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Wolf - Lover

von

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Augenblicke

Das Copyright der Story liegt alleine bei mir. Sie darf nicht - auch nicht in Teilen - ohne mein Wissen und schriftliche Zusage anderweitig veröffentlicht oder auf sonstige Weise verarbeitet werden.
 

~ * ~
 

1.Kapitel: Augenblicke
 

"Siehst du sie?"

Der junge Mann, dem die Frage gegolten hatte, schwieg einen Moment, während er seine Blicke konzentriert über das weite Tal wandern ließ, das sich unter ihm und seinem Begleiter erstreckte.

"Nein," antwortete er, ohne sich zu seinem Gesprächspartner umzudrehen. "Sie werden heute wohl auch nicht mehr kommen - Es wird schon dunkel."

"Wir sollten zurück ins Dorf und Bescheid sagen." Der zweite junge Mann schulterte seinen Speer und ging Richtung Waldrand. "Ferlan, kommst du nun!?"

"Ja, sofort."

Trotz seiner vorangegangenen Worte blieb der Mann mit dem Namen Ferlan, still an seinem Platz stehen und starrte weiter unverwandt zu einer kleinen Baumgruppe, die inmitten des Tales stand. Ein leichtes Nebeltuch hatte sich über die Wiese gelegt und kündigte die hereinbrechende Nacht an. Die letzten Vögel flogen auf der Suche nach ihrem Schlafplatz, über die Bäume hinweg und fern am Horizont zogen bereits die ersten dunklen Wolken heran.
 

"Da! Schon wieder!", rief Ferlan aufgeregt und bedeutete seinem Begleiter, näher zu kommen.

"Was soll dort sein? Tyrna und seine Männer?", fragte dieser und postierte sich neben dem anderen. Auf den Speer gestützt folgte er Ferlans ausgestreckter Hand. "Ich sehe nichts!"

"Nein, nicht Tyrna. Irgendetwas war dort. Ich hab es genau gesehen..."

"Dann wird es wohl ein Tier gewesen sein, dass sich zwischen den Bäumen versteckt hat."

"Nein!" Ferlan schüttelte heftig seinen Kopf. "Es war kein Tier!"

"Dann war es eben kein Tier," fuhr der junge Mann den anderen verärgert an.

"Genauso wenig war es etwas anderes und wenn du jetzt nicht kommst, geh ich alleine nach Hause!"

Ein letztes Mal noch, wandte Ferlan seinen Blick zu der Baumgruppe und ärgerte sich darüber, dass sein Begleiter ihm nicht glauben wollte. Er war sich ganz sicher, dass er zwischen den herabhängenden Ästen ein Gesicht gesehen hatte, dass sie beide bewegungslos beobachtete. Doch kaum hatte er sich herumgedreht, um den anderen jungen Mann darauf aufmerksam zu machen, war es spurlos verschwunden.

"Aredh, warte!"
 

Atemlos kam Ferlan neben seinem Freund an, der schon ein gutes Stück vorausgegangen war, und bemühte sich darum, mit diesem Schritt zu halten. Geschickt wich er den ihm entgegenschlagenden Ästen aus, die der nun wieder ein Stück vor ihm gehende Aredh achtlos zur Seite schob.

"Sie sind schon so lange weg," begann Aredh nach einer Weile das Gespräch.

"Selbst wenn sie unterwegs aufgehalten wurden, müssten sie schon wieder hier sein. Ich weiß nicht, aber mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass sie das Gebiet der Dardager durchqueren müssen."

"Anders geht es aber nicht," antwortete Ferlan und entfernte ein paar Blätter, die sich in seinen langen blonden Haaren verfangen hatten. "Im Moment herrscht Frieden und es besteht kein Anlass, dass sie unsere Männer nicht passieren lassen."

Aredh hatte sein Gesicht dem jungen Mann neben sich zugewandt und beobachtete diesen mit skeptischem Blick.

"Tyrnas Entscheidung wird schon die Richtige gewesen sein. Er würde niemals einen der Männer absichtlich in Gefahr bringen. Und schon gar nicht, in so einer Situation," fügte Ferlan noch hinzu.
 

Aredh blickte wieder vor sich auf den Weg, der sich, von einem ungeschulten Auge wohl leicht zu übersehen, zwischen den Bäumen hindurchschlängelte.

Er wusste, dass Ferlan Recht hatte. Tyrna war ein erfahrener Krieger und er spürte drohende Gefahr schon beim kleinsten Anzeichen. Mit ihm als Führer der Gruppe, waren sie gut geschützt. Außerdem war der Trupp mit zehn Mann groß genug, um sich im Notfall gegen etwaige Feinde zur Wehr zu setzen.

"Was ist, wenn die Seuche in den anderen Siedlungen genauso schlimm wie bei uns gewütet hat?"

Ferlan zuckte mit den Schultern. "Dann müssen sie sich wohl zu einem der anderen Stämme aufmachen. Ein bisschen Zeit bleibt uns noch."

