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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil

Das Tagebuch eines Gesuchten
von

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Fataler Fehler

Meine Wut auf Pitt legte sich im Laufe des Tages etwas, dennoch war ich recht mürrisch. Was, wenn ich abgeholt wurde, ohne dass ich mich von Mary-Ann verabschieden konnte?

Ich mochte sie, auch wenn es schwer war, das zuzugeben. Sie war eine Tolle, das stimmte. Wenn sie sprach, dann driftete sie im Laufe des Satzes immer mehr ab und am Ende kamen verwirrte Worte und Sätze heraus. Aber es war interessant, mit ihr zu reden. Es war interessant überhaupt mal wieder zu reden. Und ein wenig verrückt war es auch. Mit keinem konnte ich Gespräche führen, nur mit einer Irren. Hätte es nicht anders herum sein müssen?

Man musste auf ihre ersten Worte achten und versuchen, den Rest irgendwie zu Recht zu biegen und das machte jedes Gespräch amüsant und zu einem kleinen Abenteuer. Manchmal fragte ich mich, ob sie das mit Absicht tat, mir zuliebe. Ich glaube, sie hatte gemerkt, wie ich diese Rätsel mochte.

Dennoch würde ich es Pitt nie verzeihen, sollte ich am nächsten Tag abgeholt werden, ohne mich zu verabschieden. Es war irrsinnig und erinnerte an den Trotz eines Kindes, aber ich würde ihm die Schuld dafür geben. Die Tatsache, dass ich seit Wochen niemanden zum Reden gehabt habe wurde mir nur umso klarer, als wir gemeinsam im Zimmer saßen und still zu Boden starrten. Er saß auf dem unteren Bett, ich wieder auf meinem Schemel. Die Stille war fast unerträglich und erinnerte mich an meine Klosterzeit. Hatte ich deswegen so das Bedürfnis, mich mit jemandem zu unterhalten? Weil ich so lange hatte schweigen müssen?

Ich versuchte es mit Pitt. Viel erwarten tat ich nicht, aber dennoch wollte ich ein Gespräch wagen. Er war es gewohnt zuzuhören und zu nicken, ganz gleich, was Charles oder der Zuchtmeister ihm sagten. Aber wenn man ihm Fragen stellte, war dann eine nähere Unterhaltung möglich?

Ich zwang mich dazu ein Gespräch mit ihm zu beginnen, ehe mich die Zweifel noch davor übermannen konnten. Ich hielt dieses ständige Schweigen nicht mehr aus!

„Warum bist du hier?“

Pitt starrte wie ich vor sich hin, mit den Armen neben sich auf die stark riechende Matratze gestützt und scheinbar völlig gedankenverloren. Es dauerte einige Sekunden, bis er reagierte. Dann sah er auf und mich fragend an.

„Ich?“

Es war eine unsinnige Frage. Schon dieses erste Wort von ihm ließ mich innerlich die Augen verdrehen. Vielleicht erwartete ich zu viel von diesem Gespräch? Ich schraubte meine Anforderungen etwas runter und wurde bewusst noch freundlicher:

„Ja, du. Warum bist du hier im Tollhaus, Pitt? Was hast du angestellt?“

„Ach.“, er wackelte mit den Beinen, so dass er fast kindlich wirkte, trotz seiner enormen Größe und obwohl er sicherlich schon um die 26 Jahre alt war.. „Charles hat Mist gebaut. Das macht er öfters.“

„Seid ihr Brüder?“

„Er und ich?“, als ich nickte lachte Pitt, ein wenig übertrieben vielleicht und winkte ab. „Nein, bloß nicht, sind wir nicht. Wir sind keine Brüder.“

„Und was hat er für Mist gebaut? Und was hatte das mit dir zu tun?“, ich rutschte mit meinem Schemel etwas näher an ihn heran und legte mein linkes Bein mit dem Knöchel auf das rechte. Neugierig sah ich ihn an. Pitt dachte kurz nach, dann zuckte er mit den Schultern. „Das weiß ich nicht.“

„Du weißt es nicht?“

„Nein.“, antwortete er leise und sah zu Boden. „Charles sagte: Pitt, geh du da nach vorne und pass auf, dass keiner kommt. Ich geh solange rein. Pfeif drei Mal wenn du einen siehst.

