche waren es zu Fuß etwa dreißig Minuten, da konnte der direkte Weg über die Dächer nicht länger dauern.

Dieser Gedanke stellte sich als falsch heraus. Allein, mich zu überwinden, meinen Körper aufrecht zu stellen beanspruchte mehrere Minuten.

Der Regen wurde stärker und die Dächer rutschiger. Stellen, die brüchig aussahen, wich ich aus und nicht selten musste ich zurückklettern, weil ich keinen Übergang zu einem der anderen Dächer fand. Bald sah ich ein, dass Ausweichen nichts brachte. Ich musste über diese Stellen, es führte kein Weg drum herum, also krabbelte ich fast in der Hocke, lauschte dem Knacken des Tons und des Holzes und betete, dass das Dach nicht unter meinen Füßen nachließ. Mit jeder Minute wurde ich etwas sicherer, dennoch kam ich an Nevar nicht ansatzweise heran. Ich musste ab und an Pausen machen und durchatmen, zudem durchnässte mich der Regen ungemein. Schweiß floss viel, Blut jedoch auch und mir fröstelte es ununterbrochen. Meine offenen Hände wurden noch mehr in Anspruch genommen und ich schrammte mir Knie und Ellenbogen auf beim Klettern. Würde ich das Tollhaus wirklich erreichen, dann nur als nutzloses Wrack, dachte ich. Leider fand ich nirgendwo eine Möglichkeit hinunter zu kommen und wenn, dann nur zwischen lauter Passanten, die sicher nicht nur zusehen, sondern auch Hilfe rufen würden. Unmöglich konnte ich einfach so vom Dach springen. Vielleicht hatte man ja etwas von dem Aufruhr mitbekommen? Wenn es Leute gab, die eins und eins zusammenzählen konnten, war es aus.

Mehrmals benutzte ich Bretter um Gassen zu überqueren, irgendwann wagte ich sogar kleinere Sprünge. Gut eine Stunde kletterte ich über der Stadt herum. Als kleines Kind hatte ich mir solche Wanderungen immer traumhaft vorgestellt: Ausblick aufs Meer, herumschleichen wie ein Dieb und keiner sieht oder hört einen. Man kann alles und jeden beobachten und die Menschen wirken wie Ameisen. In Wahrheit aber war das Meer hinter dicken Rußwolken der Schornsteine verdeckt, die mich zum Husten brachten und die so tief liegenden Mengen zeigten mir, wie gefährlich mein kleiner Ausflug war.

Als ich das katholische Gebäude endlich direkt vor mir erblickte, atmete ich auf und stöhnte vor Erleichterung. Ich war auf dem schwarzen Dach, von dem Nevar gesprochen hatte, nach einer gefühlten Ewigkeit. Der Regen lief in kleinen Rinnsalen über die Ziegel, schlängelte sich hindurch und zog immer mehr der Tropfen in seine Strudel hinein. Ich suchte die dunklen Tonstücke mit den Augen ab, nach einer Stelle, an der das Moos geringer war oder der Teer weniger vertreten, dann entdeckte ich eine Holzluke. Es fiel mir schwer, sie zu öffnen, das Holz war aufgeweicht und splittrig. Als ich es dann anhob, gaben die Ablagerungen an den Rändern leise, schmatzende Geräusche von sich. Dadurch, dass die Sonne verschwunden war, konnte ich nur wage eine steile Holztreppe erkennen. Zögernd kletterte ich hinab.

Im Innern des Hauses war es dunkel und still. Man hörte nur den Regen, wie er auf das Dach trommelte und an manchen Stellen auf den Boden tropfte. Nachdem ich die Luke geschlossen hatte, klang es hohl und entfernt. Eine Zeit lang stand ich nur schweigend da. Nichts regte sich und so konnte ich warten, bis meine Augen sich an das wenige Licht gewöhnten. Bei dem Raum handelte es sich um ein ehemaliges Schlafzimmer. Es gab ein verrottetes Bett und einen zusammen gebrochenen Tisch. Daneben stand ein Stuhl, schneeweiß durch den Staub und die Vorhänge, die die Treppe verdeckt hatten, waren durchlöchert und voller weißer Schimmelflecken. Muffiger Geruch, Spinnweben und leises Miauen von Katzenjungen erfüllten das gesamte Gebäude. Langsam ging ich die Treppe hinunter in das oberste Stockwerk und sah mich um. Jedes noch so kleine Stück Holz knarrte und quietschte, die Deckenbalken bogen sich in alle Richtungen, die Fensterläden wackelten im geringen Wind und der Staub tanzte in den Lichtscheinen, der durch die Ritzen und Löcher drang. Das gesamte Haus war lebendig und tot zugleich. Als hätte es ein Eigenleben. Ein verwunschener und vergessener Ort.

In der hintersten Ecke saß eine kleine, schwarze Katze mit grünen Augen und einer weiß gefärbten Nase. Eine stille Bewacherin., dachte ich, denn zu ihren Pfoten waren fünf kleine, plüschige Fellknäuel, die leise maunzten und ihre Köpfe nach oben streckten. Sie waren gerade mal so groß, wie meine Hand. Zu Schlitzen geformte Augen mit rosa Nasen suchten den Schutz ihrer Mutter vor dem gruseligen Regengeräusch. Als ich näher trat, fauchte diese und ihr Fell sträubte sich. Mit einem Mal waren ihre grünen Augen fast vollkommen schwarz. Ihre Ohren klappten nach hinten und sie duckte sich drohend.

Abwehrend erhob ich die Hände. „Keine Angst. Ich will nur vorbei.“

Dann schlich ich in eiligen Schritten weiter und suchte den Weg nach unten. Die Treppe ins Erdgeschoss befand ich an der hintersten Raumecke. Sie war ein altes Gestell, älter noch als jene vom schwarzen Kater. Das Geländer hatte Löcher und Bruchstellen, manche Stufen fehlten bereits und der Pfosten, der das Geländer halten sollte, war verschwunden. Vielleicht hatten Kinder ihn gestohlen oder er wurde für ein anderes Haus verwendet. Jedenfalls war es kein Kinderspiel, hinunter zu kommen. Weder konnte man sich halten, noch konnte man sich auf die Dielen verlassen. Als ich es nach langsamen Schritten geschafft hatte und wieder auf sicherem Boden stand, befand ich mich in der Küche. Nichts zeugte mehr von Leben. Der Ofen war kalt und sämtliche Einrichtungsgegenstände hatten in neuen Haushalten ihren Platz gefunden. Es führte nur ein kleines Fenster zur Straße hinaus, gleich daneben war die Tür, beide waren vernagelt und mit Brettern verschlossen. Weiter hinten jedoch gab es ein Loch in der Wand. Es war nur sehr niedrig, aber als zweiter Ausgang gerade groß genug.

Ich beschloss zu warten, bis der Sommerregen nachließ und setzte mich auf den Boden. Den Umhang hatte ich vor mir auf dem Boden ausgebreitet, damit er trocknen konnte. Mit angezogenen Beinen saß ich da, ruhte mich aus und lauschte. Die Stadt war wie tot. Alle flüchteten vor dem Wasser, das die Exkremente und den Unrat von den Straßen spülte. Aber sobald er aufhörte, würden alle wieder aus ihren Häusern kommen, um ihren wenigen Freuden nachzugehen: Der Markt, die Läden, Unterhaltungen mit den Nachbarn oder singende Zigeuner am Straßenrand. Ich nutzte jede Minute, um Kraft zu tanken. Die fast zwei Stunden, die ich gebraucht hatte, um vom schwarzen Kater hier her zu gelangen, erschienen mir wie Tage. Insgeheim hoffte ich, Nevar würde an der Kirche sitzen, wenn ich hinaus kam. Doch ehe ich diese Hoffnung überprüfen konnte, bemerkte ich eine Bewegung in der hintersten Ecke. Sofort drehte ich den Kopf und erschrak fürchterlich, als Nevar sich aus dem Schatten löste. Instinktiv griff ich mir ans Herz und fluchte: „Verdammt, erschreckt mich doch nicht so!“

Der Mann grinste. Er trug den grauen Umhang, doch durch den Regen und die Dunkelheit war dieser nun leicht schwarz. In aller Ruhe setzte er sich neben mich auf den Boden. „Ihr lebt ja noch. Ihr habt so lange gebraucht, ich dachte, ihr liegt irgendwo auf der Straße zwischen Ziegeln.“

„Scheint so. Und ich werde trotzdem nicht mit Euch gehen.“

„Noch nicht. Ich kann warten.“, schwer seufzend sah ich wieder vor mich, dann registrierte ich in den Augenwinkeln etwas rötliches. Unsicher sah ich auf seine Hände. Nevar hatte wie ich die Beine angezogen, jedoch weitaus niedriger, so dass er die Ellenbogen auf die Knie stützen konnte. Er trug schwarze Handschuhe, fingerfrei und eben dort war er voller Blut. Als ich ihm ins Gesicht sah, blickte er mich seelenruhig an. Als würde er wissen, was in meinem Kopf vorging, erklärte er:

„Meine Wunde ist aufgerissen. Außerdem musste ich drei Rotröcke loswerden.“, ich antwortete nicht, sondern sah wieder vor mich auf den Boden. Nach einer Weile sagte der Mann neben mir, zum Fenster sehend: „Das Leben ist eine interessante Sache, nicht wahr?“

„Ich habe Euch nicht gebeten, Euch neben mich zu setzen.“, flüsterte ich bitter. Mir war nicht danach, mit ihm zu sprechen. Zumindest nicht über das Leben. Zwar hatte ich mich über langweilige Tage beschwert, aber dieser Tag war bereits jetzt viel zu viel. Ich kämpfte mit dem Drang, mich hinzulegen und zu schlafen. Was kümmerte mich Mary-Ann? Nevar ignorierte meine Antwort. Er sprach leise weiter, als wäre er nie unterbrochen worden und als würde er abdriften in eine ferne Gedankenwelt:

„Es kann so lang sein und so verschieden. Und mit einem Schnippen nur ist es vorbei.“

„Was soll das?“, flüsterte ich müde. „Mir ist nicht nach philosophieren.“

„Ich denke nur nach. Wenn ich ehrlich bin, kümmere ich mich nicht wirklich darum. Aber manchmal frage ich mich, ob es rechtens ist, Menschen zu töten, um einen Mord zu verhindern. Ich denke, nein. Trotzdem tue ich es. Menschen sind für mich wertlos. Ihr, Ich. Am wenigsten haben für mich jene Wert, die ich nicht kenne.“

„Deswegen wollt Ihr wohl auch niemanden kennen.“, ich verdrehte leicht die Augen, da ich um eine Unterhaltung wohl nicht drum herum kam.