"Heute morgen hat es Cals Familie erwischt. Eine Kuh und die letzten drei Ziegen, die sie noch hatten, lagen tot im Stall. Der Große Rat hat entschieden, dass man alle noch lebenden Tiere auf der Stelle tötet." Aredhs Gesicht verdüsterte sich bei dem Gedanken an die seltsame Krankheit, welche die Tiere ihrer Siedlung im letzten Winter befallen hatte und innerhalb von nur ein paar Monaten fast den ganzen Tierbestand dahin gerafft hatte. Selbst die gerade erst geborenen Jungtiere blieben nicht davon verschont, obwohl man die trächtigen Tiere von den anderen abgesondert und extra neue Ställe für sie gebaut hatte.

Doch alles blieb vergebens - Starben sie nicht schon im Mutterleib, so verendeten sie direkt nach der Geburt.

Auch nach etlichen verzweifelten Rettungsversuchen waren nur noch wenige Tiere übrig und selbst die traute man sich nicht zu schlachten oder gar zu melken, weil niemand wusste, ob die Seuche auch die Menschen befallen würde.

Nun war der Frühling fast vorüber und wenn sie nicht dafür sorgten, dass neue Herden gebildet wurden, hätten sie im kommenden Winter keine Fleischvorräte. Sie hatten schon jetzt fast kein Vieh mehr und nur von dem Getreide konnte sich kein Mensch einen ganzen Winter ernähren.

Deswegen hatte sich auch vor zwei Wochen der Dorfälteste dazu entschlossen, eine Gruppe Männer zu einem der anderen Stämme, mit dem sie schon länger Handel trieben, auszusenden, um dort Waren gegen Tiere zu tauschen.

Und auf die Rückkehr eben dieser Truppe wartete man in Ferlans Dorf schon ungeduldig.
 

Aredh und Ferlan traten aus dem Wald.

Vor ihnen erstreckte sich eine nach drei Seiten vom Wald umschlossene Lichtung, in deren Mitte sich ungefähr zwanzig kleine Häuschen dicht aneinander drängten.

Ein paar der Einwohner liefen geschäftig hin und her und bereiteten sich für die kommende Nacht vor. Hier und da konnte man jemand seinem Nachbarn eine gute Nacht zurufen hören und irgendwo bellte ein Hund. Hinter einigen der winzigen Fenster brannten bereits die ersten Lichter und erhellten ein wenig die schmalen, vom Regen der letzten Tage aufgeweichten Wege, die zwischen den Häusern hindurch führten.

Doch der Frieden trog - Das wussten alle hier.

Nur wenn man genau aufpasste, konnte man in den Gesichtern der Menschen die Sorgen ablesen, die so schwer auf ihnen allen lasteten.

,Hoffentlich haben Tyrna und die anderen etwas erreicht, sonst wird der Großteil der Kinder und Alten den kommenden Winter nicht überleben.' Ein flaues Gefühl machte sich in Ferlans Magengegend breit, als er an seine eigene Familie dachte.

Melva und Len, die Kinder seiner Schwester, waren gerade mal Fünf und fast zwei Jahre alt und durch den Nahrungsmangel des letzten Jahres sowieso schon viel zu sehr geschwächt. Noch so einen entbehrungsreichen Winter würden sie nicht überstehen.
 

"Bis dann", murmelte Aredh verabschiedend und nickte dem anderen kurz zu.

"Wir sehen uns morgen früh", Ferlan blieb vor einem der Häuser stehen. "Aber sei pünktlich!", rief er seinem Begleiter noch hinterher, der schon fast um die nächste Ecke verschwunden war und ihm die Antwort schuldig blieb.

Von einem knarrenden Geräusch begleitet öffnete sich die schwere Holztür und Ferlan trat ein.
 


 

Die Wärme des Feuers, das im Kamin loderte, schlug Ferlan entgegen und die Stimmen der spielenden Kinder vermischten sich mit dem geschäftigen Treiben der beiden Frauen, die dabei waren, das Essen zuzubereiten.

Ferlans Blicke blieben bei den beiden kleinen Kindern hängen, die auf einer bunten Decke in einer Ecke des Raumes saßen und in ihr Spiel vertieft waren.

"Ferlan!" Das größere der beiden Kinder, ein Mädchen mit langem dunklen Haar, kam strahlend auf den jungen Mann zugerannt, der es gerade noch schaffte seinen Speer zur Seite zu stellen, bevor die Kleine ihm, mit vor Freude geröteten Wangen, in die ausgestreckten Arme fiel.

"Na, kleine Melva", lachte Ferlan und hob das Kind hoch.

Fest schlangen sich die dünnen Ärmchen um seinen Hals und unter dem blauen grobgewebten Stoff konnte Ferlan jede einzelne Rippe des kleinen Mädchens spüren, die ihn wieder an die Not ihres Stammes erinnerten und das Lächeln für einen Sekundenbruchteil aus seinem Gesicht verschwinden ließ.

"Was hast du denn heute angestellt?" Ferlan bemühte sich, sich nichts von dem Kummer, den er in sich trug, anmerken zu lassen. Es reichte, wenn sich die Erwachsenen den ganzen Tag damit plagen mussten, wie es in der Zukunft weiter ging. Da sollten wenigstens die Kinder, die ja selbst die Zukunft des Stammes waren, von den Sorgen verschont bleiben.