Na ja und das habe ich dann versucht.“

„Nur versucht?“, hakte ich nach. Pitt nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die laufende Nase, während er schniefte. Das verstärkte die Wirkung eines riesigen Kindes vor mir nur umso mehr. Ekel überkam mich, als er dann seine Hand an seinem linken Hosenbein abschmierte.

„Ich kann nicht pfeifen, weißt du? Charles war weg, na ja… Und dann kamen Leute, fünf Stück, Soldaten. Und ich wollte ihn warnen und hab gepustet und gepustet. Na ja… Aber es passierte nichts. Kann ich halt nicht.“

Das brachte mich zum Lachen. „Hast du das Charles denn nicht gesagt?“

Pitt zuckte mit den Schultern und sah beschämt zu Boden. Ich musste lachen.

„Ich wollte es ihm ja sagen.“, begann er dann verlegen sich zu verteidigen. „Aber er hat mir nicht zugehört. Charles hört nie zu.“

Ich schüttelte nur grinsend den Kopf. Vor meinen Augen sah ich Charles, wie er in irgendeinen Laden hinein kroch und den ängstlichen Pitt davor, wie er pustete und pustete, dass der Speichel nur so durch die Luft wirbelte. Und verwirrte Wachen, die vor ihm stehen blieben und ihn anstarrten, nicht mal erahnend, was er da versuchte. Was auch immer sie vorgehabt hatten, Charles musste eine mächtige Pleite erlebt haben. Das erklärte seine miese Laune und seine Aggressionen, wobei er sicher bereits vor diesem Vorfall sehr negativ gewesen sein musste. Wenn man jemanden wie Pitt als Partner für einen Einbruch oder ein anderes Verbrechen aussuchte, dann muss man echt arm dran sein. Am liebsten wollte ich Pitt raten, dass er sich mehr durchsetzen sollte. Sich das Wort erkämpfen, hart bleiben, den Mund aufmachen. Aber vielleicht hätte mir das Chancen verbaut, seine Naivität und Unsicherheit eines Tages zu nutzen. Und das Allerschlimmste war, ich fühlte mich bei diesem Gedanken nicht einmal schlecht. Meine Siege der letzten Tage waren mir zu Kopf gestiegen und ich war etwas überheblich geworden. Nicht viel – es ging weitaus stärker – aber immerhin spürbar.

Zudem lud Pitts Art einen geradezu ein, ihn gegen andere auszuspielen. Ein wenig Leid tat er mir schon.

Als er eine Frage stellte schreckte ich aus meinen Gedanken hoch.

„Und du, Sullivan? Was hast du angestellt?“

Was sollte ich antworten? Die Wahrheit? Aber wozu? Ich musste Pitt nichts beweisen. Er war nicht Robert oder Kai und auch nicht Charles. Also lehnte ich mich zurück und mit dem Rücken gegen den Tisch.

„Gar nichts.“

„Gar nichts?“, Pitt wirkte ungläubig. „Wenn du nicht drüber reden willst, versteh ich das.“

„Nein, nein. Ich habe wirklich nichts getan. Ich bin unschuldig hier, durch ein Missverständnis.“, doch das reichte ihm nicht, das war mehr als nur offensichtlich. Er sah mich forschend an und ich konnte in seinen Augen erkennen, dass er darüber nachdachte, ob er fragen sollte oder nicht. Mir war es lieber, dass wir jetzt darüber sprachen. Jederzeit konnte ein weiterer Zimmergenosse zu uns stoßen, ein neuer Angeklagter. Und wer weiß, ob es gut wäre, wenn dieser mich auch für unschuldig hielt?

Auf der Caroline hatte ich gelernt, dass es nicht immer schädlich war, mit Gewalttaten Eindruck zu schinden. Pitt schaffte es nicht, sich zu überwinden, aber nun darüber zu reden erschien mir am logischstem. Ich fügte mit einem Lächeln hinzu, da nur von einem frommen Mönch stammen konnte:

„Ich hatte einen Unfall und als ich zu mir kam, war ich an Bord von Piraten und musste für sie arbeiten. Nun wurde ich der Piraterie angeklagt, weißt du?“

„Verstehe.“, er rutschte etwas nach hinten und lehnte sich an die Wand. „Üble Sache.“

„Es ist in Ordnung. Gefängnis wäre wohl schlimmer.“

Da waren wir uns einig, denn er nickte eifrig. „War noch nie drin, aber Charles. War eine üble Sache.“

„Das glaube ich dir gern.“

„Bist du Gelehrter oder so was?“, wieder wischte er sich über die Nase. Ich sah zum Fenster in der Hoffnung, nun müsste ich es nicht sehen, aber ich hatte zu spät reagiert und mit ein wenig Ekel in der Stimme log ich: „Nein, wirke ich so?“

„Bisschen. Du redest viel und lang. Wie so ein Bücherwurm.“

„Bücherwurm?“, verwirrt sah ich ihn an.

