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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil

Das Tagebuch eines Gesuchten
von

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Verdrehte Welten

Es roch nach Exkrementen. Nach Exkrementen und Blut. Das Eisen schien in der Luft zu hängen, schien mir sagen zu wollen: Hier sterben fast täglich Leute und du bist der Nächste…!

Es schnürte mir den Hals zu und wurde zu einer Art dünnen Nebel, der mir immer tiefer in die Kehle drang. Ich öffnete die Augen und sah den weißen Dunst, wie er umher flog, Kreise schlug und Schleifen drehte. Er wirbelte durch die Luft, als sei er ein Vogel ohne Flügel. Nur langsamer, fast engelsgleich und anmutig. Ich streckte die Hand aus, langsam und bedächtig. Ich wollte es greifen, dieses weiße Seil. Mich daran hinauf ziehen, aufstehen, doch es floss einfach durch meine Finger hindurch und erfüllte den Raum. Ich saß noch immer im Tollzimmer, jedoch nicht mehr an der Tür. War mein Weg dorthin ein Traum gewesen? Und wo war Mary-Ann? Sie lag nicht mehr auf dem Boden, sie war nirgendwo. Um mich herum waren noch immer die etlichen Gestalten in schmutzigen Leinenhemden, aber sie hatten keine Gesichter. Es war ein schwammiges Bild aus weiß und beige. Kein Blick, keine Augen, nur dunkle Flecken auf weißem Untergrund. Ich musste mir den Kopf gestoßen haben. Der weiße Nebel schwamm umher und zerschlug sich mit einem Mal. Er wurde zu Rauch. Der wellige Schwanz, den er hinter sich herzog, wellte in alle Richtungen wie die Freiheit selbst. Nun erstarb sie. Sie verschwand, löste sich auf und war verschwunden. Ich hielt mir den Kopf, er schmerzte unerträglich. Ein dunkler Schatten erschien vor mir, wie aus der Luft. Er war durch die Tür getreten, aber ich hatte es nicht gemerkt. Nun stand er plötzlich da. Verwirrt sah ich zu ihm hinauf. Auch er war nur ein riesiger Fleck, in der Lage, sich zu bewegen. Verzerrte Stimmen drangen zu mir hervor, wie durch eine unsichtbare Wand gepresst. Unverständliche Worte mit unheimlich starkem Echo.

„Er ist zu sich gekommen.“

„Wer?“, fragte ich, doch meine Stimme versagte. Ich hörte mich nicht. Stattdessen registrierte ich einen unheimlich bitteren Geschmack in meinem Mund. Etwas stimmte nicht. Meine Zunge war verfilzt und trocken. Sie brannte schmerzhaft, als hätte ich etwas zu heißes getrunken. Ich war nicht heiser, nein, ich war nur nicht in der Lage zu sprechen. Ich legte meine Hand an den Hals, war er noch da? Krächzend hustete und röchelte ich, schluckte und dehnte meinen Kiefer. Ich hatte Angst, zu ersticken und bekam schwerer Luft.

Ein zweiter Schatten erschien. Er war rötlich und dunkel zugleich. Die dunkelrote Farbe verwirrte mich und schmerzte in meinen Augen, ebenso wie seine Stimme.

„Lasst ihn, er soll erstmal klar werden. Bitte, so gebt mir doch den Tupfer. Ich danke, ich danke. Und nun-… Danke, sehr liebenswürdig. Aber nein, nicht so viel, nicht doch! Ja, so ist es gut.“, ich gab gequälte Laute von mir und schüttelte den Kopf. Doch so sehr ich mich wandte, der Schmerz in meinen Ohren hörte nicht auf. Der erste, dunkle Schatten hielt meinen Kopf an den Schläfen fest und man drückte mich in den Nacken. Ich wollte mich wehren, aber ich wusste nicht wie. Ich hatte vergessen, wie ich meinen Kopf bewegen kann und meine Arme heben. „Gut so, vielen Dank. So und nun zu dir. Ganz ruhig, Junge, du siehst ja schrecklich aus!“

„Wird er genesen?“

„Das will ich doch meinen, mein Lieber, das will ich doch meinen! Das wird den Armen beruhigen. Haltet ihn gut, nicht, dass er alles verschüttet!“

Man führte mir eine kleine Flasche an die Lippen. Ich bekam Panik und begann sinnloses Zeug von mir zugeben. Der Griff an meinem Kopf wurde fester und eine brennende Flüssigkeit ergoss in meinen Rachen und rann mein Kinn hinunter. Ich schrie, als der Alkohol in meine Wunden an Lippe und Innenseite der Wangen kam. Dann ließ man mich los und wimmernd und schluchzend sackte ich zurück zu Boden. Die Schatten erschienen mir riesig. Ich weinte wie ein kleines Kind, die Schmerzen wurden unerträglich und ihre Stimmen wie Hammer auf meinem Kopf. Mein Körper begann zu brennen, überall.