Wer konnte schon voraussagen, wie lange das Lachen der herumtollenden Kinder in den engen Straßen ihrer Siedlung noch zu hören war...

"Gar nichts!", unterbrach Melva die düsteren Ahnungen ihres Onkels.

Das Mädchen lehnte sich auf Ferlans Arm etwas zurück und blickte ihn aus großen Augen vorwurfsvoll an. "Ich habe nichts angestellt!"

"Ich glaub es dir ja", Ferlan verbiss sich ein weiteres Lachen und setzte Melva ab, die sofort wieder in die Ecke des Raumes lief, aus der sie gekommen war und sich weiter mit ihrem Spielzeug beschäftigte.

Einen Moment noch sah Ferlan den beiden Kindern bei ihrem Spiel zu, bevor er sich seines Umhangs entledigte, den er über die eine Schulter trug. Ferlan ging hinüber zu der Kochstelle, von wo ihm schon seine Mutter und seine Schwester wartend entgegenblickten.
 

"Guten Abend, Mutter", begrüßte Ferlan die ältere Frau und küsste sie auf die Wange. "Hallo, Schwesterlein", sagte er zu der blonden jungen Frau gewandt.

"Hast du sie gesehen?" Erwartungsvoll sah ihn die jüngere der beiden Frauen an.

Ferlan schüttelte verneinend den Kopf. "Tut mir leid."

Bedana presste die Lippen fest aufeinander und wandte sich wieder dem Kamin zu, über dessen Feuer ein großer Kessel hing, in dem das Abendessen vor sich hin kochte.

"Mach dir keine Sorgen. Es wird ihm schon nichts passiert sein", versuchte Ferlan seine Schwester zu trösten. "Tyrna ist verantwortungsbewusst. Sonst hätte ihn Barneagh nicht zum Anführer der Krieger ernannt. Außerdem," Ferlan schlang seine Arme um die Taille seiner Schwester und wirbelte sie ein Stück herum, "Außerdem hat er hier drei der wertvollsten und wichtigsten Gründe, lebend wieder zurückzukommen."

Unwillkürlich musste Bedana lachen.
 

Ferlan setzte seine Schwester wieder ab und drehte sie zu sich herum, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. "Oder hab ich etwa nicht Recht?!"

"Doch, schon." Bedana wischte sich die Tränen aus den Augen und blickte ihren Bruder tapfer an. "Wie dumm von mir, an ihm zu zweifeln."

"Nein, es war nicht dumm." Ferlan nahm den kleinen Jungen, der mit unsicheren Schritten zu ihnen gelaufen kam auf den Arm und gab ihn an seine Schwester weiter. "Du sorgst dich nur und das ist ganz normal. Schließlich hast du die beiden Kinder noch, die du dann alleine großziehen müsstest."

Bedana drückte den Jungen fest an sich und vergrub ihr Gesicht in den hellen, weichen Haaren des Babys.

Die alte Frau stellte eine große, dampfende Schüssel auf den Tisch und hob die kleine Melva auf ihren Stuhl. "Jetzt essen wir zuerst einmal und hinterher erzählt uns Ferlan, was er heute alles erlebt hat."

Der junge Mann blinzelte seiner Schwester zu. "Wir sollten tun, was sie sagt, sonst müssen wir ohne Abendbrot ins Bett. Genau wie früher."

Mit gespieltem Ernst schlug die ältere Frau ihrem Sohn auf die Finger, die nach dem Inhalt der Schüssel griffen. "Denk nur nicht, dass du schon zu alt wärst, um von mir bestraft zu werden!", lachte sie und strich ihm durch die Haare.
 

Bedana sah den Beiden lächelnd zu - Dankbar, so eine Familie zu haben, die ihnen im Notfall Rückhalt gab, ohne jemals eine Gegenleistung dafür zu fordern.

Ihre Blicke fielen aus dem Fenster.

Was wäre, wenn Tyrna wirklich nicht mehr zurückkommen würde? Die Kinder... das Haus...

Bedana schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Wert, sich wegen etwas verrückt zu machen, für das es keine Gründe gab. Sie legte ein kleines Kissen auf einen der Stühle und hob ihre Tochter darauf.

Nacheinander setzten sich auch Ferlan und ihre Mutter an den Tisch und als man zu essen begann, kehrte Schweigen in die kleine Hütte ein - nur von dem Klappern des Bestecks und des Geschirrs unterbrochen.
 

"Komm mal her, Melva."

Das kleine Mädchen blickte fragend von Ferlan zu seiner Mutter und erst als diese mit dem Kopf nickte, stand es auf und lief um den Tisch herum zu dem jungen Mann.

Ferlan griff nach dem kleinen Beutel, den er an seiner linken Seite an einem ledernen Gürtel trug. Er öffnete den Beutel und als er seine Hand wieder hervorzog und sie dem kleinen Mädchen hinhielt, wurden dessen Augen vor Erstaunen immer größer und ein strahlendes Lächeln zog sich über das kleine runde Gesicht.