„Ja, Bücherwurm. Bei uns im Dorf, da hatten wir einen Apotheker. Der Sohn hat auch immer so geredet. So wie du. Ganz viel und lang und dauernd Fragen gestellt. Charles mochte ihn nicht.“

„Ach so.“

Wir sprachen noch einige Zeit weiter. Es war anfangs mühsam und ermüdend und schon bald empfand ich nur noch das Bedürfnis schlafen zu gehen. Pitt begann irgendwann förmlich zu sprudeln, was alles noch anstrengender machte. Er erzählte, dass die zwei aus einem Dorf weit im Westen stammten und von irgendwelchen Dorfbewohnern und ihren Erlebnissen. Von einer alten Frau mit Buckel, der sie einen seltsamen Staub in den Tee gemischt hatten, woraufhin sie wild kreischend über die Felder gerannt war. Von einer Kuh namens Anneliese, die zu Weihnachten doppelt so viel Milch gab, weil sie Angst hatte, dort geschlachtet zu werden. Von einem Jungen, der total frech war und die anderen immer wieder verpetzte. Ich erfuhr, dass Charles und er Nachbarn gewesen waren und schon früher jede Menge angestellt hatten. Ohne Frage war Charles jedes Mal der Kopf dieser Dinge gewesen. Mir wurde klar, dass es unmöglich war, Pitt von Charles los zu bekommen. Seit der Kindheit schon rannte er dem Kleineren hinterher, wie ein Hund. Vielleicht war es möglich, dass er damit aufhörte, ja. Aber er würde seinen Herrn lediglich ersetzen. Durch den schlechten Umgang hatte er verlernt auf eignen Beinen zu stehen – wenn er es überhaupt jemals gekonnt hatte. Fast jeder seiner kleinen Erzählungen endete mit „Charles mochte ihn nicht.“, oder „Charles mochte sie.“ Es war völlig absurd, als hätte Pitt kein eigenes Leben. Ich fragte mich, was wohl mit ihm geschehen würde, wenn sie Charles eines Tages hängten. Würde er sich auch aufknüpfen? Oder war er bereits so stark mit seinem Leben verschmolzen, dass er von alleine starb?

Mir schmerzte der Kopf, als wir uns ins Bett legten, aber ehe ich wirklich einschlafen konnte quälten mich die Gedanken an Mary-Ann. Die dünne Frau spukte in meinem Kopf herum wie ein Geist und im Halbschlaf verarbeitete ich die Reste des Tages. Ich sah den kleinen, haarigen Teufel mit Schnurrhaaren vor mir, einen Mann der Mary-Ann am Arm zum Tollhaus zerrte und ich stellte mir vor, wie sie wohl vor ihrer Zeit im Tollhaus aussah. In meiner Fantasie war sie wunderschön, anmutig und jung. Sie trug ein samtenes, dunkelgrünes Kleid und um den Hals eine dünne, perlenbesetzte Kette mit einem silbernen Anhänger daran. Immer mehr driftete ich ab, bis ich letzten Endes einschlief. Doch auch in meinen Träumen ließ sie mich nicht los. Wer war sie? Und was wusste sie, dass man sie so sehr bestrafen musste? Hatte Mary-Ann etwas von ihrem Mann erfahren und wurde daraufhin von ihm hier eingesperrt? Wer war ihr Mann? Ein Lord? Ein Graf? Und was hatte das alles mit einem Pastor zu tun? All das fragte ich sie, während wir wild umher tanzten, in einer riesigen, bunt befliesten Halle. Wir befanden uns in einer Art Schloss. Sie war die Prinzessin, ich der Prinz.

Wir tanzten die ganze Nacht und auch den Tag darauf. Hinter dem Fenster sah ich Sonnenauf- und -untergang, Mond und Sterne, Sonnenschein und Wolken. Sie schwang ihren Rock beim Drehen, so dass sie aussah, wie eine blühende Knospe. Ihr Unterrock verschwamm im Dämmerlicht der Kerzen und schien zu strahlen. Sie war wunderschön, wie eine Elfe oder ein Engel, doch auf jede meiner Fragen lächelte sie nur.