„Nun, das war es. Ich danke, mein Lieber.“

„Aber nicht doch, Doktor, ich helfe gern. Ich weiß, wie schwer es ist mit solchen Burschen. Ein undankbarer Haufen.“

„Für wahr, für wahr. Nun, dann gehe ich jetzt.“

„Aber Doktor!“, mischte sich eine freundliche Stimme ein. Ich erkannte sie, die Hausmutter. Hilflos suchte ich den Raum ab, auf meinem Bauch liegen und keuchend, während das irrsinnige Feuer auf meinen Rücken überging. Das Zimmer war nunmehr nur ein großes, schwammiges Bild. Flecken über Flecken, die sich bewegten und tanzten. „So bleibt doch für eine Tasse Tee. Wenn wir Euch sonst schon nichts anbieten können?“

„Aber gern meine Liebe, zu freundlich! Tee ist immer gut.“

All die Farben veränderten sich. Die dunklen Muster wurden immer mehr zu braun. Ich hörte die Tür und wie man abschloss und dann knallte ich zurück auf das Holz.

Die Medizin betäubte mich. Verzweifelt versuchte ich dagegen anzukommen. Ich überlegte, wie ich hinaus kommen konnte, wie ich mich wehren konnte. Ich sollte mich erbrechen, das war das einfachste! Doch ich konnte meine Hand nicht anheben, sie war wie aus Blei. Verzweifelt drehte ich mit aller Kraft meinen Kopf. Ich merkte, wie der Boden dabei an meinen Haaren klebte. Kraftlos sah ich zu meinem linken Arm, der reglos neben mir auf dem Boden lag. Ich versuchte, den Mittelfinger anzuheben. Stattdessen hoben sich zitternd dieser und der Zeigefinger. Ich verlor die Kontrolle über meinen Körper.

Nach gut einer Minute lag ich nur noch da. Ich lag auf dem Bauch und starrte in die bunte Welt, die vor mir flimmerte und tanzte. Elfen…, dachte ich. Überall Elfen…

Und tatsächlich erschienen kleine Wesen vor mir und die Punkte begannen zu leuchten und zu strahlen. Ein freches Mädchen mit schwarzen Zöpfen in einem grünen Kleid stand vor mir auf dem Boden und beugte sich schräg zu meinem Gesicht herunter.

Sie kicherte. Es klang wunderschön.

Dann rannte sie los, sprang und wurde ein glühender Funken, der wilde Schnüre in der Luft hinterließ. Stundenlang sah ich lächelnd den Wesen zu. Wie sie lachten, Späße trieben, sich jagten, tobten oder Händeklatsch-Spiele spielten. Irgendwann kamen die Schatten zurück, diesmal wehrte ich mich nicht und als ich wieder auf dem Boden lag, summte ich mit den Feen ein kleines Lied. Ich kannte die Melodie. Jemand hatte sie einst gesummt, irgendwann. Aber ich wusste nicht mehr, wer es gewesen war. Ich hatte Mary-Ann einfach vergessen.

Die Stimmen der Gestalten um mich herum ergaben keinen Sinn für mich, als würden sie in einer fremden Sprache sprechen und alles und jeder schien unwichtig für mich. Immer, wenn ich kurz davor stand, zu erwachen, sah ich die Gestalten und es war vorbei. Ich erkannte, wer ich war und was geschehen war. Manchmal überkam mich Angst um Mary-Ann. Und ehe ich reagieren konnte, versank ich erneut. Es ging nicht lange so, höchstens zwei oder drei Tage, aber Tag und Nacht. Ich war in einer Welt gefangen, aus der ich nicht mehr raus kam, bevor der Arzt es mir nicht erlaubte. Immer wieder aufs Neue zwangen sie mich, die Drogen zu nehmen.