Nevar wog den Kopf. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was meint Ihr dazu, Sullivan?“

Für einen Moment wurde der Regen stärker. Die Tropfen schlugen förmlich auf das Dach ein und das Miauen über uns wurde lauter. Ich schloss die Augen und verdrängte Kais Hinterkopf aus dem meinen. Dann flüsterte ich: „Wenn es um einen selbst geht, denke ich, ist es gut, zu töten. Man verteidigt sich nur.“

„Außer man greift an, bevor man angegriffen wird?“, Nevars Blick wandte sich forschend zu mir.

„Vielleicht.“, seufzte ich leise.

„Und wenn Ihr diese Leute näher kennen würdet? Stellt Euch vor, ich tue Philipp aus einem Versehen heraus etwas an. Ein Unfall. Und bringe Jack um, ehe er mich umbringen würde, aus Rache heraus.“

„Das wäre nicht Rechtens.“

„Weil Ihr ihn näher kennt, nicht wahr?“, Nevar schmunzelte leicht. „Wenn Ihr die Menschen kennt, ist Euch das Leben etwas wert. Wenn nicht, sind es eben nur Menschen. Ihr meint also, Ihr wisst, was Gut und Böse ist. Ihr wollt zum Tollhaus und Eure Freundin retten, richtig?“, ich nickte nur. „Habt Ihr schon mal überlegt, ob sie das überhaupt möchte? Solch ein Eingriff in Ihr Leben?“

„Wie meint Ihr das?“, verwirrt sah ich ihn an.

Nevar erwiderte meinen Blick fast anteilnahmslos. Er hatte seine Kapuze zurück geschlagen und nur sein rechtes Auge wurde vom Licht beleuchtet.

„Wie lange ist sie bereits dort?“

„Etwa fünf Jahre? Vielleicht mehr.“

„Das meine ich.“, er stellte den Kopf schief, wie so oft. Als würde er versuchen, mir die Worte direkt in den Kopf zu pflanzen, damit ich sie auch verstand. „Sullivan. Diese Frau hat viel ertragen. Mehr, als Ihr, weit mehr. Sie wird nicht lebensfähig sein.“

„Sie ist nicht verrückt!“, protestierte ich. „Nur durcheinander.“

Der Mann nickte und sah wieder zum Fenster. Nachdenklich murmelte er: „Mir ist es gleich, was Ihr tut. Aber Ihr solltet wissen, dass Ihr vor einer Entscheidung steht, die nicht einfach ist. Gott oder Teufel, Sullivan?“, dann sah er mich wieder an. Etwas leiser zischte er ruhig und mit einer langen Pause: „Himmel… Oder Hölle?“

Auch ich begann zu flüstern, ohne es zu merken. „Was meint Ihr...?“ Verständnislos suchten meine Augen in seinen blauen Pupillen.

„Ihr habt ein Gottesurteil hinter Euch, träumt Ihr oft davon?“, als ich nickte, fuhr er fort und unterbrach mich, ehe ich sprechen konnte: „Sie hat mehr hinter sich. Und auch sie wird träumen.“

„Aber es geht ihr gut.“

„Ja, weil sie betäubt wird. Mehr aber auch nicht. Wenn sie nicht verrückt ist, wird sie spätestens in der Freiheit verrückt werden, Sullivan. Die Erinnerungen werden sie um den Verstand bringen, die Schmerzen ebenso.“

„Ich rette ihr das Leben!“, zischte ich ihn wütend an.

Kalt erwiderte Nevar: „Und gleichzeitig bringt Ihr sie um.“ Dann stand er auf. Ich sah nicht an ihm hoch, sondern wieder schweigend vor mich. Während er aus seinem Umhang schlüpfte, ihn neben mich legte und seinen Schwarzen wieder anzog, erklärte er leise:

„Ich weiß nicht, ob es Euren Gott gibt, Sullivan. Doch wenn Ihr wirklich diesem fantastischen Irrglauben nachhängen wollt, dass es Himmel und Hölle gibt, so überlegt Euch gut, für welchen Weg Ihr Euch entscheidet. Wohin kommt Ihr, wenn Ihr sie sterben lasst? Ist es Erlösung oder Beihilfe zum Mord? Und wohin kommt Ihr, wenn Ihr sie rettet? Ist es Folter oder Rettung? Ist es ein langsamerer Tod? Oder bezeichnet Ihr es gar als Weg zur Buße, für die Reinigung der Seele? Himmel oder Hölle, Sullivan? Wohin bringt Ihr sie und Euch damit? Denkt darüber nach.“

Da ich ihm keine Antwort gab, sagte auch Nevar nichts mehr. Langsam ließ der Regen nach und wurde weniger. Noch immer hörte man sein leises Trommeln und die Feuchtigkeit erfüllte den ganzen Raum.

Nachdem er bereits eine Weile verschwunden war sank mein Kopf auf meine Knie und ich schloss die Augen. Ich war allein. Wie so oft hatte ich nicht einmal gehört, dass Nevar gegangen war, er war einfach weg, verschwunden. Wie ein böser Geist, der alles hörte und alles sah.

Nevar war verfolgt worden, also hatte er drei Rotröcke getötet. Aber war das Rechtens? Hatte er es nicht verdient, verfolgt zu werden? Und hatte er dann überhaupt ein Recht sich zu wehren?

Ich wollte Mary-Ann retten, um jeden Preis. Irgendwie musste ich es einfach schaffen! Aber wie? Und wohin mit ihr, wenn ich sie befreit hatte? Und stimmte es, was Nevar sagte? Würde sie verrückt werden, wäre sie nicht mehr so benommen? Oder war sie vielleicht schon wahnsinnig, nur kam es aufgrund der Medikamente nicht zum Ausbruch?

Die Verzweiflung in mir stieg mit jeder Minute an und trieb mich fast bis zur Ohnmacht. Wieso war dieser Mistkerl überhaupt hier gewesen?! Ich würde mich nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen, auf gar keinen Fall! Und während ich das immer und immer wieder flüsterte, wurde mir kalt und schwindelig. Tränen schossen mir in die Augen und am liebsten wollte ich mich nur noch auflösen. Alles erschien ausweglos und unerreichbar für mich. Aber ich musste es schaffen. Ich musste einfach!

Himmel oder Hölle, Sullivan?, hörte ich ihn sagen.

Hatte sie diese Qualen, diese jahrelange Folter, wirklich verdient? Wollte Gott es so oder wollte er, dass ich etwas unternahm?

Himmel oder Hölle?

Mein Vertrag mit der Hölle

Die Straßen waren feucht und schmatzen unter meinen Schritten. Auf den für Straßen genutzten Findlingen waren kleine, dunkle Sandkörner und knirschten unter meinen bloßen Füßen. Sie stachen mir in die Haut und schmerzten in meinen Verletzungen. Ich ging durch Pfützen und Wasserbäche und bildete mir ein, dass würde Verschmutzungen vermeiden, aber vergebens. Bis zum Gebäudekomplex des Armenhauses waren es noch mehrere Minuten Laufzeit, doch da der Marktplatz und die Straßen wie leer gefegt waren, kam ich ohne Probleme an. Manche Menschen rannten eilig in ihr schützendes Zuhause, andere suchten Schutz in Häusereingängen, aber beachten tat mich niemand. Durch die nackten Füße und den kaputten Umhang war ich für alle nichts weiter als ein Streuner und Lump. Jemand, dem man besser auswich aus Angst vor Krankheiten oder Diebstahl. Der Stoff war noch immer durchnässt von Nevars Flucht und sein Aufenthalt im kaputten Haus hatte nicht genügt, ihn zu trocken. Wenn ein Tropfen es bis auf meine Haut schaffte, dann spürte ich für einen Moment Gänsehaut. Dennoch hatte ich keine Angst und war auch nicht nervös. Bis auf das gelegentliche Frösteln war ich fast vollkommen ruhig.

Als ich dann das Armenhaus erreichte, wurde für mich alles quälend langsam. Das Backsteingebäude war umwölbt von düsteren Wolken, so dass es noch unheimlicher wirkte. Wie Tränen lief der Regen über die Dämonenfratzen, stürzte von den Dachrinnen herab wie Wasserfälle und trug den Schlamm des kahlen Hofes davon. Es wirkte gefühllos und kalt auf mich und das gewiss nicht ohne Grund. Ich blieb in einiger Entfernung stehen, dann versteckte ich mich in einem der Häusereingänge. Mittlerweile ging die Sonne unter und Dämmerlicht machte sich breit. Keine der Laternen war angezündet. Der Lampenanzünder würde sich sicherlich Zeit lassen, bei diesem Wetter aus dem Haus zu kommen – vielleicht ein Vorteil für mein Vorhaben.

Zwei Männer aus dem Gefängnis wurden gerade abgeführt, sicherlich zum Richtersaal. Sie waren in Ketten und gingen mit gesenkten Köpfen. In ihren eingefallenen Gesichtern und den tiefen Augen konnte man die Angst vor dem Tod erkennen. Als man die Gefangenen an mir vorbei führte, dachte ich zurück an Black und Robert. Ob Robert tot war? Und Black wieder auf See? Das Eisen an ihren Händen klirrte leise und ich sah ihnen lange nach. Die zwei Männer mussten mehr getan haben, als Black und ich, wenn man sie sogar in Ketten legte, statt sie nur zu fesseln. Ob sie die Todesstrafe erhalten würden?

Und wenn ja, hatten sie es verdient?

Während meines Weges hatte ich mir fest vorgenommen, keine einzige Sekunde für Moral und Gewissen zu verschwenden, stattdessen plagte es mich im Hinterkopf. Was war rechtens, was nicht?