War sie eine Adlige? Und warum verbrannte man sie nicht einfach?

Doch statt zu antworten lehnte sie sich zurück und sank in meine Arme. Einige Sekunden betrachtete ich ihr wunderschönes Gesicht. Ihre grünen Augen passten zu ihrem Kleid und der kleine Leberfleck über ihrer linken Augenbraue verlieh ihr einen wunderschönen, fast göttlichen Ausdruck. Dann zog ich sie mit Schwung wieder hoch und drehend tanzten wir weiter. Wir konnten nicht mehr aufhören. Als würden wir sterben, würden wir anhalten. Auf jeden Fall wollte jemand nicht, dass sie dieses Wissen mit jemandem teilte. Alle predigten, man sollte sich von ihr fern halten, Abstand nehmen, nicht mit ihr sprechen. Der Zuchtmeister drohte sogar mit Strafen, sollte man es dennoch wagen. Was hatte der Zuchtmeister mit dieser Angelegenheit zu tun? Steckte er in dieser Sache mit drin? Dann löste Mary-Ann sich und tanzte allein weiter. All das Vornehme wich von ihr und verwandelte sich in geheimnisvolle, verruchte Bewegungen. Sie wirkte wie eine Zigeunerin. Wie sie sich auf ihren bloßen Füßen bewegte, mir Blicke über die Schulter zuwarf, ihre Haare nach hinten schwang und immer rief: „Komm Prinz, tanz mit mir, tanz!“

Als ich erwachte sah ich sie noch lange vor mir hüpfen und sich drehen, ehe sie im tiefen Schwarz verschwand. Ich lächelte und spürte eine ungemeine Wärme, doch als sie sich aufzulösen begann streckte ich die Hand aus. Wirr griff ich vor mir in die Luft. Ich wollte sie halten, irgendwie, sie durfte nicht verschwinden. Doch ich griff durch sie hindurch und dann war sie verschwunden. Verwirrt saß ich in meinem Bett, klatschnass und überhitzt. Ich hatte Fieber und mein Kopf schmerzte umso mehr.

Die Musik war vorbei. Und der Tanz ebenso.

Vorerst.
 

Mit dem Morgen kam der lang erwartete Regen. Es goss aus Eimern, die Zimmer begannen nach Feuchtigkeit zu riechen und die Luft wurde drückend. Im Tollzimmer war es fast unerträglich und überall gab es Pfützen und tropfte Wasser von der Decke. Auch über meinem Bett tropfte dreckige, braune Suppe hinunter und färbte die Matratze darunter. Aber das waren die kleinsten Sorgen. Im Gefängnis gab es eine kleine Überflutung, bei der auch Pitt und ich aushelfen mussten. Viele der gelagerten Dinge wurden nass und einige Insassen mussten zu weiteren ins gleiche Zimmer verlegt werden. Mir wurde immer bewusster, wie lange ich nun schon im Tollhaus war und wie wenig es noch dauern konnte, bis ich endlich vor den Richter treten durfte. Immer mehr verstärkte sich mein Glauben, dass dann alle Probleme gelöst waren. Ich musste nur Fleiß zeigen und Demut, so wie im Kloster. Dann würde man mir sicher jede Lüge abkaufen.

Der Regen hielt mehrere Tage an, er wollte gar nicht mehr aufhören und das Wasser sammelte sich auf dem Hof. Jedes Mal, wenn ich zur Küche oder ins Lager musste, versank ich bis zu den Knöcheln im Schlick.

Die düsteren Tage wirkten sich auch auf die Stimmung aller Beteiligten aus. Alle waren gereizt oder still, saßen nur herum und schwiegen die meiste Zeit. Es schien fast, als hätte die Sonne nicht nur das Licht, sondern auch sämtliche Fröhlichkeit mit sich genommen- wenn es denn zuvor Fröhlichkeit gegeben hatte.

Zudem wurde mein Fieber immer stärker und schon bald musste ich mir eingestehen, dass die Arbeit trotz Kälte und Nässe nicht das Beste für meine geschädigte Gesundheit war. Ich beschloss, mich etwas zu schonen, jedoch hielt der Zuchtmeister so gut wie gar nichts davon.