Ein Mal erkannte ich den Zuchtmeister. Er saß vor mir, mich hatte er an einen Stützbalken gelehnt und sprach er mit mir und erklärte mir die Dinge. Dass ich hätte hören müssen und dass es nicht seine Absicht war, so dermaßen auszurasten. Aber passiert ist passiert. Und dann sagte er einen Satz. Immer und immer wieder:

„Du hättest nicht mit ihr schlafen dürfen, Sullivan O’Neil, das ist Sünde.“

Ich verstand diesen Satz nicht und am wenigstens seine Bedeutung. Zudem fühlte ich mich nicht in der Lage, darüber nachzudenken. Ich wollte es tun, aber ich schaffte es nicht. Sobald ich einen ernsten Gedanken fasste, trieb mich etwas anderes fort. Und wenn er fragte. „Das verstehst du doch?“, nickte ich, bis er mir lobend und sanft mehrmals auf die Wange klatschte. Dann überließ er mich wieder meinen Fantasien und dem Dämmerlicht im Zimmer. Ich wollte wenigstens mein Zeitgefühl nicht verlieren. Verzweifelt versuchte ich, auf Licht und Dunkelheit im Raum zu achten, um zu bemerken, wann Tag und wann Nacht war, doch ich schaffte es nicht. Teilweise erschien es mir, als wäre es tagelang nur dunkel und dann wenige Minuten hell.

Irgendwann hörte ich ein Geräusch. Gerade schien Tag zu sein, denn ich konnte helle Farben erkennen. Dieses Geräusch war mir unbekannt und weckte meine Neugierde. Noch immer saß ich am Balken, meine Arme hingen schlaff an mir herunter. Woher kam es?

Etwas Kleines rollte auf mich zu. Es war eine Erbse. Eine kleine, hellgrüne Erbse. Es dauerte, bis ich sie richtig erkannte. Fast, als müssten meine Augen sich erst auf sie einstellen. Sie rollte auf mich zu und wich den Gruben und Rinnen zwischen den Steinen im Boden gekonnt aus. Auf die Holzplatten, die auf Löcher und Risse gelegt worden waren hüpfte sie einfach hinauf. Es war eine kleine Hexenerbse oder ein Geist. Ein besessenes Stück Gemüse in hellgrün, doch es jagte mir keine Angst ein. Sie wippte vor meinen Augen hin und her, ehe sie sprang und dann durch die Luft flog. Ich kannte sie und ich erinnerte mich auch daran, woher:

Es war jene Erbse, die mit dem Schwanken der Caroline hin und her gerollt war, als ich hilflos darüber nachdachte, was ich tun sollte. Damals, bei meinem Gespräch mit Black.

Aber wieso hatte sie mich verfolgt? Was wollte sie von mir? Wie ein lästiges Insekt schwirrte sie umher und machte dabei ein summendes Geräusch. Sie erinnerte an eine Biene oder eine Fliege. Mal hielt sie an meinem Arm, dann auf dem Boden, am Balken oder woanders. Sie verschwand im Farbennebel und erschien dann wieder direkt vor mir.

„Wer bist du?“, wollte ich fragen, aber noch immer war ich wie stumm. Dann, plötzlich, erschien etwas Rosafarbenes. Die Hexenerbse flog gerade über meinem Kopf in Kreisen umher, plötzlich schnellte es vor, umschlang sie und zischte ebenso blitzschnell zurück. Verwirrt folgte ich der rosa Schlange und erblickte einen Frosch. Eher eine dicke, fette Kröte, deren Zunge es wohl gewesen war. Sie schmatzte und leckte sich über die riesigen, mit Warzen bestückten Lippen, ehe sie ausgiebig rülpste. Ein beißender Gestank erfüllte den Raum und grüner Nebel die Luft. Angewidert verzog ich das Gesicht.