"Ist das... für mich? Wirklich?" rief Melva ungläubig und ballte ihre Händchen zu Fäusten - hin und hergerissen, ob sie nun nach dem bunten Gegenstand in der Hand ihres Onkels greifen sollte, oder nicht.

"Natürlich ist es für dich!" Ferlans Augen blitzten amüsiert auf. "Ich glaube, die anderen würden mich auslachen, wenn ich das selbst tragen würde."
 

Weil Melva immer noch still vor ihm stand und stumm das Geschenk betrachtete, griff Ferlan mit seiner freien Hand nach dem bunten Etwas und hielt es, mit einer Hand an jeweils einem Ende festhaltend, Melva vor das Gesicht.

Sachte legte er die Kette, die aus einer Reihe erbsengroßer bunter Glasperlen bestand, um den Hals des Mädchens und verband die beiden Enden miteinander.

"Ferlan!", wandte Bedana ein, doch der junge Mann beachtete seine Schwester nicht weiter.

Zufrieden sah er Melva zu, wie sie mit ihren kleinen Fingern andächtig über die schillernden Perlen strich und sie betrachtete, als könne sie noch immer nicht fassen, dass die Kette nun ihr gehören sollte.
 

"Danke schön." Melva reckte sich empor und flüsterte Ferlan die Worte ins Ohr.

"Gern geschehen. Pass schön darauf auf, ja?!" Ferlan drückte die Kleine einmal fest an sich und ließ sie dann wieder frei.

Eilig rannte Melva zu ihrer Mutter.

"Schau mal", sagte das kleine Mädchen aufgeregt und zeigte ihr stolz das bunte Schmuckstück, das sich um ihren Hals wand.

Bedana beugte sich herab und besah sich die Kette, die ihre Tochter in so große Begeisterung versetzt hatte.

"Sehr schön", sagte Bedana anerkennend und warf ihrem Bruder, von der Kleinen unbemerkt, einen tadelnden Blick zu.

Der jedoch zuckte nur unschuldig mit den Schultern. Das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht auszubreiten drohte, ließ sich nur schwer verbergen und deshalb fuhr Ferlan damit fort, in seiner Tasche nach etwas zu suchen.
 

Bedana hatte dem aufgeregten Plappern ihrer Tochter nur mit halbem Ohr zugehört und schrak erst zusammen, als diese mit lauter Stimme zu schimpfen anfing.

"Nicht, Len!" Bedana entfernte vorsichtig die winzigen Hände des Jungen, die sich um die Kette seiner Schwester geschlossen hatten und daran zogen.

Ein protestierendes Weinen war die Antwort, als der Kleine sich dem glitzernden Objekt seiner Neugier beraubt sah.

"Hier, Len." Ferlan streckte seinen Arm über die Tischplatte hinweg, dem weinenden Kind zu. "Das ist für dich."

Len hörte mit dem Weinen auf, als er die Stimme hörte und die Hand sah, deren Bewegung seine Aufmerksamkeit erregte. Die Tränen, die noch über die roten Wangen kullerten versiegten, ohne dass neue folgten und der Mund, der bis eben noch so herzzerreißende Töne von sich gegeben hatte, verzog sich zu einem Lächeln.

Aufgeregt klatschte Len in seine kleinen Hände und griff nach dem Spielzeug, das ihm der Mann entgegenhielt. Seine großen grauen Augen glitzerten vor Begeisterung, als er damit begann an der Schnauze des Stofftieres zu knabbern.

Ferlan setzte sich zurück auf seinen Platz und sah, absichtlich die Blicke seiner Schwester ignorierend, den beiden Kindern zu, wie sie sich an ihren neuen Besitztümern freuten. ,Selbst wenn ich lügen muss, werde ich ihnen nicht sagen, wie schlecht es in Wirklichkeit um die Siedlung steht,' dachte Ferlan bei sich.

"Ich geh schlafen", sagte er laut und erhob sich von seinem Sitzplatz. "Morgen früh muss ich wieder zeitig aufstehen."

"Gute Nacht." Die alte Frau fuhr ihrem Sohn, der sich zu ihr herabgebeugt hatte, über den Kopf und erwiderte den Kuss, den ihr dieser auf die Wange gedrückt hatte.

Ein letztes Mal noch nickte Ferlan seiner Schwester und den beiden Kindern zu, bevor er hinter dem Vorhang verschwand, der sein eigenes kleines Zimmer von dem übrigen Raum trennte.
 

Fahles Licht fiel von draußen durch das winzige Fenster und erhellte den Raum nur spärlich, aber immer noch genug, um die Hand vor Augen zu erkennen.

Müde ließ sich Ferlan auf sein Bett nieder, das aus einem dünnen, aber dennoch stabilen Holzrahmen und einer mit Stroh gefüllten Matratze bestand.

Ferlan öffnete den Verschluss seines Hüftgürtels. Den in einer mit Stickereien verzierten Hülle steckenden Dolch, den er an seinem Gürtel trug, legte er auf die Sitzfläche des Stuhles, der neben seinem Bett stand. Dann zog er das langärmelige Oberhemd aus und hängte es über die Lehne des Stuhles.