Im Laufe der Tage wurde ich ruhiger, mein Hals gereizter und immer mehr verfiel ich wieder meiner alten Last: Der Melancholie, gekoppelt mit Schnupfen und laufender Nase.

Das Fieber betäubte mich. Ich schlich mehr durch die Räume des Tollhauses, als dass ich ging und meine Aufmerksamkeit ließ rapide nach. Ich war nicht der einzige, den die Grippe in ihrem Bann hatte. Auch etliche Tolle begannen zu husten und zu röcheln. Immer, wenn ich das Gefühl hatte gesund zu werden, steckten die Irren mich wieder an.

Der Zuchtmeister hatte lediglich Kopfnüsse dafür übrig und bot mir mehrmals an, einen Arzt zu rufen - aber wer sollte ihn bezahlen?

Ich sollte das Geld dafür später aufbringen - genauso wie die Gerichtskosten. Diese Tatsache ließ mich seinen Vorschlag immer wieder aufs Neue verneinen.

Ich bekam nur halb mit, dass Mary-Ann sich um mich sorgte. Wenn ich im Zimmer der Tollen war, warf sie mir unsichere Blicke zu und fragte mit den Augen, wie es mir ginge, aber antworten tat ich nicht. Ich fühlte mich nicht in der Lage dazu. Mein Hals schmerzte, meine Nase lief und mich packte immer wieder Schüttelfrost. Einige Tage war es so schlimm, dass mir schwindelte und ich nicht aufstehen konnte. Dann brachte mir die Hausmutter warmen Tee und Pitt deckte mich ab und an zu.

Und genau dieses Fieber sollte mir zum Verhängnis werden.

Wäre ich nur zu einem Arzt gegangen. Hätte ich nur die Kosten auf mich genommen...!

Mary-Ann wurde krank und ich gab mir die Schuld dafür. Wenngleich es unsinnig war und ich sie nicht angesteckt haben konnte. Jedes Mal, wenn sie hustete oder wenn ich sie zittern sah, bat ich sie innerlich um Vergebung. Es wurde immer schlimmer. Sogar, als es mir bei Weitem wieder gut ging.

Fast zwei Wochen saß sie schlotternd da, hustete und war leichenblass. Sie hustete so stark, dass ich fast fürchtete, sie würde zusammenbrechen. Der Zuchtmeister nahm keine Rücksicht darauf und so saß sie in ihrem Hemd und fror so stark, dass ihre Lippen blau anliefen. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und auch wenn Pitt mich zurück hielt, irgendwann ignorierte ich seine Worte. Ich schlüpfte aus meinem Leinenhemd, entblößte meinen von Peitschenhieben vernarbten Rücken und half Mary-Ann in den wärmenden Stoff zu schlüpfen. Die Wärme war nur gering, aber ich hoffte, es würde wenigstens ein bisschen helfen.

„Nein, mein Prinz, was ist wenn-...?“, flüsterte sie, doch ich unterbrach Mary-Ann nur und schüttelte den Kopf.

„Keine Angst... Keiner wird davon erfahren, der Meister kam schon lange nicht mehr hier her. Pitt und ich müssen alles arbeiten, weißt du...?“

Und ich hatte Recht damit. Der Zuchtmeister mied das Tollzimmer. Er war zufrieden mit der Arbeit von Pitt und mir. Wieso sich die Hände noch schmutzig machen?

Aber was ich nicht mit einberechnete war Pitt selbst.

Mary-Anns Gesundheit wurde immer schlechter. Man konnte ihrem Zerfall förmlich zusehen. Es war erschreckend, wenn ich sie Tag für Tag sah und mit jedem Mal war sie blasser, zerbrechlicher und schwächer. Ich besorgte ihr Gemüse von der Hausmutter, winzige Fleischstückchen die ich in meiner Stiefelkrempe mit ins Tollzimmer hinein schmuggelte. Pitt musterte es mit Unbehagen und ich versprach ihm, ihn in keinster Weise mit hinein zu ziehen, sollte man uns erwischen. Dennoch wurde er nicht ruhiger. Ich konnte beobachten, wie er nervös wurde, sobald ich mich Mary-Ann nur näherte. Aus Angst, er würde Alarm schlagen wenn der Zuchtmeister hinein kam, schickte ich ihn immer öfter auf den Flur um Wache zu halten. Er sollte mich warnen, wenn der Zuchtmeister kam. Unauffällig und ohne eine Verbindung zu Mary-Ann und mir.