„Das…“, sagte sie quarkig und verdrehte die Augen. „…war köstlich.“, sie blähte seinen Hals kurz auf, dann sank dieser wieder in sich zusammen und er sprang ein wenig auf mich zu. Seine grünen Füße machten schnalzende Geräusche dabei und er schien nur unheimlich mühsam vorwärts zu kommen. Ich wollte zurück weichen, doch ich konnte nicht aufstehen und der Stützbalken war noch immer in meinem Rücken. Auch der Frosch bemerkte meinen misslungenen Fluchtversuch. Er grinste und entblößte eine spitze, scharfe Zahnreihe. Seit wann hatten Frösche Zähne? „Jetzt werde ich dich fressen, dich samt Magen auskotzen und dann erneut fressen.“, erklärte er mir. „So, wie dein Bruder es dir erklärt hat.“

„Was?“, dann hörte ich ein Kratzen und Schaben. Ich sah nach rechts und erblickte die tote Katze aus Annonce. Es war die Katze, die tot zwischen lauter Müll gelegen hatte, in einer der Gassen. Nun kroch sie vorwärts, langsam und unbeholfen. Ihr Fell war blutverkrustet von den Bissen der Ratten und aus ihrer Seite lief eine stark riechende, braungelbe Flüssigkeit. Ich erkannte Maden, die zu Boden stürzten und sich unbeholfen wanden, ihres Futters beraubt. Schockiert starrte ich sie an. Ihr linkes Auge war verdreht und zeigte nach außen, scheinbar hatte man ihren Kopf von innen bereits fast zerfressen. Ihr rechtes hingegen war gar nicht mehr da. Ich starrte in das schwarze Loch, aus Angst, ein Lichtschein könnte mir ihr Inneres zeigen.

„Friss ihn nicht.“, flüsterte sie geheimnisvoll und mit krächzender Stimme. „Der ist viel zu groß für dich, dummer Frosch.“, und so kam sie zum Stehen und setzte sich auf den Boden. Sie ließ ihren Schwanz peitschen. Er war nur noch halb so lang, wie zuvor und hinterließ eine blutige Spur auf dem Boden. Die Katze putzte ihre Pfote. Ich hörte ihre raue Zunge auf ihrem Knochen schaben, denn an ihrem Vorderbein waren Fell und Haut längst verschwunden. Als sie fertig war, sah sie zu mir. Es war völlig absurd, ihr Auge schaute nicht ansatzweise in meine Richtung, aber ihr Kopf zeigte, dass sie mich sah. „Warten wir, bis er schläft, dann zerhacken wir ihn mit der Axt des Zuchtmeisters.“, sie grinste.

Der Frosch lachte und blähte seinen Hals dabei auf. „Ja! Ja, das ist gut, das machen wir!“

Die Katze grinste noch breiter und stand wieder auf. Sie setzte ihre Pfoten anmutig voreinander und kam langsam näher. „Ja, ganz recht.“, flüsterte sie. Ihr Mund stand leicht offen, Speichel tropfte herunter. Er schien zu leben, kleine Käfer waren darin und auf dem Boden begannen sie zu krabbeln und sich fort zu bewegen. Der Speichel hielt sie fest. Ein Wurm wandte sich und versuchte vergeblich sich zu befreien.

Umso näher mir die Katze kam, desto mehr grinste sie und ihr Gesicht wurde länger. Es zog sich immer mehr in die Länge. Ihre Ohren klappten zurück und verschmolzen mit dem Kopf, ihre Augen dehnten sich und ihre Lider flackerten. Sie wuchs zu einer Bestie heran, dann von dort aus zu einer Frau. Ihre Streifen verschwanden. An ihrer Stelle erschien helle, nackte Haut. Ihre Krallen wuchsen und wurden zu schmalen, dünnen Fingern. Und dann hockte Mary-Ann vor mir, auf allen Vieren kniend und kam näher, immer näher. Ich atmete schneller, ihre Augen glühten rot, ihr Gesicht glich dem puren Wahnsinn. Langsam öffnete sie den Mund und entblößte lange, blutverschmierte Zähne. Mit einem Satz sprang sie vor und biss mir in den Hals. Ich schrie auf, doch der Schmerz hörte einfach nicht auf. Im Gegenteil, er wurde unerträglicher und immer stärker. Ich kniff die Augen zusammen und schrie, dass mir der Hals nur umso schmerzte. Als ich sie wieder öffnete, waren Katze und Kröte verschwunden, aber ich sah Schatten und Flecken, schemenhafte Gestalten, Silhouetten und hörte Stimmen. Der Schrei hatte mir meine Kraft zurück gebracht und ich hielt mir die Ohren zu. Wimmernd kämpfte ich mich hoch. Die Stimmen waren zu stark, zu laut. Ich wollte weg, doch jemand hielt mich fest und man drückte mich zurück. Wild um mich schlagend wollte ich entkommen. Die Griffe waren fest und hart. Bestimmend. Erneut nahm ich die Flüssigkeit war, doch diesmal spuckte ich sie aus. „Nein!“, schrie ich wie wahnsinnig. „Hört auf, mich zu betäuben! Ich bin nicht verrückt!“