Ein kleines grünes Blatt segelte zu seinen Füßen und Ferlan hob es auf.

Gedankenverloren drehte er es zwischen Zeigefinder und Daumen hin und her. Er wusste zwar nicht wieso, aber es erinnerte ihn wieder an die seltsame Person von heute Abend.

Ferlan erhob sich von seinem Bett und trat an das winzige Fenster.

Langsam schob er den Vorhang zur Seite und blickte nach draußen.
 

Die kühle Nachtluft wehte Ferlan ins Gesicht und ließ ihn im ersten Moment frösteln. Seine Blicke gingen zum Himmel.

Vereinzelt blitzten ein paar Sterne zwischen schnell vorbeiziehenden Wolken hervor, bevor sie wieder verschwanden.

,Morgen wird es wohl regnen', dachte Ferlan bei sich, als seine Augen dem wilden Treiben der Wolken folgten, die sich immer dichter auftürmten und jeden weiteren Blick auf die blinkenden Himmelskörper verhinderten.

Ferlan atmete tief die klare Nachtluft ein und hing seinen Gedanken nach.

Die sich sanft hin und herwiegenden Wipfel der Bäume des nahen Waldrandes hoben sich schwarz gegen den dunkelblauen Nachthimmel ab und irgendwo im Unterholz raschelte es geheimnisvoll.

Ferlan streckte seinen Arm aus dem winzigen Fenster und ließ das Blatt fallen.

Lautlos sank es zu Boden.

Der junge Mann seufzte leise.

Egal, was Aredh auch behauptete, er hatte heute Abend jemanden zwischen den Bäumen gesehen und es war kein Tier. Die Augen und deren Blicke verfolgten ihn noch immer. Selbst jetzt sah alles noch deutlich vor sich - Die herabhängenden Äste der Bäume und wie sie sich zur Seite schoben. Das Gesicht, das dahinter erschien und im nächsten Augenblick, als es bemerkte, dass der junge Mann es gesehen hatte, sofort wieder verschwand und nicht mehr auftauchte.

Zuerst hatte Ferlan jemanden aus einem der anderen Stämme hinter der rätselhaften Person vermutet, ein Spion vielleicht. Doch die Entfernung zwischen ihnen und der nächsten Siedlung betrug mindestens einen Tagesmarsch zu Fuß und im Moment herrschte Frieden und es bestand kein Anlass, sich so verdächtig zu benehmen. Nur, wer war diese Person?

Ferlans Kopf schmerzte und er rieb sich über die müden Augen.

Weil er ja heute doch zu keinem befriedigendem Ergebnis kommen würde, beschloss Ferlan, endgültig mit dem Grübeln aufzuhören und sich statt dessen schlafen zu legen. Er streckte seinen Arm nach draußen und ergriff den hölzernen Laden, der an der Seite des Hauses befestigt war, um das Fenster vor dem drohenden Unwetter zu verschließen.
 

Ferlan ließ sich mit Schwung auf sein Bett fallen und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.

Mit einem Mal spürte er sehr deutlich, wie müde er in Wirklichkeit war. Er merkte, wie die Muskeln seines Körpers sich entspannten und das ganze Ausmaß der Erschöpfung in ihm hoch kroch und ihm die Augenlieder schwer werden ließ.

Das letzte, was Ferlan noch mitbekam, war, als Bedana und die Kinder sich verabschiedeten und das Haus verließen. Dann fielen ihm die Augen endgültig zu und im nächsten Moment war er eingeschlafen.
 

~ * ~
 

"Ferlan!"

Die laute Stimme und das Poltern des Fensterladens, schreckten den jungen Mann aus seinem unruhigen Schlaf und ließen ihn aufrecht ihm Bett hochfahren.

"Was...?" Verwirrt blickte Ferlan um sich. Von der ungewohnten Helligkeit, die durch den geöffneten Laden schien geblendet, hielt er sich eine Hand schützend vor die Augen.

"Was ist los? Hast du vergessen, dass wir noch etwas zu erledigen haben?!"

Ferlan, der die Stimme nun erkannt hatte, ließ sich wieder zurück in das Bett sinken. "Aredh! Kannst du nicht wie jeder normale Mensch durch die Haustür hereinkommen? Jedes mal dasselbe!"

Schadenfrohes Gelächter war die Antwort auf die Beschwerde des jungen Mannes. "Dann müsste ich ja auf deine liebevolle Begrüßung verzichten."

"Ach, hau ab!", knurrte Ferlan müde und drückte sein Gesicht ins Kissen.

"Zieh dich warm an! Es hat die Nacht über geregnet und jetzt sieht es auch nicht aus, als würde die Sonne den ganzen Tag scheinen."

Aredhs Kopf verschwand vom Fenster und Ferlan konnte hören, wie sich dessen Schritte langsam entfernten.

"Wie fürsorglich von dir", grummelte der Geweckte vor sich hin, bevor er sich langsam aus dem Bett quälte.