Mit ins Gesicht gezogener Kapuze wartete ich frierend und zitternd auf den von mir erhofften Moment. Umso länger ich stand, desto unsicherer wurde ich. Würde er überhaupt noch eintreffen? Zu meinem Glück ließ der Regen etwas nach, als von der Sonne kaum noch etwas zu sehen war. Ich zählte die Sekunden und als ich etwa sechshundert erreichte, vernahm ich ein Geräusch. Schlurfende Schritte durch Pfützen, das Husten eines Mannes. Ich wandte den Kopf und erkannte das, auf was ich gewartet hatte. Eine große Gruppe Menschen wurde zurück zum Armenhaus gebracht – Arbeiter, die tagsüber auf dem Feld gewesen waren. Angeführt von einer älteren Frau in der Kleidung einer Nonne, zwei Rotröcke bildeten die Nachhut. Die Katholiken halfen diesen Menschen, wieder in das Leben der Gläubigen zurückzukehren, indem sie sie zurück zur Frömmigkeit brachten. Nur wer arbeitet, erfährt Gottes Gerechtigkeit, denn Trägheit ist keine Tugend. Man erkannte sofort, dass es keine echten Bauern waren. Sie trugen keine Schuhe, hatten kaputte Hosen und Kleider, zudem waren sie müde, kaputt und ausgemergelt. Ehemalige Bettler, die man nun von der Straße geholt hatte, um ein besseres Bild von der Stadt zu schaffen. Passend, für jemanden wie mich.

Als die Gruppe meinen Häusereingang passierte, löste ich mich aus dem Eingang, holte sie mit wenigen, möglichst leisen Schritten ein und folgte. Gemächlich ging ich hinter ihnen her, in der Hoffnung, keiner würde mich bemerken. Mein Herz hatte begonnen zu rasen, als ich die Menschen gesehen hatte, doch nun legte sich die altbekannte Ruhe über mich. Mein Gefühl wurde still, mein Kopf schaltete ein.

Meine Gruppe passierte die zwei Rotröcke, die das Armenhaus am Tor bewachten und diese sahen uns nicht einmal an. Sie begrüßten lediglich die Nonne mit einem Nicken, diese erwiderte es freundlich. Dann schlichen die Arbeiter hinterher und anschließend die zwei Soldaten. Auch mich beachteten sie nicht. Wahrscheinlich dachten sie, ich wäre einer der Bedürftigen und würde nur langsamer sein, als die anderen. Wir bogen ab, zur rechten Seite, denn dort war das Arbeitshaus. Als die Gruppe stehen blieb, um zurück ins Innere gebracht zu werden, war ich längst wieder verschwunden.

Ich hatte die Gruppe verlassen, als ich sicher gewesen war, dass die Soldaten uns nicht hinterher sahen. Mit schnellen Schritten eilte ich zum Eingang neben der Küche, die Vorratskammer. Ich war bereits mehrmals hier gewesen, zu meiner Zeit als Aushilfe beim Zuchtmeister. Es war jene Kammer, in denen ich heimlich die Beeren gegessen hatte. Die Tür zu ihr lag direkt zwischen Küche und Haupteingang, nur wenige Meter Wand waren dazwischen. Wie zu erwarten war die Kammer noch immer nicht geschlossen worden. Diesmal wusste ich, wie ich die widerspenstige Tür zu öffnen hatte. Ich hob sie am Griff leicht an und schlüpfte unbemerkt hinein. Dann schloss ich die Tür wieder. Alles war dunkel, aber ich wusste noch gut, wie der kaum benutzte Raum aufgebaut gewesen war. In der Mitte stand ein Tisch, rechts und links waren Regale und überall standen Fässer oder Kisten. Es war mir gleich, ob man bemerkte, dass ich da gewesen war und so achtete ich nicht darauf, ob ich Spuren im Staub hinterlassen würde. Ich wollte Mary-Ann, mehr nicht. Ich wollte Nevar beweisen, dass ich das auch ohne seine Hilfe konnte und dass ich auf ihn nicht annähernd angewiesen war. Niemals würde ich mit ihm mitgehen, niemals!

Ich stellte mich in die hinterste, rechte Ecke, gegenüber von dem Beerenregal, wo einst die tote Katze gelegen hatte und wartete auf die Nacht.

Mit dem Kommen der Dunkelheit ging der Regen und es wurde fast totenstill. Nur das Jammern der Tollen drang zu mir herunter und das Weinen ein, zweier Kinder. Die Laute breiteten sich im Haus aus, wie verzweifelte Seelen, die das Weg ins Licht suchten. Seelen, die niemals Erlösung finden würden und für die Ersatz gefunden wird, kämen sie frei. Die Hölle., dachte ich und erinnerte mich zwangsweise an Nevars letzten Satz. Es regte mich auf, dass er mich zu verfolgen schien, egal wo ich war. Ob nun im Geiste oder lebendig aus Fleisch und Blut vor mir. Schweigend und geduldig tastete ich den Tisch ab, um mich abzulenken. Ich durfte jetzt nicht gereizt werden, das machte mich nur unaufmerksam.

Auf der Holzplatte befand sich nicht viel, aber alles Erwartete. Niemand hatte die Dinge benutzt, die herum gelegen hatten. Es wirkte fast, als wäre dies keine Vorrats- sondern eine Abstellkammer. Ein paar verbrannte Töpfe, gesprungene Teller, eine verbogene Schere, splitteriges Holzbesteck, ein zerfranstes, unbrauchbares Seilstück… Das rostige Schälmesser lag noch immer da, als wäre ich nur wenige Stunden weg gewesen. Das hatte ich gesucht. Entschlossen umfasste ich den feuchten Griff, dann steckte ich es mir in den Hosenbund zu jenem von Nevar. Ich fühlte mich etwas sicherer, als ich spürte, dass ich jeder Zeit eines mit rechts und eines mit links greifen konnte.

Dann hörte ich ein Geräusch unmittelbar vor der Tür, jemand ging vorüber.

Wer auch immer dort war, ich hatte ihn nicht gehört und so zuckte ich zusammen und sah auf. Etwas fiel vom Tisch herunter und landete auf einem Blechtopf, ehe es weiter auf den Boden fiel. Dem unheimlich leisen Geräuschen nach war es außergewöhnlich klein und mit großer Wahrscheinlichkeit rund. Ich beugte mich hektisch hinunter und tastete den Boden ab, da erkannte ich es und nahm es in die Hand. Eine kleine, harte Erbse. Ungewollt dachte ich an meinen verrückten Traum im Tollhaus und an jene Erbse, auf dem Schiff von Wilkinson. War das ein Zeichen? Ein Hinweis? Gar eine Warnung? Dann hörte ich ein Geräusch. Sofort schreckte ich hoch und steckte sie gedankenlos in meine Hosentasche.

Die Hausmutter passierte die Kammer mehrmals und sah nach dem Rechten. Lange hatte ich auf dem Boden gehockt und zur Tür gestarrt, aus Angst, sie könnte aufgehen und man würde mich entdecken. Als ich sicher war, dass sie ihren Rundgang hinter sich hatte, wartete ich noch gut zehn Minuten, ehe ich mich zu bewegen wagte. Ich schlich zur Tür und lugte durch das Schlüsselloch. Es war nicht viel, was ich sehen konnte, aber es genügte mir.

Lange Zeit stand ich so da und wartete, dass die Wachen abgelöst wurden. Das schlimmste, was mir passieren konnte, war, mitten in die Ablöse zu rennen. Irgendwann dann tauschten zwei Männer mit den anderen zwei Rotröcken und die Erstbesatzung lief an meiner Tür vorbei zur Küche. Ich hielt den Atem an, als könnten sie mich durch das dicke Holz hören und wartete, dass sie verschwunden waren. Die Soldaten würden nun ihr Essen bekommen und die Ruhe genießen. Was dann geschah, wusste ich nicht, denn bessere Einblicke hatte mir meine Zeit als Aushilfe nicht gewährt. Ich bewegte mich nicht, bevor die Rotröcke nicht still wie aus Blei auf ihren Posten standen, ihre Unterhaltung beendet hatten und in die Nacht starrten. Leise öffnete ich dann Tür. Sie standen mit dem Rücken zu mir, gut hundert Meter entfernt, wenn nicht sogar noch weiter. Der Hof zwischen ihnen und mir lag vollkommen im Dunkeln, nur die Küche rechts von mir war beleuchtet. Das Licht reichte bis zur Vorratskammer und warf einen langen Schatten, als ich die Tür schloss. Schnell huschte ich nach links, um dem auszuweichen und dort blieb ich für einen kurzen Moment stehen. Ich schätzte ein, wie laut ich sein durfte, wenn sie mich nicht hören sollten und beobachtete die Soldaten. Sie waren sehr ruhig, ein wenig zu ruhig vielleicht und wirkten sehr lustlos. Ich musste schon mehrmals Krach machen, wenn ich wollte, dass sie sich bis zu mir bequemten.

Dann schlich ich zum Haupteingang, über dem nass tropfend das Schild prangte.