Und zeitgleich rief jemand: „Er ist völlig verrückt geworden! Die Tolle hat ihn angesteckt! So tut doch endlich etwas!“, es war der Zuchtmeister, unmittelbar neben mir. Ich stieß ihn beiseite und taumelte blindlings in jene Richtung, in der ich die Tür vermutete, doch man packte mich und schliff mich einfach zurück.

„Bleibt hier!“, sprach der scheinbare Doktor auf mich ein. „Ihr seid noch völlig verwirrt!“

„Bin ich nicht!“, fuhr ich ihn an und langsam sah ich klarer. Ich erkannte dunkle Flecken in seinem Gesicht, seine Augen. Er sah mich an und sein Blick war eine Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis. Aber er hatte falsche Ansichten. Er konnte mir nicht helfen. Er hatte gelernt, falsch zu denken und das Ergebnis wollte er nun an mir anwenden, davon war ich überzeugt.

Man packte meinen Schopf und beförderte mich unsanft zu Boden.

„Wag es nicht den Doktor anzuschreien!“, fuhr mich der Zuchtmeister an.

„Eine Unverschämtheit!“, das war die Hausmutter, irgendwo weiter rechts von mir. „Doktor, bitte, entschuldigt! Er ist ein Wahnsinniger!“

„Ganz gleich.“, näselte der Arzt hinter dem Taschentuch, das er sich vor die Nase hielt, um den Gestank zu ertragen. „Haltet ihn nur, dass ich ihm die Medizin geben kann und endlich aus diesem gottlosen Zimmer hinaus!“

„Aber ich brauche keine Medizin!“, flehend starrte ich ihn an. Der Zuchtmeister merkte sehr schnell, dass ich ihm Probleme machen wollte. Eine Kopfnuss warf mich zurück zu Boden.

„Keiner hat dir erlaubt zu sprechen!“

„So hört doch auf, den Jungen zu schlagen!“, forderte der Arzt schockiert. „So wird er ja nie gesund!“

Die Hausmutter winkte ab. „Ach… Der verträgt das. Der ist schlimmeres gewohnt.“

Und zeitgleich knurrte der Zuchtmeister: „Er soll nicht gesund werden, er soll ruhig gestellt werden! So tut doch endlich Eure Pflicht, verflucht noch eins!“

„Albert!“, schrie die Hausmutter schockiert. „Ihr flucht und das unter diesem Dach Gottes!“

Ich versuchte weg zu kriechen, aber der Zuchtmeister verpasste mir einen harten Tritt in den Rücken. Er schien die Hausmutter gar nicht zu hören.

„Du bleibst hier, verdammt! Doktor! So gebt ihm doch endlich den Trank!“

„Ich denke ja nicht dran!“, regte dieser sich nun auf. „Ich bin Arzt und kein Foltermeister! Ich habe ihn ruhig gestellt, weil Ihr sagtet, er wolle sich umbringen!“, und nun regte er sich so dermaßen auf, dass er sogar das Taschentuch von Mund und Nase nahm. „Wie könnt Ihr es wagen! Ich bin ein Mann Gottes!“

„Aber das wollte er doch.“, versicherte der Zuchtmeister.

„Das ist nicht wahr!“, schrie nun ich. Ich verstand kaum ein Wort, alles war gedämpft und verzerrt und ich spürte, wie ich schwankte.

„Halt den Mund!“, befahl der Meister, doch der Doktor stieß ihn von mir. Ich erkannte, dass er vor mir in die Knie sank und mich an den Schultern in Sitzposition zog.