Als es ihr langsam besser ging, entspannte auch ich mich ein wenig. Ihr Fieber sank, aber ihr Husten bestand weiterhin. Manchmal, wenn ich in meinem Bett lag und zur feuchten Decke starrte, meinte ich sie husten zu hören. Natürlich war es nur Einbildung. Aber für diese kurze Zeitspanne, diese gut eine Woche , fühlte ich mich fast mit ihr verbunden. Ich meinte zu spüren, wenn sie an mich dachte, wenn es ihr schlechter ging oder besser. Ich meinte zu hören, wie sie meinen Namen flüsterte oder mir Wünsche und Träume sandte.

Und dann geschah es.

Ich war bei ihr. Mary-Ann saß wie eh und je vor mir und ihr schneeweißes Gesicht war gezeichnet von dunklen, grauen Augenringen und Flecken. Sie war wieder gesund, aber ganz erholen würde sie sich wohl nie. Nicht so lange sie hier war zumindest.

Wir saßen lange beisammen und schwiegen oder ich erzählte ihr von meiner Zeit im Kloster. Ich tat es heimlich, nebenher, stets, als würde ich über jemand ganz anderes reden. Sie durchschaute mich, aber korrigieren tat Mary-Ann mich nicht. Sie ließ mich gewähren und hörte zu. Es tat gut, sich auszusprechen. Ich erzählte ihr alles. Wie sehr ich meinen Lehrer im Waisenhaus hasste, wie sehr ich das Beichten hasste und wie sehr die Bußen und die Gebete. Ich gestand ihr alles, denn ich vertraute ihr, wieso auch immer. Es war vielleicht riskant all meine blasphemischen Gedanken einfach so herauszuplaudern – aber wem sollte sie es weitersagen? Sie erfuhr immer mehr von mir, unendlich viel. Selbst aber blieb sie weiterhin verschlossen. Mary-Ann gab mir keine weiteren Hinweise auf ihre Vergangenheit und wenn ich fragte tat sie, als hätte es unser Gespräch nie gegeben. Wir sprachen so lange miteinander, bis die Tür aufging. Ich drehte mich herum, damit rechnend, dass Pitt uns vor dem Zuchtmeister warnen wollte.

Aber es war nicht Pitt.

Nein, es war nicht Pitt, dieser große, lange Kerl mit wenig Verstand und viel Herz.

Es war nicht Pitt. Jener, der mir beistehen wollte, der mich warnen wollte.

Nein, es war nicht Pitt.

Es war der Meister selbst.

Der Zuchtmeister stand in der Tür und seine Augen zeigten mir, dass ich einen unwahrscheinlichen Fehler begannen hatte. Seine Anwesenheit war ähnlich wie ein Stein, der in einen See stürzte. Er erschien in der Tür und wie ein Wasserkreis schlug sein Dasein durch den gesamten Raum. Stück für Stück registrierte jeder, dass er da war. Ein Toller nach dem anderen schreckte zurück, wimmerte oder machte sich klein. All die Gestalten schrumpften hinab bis zum Boden, verbeugten sich bis zur Erde, umklammerten ihre Köpfe und drängten sich aneinander in die hintersten Ecken. Nur ich blieb stehen.

Der Zuchtmeister und ich standen da und starrten uns an. Ich sah in seinen Augen, dass er verdutzt war. Ein Blick zu meinem Hemd an Mary-Anns Körper, dann kam Erkenntnis. Er verstand, was hier vor sich ging und er hieß es nicht gut. Seine Augen wurden schmal, finster, fast schon verhasst.

„Was – bei Gott – tust du hier?!“, brachte er zwischen seinen Zähnen hervor, langsam und bedrohlich, als würde er mich mit den Worten ersticken wollen.

Ich wusste keine Antwort und sah unsicher zu Pitt, der hinter dem Zuchtmeister erschien. Er schloss gerade seine Hose, scheinbar hatte er sich erleichtert und seinen Posten dafür einfach verlassen. Nun erkannte er, was wegen ihm geschehen war. Er wurde leichenblass.

Dann sah ich wieder zum Meister zurück. Der Mann hatte sich nicht ansatzweise gerührt, aber ich registrierte, dass seine Finger leicht zitterten. Es sah aus, als würde er sich zurückhalten müssen, sich nicht auf mich zu stürzen.