Noch immer fühlte sich Ferlan etwas matt, obwohl er lange genug geschlafen hatte. Seltsame Träume hatten ihn ein paar mal aufgeweckt, aber die Müdigkeit, die weitaus größer war, ließ ihn jedoch wieder ohne Probleme einschlafen.

Nur ganz vage erinnerte sich Ferlan an die Angst und die verwirrenden Bilder aus den Träumen, die jetzt, bei Tageslicht betrachtet, etwas von ihrem Schrecken verloren hatten.
 

Ferlan zog sich seine Hose an, wand sich den ledernen Gürtel um die Hüfte und befestigte den kleinen Dolch daran. Dann schlüpfte er in seine Stiefel, die neben dem Bett standen, schnappte sich ein frisches Hemd und verließ sein Zimmer.

Suchend blickte sich Ferlan draußen im Wohnraum um, doch niemand war zu sehen. Im Kamin brannte zwar Feuer, aber ansonsten war keine Spur von seiner Mutter oder Bedana zu entdecken.

Sich sein Hemd über den Kopf streifend, trat Ferlan an den Esstisch heran und hob den Deckel von einer der Holzschüsseln, die darauf standen. Nicht sonderlich hungrig, ließ er den Deckel gleich darauf wieder sinken, nahm sich stattdessen nur ein Stück trockenes Brot und ging zur Tür.
 

Das Brot im Mund, den Speer in der einen und seinen Überwurf aus blauem Leinen mit der anderen Hand festhaltend, schlenderte Ferlan gemächlich um ihr Haus herum.

"Du warst schon schneller!", wurde er von Aredh begrüßt, der es sich auf einem Stapel mit gehacktem Holz bequem gemacht hatte und die geschlossenen Augen der aufgehenden Sonne entgegen wandte.

"Und du schon einfallsreicher mit deinen Begrüßungen!", konterte Ferlan. Er ging zu einem großen Bottich mit Wasser, legte den Speer und seinen Überwurf zur Seite und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, um dann beide Arme in das eiskalte Nass zu tauchen. "Wo fangen wir heute an?", fragte Ferlan seinen Freund, während er sich eine Hand voll Wasser ins Gesicht spritzte.

Aredh sprang von seinem Sitzplatz herab und griff nach seinem Speer. Goldene Strähnen glitzerten im ersten zögerlichen Licht der Morgensonne und verliehen seinen hellbraunen Haaren ein strahlendes Äußeres. In seinen blauen Augen blitzte es unternehmungslustig als er sagte: "Wir sollen zuerst zu Barneagh kommen. Er wird uns dann alles erklären."

Ferlan nahm ein Tuch, das an einem Seil über dem Bottich hing und trocknete sich damit ab. "Wahrscheinlich sollen wir wieder nach der Truppe Ausschau halten, wie die letzten drei Tage auch schon", murmelte er etwas gelangweilt und schob sein Hemd unter dem Gürtel hindurch.

Ferlan zog den Saum des Hemdes glatt nach unten und rückte den Ledergürtel in seine richtige Position. Dann warf er sich den blauen Überwurf über die Schultern und verschloss ihn sorgfältig mit einer bronzenen Spange an der Vorderseite.

"So, wir können los", sagte Ferlan voller Tatendrang und schulterte seinen Speer.
 

~ * Ende - Kapitel 1 * ~

Dunkle Wolken

~ * ~
 

Aredh und Ferlan gingen nebeneinander die Straße entlang zur Dorfmitte hin.

"Was ist das?" Ferlan nickte mit dem Kopf in die Richtung, in die sie gerade gingen.

Dichte Rauchwolken stiegen hinter den Hausdächern zum Himmel empor und man konnte einen leichten beißenden Geruch ausmachen, der in der kühlen morgendlichen Luft hing.

"Das ist der Grund, warum Barneagh uns sprechen will", antwortete Aredh geheimnisvoll und ging stur weiter, nicht bereit, noch weiter Auskunft zu geben.

Vor einem niedrigen Haus, etwas abseits von dem großen Platz in der Mitte der Siedlung, kamen sie zum stehen.

Aredh hob seine Hand und klopfte an die dunkle Holztür.

Leise Schritte näherten sich und vorsichtig wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet. "Kommt rein, ihr beiden."

Der Mann, der Aredh und Ferlan aufgemacht hatte, ging langsam und mit unsicheren Schritten vor ihnen her.

In kurzem Abstand folgten ihm die beiden Jüngeren in einen großen, nur vom schwachen Licht des Feuers erleuchteten Raum.
 

"Setzt euch." Freundlich bot der Mann seinen Besuchern einen Stuhl an und nahm selbst an dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers Platz. "Danke, dass ihr so früh gekommen seid."

Aredh hatte es sich auf dem Stuhl bequem gemacht. Die Arme hinter seinem Kopf verschränkt saß er da und sagte "Wären wir beinahe nicht, weil Ferlan..."

"Du wolltest uns etwas sagen, Barneagh?" Hastig unterbrach Ferlan seinen Freund und warf dem grinsenden Aredh einen verärgerten Seitenblick zu.