„Junge, sag, wolltest du dir das Leben nehmen?“

„Was…? Nein…! Ja…! Nein, nicht hier…!“

„Er ist verrückt!“, die Hausmutter rang die Hände. „Vollkommen verrückt!“

„Nun betäubt ihn schon! Dieses alberne Gewäsch kann ja niemand ertragen!“

Doch der Doktor ignorierte sowohl Zuchtmeister, als auch Hausmutter. Er sah mir eindringlich in die Augen und bannte meinen Blick an den seinen. Ich sah nur noch ihn. Seine Augen waren grau, reines grau. Genauso wie sein Haar. Er schien, bis auf die Haut, völlig aus Stein. Dennoch war darin eine gewisse Wärme. „Nun, sage mir, Junge, wolltest du dich umbringen?“

„Nein…! So hört doch, nein…! Ja, damals, auf See…! Aber nicht hier!“, und verzweifelt schüttelte ich den Kopf und packte nun auch seine Schultern. „Bitte, so glaubt mir doch…!“

„Er lügt!“, donnerte der Zuchtmeister, doch noch einmal wagte er es nicht, mich anzurühren. „Er lügt, sobald er den Mund aufmacht! Der Teufel hat ihn!“

Ich umklammerte die schmalen Schultern des Arztes. „Das ist nicht wahr…!“ Es erschien mir, als würde alles von ihm abhängen. Wenn er mich los lässt, sterbe ich…, fuhr es mir durch den Kopf.

Der Doktor tat es dennoch. Ich sackte zu Boden und röchelte. Mir war wieder übel und in meinem Kopf dröhnten krachende Geräusche, wie die eines zusammen brechenden Hauses. Ich krallte mich an den Boden. Meine Nägel waren abgerissen und kaputt. Verwirrt sah ich auf meine Finger. Wie sie gelblich weiß wurden, als ich mich ans Holz klammerte. Ich bin nicht verrückt…! Ich bin nicht verrückt…!

„Nun.“, der Doktor wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und hielt es sich dann wieder vor Mund und Nase. „In meinen Augen ist er einfach nur durcheinander.“

„Er ist verrückt!“, keifte die Hausmutter los, wie ein aufgeregtes Huhn. Sie begann hysterisch zu kreischen und zeigte mit ihrem dicken, kleinen Finger auf mich. „Ein Wahnsinniger! Hat mich einen Mann genannt! Und unterhält sich mit dem alten Esel! Er kann nur verrückt sein!“

„Nun, meine Liebe.“, wandte der Doktor ein. „Wenn er mit einem Esel spricht ist das natürlich etwas anderes.“

„Er ist ein Mann!“, fuhr ich ihn verzweifelt an. „Der Esel ist ein Mann!“

„Er tut es schon wieder!“, die Hausmutter schlug die Hände an die geröteten Wangen. „Doktor, er schimpft den Esel einen Mann So tut doch etwas!“

Der Arzt sah hilflos von einem zum anderen.

„Nein!“, schrie ich, als er sich an mich wandte. „Er ist wirklich ein Mann! Ein alter Greis, unten, in der Küche! So glaubt mir doch…!“

Der Doktor wischte sich erneut über die Stirn. Er wurde zusehends nervöser. „Und… Und wieso… verkehrt Ihr mit einer Tollen?“

Ich starrte ihn an. Am liebsten hätte ich geschrieen: Mary-Ann ist nicht toll!

Aber hätte mir das geholfen? Wohl eher nicht. Und so wusste ich nicht, was ich sagen sollte.

„Ha!“, entfuhr es dem Zuchtmeister da und er zeigte nun ebenfalls auf mich, als hätte er den Beweis für all seine Behauptungen gefunden. „Da seht Ihr es! Verrückt ist er!“

„Bin ich nicht!“, schrie ich ihn an. „Und ich habe nicht mit ihr verkehrt!“

„Sondern?!“, schrie die Hausmutter und mit einem Mal war ihre Hilflosigkeit verschwunden. Wütend schnaubte sie und baute sich auf. „Was hast du dann gemacht, hä?! Sullivan?! Was dann?!“

„Nichts!“, flehend sah ich den Arzt an. „Ich habe nichts getan, nur meine Arbeit…!“

Aber noch ehe er etwas sagen konnte, fuhr die alte Frau mich an: „Ich kenne dich seit Kindesalter du verfluchter, kleiner Idiot! Nur Unsinn im Kopf hast du! Und Lügen und Flausen! Nicht mal das Kloster hat dir die austreiben können! Keiner glaubt dir!“, und dann wandte sie sich an den Arzt: „So tut doch etwas…! Er redet uns noch alle um den Verstand…!“

Doch der Doktor war nun vollends verunsichert. „Kloster?“, fragte er verwirrt. „Ich dachte, er wäre ein Seemann-…?“