Unsicher warf ich einen Blick zu Mary-Ann. Auch sie war in ihrer Angst verschwunden, untergegangen, verloren. Hatte sie mich vergessen? Würde sie mitbekommen, wenn der Zuchtmeister mich nun umbrachte? Oder würde sie es nicht einmal bemerken?

Plötzlich schrie er auf und stürzte auf mich zu. Ich zuckte zusammen und hatte gerade mal Zeit, ihn wieder anzusehen. Der Meister schrie und tobte, riss mich nach vorn und einem Satz landete ich auf dem Boden. Er verwandelte sich in ein Abbild des Wahnsinns und sein Gesicht zu einer Grimasse des Hasses und der Verachtung. Kaum stand ich wieder aufrecht, trat er mir in die Kniekehlen oder versetzte mir einen Kinnhaken. „Du Verräter!“, schrie er mich an. „Du wagst es, mit einer Tollen zu verkehren?!“, und „Ich habe dich gewarnt, halte dich fern! Du hörst nicht?! Dann prügele ich es dir eben ein!“

Ich hatte kaum eine Chance, ihm auszuweichen. Irgendwann hörte ich Knallen und Zischen durch die Luft, ohne es wirklich orten zu können. Erst wenige Sekunden, nach mehreren Schlägen, verstand ich, dass es der Lederriemen war. Schrie ich?

Jemand schrie. Aber alles ging so schnell, ich hatte nicht einmal Gelegenheit zu schreien. Wer schrie dann?

Verwirrt sah ich zu Mary-Ann, auf dem Boden liegend, gekrümmt. Sie saß in der hintersten Ecke, förmlich hinein gequetscht und hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Dennoch sah sie zu mir und ihre grelle Stimme fuhr durch den Raum:

„Nein! So lasst ihn doch!“

Doch der Zuchtmeister hörte sie gar nicht. Sie fuhr hoch und stürzte zu ihm, versuchte ihn zurückzuhalten und von mir fern zu ziehen, aber sie hatte kaum Kraft. Wutentbrannt stürzte er nun auf sie los. „Du hast ihn verhext!“, schrie er dabei, während er auf das Bündel am Boden einschlug. „Du Hexe! Verdammte Hure! Er ist ein Besessener!“, und als sie endlich aufhörte zu schreien, trat er weiter auf mich ein. „Du Elender! In die Hölle komme ich wegen dir! Ich werde dir deine Tollheit austreiben! Wahnsinniger! Besessener!“

„Ich bin nicht verrückt!“, schrie ich und versuchte zu entkommen. Ich kam auf die Knie und wollte vorwärts kriechen, doch meine Finger rutschten aus auf dem feuchten Boden. Ich stürzte in die braune Suppe und bekam keine Luft mehr. Seine Tritte trafen meine Seiten und meinen Brustkorb. Panik überfiel mich. Dann ein Tritt gegen den Kopf. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich bereits wieder auf den Knien war. Er war so fest, dass ich zur Seite schleuderte. Hilflos sah ich zu Mary-Ann. War sie tot?

Dann zu Pitt.

Er stand nur da. Stand in der Tür und glotzte. Weder mit Reue, noch mit Gehässigkeit.

Und dann sah ich nichts mehr.
 

Ich kam ausgesprochen langsam zu mir. Als erstes spürte ich meine Rippen, anschließend meinen Kopf. Wie in Trance stöhnte ich und drehte mich auf die Seite. Es schien fast, als würde der Schmerz mich in die reale Welt zurückziehen. Ich hielt mir die Stirn, als könnte ich den Druck damit verringern, aber es funktionierte nicht. Ich nahm verkrustetes Blut in meinem Gesicht war und metallenen Geschmack in meinem Mund. Etliche Körperteile und auch mein Gesicht erschienen mir geschwollen und ich bekam nur schwer Luft. Ich stöhnte erneut, diesmal vor Verzweiflung und Wehleiden. Erst dann öffnete ich die Augen.

Ich lag im Tollzimmer, auf dem feuchten Boden und mit einem Mal kamen der Gestank und der Ekel zu mir zurück. Ich würgte auf und erbrach mich auf dem Boden. Ich schaffte es nicht, mich aufzusetzen. Alles schien sich zu drehen. Der Raum wippte mal nach rechts, dann nach links, mein Blick konnte nirgendwo haften bleiben. Gequält schloss ich sie wieder. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir einfach zu sterben. Dann erinnerte ich mich daran, was geschehen war.