Barneagh, ein Mann von fast vierzig Jahren, mit gütigem Gesicht und unbändigem roten Haar, sah amüsiert zu den beiden jungen Männern und lächelte.

Er freute sich über jeden Besuch, den er bekam. Was, wie er leise seufzend feststellte, viel zu selten vorkam, seit er seinen Posten als Anführer der Krieger aufgeben musste.
 

Barneagh vermisste die Gesellschaft seiner ehemaligen Kameraden, die aus Zeitmangel nur alle paar Tage mal für ein paar Stunden bei ihm vorbeikamen und ihm berichteten, welche Aufträge sie zu erfüllen hatten. Seine Stellung als Stammesoberhaupt erlaubte es ihm zwar weitestgehend, am alltäglichen Leben der Bewohner ihrer Siedlung teilzunehmen, konnte ihn aber trotzdem nicht über den Verlust seiner früheren Freiheit hinweg trösten.

Die einzigen Menschen, die er regelmäßig zu Gesicht bekam, waren die Mitglieder des Großen Rates, der fast ausschließlich nur aus alten Leuten bestand.

Es war nicht so, dass ihm seine momentane Arbeit keinen Spaß machte, aber viel lieber wäre Barneagh stattdessen wieder mit seinen alten Freunden unterwegs. Doch in seinem Zustand war das unmöglich.

Zitternd fuhr Barneaghs Hand zu seinem stets geschlossenen rechten Augenlid, unter dem sich bis vor einigen Jahren noch ein gesundes Auge befunden hatte.

Für einen winzigen Moment schloss er sein linkes Auge und hielt die Luft an.
 

Wenigstens waren die Zeiten der unzähligen Kriege vorbei und die Generation, die auf die Menschen in Barneaghs Alter folgte, musste nicht die Erfahrung machen, was es heißt, von Blut und unnötigem Gemetzel umgeben zu sein.

So viele verschwendete Jahre und Leben auf allen Seiten. Und was hatte es letztendlich gebracht? Nichts. Nichts, außer der Erkenntnis, dass man sich all das hätte ersparen können.

Wohlhabender war keiner der Stämme durch die Kriege und Überfälle geworden und die Gebiete hatten sich auch nur unwesentlich vergrößert.

,Und Ferlans Vater könnte heute noch leben und sich voller Stolz daran erfreuen, was aus seinem Sohn geworden ist.' Barneagh beobachtete die beiden jungen Männer vor sich, die sich noch immer wegen irgendetwas stritten.
 

Anders, als Aredh, der stets versuchte, sein tatsächliches Empfinden hinter seiner aufgeweckten Fassade zu verbergen, war Ferlan ernst und gewissenhaft bei allem, was man ihm auftrug. Auch, wenn er zu oft am nachdenken war, wie Barneagh fand.

,Tyrna ist viel zu streng mit ihm.' Barneagh dachte an all die Stunden, die Ferlan unter der Anweisung seines Schwagers auf dem großen Platz hinter des Gemeinschaftshauses verbracht hatte, um den Umgang mit dem Schwert zu lernen.

,Ein Wunder, dass der Junge noch nicht gänzlich die Lust verloren hat. Er wäre auch schon im letzten Jahr bereit gewesen, die Aufnahme zu den Kriegern zu bestehen.'

Tyrna musste aufpassen. In ein paar Jahren wäre Ferlan sicher in der Lage, seinen Schwager von seinem Posten zu verdrängen. Und - das wusste Barneagh auch ohne erst großartig darüber nachdenken zu müssen - Ferlan würde einen weitaus besseren Anführer abgeben, als Tyrna, der nur stur das ausführte, was er vom Großen Rat gesagt bekam.

Barneagh beschloss, in den nächsten Tagen Ferlan beiseite zu nehmen und mit ihm zu reden.
 

Verlegen senkte Ferlan seinen Kopf, als Barneaghs Blicke an ihm hängen blieben. Das fehlende rechte Auge des Älteren irritierte ihn noch immer ein wenig, obwohl er ihn schon ewig so kannte.

Auch die Geschichte, warum Barneagh sein Auge beim letzten großen Krieg der Stämme verloren hatte, war jedem Kind bekannt, und trotzdem empfand Ferlan auch jetzt so etwas wie Scham, wenn er ihrem Stammesführer ins Gesicht sah.

"Ich würde euch gerne um einen Gefallen bitten," begann Barneagh.

"Geht es um unsere heutige Aufgabe?" Ferlan hob seinen Kopf und sah den älteren Mann aufmerksam an.

Barneagh nickte und richtete seine Blicke in die Ferne. "Wie ihr sicher wisst, habe ich befohlen, alle noch lebenden Tiere auf der Stelle zu töten - Auch die nicht erkrankten. Wir beide hatten uns ja gestern Abend schon darüber unterhalten, Aredh."

"Ja", antwortete Aredh. "Wir haben auf dem Weg hierhin die Rauchwolken gesehen."