„Ach was!“, unterbrach der Zollmeister ihn. „Das ist jetzt unwichtig, tut endlich was gegen sein Geschwafel, verflucht!“

„Albert!“, fuhr die Alte ihn an. „Fluche nicht!“

„Ach halt den Rand! Doktor, nun gebt ihm endlich die Medizin!“

Er entriss dem Arzt die Flasche, doch dieser riss sie zurück. „Halt! Wagt es nicht auch nur einen Finger mit meiner Medizin zu tun!“, er wandte sich an mich. „Ihr seid ein Mönch, Sullivan?“

Einige Sekunden antwortete ich nicht. Die alte Dame verdrehte stöhnend die Augen, ihr war das alles zu viel und der Zuchtmeister spielte mit dem Gedanken, mich einfach niederzuschlagen. Mühsam suchte ich den Raum nach den grauen Augen des Arztes ab. Später sollte ich mich an sein faltiges Gesicht kaum erinnern, voller Altersflecken und mit einer silberfarbenen Brille. Das einzige, was ich noch in Erinnerung haben sollte, waren seine kleinen, schmalen und grauen Augen. Dann erkannte ich ihn und nickte, fast ein wenig übertrieben. Mein Kopf war unheimlich schwer.

„Ja, Herr, ich bin Mönch, Herr! Im Kloster St. Marianne. Ich wurde schanghait, ich wollte nie zur See. Bitte glaubt mir doch, Herr! Ich bin nicht verrückt, das ist alles ein riesiges Missverständnis! Ich nahm nur die Beichte der Tollen ab, ich schwöre es Euch! Beim heiligen Vater!“

Nachdenklich richtete er sich wieder auf – er hatte sich zu mir gebeugt – und rückte seine Brille zurecht. „Wenn das so ist…“

Die Hausmutter war völlig verständnislos. „Ihr glaubt ihm?!“

„Wieso denn nicht?“, der Doktor zuckte mit den Schultern. „Gottes Wege sind unergründlich oder nicht?“

N-Natürlich.“, stotterte die Frau unbeholfen. Sie wollte nichts Falsches gegen den Allmächtigen sagen. „Aber… Aber er lügt! Doktor, er lügt!“

„Das lässt sich leicht überprüfen, denke ich. Fragen wir im Kloster an.“

„Fragen im-… Was?!“, schrie der Zuchtmeister. „Ist das Euer ernst?! Er ist verrückt!“

„Ich werde ihm jedenfalls nichts verabreichen, ehe ich nicht weiß, was er hat.“

Der Arzt wollte hinausgehen, doch die Alte Frau packte flehend seinen Arm. „Aber Doktor…! Er reimt sich das zusammen, er ist nicht bei Sinnen…!“

„Das werden wir sehen…“, und während er sich löste fuhr er fort: „…meine Liebe. Und nun entschuldigt mich, ich muss zum Kloster und mit dem dortigen Abt sprechen. Dringend.“

Dann drehte er wieder ab und ging hinaus.

Der Zuchtmeister starrte ihm ungläubig nach, dann zu mir. Ich hockte noch immer auf der Erde und schwankte bedrohlich. Der Raum wollte einfach nicht still halten. Gerade wollte er sich wieder auf mich stürzen, einen lauten Fluch ausstoßend, da hielt die Hausmutter ihn fest.

„Nein, Albert! Nicht! Du bringst ihn nur um!“

„Und wenn schon!“, er riss sich los, doch sie warf sich ihm erneut um den Hals.

„Nein, denk nur, was wird der Doktor dazu sagen!“ Und sie zwang ihn hinaus zu gehen und die Tür zu schließen.

Ich hockte weiterhin auf dem Boden. Verwirrt ließ ich alles auf mich wirken. Es dauerte, bis die neusten Ereignisse auch mein vollstes Bewusstsein erreichten. Als sie es dann endlich taten, überkam mich erneute Übelkeit. Der Trank des Arztes benebelte meine Sinne noch immer oder war ich einfach nur wahnsinnig geworden? Schwach ließ ich mich auf die Erde sinken und legte mich auf die Seite. Ich hörte die Verrückten hinter mir, wie sie mich musterten, tuschelten, flüsterten. Aber sie schienen weit entfernt.

„Ich bin nicht verrückt.“, flüsterte ich heiser. „Ich bin es nicht. Ich bin nicht verrückt. Ganz sicher nicht.“



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