Diesmal war es zu dunkel, um die Aufschrift zu erkennen. Da es an Geld mangelte, wurden die Lampen an den Türrahmen nur bei besonderen Anlässen angezündet und diese gab es so gut wie nie. Dennoch wusste ich, was darauf stand, denn ich hatte es bereits so oft in meinem Leben gelesen:

„Katholisches Armenhaus St. Marianne von Annonce

Waisenhaus – Gefängnis – Krankenhaus – Arbeitshaus“

Ungewollt flüsterte ich die Worte leise vor mich hin, als wäre es ein Fluch der schlimmsten Art. Ich beschloss nie mehr dieses Schild zu sehen und das letzte Mal an diesen Ort zurückgekehrt zu sein. So ruhig wie möglich schlich ich weiter Richtung Arbeitshaus. Ich dankte Gott, dass der Hof mit Steinen gepflastert war, sonst würde ich wohl im Schlamm versinken. Möglichst lautlos erkundete ich im Dunkeln das Gebiet, darauf achtend, mit meinen Füßen nur auf die Steine und nicht die Zwischenräume zu treten. Auf keinen Fall wollte ich mit meinem verletzten Zeh zwischen einem der Steinpaare hängen bleiben und stürzen. Als Kind war ich oft hier herum gelaufen und so kannte ich mich noch immer gut aus, aber im Dunkeln fiel es mir schwerer, mich zu orientieren. Das wenige Licht verbot mir ganze Mauerstücke von weitem zu erkennen und ich musste auf viele Stellen zugehen, um sicher zu gehen, dass meine Augen mich nicht täuschten. Rechts, hinter dem Armenhaus, kam nach einem Meter etwa die hohe Mauer. Sie ging in einem großen Rechteck um das gesamte Grundstück herum, aber nirgendwo berührte sie direkt das Backsteingebäude. Am Boden bestand sie bis auf Kopfhöhe ebenfalls aus rotem Gestein, dann kamen schwarze Gitterstäbe, die oben in eine lange, waagerechte Metallstange verliefen. An dieser waren abermals kleine Gitter angebracht, mit Spitzen an den Enden. Eine teure Konstruktion, um niemanden ein- oder ausbrechen zu lassen, doch scheinbar hatte niemand bedacht, dass es auch andere Wege hinein oder hinaus gab. Von hinten war der Gebäudekomplex alles andere als anmutig, wenn man es mit den Verzierungen der Vorderseite verglich. Es gab weder Dämonenfratzen, noch eingemeißelte Säulen, noch Verzierungen anderer Art. Ein einfaches, sehr langes Haus mit Fensterreihen über Fensterreihen. Nur die Größen waren unterschiedlich: Jene des Gefängnisses winzig und direkt über dem Boden, die des ersten Stockes auf Kopfhöhe und etwa ein Meter hoch und die des Kinderheimes waren riesige Doppelfenster. Alle waren mit Gittern versehen und nun pechschwarz und nicht beleuchtet. Nur eine kleine Hintertür befand sich an der fast äußersten, rechten Seite. Sie führte zur Küche und war einst der Weg von Küche zu Brunnen gewesen, doch nun hatte man sie zugemauert, denn es gab einen direkten Wasserzulauf hinein. Man könnte sie unbemerkt aufbrechen, keiner würde es auch nur ansatzweise sehen, aber selbst wenn es mir gelang, so würde ich nur vor einer roten Mauer stehen.

Ich umrundete das gesamte Gebiet komplett, um mir einen genauen Überblick zu verschaffen. Am Idealsten wäre es, würde ich es schaffen auf das Dach zu kommen. Wenn ich von dort aus einen Weg ins Kinderheim direkt unter dem Dach fände, könnte ich durch das Loch, das im Boden war, in das leer stehende Tollzimmer gelangen. Von dort aus könnte ich dann zu Mary-Ann gelangen, die sich ja gleich nebenan befand. Der Boden war feucht und die Wände auch. In meinem Hinterkopf keimte die Idee von einer porösen Wand und einem heftigen Schlag dagegen auf, die mich unbeschadet ins Nebenzimmer direkt durch die Wand hindurch brachte. Doch ich fand einfach keinen Weg hinauf. Die Steine waren abgenutzt vom Regen und an manchen Ecken gebrochen, jedoch hatte ich weder die Kraft, noch das Talent sie zu erklimmen. Nirgends gab es eine Leiter oder einen sehr hohen Baum, der nahe genug am Haus gestanden hätte und die Regenrinne wirkte auf mich eher wie eine lieblos angebrachte Verzierung, als ein wichtiges Bauteil der Architektur. Einbrechen war unmöglich, denn innen gab es Bewachung und Schlösser knacken konnte ich ebenso wenig. Was sollte ich tun, wie sollte ich zu Mary-Ann?

Irgendwann kam mir eine Idee. Vielleicht würde ich es schaffen, das Gitterfenster zum Tollzimmer zu durchbrechen. Die Metallstäbe waren rostig gewesen. Mit genügend Kraft und Hilfe von Mary-Ann könnte ich es vielleicht schaffen, sie zu verbiegen oder gar zu lösen.

Die Rotröcke bewegten sich nicht vom Fleck. Als ich abermals zur Vorderseite des Kolosses kam, standen sie da, wie zuvor. Statuen., schoss es mir durch den Kopf. Marionetten.

Aber ich dachte es keineswegs als Beschwerde, sondern sehr zufrieden. Solange sie sich nicht bewegten, konnte ich mich problemlos fortbewegen. Keiner würde um diese Uhrzeit hinausgehen, weder Tolle, noch Arbeiter, noch Kinder. Ich musste nur die beiden am Tor im Auge behalten, dann hatte ich freies Feld.

Ich wandte mich in aller Ruhe den Wänden zu und begann einen Weg nach oben zu suchen. Erinnerungen kamen in mir hoch und mir fiel auf, dass keine von ihnen gut war. Weder meine Kinder-, noch meine Gefangenenzeit. Die skurrilen Fratzen starrten mich höhnisch an und lachten mich aus. Ich verdrängte meine Ängste aus meiner Kindheit, sie behinderten mich nur. Stattdessen versuchte ich instinktiv zu werden und mich nur auf Augen und Ohren zu konzentrieren. Ich müsste reagieren, sobald ich etwas hörte, sonst war es aus mit mir und das konnte ich nicht, wenn ich mit den Gedanken in meiner Vergangenheit war.

Eigentlich war es nicht schwer, den ersten Stock zu erreichen. Zwar war die Vorderwand genauso steil, wie jede andere auch, aber die Verzierungen kamen mir zugute. In der Mitte war die riesige Tür, über der das Schild hing. Zu ihr herauf führte eine Treppe von sechs Stufen, rechts und links gab es breites, abgerundetes Geländer und der Türrahmen war besonders hervorgehoben. Er sah aus, als wäre er aus drei dünneren Rahmen gemacht worden, allesamt aus Stein und ins Mauerwerk eingemeißelt. Direkt darüber befand sich die Fensterreihe des ersten Stockes. Jene Fenster, die am nächsten an der Tür lagen waren rechts und links darüber. Ich überlegte, dass der Türrahmen etwa einen Meter unter den Fenstern endete, also könnte ich, würde ich diesen hinauf klettern und mich auf die Zehenspitzen stellen, von dort aus vielleicht eines der Fenster reichen. Meiner Erinnerung nach war das rechte genau jenes zum Zimmer von Mary-Ann.

Kurz befielen mich Zweifel, denn der Türrahmen ging etwa zwei Meter hoch, doch ich zwang mich, es dennoch zu versuchen. Überzeugt erklomm ich ächzend das Geländer und balancierte es hinauf zur Tür. Es war nicht schwer, da es zwei Fuß breit war, doch der Regen ließ es glatt und rutschig erscheinen. Als ich oben ankam, sah ich kurz zum Tor, doch natürlich hatte mich keiner bemerkt, also setzte ich meinen Weg fort, umfasste die obere Seite des Türrahmens und tastete ihn ab. Er war eine ganze Hand breit, ein wenig mehr sogar. Hilflos sah ich mich nach Halt um, denn ohne diesen würde ich es unmöglich schaffen. Ich sprang etwas hoch, versuchte dabei das Knie darauf zu stützen, griff nach einem kleinen Vorsprung und rutschte ab. Mein Knie riss wieder auf, ich stöhnte leise, dann versuchte ich es fluchend erneut. Als ich es geschafft hatte, nach oben zu kommen, zwang ich mich, mich hinzustellen. Mit dem linken Zeh umfasste ich so gut es ging die Kante des Rahmens und drückte meinen Bauch an die Wand. Unsicher sah ich hinauf. Mit Schrecken stellte ich fest, dass ich nicht mehr hinunter kam, außer, ich würde rückwärts mitten auf die Treppe springen. Abgesehen davon befand sich das Fenster etwas höher, als ich es von unten eingeschätzt hatte. Ich konnte von meiner Position aus nicht einmal mehr die Gitter sehen, sondern nur die Steinreihe darunter, die als Sims diente. Ich legte die wunden Hände an die Wand, die zwei Meter unter mir wirkten auf mich wie tausend, dann begann ich zu zischen: „Mary-Ann!“, mit ausgestreckter Hand versuchte ich die Gitterstäbe zu erreichen. „Mary-Ann!“ Einer der Tollen wurde wach. Lautes Jammern drang durch die Schwärze der Nacht und verhallte ungehört. Ich hatte mich an die Wand gedrückt und die Luft angehalten, doch die Soldaten hatten sich an solcherlei Laute scheinbar gewöhnt. Eher wirkten sie gelangweilt, denn der Linke gähnte herzhaft und streckte sich ausgiebig. Erleichtert griff ich erneut nach dem Gitter. Die Kante des Simses drückte mir ins Gelenk, unmöglich konnte ich mich daran hochziehen, zudem stand ich nur auf den Zehenspitzen meines rechten Fußes. Leise fluchend gab ich auf und zischte erneut, diesmal etwas lauter: „Mary-Ann!“

Diesmal hörte ich eine Antwort. „Mein Prinz?“, fragte leise jemand.

Erleichtert sah ich hinauf, doch natürlich konnte ich noch immer nichts sehen, als dieses verfluchte Fenstersims. Aneinander gereihte, rote Steine, wie sehr ich sie hasste.

Jemand fasste ans Gitter, raue Hände berührten das Eisen und ein wenig Sand rieselte herunter, als die Person den Schmutz zum Rand schob.