Ich sah Pitt vor meinen Augen. Wie er dastand, dieser verfluchte Idiot. Hass erfüllte mich, unbändige Wut. So stark, dass ich das Gefühl hatte, sie wurde mich übermannen. Dann hörte ich Mary-Anns angsterfüllten Schrei. Wie der Zuchtmeister sie schlug, wie sie auf dem Boden lag und sich dann nicht mehr bewegte. War sie tot? Das durfte nicht sein…! Ich zwang mich, mich aufzurappeln und kämpfte mich auf die Knie. Ich nahm den Raum nur verschwommen war. Die Tollen saßen schweigend da, immer noch in die hintersten Plätze gepfercht und starrten mich an. Ich würgte erneut, die Übelkeit nahm kein Ende und ich sah schwarze Punkte. Was war los mit mir? Kurz sackte ich zusammen, ehe ich mich erneut hoch kämpfte und langsam zu Mary-Ann kroch. Es kam mir vor, als würde ich mich kaum bewegen. Jeder Knochen in meinem Körper schmerzte, aber ihr Anblick ließ es mich einfach vergessen. Mary-Ann lag noch immer auf dem Boden, auf den Rücken gedreht, völlig regungslos. Doch ich war so geschwächt, dass nicht einmal Panik in mir aufstieg. Ich kniete neben ihr und wusste nicht, was ich tun sollte. Atmete sie noch? Hörte sie mich? War sie tot?

Ihre Brust hob und senkte sich schwach. Erleichtert atmete ich auf und fuhr durch ihre dünnes Haar. „Mary-Ann…“, meine Stimme war nur ein heiseres Flüstern und ich merkte, wie geschwollen meine Lippe war. „Mary-Ann, komm zu dir…!“

Doch sie reagierte nicht. Hilflos sah ich mich um. Wieso war ich noch im Tollzimmer?

Musste ich nun ewig hier bleiben? Das konnte nicht sein, das konnten sie nicht machen! Ich stand auf, schwankend und zittrig. Ich ging auf die Tür zu, mit ausgestreckter Hand. Sie schwankte und tanzte dämonisch hin und her, wuchs und schrumpfte. Meine Schritte hinterließen schmatzende Geräusche, die sich tausendfach vermehrten und diese wurden immer lauter, metallener, stärker. Sie nahmen meinen Kopf ein und raubten mir das Gleichgewicht. Als ich das Holz dann erreichte merkte ich, dass man abgeschlossen hatte.

Verzweifelt sackte ich zu Boden und ehe ich mich versah, war wieder alles schwarz.

Was war bloß los...?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Momachita
2013-03-24T08:53:49+00:00 24.03.2013 09:53
Oh Fuck.

Liebe macht blind, wie es so schön heißt.
Oder in diesem Fall toll.

Wieso habe ich das Gefühl, dass es nochmal schlimmer werden wird, bevor Son den großen Schritt macht, um zu dem zu werden, was er schon ist, wenn er die Briefe erst mal schreibt...
Die Frage ist jetzt nur: wer hat den "Fatalen Fehler" begangen? Pitt, weil er mal auf Klo musste, oder doch schon Son, dass er sich nicht selbst zurückgehalten hat... unser lieber Son scheint mir viel zu wenig auf sich selbst bedacht zu sein. Das geht oftmals schlecht aus...
Oh man, ich muss sagen, das Kapitel macht mich fertig, wie kaum ein anderes. Hin- und hergerissen bin ich, ob ich wohl weiterlesen soll, wenn er jetzt da bei den Irren eingesperrt bleiben sollte. Einerseits verträgt das vielleicht mein Magen zu solch früher Stunde mal wieder nicht *zwinker*, andererseits will man ja schon wissen, wann es endlich wieder besser wird für Son.
Ich hoffe ja insgeheim, das irgendwann so eine Art Bruchtal-Sequenz kommt und Son an einem hellen, freundlichen Ort aufwacht, nachdem er all das Übel überstanden hat. Ob diese Hoffnung wohl vergebens ist..?
Ich werde es wohl nie erfahren, wenn ich mich nicht aufraffe.
Nun denn, also: auf zum nächsten Kapitel!


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