„Mary-Ann, ich bin es!“, flüsterte ich unsinnigerweise. „Ich bin hier, um dich zu retten!“

„Mich zu retten?“, wiederholte sie. Ich musste mich anstrengen, um ihre Worte zu verstehen. Ihre Stimme war schwach und heiser, sie war kaum bei Kraft und klang, als wäre sie längst gestorben. Ich schluckte schwer, als mir einfiel, was Pitt gesagt hatte. Man hatte sie gefoltert, es musste ihr schrecklich gehen. Sie musste Dinge durchgemacht haben, die ich mir nicht einmal ausmalen konnte. Verzweifelt verdrängte ich die Worte von Nevar, die mir genau das prophezeit hatten und versuchte abermals an das Gitter zu kommen. Eiskalte Finger berührten die meinen. Erst zuckte ich zurück, doch dann ließ ich zu, dass sie meine Hand hielt. „Mein Prinz!“

„Mary-Ann. Ich bin hier, um dir zu helfen! Bekommst du das Gitter auf?“, doch sie antwortete nicht, sondern flüsterte nur immer wieder Mein Prinz, mein Prinz…

Seufzend löste ich mich und suchte abermals einen Weg hinauf, aber es gab keinen. Kurz versuchte ich, mich auf einen hervorstehenden Stein zu schützen, doch ein knapper Sturz ließ mich meinen Versuch wieder abbrechen. Dann registrierte ich das Blut an meiner Hand. Mary-Ann hatte dunkle, rote Flecken auf meiner Haut hinterlassen. Erschrocken sah ich wieder hinauf. „Ich hole dich raus!“, zischte ich ihr zu. „Verstehst du?! Ich hole dich raus!“, ohne nachzudenken griff ich nach dem Messer von Nevar und steckte es durch die Gitter. „Nimm es, Mary-Ann und wehr dich, wenn sie dich zum Scheiterhaufen bringen wollen! Ich werde kommen und dich retten!“

„Wehren?“, keiner nahm mir die Waffe ab und mit etwas Nachdruck reichte ich es tiefer ins Zimmer hinein. Wieder musste ich mich mit aller Kraft hinauf stemmen, so stark, dass ich den Kopf nicht mehr heben konnte. Ich streckte den Arm so weit, dass es fast schon schmerzte und zischte: „So nimm es doch endlich!“

Und ich dem Moment, als sie zupackte und ich los ließ, um hinauf zu sehen, erkannte ich den kleinen, eingravierten Vogel am Ende des Griffes. Ein Rabe, tiefschwarz, der Bote des Todes. Himmel oder Hölle, Sullivan?

Man hatte Mary-Ann gefoltert und bald würde man sie hinrichten, doch würde ich sie wirklich retten können? Und wenn man die Waffe bei ihr fand, dann würde man sie befragen, woher sie kam. Und würde Mary-Ann schweigen, würde man sie zwingen zu reden, mit allen Mitteln. Mir wurde schwindelig und ich legte die wunden Handflächen zurück an die Wand.

Ich konnte sie nicht retten, wenn sie sich wehren würde. Und würde sie es nicht tun, ebenso wenig. Aber ich musste ihr helfen, ich hatte es mir geschworen, ich war es ihr schuldig! „Wenn die Katze erst einmal gefangen ist, mein Prinz, dann wird man sie nur schwer wieder los.“, flüsterte Mary-Ann leise und ich verstand sie diesmal so gut, dass ich meinte zu wissen, dass sie ihr Gesicht zwischen die Gitter drückte. Vor meinem inneren Auge erkannte ich sie. Ihre eingefallenen Augen, ihre blasse Haut, die Rötungen durch Kälte und Schmutz.

Verwirrt fragte ich leise: „Was?“

„Wer Satan säht, wird Satan ernten. Sullivan.“

Gänsehaut überkam mich, als ich die wirren Worte hörte, die für mich nicht den geringsten Sinn ergaben. Besonders, dass sie mich beim Namen nannte. Ich empfand es als Drohung oder Warnung, als böses Vorzeichen und es machten mir Angst. Mein Herz ließ mich einen kleinen Ruck verspüren und unsicher, was ich tun sollte, blieb ich stehen.

Was war der richtige Weg, was sollte ich tun? Und was konnte ich tun?

Himmel oder Hölle, Sullivan?

„Himmel…“, einige Sekunden hallte das von mir geflüsterte Wort in meinem Kopf wieder, dann schloss ich die Augen und lehnte die Stirn an das Gestein. Die Wand war beißend kalt und hart. Ich war mir sicher, würde ich den Kopf lösen, hätte sie eine wunde, blutige Stelle hinterlassen. In meinem Innern geriet alles durcheinander und die Zeit beschleunigte sich wieder ins Unermessliche. Einer der Rotröcke hustete, ein weiterer Toller jammerte laut und ich dachte wildes Zeug durcheinander. Ich konnte Mary-Ann nicht retten, ich konnte sie nicht hinaus holen. Und selbst wenn hatte ich nichts, wohin ich sie bringen könnte. Ich besaß nichts, wovon sie leben könnte und ich kannte niemanden, der sie aufnehmen würde. Sie würde durch ihre Erinnerungen umkommen, sie würden den Verstand verlieren und daran zugrunde gehen. Nevar hatte Recht gehabt, mit dem was er sagte und nun stand ich auf einem Türrahmen, an einer Wand und bereute alles, was ich getan hatte. Ich bereute es, hergekommen zu sein und ich bereute es, mich in das Leben anderer Menschen einmischen zu wollen. Aber nun war ich hier und nun konnte ich nicht einfach wieder gehen.

Ich hatte die Wahl: Ich ließ sie im Stich oder ich riskierte mein Leben für sie. Beides lag mir nicht, nicht im Geringsten. Das eine verletzte meinen Stolz und demütigte mich, das zweite wäre es wahrscheinlich nicht wert gewesen.

Jack hatte gefragt, ob ich sie liebte, aber liebte ich sie denn? War es mein Mitleid, das mich hier her getrieben hatte? Ich kannte diese Frau doch gar nicht.

Ich kannte sie nicht...

Wenn Ihr die Menschen kennt, ist Euch das Leben etwas wert. Wenn nicht, sind es eben nur Menschen. Das hatte Nevar gesagt und nun erinnerte ich mich daran. Ich kannte die anderen Tollen nicht, waren sie deswegen weniger wert? Wenn ich mein Leben für Mary-Ann riskierte, wieso dann nicht auch für sie? Erhoffte ich mir mit dieser Aktion, in den Himmel zu kommen? Damit sämtliche Sündtaten wieder rein zu waschen? Plötzlich bezweifelte ich es, dass der Allmächtige mich belohnte, dafür, dass ich eine Unschuldige Seele von unendlich vielen weiteren gerettet habe. Ich könnte damit meine Seele nicht mehr rein waschen, ich konnte sie damit nicht retten.

Meine Angst vor Gott, meine Erziehung, kam wieder in mir hoch. Die Hölle tat sich vor meinen Augen auf und riss mich in die Tiefen. Es war vorbei, es war aus. Aber wenn ich eh in die Hölle kam, sollte ich dann nicht wenigstens versuchen, Mary-Ann zu helfen? Irgendwie?

Himmel oder Hölle, Sullivan?

Und ich flüsterte zitternd: „Hölle…“

Ich wähle die Hölle… Gott vergib mir, ich wähle die Hölle… Ich habe getötet und ich werde wieder töten. Aber Mary-Ann ist unschuldig… Wenn ich sie ermuntere, es mir gleichzutun-…

„Bring dich um.“, flüsterte ich, als wäre ich nicht mehr ich selbst und sah hinauf zum Fenster. Zitternd suchte ich mit der Hand die ihre. „Mary-Ann, bring dich um, ehe sie es tun. Hör mir zu. Hör mir gut zu.“

Ihre Hand zuckte zurück, doch ich griff sie fester.

„Erlöse dich. Erlöse dich von diesem Wahnsinn hier. Sie werden dich foltern, wenn du dich wehrst, verstehst du das? Und wenn nicht, dann werden sie dich töten! Sie werden dich verbrennen, Mary-Ann! Langsam und qualvoll! Ich weiß nicht, wie ich dich retten soll. Ich kann dir nicht helfen...! Du musst dem selbst ein Ende bereiten.“, mein Griff wurde abermals fester und ich spürte, dass die Frau zitterte. Ob es vor Kälte oder Schwäche war oder, weil sie mir zuhörte, wusste ich nicht.

„Ich komme in die Hölle, dafür, dass ich dich dazu ermuntere. Das Leben ist das höchste Geschenk Gottes, ich weiß, aber ich habe dich dazu getrieben, hörst du? Ich werde sowieso in die Hölle kommen… Für mich gibt es kein Zurück mehr!“, verzweifelt schloss ich die Augen, als mir bewusst wurde, was ich da von mir gab. „Besser ich, als du…. Erlöse dich, Mary-Ann. Hörst du? Tu mir den Gefallen, erlöse dich... Ich will nicht, dass du weiter leidest...“

„Mein Prinz...“

Und dann ließ meine Hand einfach los. Ich fiel unüberlegt und rücklings hinunter, stürzte und krachte die letzten Stufen in den Schlamm. Die zwei Rotröcke wurden aufmerksam, doch ich regte mich nicht, sondern blieb liegen und wimmerte leise, mir den Arm haltend. Dann richtete ich mich langsam auf und verschwand im Schatten. Ich wollte weg, einfach nur weg. Panik überfiel mich, als würde der Allmächtige selbst jeden Moment auftauchen, um mich zu strafen. Als würde ich sonst sehen müssen, wie Mary-Ann es tat. Die Soldaten unterhielten sich unsicher, ob sie wirklich etwas vernommen hatten und einer von ihnen kam, um nach dem Rechten zu sehen. Ich wich ihm schleichend aus, so weit es ging, das rostige Messer angriffsbereit in meiner Hand, aber eigentlich war es mir egal. Ich hatte keine Zeit für einen Zusammenstoß und noch weniger, um hier zu bleiben. Wohin genau ich wollte, wusste ich nicht, aber ich ertrug die Nähe des Tollhauses nicht mehr. Die Erinnerungen wurden mir zu viel und in meinem Kopf regnete es Bibelzitate. Flüche der schlimmsten Art erfüllten meinen Geist und ich konnte fast spüren, wie meine Seele zu brennen begann. Vielleicht sollte ich Zuflucht in einer Kirche suchen, in der Hoffnung auf Vergebung? Aber selbst das erschien mir ausweglos. Es kam keine Rettung mehr, eine Beichte genügte nicht und mit der Aufmerksamkeit der Soldaten könnte ich ohnehin nicht zu Mary-Ann zurück.

Als der Wachmann an mir vorüber war, rannte ich blindlings los. Weg, einfach nur weg…!

Er schrie „Halt!“, als er mich hörte und griff eher durch Zufall nach meinem Umhang. Als der Verschluss an meinem Hals schnürte, fuhr ich herum und stach blindlings mit dem Messer nach seinem Gesicht. Alles erschien mir wie in einem riesigen Strudel, verschwommen und sich immer wieder um mich drehend. Ich hörte nichts und sah nichts. Sofort entdeckte auch sein Partner mich, doch ich bekam es gar nicht mit, sondern stolperte unbeholfen weiter und ließ den Schreienden einfach hinter mir. In meinem Kopf gab es nur Hölle. Hölle, Hölle und nochmals Hölle. Was war ich für ein Idiot gewesen! Wie konnte ich nur auf eine solche Idee kommen! Und nun war es zu spät, egal was ich tat. Ohne es zu merken stolperte ich in den zweiten Rotrock hinein, zudem rannten die zwei Ablösen aus der Küche. Als der Soldat vor mir mich packte, entwischte ich ihm und duckte mich unter seinen Armen hinweg. Der Umhang verdrehte völlig, er trat mir auf den Fuß und etwas schnitt mir tief in die Seite. Ich rannte um mein Leben und einer, ich weiß nicht wer, verfolgte mich noch minutenlang. Immer wieder befahlen sie mir stehen zu bleiben, doch ich hatte einen Vorsprung, da der nächste zu seinem Partner zurückgekehrt war. Ich hatte mir die Kapuze hektisch zurück ins Gesicht gezogen und so verschmolz ich fast vollkommen mit der Dunkelheit. Zudem erfüllte Nebel die Gassen, Ratten rannten erschrocken vor mir weg und alles was ich hörte, war mein Keuchen. Durch die gesamte Stadt führte mich mein von Panik erfüllter Weg und er ging weiter, noch lange nachdem die Soldaten aufgegeben hatten. Meine Lunge schmerzte, genauso wie mein Hals.

Irgendwann sackte ich auf dem Boden zusammen. Ich befand mich in einer Sackgasse, in der es fast pechschwarz war. Weit entfernt gab es eine Laterne in denen ich Motten erkannte und dann sah ich nichts mehr, außer verschwommene, tanzende Punkte. Tränen liefen meine Wangen hinunter und verzweifelt schlug ich auf die Steine vor mir ein. Ich hatte versagt, ich hatte einen Fehler gemacht und ich wusste nicht einmal, ob Mary-Ann mich verstanden hatte. Mit jeder Träne wurden mir meine Schmerzen klarer, meine blutigen Füße, Hände, Knie und Ellen - und meine Taille. Eine tiefe Schnittwunde ließ dunkelrote Flüssigkeit aus meinem Körper sickern. Sie war unangenehm heiß und pulsierte in meinem Innern.

Nachdem ich mich einigermaßen gefasst hatte, presste ich meine Hand auf die Verletzung und zwang mich, aufzustehen. Wohin sollte ich gehen? Zum schwarzen Kater? Ins Kloster?

Ich hatte keinen Zufluchtsort und nun würde ich auf offener Straße verbluten.

So einen Tod habe ich verdient. Den Tod eines sündhaften Hundes…

Weit entfernt drangen Rufe an mein Ohr, dann die Schritte der Rotröcke. Sie suchten mich, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich finden würden.

Umso weiter ich ging, desto schwächer wurde ich. Letzten Endes konnten meine Beine mich nicht mehr halten und als ich zurück sah, erkannte ich eine leichte Spur aus Blutstropfen. Ich fand eine abgelegene Stelle zwischen Unrat und Schmutz, hier beschloss ich mich auszuruhen. Eine Stimme in meinem Hinterkopf nagte an mir und versuchte mir klar zu machen, dass es mein Ende wäre, würde ich hier bleiben. Ich hörte nicht auf sie, ich wollte sie einfach nicht hören. Irgendwann hatte ich nicht einmal mehr zum Weinen Kraft. Etwas abgelegen hallten Schritte und Rufe, noch immer gaben sie nicht auf und die Soldaten wurden immer mehr. „Sucht ihn!“, schrie einer und „Lasst ihn nicht entkommen!“, ein anderer. Wie betäubt starrte ich zu einer Kerze, die an einem der Fenster stand. Sie war so schwach, dass ihr Licht nicht einmal auf die Straße reichte und der Raum hinter ihr war so schwarz, als wäre er mit einem Tuch verdeckt. Und irgendwann verschwand auch sie.

Es dauerte, bis ich registrierte, wieso. Jemand stand vor mir und dieser Jemand nahm mir sämtliches Licht. Benommen hob ich meinen schweren Kopf. Erst jetzt bekam ich mit, dass der Regen wieder eingesetzt hatte. Ich war durchnässt, meine Kapuze bedeckte nicht mehr meinen Kopf und mein Haar lag tropfnass an meiner Haut. Jemand flüsterte leise etwas, weit entfernt, in einer mir kaum noch verständlichen Sprache. Das Blut rauschte in meinen Ohren und es fiel mir schwer, die Augen offen zu halten. Kurz sah ich auf meine Hand. Sie war blutrot verfärbt und ich registrierte nur unterschwellig, dass ich viel, viel zu viel, Blut verloren hatte. Als die Worte mich erreichten nickte ich und ließ mich zurückfallen. Hölle war meine heisere, kraftlose Antwort auf die Frage:

„Und, Sullivan? Welchem Weg folgst Ihr? Himmel oder Hölle...?“

Einfach nur:

„Hölle...“

Der Brief (4)

Werter John Anderson O’Hagan, Beauftragter der heiligen Mutter Kirche und inquisitorischer Gouverneur der Bereiche Esas, St. Katherine und Otori,
 

es ist nun bereits drei Monate her, dass ich hätte hingerichtet werden sollen, doch noch immer bin ich am Leben. Ist das Glück? Oder soll ich es nur als eine langsamere Art des Sterbens bezeichnen..?

Die Träume von meinem eigenen Tod halten mich wach und es gehen, so weit ich hörte, Gerüchte um, ich wäre bereits gestorben. Ich, Sullivan O'Neil, der größte Verbrecher aller Zeiten, elendig verreckt in einer Kerkerzelle, gleich einer räudigen, stinkenden Ratte.

Gefällt Euch diese Vorstellung? Ich denke, nachdem Ihr bereits so lange auf meinen Tod warten müsst, dürfte dies mit Sicherheit einer Erlösung gleich kommen, nicht wahr? Aber ich denke auch, Ihr möchtet meinen Tod mit ansehen. Fürchtet Ihr, Ihr könntet ihn verpassen und nicht Zeuge davon werden?

Die Tatsache, dass ich noch immer lebe, dürfte in Eurem Kopf wirken, wie ein gehässiger Geist, der in Eurem Haus umher spukt und einfach nicht zu vertreiben ist.

Was, wenn ich ausbreche? Fünf Jahre Jagd völlig umsonst?

Seid unbesorgt, es geht mir sogar sehr gut. Ich werde so schnell, denke ich, nicht sterben.

Man hat mich verlegt, müsst Ihr wissen, in ein angemessenes Zimmer. Ja, ich habe nun sogar ein Bett – so fern man dieses Gestell als Bett bezeichnen kann. Es wurde bemerkt, dass die feuchte Kerkerluft und das dreckige Umfeld meiner Gesundheit erheblichen Schaden zufügen und wie sollte ich halb tot mein Werk beenden?

Es kommt mir fast so vor, als würde mein Tagebuch an Beliebtheit gewinnen, was meint Ihr?

Wie Euch sicherlich aufgefallen ist, habe ich das erste Jahr meines kleinen Abenteuers nun bereits beschrieben, es folgen also noch vier weitere Jahre. Ich möchte nicht leugnen, dass man mich enorm unter Druck setzt und ich gezwungen werde, schneller zu schreiben, aber macht Euch keine Gedanken, mein Freund, der Inhalt wird nicht darunter leiden. Ich habe nicht vor, mich sonderlich zu beeilen, denn man lebt ja irgendwie doch lieber, als tot zu sein.

Ist es wahr, dass nun auch das einfache Volk meine Geschichte liest?

Das dürfte Euch aufregen. Ich möchte gern wissen, welcher Kerl sich wirklich damit auseinander setzt, mein Buch zu stehlen und zu drucken. Ein wahrhaftiger Schuft, findet Ihr nicht? Es soll sogar einige Menschen geben, die ernsthaft behaupten, ich hätte all die Jahre richtig gehandelt und nichts verbrochen, ist das zu fassen?

Aber wir stehen ja auch gerade mal am Anfang meiner Geschichte...

Ach, da fällt mir ein, erinnert ihr Euch an den dicklichen Priester, den ich in meinem letzten Brief erwähnte? Jener, der ganz erschrak, da ich, Sullivan O'Neil, sein Lämmchen bin? Der, der auch Tauben hasst, so wie Ihr? Er kommt wie versprochen jede Woche zu mir, damit wir gemeinsam beten können und ich meine Beichte ablege und gestern hat er ernsthaft angefangen, mit mir über das Buch zu sprechen. Ist das nicht amüsant?

Er hat einen Blick hinein geworfen, im Auftrag der Inquisition, um darüber zu urteilen. Man hat ihn gefragt, was er davon halten würde, da er mich nach so vielen Monaten ja bereits etwas näher kennen würde. Er war ganz erstaunt, wie gut meine Handschrift wäre und empfindet es als Verschwendung, einen solch talentierten Menschen nicht in einem Skriptorium zu wissen. Nicht nur das, er hat sehr viele Fragen zu einigen der mir geschehenen Dinge gestellt und es schien mir fast, als wärt Ihr mit jedem meiner Sätze unbeliebter geworden, werter Gouverneur. Auch die Wachen, müsst Ihr wissen, sprechen viel über mich und mein Werk. So weit ich weiß, hat nur einer der hier stationierten Männer Zugriff darauf und die anderen erfragen voller Ehrgeiz, was er denn neues über mich erfahren hätte. Mich fragen sie auch aus, aber ich versuche nicht zu viel zu plaudern – die Geschichte soll ja spannend bleiben.

Meinem Wissen nach steht das Gericht vor dem Problem, dass meine Geschichte mittlerweile zu bekannt ist, weswegen man sie nicht mehr unterbinden kann. Angeblich hat man darüber nachgedacht, meinem Leben ein Ende zu bereiten, damit diese Sache keine weiteren Konflikte mehr hervorruft, jedoch würde das das Volk nur umso mehr zum Nachdenken anregen. Also hat man es dabei belassen, mich zu ermahnen und darauf hinzuweisen, wahrheitsgemäß und vor allem zum Vorteil der Inquisition zu schreiben, was mir aber kaum möglich ist. In meiner Lebensgeschichte steht die Inquisition nun einmal in einem sehr schlechten Licht, wobei ich anmerken muss, dass Euer Licht um einiges schlechter ist.

Was mich wundert, ist, dass die Briefe an Euch solchen Spott hervorrufen oder vielmehr: Wie konnten die Briefe an das Volk gelangen, werter Gouverneur? Hat man sie Euch etwa gestohlen?

Für mich hat es fast den Anschein, als wärt Ihr darauf aus, die Inquisition zu Fall zu bringen, mein Freund. Ich traue mich kaum, es zu sagen, da ich ja nun weiß, dass die Menschen auch dies hier lesen, aber:

Kann es sein, dass Ihr in Wahrheit gar nicht so loyal seid, wie Ihr stets behauptet?

Ich bin enttäuscht von Euch, mein Freund, wirklich enttäuscht...

Oh nein, hoffentlich liest das niemand! Nicht, dass Ihr Probleme bekommt wegen mir?

Leider muss ich meinen Brief an Euch an dieser Stelle beenden, denn das Essen ist da. Heute gibt es, so weit ich es erkennen kann, Erbsensuppe mit irgendetwas schwimmenden darin. Ich glaube, es ist Fleisch. Da kommen Erinnerungen hoch...

Ich muss sagen, seit ich in diesem vornehmen Turmzimmer bin, hat sich mein Leben um einiges gebessert. Nicht nur mein Ausschlag ist verschwunden, ich bin sogar noch fröhlicher geworden, als ohnehin schon! Wenn Ihr nur meine Aussicht sehen könntet! Ich habe zwei Fenster in meinem Zimmer, eines auf der Nord- und eines auf der Südseite. Ich kann dadurch das Meer sehen und die weite, wunderschöne Stadt und manchmal habe ich sogar Besuch von mir völlig fremden.

Gestern beispielsweise stand ein kleines Mädchen vor meinem Fenster, ich habe es nie zuvor gesehen und es war aufgrund der Höhe so winzig, dass ich es leider nicht verstanden habe. Aber es sah wirklich sehr niedlich aus und hat mir zugewunken, bis ihre Mutter sie weg gezogen hat. Manchmal denke ich, ich wäre bei dem Volk beliebt. Ich frage mich, woher das kommt? Habt Ihr eine Idee, werter Gouverneur?

Euch habe ich übrigens auch gesehen, vor einigen Tagen, in einer Kutsche. Ihr seid vorbei gefahren, ich vermute zu einem großen Bankett. Ich war wirklich etwas schockiert und habe Euch erst gar nicht erkannt. Dieses alte Ding nennt Ihr doch nicht etwa eine Kutsche?

Nun gut, ich verabschiede mich, sonst wird mein Essen kalt. Ihr entschuldigt mich?

Lasst Euch nicht unterkriegen, O'Hagan. Ich höre und weiß von Euren ständigen Niederlagen in Chichao, aber das macht doch nichts. Jeder macht mal einen Fehler, nicht wahr?

Und Ihr macht eben sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr viele und lernt nicht daraus...
 

Ich verbleibe hiermit,
 

Oliver Sullivan O’Neil.
 

Postscriptum:
 

Es ist schade, dass nach so vielen Jahren noch immer so wenig Freundlichkeit Eurerseits kommt, O'Hagan, das schmerzt mich sehr. Ihr wisst sicherlich, wovon ich rede, nicht wahr?

Man hat mir nun doch endlich verboten, Euch zu schreiben.

Stimmt es, dass es Euch völlig verrückt macht, ständig von mir zu hören? Ihr sollt ja richtig außer Euch gewesen sein und sehr empfindlich auf alles Mögliche reagieren. Das ist das Alter mein Freund, aber ich werde Euch von nun an wohl etwas schonen müssen. Wir wollen ja nicht, dass es Euch wegen mir noch schlechter geht oder? Man soll alte Männer nicht aufregen. Dies hier ist nun also vorerst mein letzter Brief an Euch, mein Freund.

Seid nicht traurig darüber, sicherlich finde ich alsbald eine neue Möglichkeit, mich an Euch zu wenden. Übrigens, ganz nebenbei: Ich gratuliere Euch zu der Geburt Eures dritten Sohnes, von ganzen Herzen. Wie heißt er? Courtland? Es muss sehr tröstend sein, nun, wo vor einem viertel Jahr auch Euer zweiter Sohn starb. Ich bin mir sicher, er wird Eure Kinder niemals ersetzen können, aber Euch sicherlich ebenso mit Stolz und Liebe erfüllen, wie die ersten, mein Freund.

Alles Gute.
 


 


 

Ende von Band 1
 

Weiter gehts in Band 2:

http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/385163/243828/
 

Werbung für YAOI-Fans

Kurzgeschichte: Nevar x Jack

http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/385163/282412/
 

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Persönliches Blabla und nicht wichtig für die Geschichte:
 

Ende Sullivan O'Neil - Band 1 - 29.03.2010
 

Wow, es sind gerade mal... sechs Monate vergangen? Und mittlerweile gibt es bereits Band zwei und dieser Band hat schon 24 Kapitel! (Also schnell weiter lesen ;-) )

Kapitel 25 ist fast fertig und... Wow! Ich habe wirklich Menschen gefunden, die diese Geschichte lesen.

Ich möchte diesen Leuten danken, auch denen, die ich gar nicht kenne. Ich hoffe, dass dieses kleine Werk noch bekannter wird, denn es spornt mich ungemein an und ich merke, dass die... äh... virtuelle Tastaturtinte nur so aus meinen Fingern...tippt?

Desto mehr lesen, desto schneller werde ich und umso mehr Spaß macht es mir, weiter zu schreiben.

Besonders danken tue ich meinen Freund Ama, der stets mit mir die neusten Dinge durchliest, durchgeht, korrigiert und teilweise stundenlang mit mir darüber redet, Vermutungen anstellt und meine Fantasie nur umso mehr anspornt.

Als zweites danken möchte ich meiner Mutter, die nun auch beginnt, jedes einzelne, teilweise recht mühsame Kapitel zu lesen und mit Spaß dabei ist.

Aber auch jeder andere darf sich angesprochen fühlen! Danke!

Wie ihr nun bereits raus gehört/gelesen habt, geht es in Band zwei weiter, richtig.

Sullivan hat sich ja nun endlich für seinen Weg entschieden und wohin ihn dieser führt, erfahrt ihr in „Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil Band 2“, ebenfalls hier unter meinen FF's vertreten.

Viel Spaß beim weiter lesen und lasst mir ruhig einen kleinen Kommi, einen GB-Eintrag oder zumindest eine ENS da, damit ich weiß, dass Ihr meine Geschichte lest oder gelesen habt. Ich freue mich wirklich sehr darüber und nein, das sollte nun keine Werbung sein. XD

Also dann, genug der Schmeichelei und Schleimerei.

Weiter geht es mit Band 2.

(Und das reimt sich. <.< Ein bisschen...)
 

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Nachtrag 21.12.2011

Das letzte Kapitel habe ich im April hochgeladen und seitdem ist bei Sullivan nichts passiert. Die Geschichte stand lange still, aber nun, endlich, habe ich den Roman wieder aufgegriffen. Heute habe ich das letzte Kapitel von Band 1 korrigiert und möchte mich vor allem bei Funkenspiel bedanken, denn ohne sie hätte ein Remake sicher noch gut ein Jahr gedauert. Auch denen, die sich - so wie ich - auf eine Fortsetzung freuen, danke ich. (Zum beispiel Pataya ^__^) Ich werde jetzt Band 2 lesen und dann geht es munter weiter, denke ich. Ich habe viele Ideen und kann es kaum erwarten, Sullivans Geschichte endlich zu beenden! Aber vorher:

Weiter zu Band 2 ;D
 

Danke und frohe Weihnachten!
 

Eure Joé~♥



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Von:  Momachita
2013-11-15T21:52:58+00:00 15.11.2013 22:52
Nach über einem Jahr habe ich es endlich geschafft und habe das erste Buch fertig gelesen.
Mannomann. Über ein Jahr lang hat mich die Geschichte nicht losgelassen. Immer wieder habe ich mich daran zurück erinnert und ab und zu (heimlich oder mit anschließendem Kommentar) das ein oder andere Kapitel gelesen. Nun, nachdem ich knapp 3 Tage ans Bett gefesselt war, habe ich endlich auch das letzte Kapitel des ersten Buches deines wunderbaren Epos geschafft.
Ich bin unendlich beeindruckt von deinen Charakteren, den Schauplätzen und den Emotionen, die du mit deiner Geschichte vermittelt hast.
Bei kaum einer anderen Geschichte hier auf mexx (und auch in der Welt des gebundenen Buches) habe ich mehr das Gefühl gehabt, dass mich etwas mit dem Autor verbindet, dass der Autor (bzw. die Autorin) etwas mit mir geteilt hat. Und dafür ein großes und von tiefem Herzen kommendes: Dankeschön!
Vor kurzem erst habe ich von einer eine Art Crowdfunding-Seite speziell für angehende Autoren/Schriftsteller gelesen. Leider weiß ich nicht mehr wie sie hieß. Aber solltest du darüber eventuell der Veröffentlichung deiner Geschichte einen Schritt näher kommen, weißt du hoffentlich, dass ich dich unglaublich gerne unterstützen und eines der Bücher kaufen würde. Diese Geschichte gedruckt in Händen zu halten wäre eine außerordentliche Ehre.
Von:  Momachita
2013-07-24T10:31:05+00:00 24.07.2013 12:31
Ich mache so etwas ja wirklich ungern, aber an dieser Stelle muss ich doch noch mal auf eine Textstelle hinweisen, die mir aufgefallen ist:
"Doch die Tatsache, dass sie zusammenbrach, nur als ich mich hinaufsetzen wollte, verwehrte mir diesen unwahrscheinlich wunderschönen Ausblick, ironisch gemeint."
Dieses ironisch gemeint passt nicht, bzw. ist völlig überflüssig, wie ich finde. Hat mich stark im Lesefluss gehindert.
Aber der Rest war wieder einmalig.
Von so einer Feuerprobe hab ich generell schon mal gehört, wusste aber nie wirklich, was damit gemeint war. Das hast du wirklich gut beschrieben. Angsteinflößend gut. Ich werde es mir die nächsten Tage 2 mal überlegen, ob ich meine Kerzen anzünden möchte.
Und dieser ekelhafte Priester... Erpresser. Dreckiger, mieser Erpresser.

Eins möchte ich dich noch wissen lassen, ehe es mich weiter zum nächsten Kapitel zieht: mir fällt es schwer - insbesondere zurzeit, da ich viel Umzugsstress hatte und in meiner Wohnung noch kein Internet ist - die Zeit zu finden, deine Geschichte zu lesen. Aber hiermit weißt du, dass ich immer mal wieder dran denke und reinschaue :)
Außerdem bin ich kein Freund von Texten auf Computerbildschirmen lesen. Bekomme teilweise Kopfschmerzen davon & lese lieber direkt gedrucktes. Wenn du dieses Buch also tatsächlich einmal rausbringen solltest - sag sofort Bescheid! :>
Von:  Momachita
2013-06-07T12:28:54+00:00 07.06.2013 14:28
Oh man, ich hab wieder viel zu lange pausiert.
Dennoch, als ich vorhin mit dem Kapitel (Achtung: überflüssige Nebeninformation, die niemand wissen will!), auf dem Klo sitzend, begonnen habe, konnte ich wieder nicht aufhören, es zu lesen. So spannend! Ich liebe deine Charaktere einfach zuuu sehr! :D
Auch wenn ich nur unregelmäßig zum Lesen komme, bereitet es mir immer wieder ein Vergnügen, wenn ich wieder mal auf Son stoße und weiterlese. Danke dafür!
Von:  -Ritsu-
2013-03-29T21:53:09+00:00 29.03.2013 22:53
So jetzt schreib ich dir hier auch noch ein Kommi bevor du mir den Kopf abreißt xD
Nachdem ich die ganze Geschichte bis hier sogar für meine Verhältnisse schnell ausgelesen habe hast du mich völlig geflasht <3
Ich muss jetzt unbedingt schnell weiterlesen und rausfinden wie es weitergeht~
Das meißte was ich loswrden wollte hab ich dir ja schon gesagt als du mir Löcher in den Bauch gefragt hast also schreib ich es hier nicht nochmal alles hin sonst geht mein Kommi am Ende über mehrere Seiten xD
Auf jeden Fall freue ich mich jetzt schon auf vieeele weitere Seiten die mir die langen Wege zur Schule und zurück versüßen <3
(und ich hoffe ich muss nicht doch noch in der Bahn weinen xD)
Von:  -Ritsu-
2013-03-25T14:41:48+00:00 25.03.2013 15:41
Sooo jetzt muss ich hier auch noch wa zu schreiben wo ich schon anfange zu lesen, stimmts?

Zu erst mal: Warum hab ich nicht schon früher angefangen xD Das was ich hier bis jetzt gelesen habe klingt genau wie die Art Buch die ich liebe x3

Auch wenn du sagst das du es hier am Anfang nicht gut geschrieben findest muss ich sagen das ich es doch schon mag.
Man merkt zwar bei lesen das es noch nicht wirklich ein ganz ausgereifter Schreibstil ist, aber es ist doch schon ein sehr guter Anfang.
Außerdem kann ich deinen Protagonisten schon jetzt leiden und bin gespannt wie es jetzt mit ihm weitergeht <3

Puuuh jetzt hab ich doch meine Meinung geschrieben xD Sei stolz auf mich normalerweise bin ich ein böser Schwarzleser~
Von:  Momachita
2013-03-24T08:53:49+00:00 24.03.2013 09:53
Oh Fuck.

Liebe macht blind, wie es so schön heißt.
Oder in diesem Fall toll.

Wieso habe ich das Gefühl, dass es nochmal schlimmer werden wird, bevor Son den großen Schritt macht, um zu dem zu werden, was er schon ist, wenn er die Briefe erst mal schreibt...
Die Frage ist jetzt nur: wer hat den "Fatalen Fehler" begangen? Pitt, weil er mal auf Klo musste, oder doch schon Son, dass er sich nicht selbst zurückgehalten hat... unser lieber Son scheint mir viel zu wenig auf sich selbst bedacht zu sein. Das geht oftmals schlecht aus...
Oh man, ich muss sagen, das Kapitel macht mich fertig, wie kaum ein anderes. Hin- und hergerissen bin ich, ob ich wohl weiterlesen soll, wenn er jetzt da bei den Irren eingesperrt bleiben sollte. Einerseits verträgt das vielleicht mein Magen zu solch früher Stunde mal wieder nicht *zwinker*, andererseits will man ja schon wissen, wann es endlich wieder besser wird für Son.
Ich hoffe ja insgeheim, das irgendwann so eine Art Bruchtal-Sequenz kommt und Son an einem hellen, freundlichen Ort aufwacht, nachdem er all das Übel überstanden hat. Ob diese Hoffnung wohl vergebens ist..?
Ich werde es wohl nie erfahren, wenn ich mich nicht aufraffe.
Nun denn, also: auf zum nächsten Kapitel!
Von:  Momachita
2013-03-22T12:25:45+00:00 22.03.2013 13:25
Ein Kapitel, durch das ich mich sehr leicht durchlesen konnte.
Eine sehr gut gewählte Überschrift, wie ich finde! Simpel, aber passend.
Eigentlich hatte ich mich schon viel häufiger zu den Überschriften melden wollen, weil die doch sehr oft sehr gut gewählt sind und das alleine ja auch eine Kunst ist, das gut hinzubekommen.

Es ist super, dass Son genau das herauszufinden versucht hat, was auch mich so sehr beschäftigt hat: Wer ist die Frau?
Genauso schade - aber nun mal harte Realität - ist, dass er nichts herausfinden konnte.
Und genauso wie Son sich gefragt hat, wie lange er wohl noch dort arbeiten muss, stelle ich mir die Frage, wie lange ich noch über Irre und dem Ausreißen Ihrer Nägel lesen muss... Hach, so langsam sehne ich mich doch nach etwas Licht und Sonnenschein in Sons Welt.
Und wie gut, dass ihm seine Menschlichkeit gewahr bleibt. Dass er nicht so abstumpft, wie alle anderen um ihn herum.
Von:  Momachita
2013-03-22T10:57:13+00:00 22.03.2013 11:57
Ausreißen.
Alles in mir hat sich zusammengezogen, sag ich dir, alles, als ich das gelesen habe.
Mir geht sowas ja immer durch Mark und Bein... wenn ich sowas nur höre oder lese, hab ich immer das Gefühl, dass mir das gleich auch passiert.
Für 'nen kurzen Moment hab ich gedacht "Nee, du liest nicht weiter..."

Ich bin dir sehr dankbar, dass du das nicht haarklein beschrieben hast. Die blutigen Hautfetzen und Zehennägel, die Son eigentlich noch wegräumen sollte, haben mir dann aber auch echt gereicht.

Diese Frau... ich weiß nicht, was ich von der Stelle mit ihr halten soll. Sie wirkt so unwirklich (sowohl die Frau, als auch die gesamte Szene mit ihr). ein bisschen zu Hollywood-Klischeehaft...
Wer ist sie? Hmm... das gibt mir echt zu denken.
Und warum so eine Person in die Geschichte einbauen... Vor allem noch, an so einem Ort.
Das erste mal, dass ich mich so richtig wundere über die Entwicklung der Geschichte. Ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Wundern ist, werd ich noch sehen, wenn ich weitergelesen habe.
Von:  Momachita
2013-03-22T09:09:59+00:00 22.03.2013 10:09
Ich hätte zu Beginn des Kapitels eindeutig kein Butterbrot essen sollen. Das wäre mir ja fast wieder hochgekommen. Da kann man ja schon sagen, dass ich "zum Glück" von der Arbeit um mich herum ein wenig mehr vom Text abgelenkt war.

Der alte Esel und die Katze. Fehlen nur noch ein Hund und ein Hahn und wir haben die Bremer Stadtmusikanten zusammen!
Bei der Beschreibung von Esels Rauchstil hatte ich sofort Gandalf vor Augen, wie er in Herr der Ringe seine Pfeife pafft und ein Segelboot (war doch eins, oder?) aus Rauch ausbläst. Esel scheint mir ein Typ zu sein, der das auch drauf hätte, wenn er nur könnte.
Wieder ein Charakter auf jeden Fall, den du sehr schön greifbar für den Leser gemacht hast. (Wobei die meisten deiner Charaktere so sind! Bei ihm fällt es mir nur mal wieder so gut auf.)

Man hat sehr schön gemerkt, wo Sons Punkt war, sich wieder zusammenzureißen.
Und das Ende des Kapitel lässt ja schon schwer hoffen, dass er sich bald irgendeinen Plan zurechtschrauben wird. Einen Plan um da rauszukommen, aber vielleicht auch ein ganz allgemeiner Plan zum Leben. Wir werden sehen~
Von:  Momachita
2013-03-21T14:20:07+00:00 21.03.2013 15:20
"unsicher ob aus Höflichkeit, oder Unsicherheit"
"So lang er wirkte, so dünn wirkte er."
Sehr viele Wortwiederholungen teilweise in einem Satz. Ich will mich gar nicht so sehr davon stören lassen, aber es sticht doch sehr stark hervor. Naja, in der ausgebesserten Version hast du die Stellen sicher schon längst... nun ja, ausgebessert. ;)

Ich finde es ein wenig verwirrend, dass Charles erst als "fast kleiner" als Son beschrieben wird und dann im Folgenden von Son als Zwerg gehandelt wird. Klar kann man es als Übertreibung verstehen und dass Son ihn nicht ernst nimmt, aber ich habe sofort das Bild eines Kleinwüchsigen im Kopf, wenn ich so lese, dass er an ihm hochzuklettern versucht... die Formulierung halte ich an dieser Stelle für nicht sehr gut gewählt.

Ich hab auch ein sehr sehr mulmiges Gefühl, wenn ich gleich das nächste Kapitel anstrebe. Vielleicht warte ich doch lieber noch einen Tag..?
Dieser hoffnungslose Son... ich hoffe für ihn mal mit, dass es irgendwann wieder etwas besser wird. Dass es hoffentlich bald wieder besser wird. Langsam geht mir seine Melancholie an die Nieren.


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