Der Stammesführer lehnte sich auf seinem Stuhl etwas nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust. "Sie haben bereits damit begonnen, die toten Tiere zu verbrennen. Aredh, du wirst den Männern heute Morgen bei dieser Arbeit helfen. Und du", Barneagh wandte sich Ferlan zu. "Du gehst wieder zum Tal und wartest auf Tyrna und seine Männer. Soll ich dir noch einen Begleiter mitgeben?"
 

Ferlan, der im ersten Moment etwas enttäuscht drein gesehen hatte, schüttelte bei Barneaghs Frage den Kopf. "Nein, das schaffe ich schon alleine."

Der ältere Mann, der die Enttäuschung des Jüngeren wohl bemerkt hatte, beugte sich auf seinem Sitzplatz wieder ein Stück nach vorne und blickte sein Gegenüber eindringlich an. "Es ist mir lieber, wenn du nach dem Trupp Ausschau hältst, Ferlan. Ich weiß, dass du deine Aufgaben immer sehr ernst nimmst und..."

"Nein, ist schon gut," fiel Ferlan dem Älteren ins Wort. "Ich akzeptiere deinen Befehl. Es tut mir leid, wenn der Eindruck entstand, dass mir der Auftrag nicht Recht ist."

"Iona wird die andere Seite des Tals übernehmen und Aredh kommt später nach."

"Wie du meinst." Hastig erhob sich Ferlan und griff nach seinem Speer, der hinter ihm an der Wand lehnte. "Ich gehe dann jetzt!", sagte er und nickte den beiden Männern zu, die ihn stumm beobachteten.

Mit forschen Schritten ging Ferlan zur Tür, öffnete sie und verschwand nach draußen.

"Du hilfst ihm am Nachmittag, Aredh," sagte Barneagh zu dem jungen Mann, der bis jetzt still an seinem Platz sitzen geblieben war.

"Ja!" Aredh stand auf.

Barneagh begleitete seinen Gast zur Tür und hielt sie dem jungen Mann auf. "Hoffen wir, dass Tyrna mit guten Nachrichten zurückkehrt."

Schweigend sahen beide dem Rauch nach, dessen schwarze Wolken das spärliche Blau des Himmels unter sich begruben.

"Hoffentlich..." Aredh nickte Barneagh zu und ging.
 


 

Schnellen Schrittes eilte Ferlan durch die Straßen der Siedlung.

Er schimpfte sich selbst dafür, dass er sich dem Dorfältesten gegenüber so unmöglich benommen hatte. Wenn Tyrna davon erfuhr, konnte er sich die Aufnahme zu den Kriegern abschreiben und würde auch in Zukunft weiter nichts als ein gewöhnlicher Späher bleiben.

Wütend stieß Ferlan mit seinem Fuß einen kleinen Stein zur Seite und sah zu, wie dieser die Straße herunterrollte.

Vor einem Paar Füßen kam der Stein schließlich zum liegen.

"Entschuldigung", murmelte Ferlan und wollte weitergehen, doch eine bekannte Stimme ließ ihn aufhorchen.

"Bist du unterwegs zum Tal?", fragte Bedana lächelnd. Sie hatte einen Korb mit Brot und anderen Lebensmitteln an einem Arm hängen und die kleine Melva an der anderen Hand.

"Ja. Wie immer...", erwiderte Ferlan. Er beugte sich zu dem kleinen Mädchen an der Seite seiner Schwester herab und fuhr ihm sachte über den Kopf. "Guten Morgen, Melva."

"Morgen!", rief Melva fröhlich. "Schau, ich hab auf die Kette achtgegeben."

"Das hast du gut gemacht, kleine Maus." Ferlan schulterte seinen Speer. "Tut mir leid, ihr beiden, aber ich muss mich beeilen."
 

"Warte." Bedana hatte ihren Korb zu Boden gestellt und hielt ihrem Bruder ein Stück Leinen, in das etwas getrocknetes und gesalzenes Fleisch eingewickelt war, einen kleinen irdenen Krug und einen etwas fleckigen Apfel vom letzten Herbst, entgegen. "Hier, nimm das. Ist zwar nur Kaninchenfleisch und leider auch nicht viel, aber besser als gar nichts. Wie ich dich kenne, hast du heute Morgen sowieso noch nichts gegessen."

"Danke." Ferlan verstaute den Apfel und das Fleisch in seiner Tasche am Gürtel. Den Krug in der Hand haltend, verabschiedete er sich mit einem schnellen Kuss auf die Wange seiner Schwester und marschierte zum Dorfausgang.

"Ferlan!"

Der junge Mann blieb stehen und drehte sich wieder um.

"Wenn du Tyrna siehst, sagst du mir doch Bescheid, oder?!"

"Du bist die erste, die es erfährt, Bedana!"
 

~ * ~
 

Die kühle Frische, die in dem Wäldchen herrschte und der Duft nach vermodertem Holz, brachten den jungen Mann schnell auf andere Gedanken. Dunstschwaden, des sich langsam erwärmenden Waldbodens, hingen wie Fetzen zerrissenen Stoffes über dem feuchten Laub und die Stille vermittelte Ferlan ein Gefühl von Frieden, den er förmlich fühlen konnte.

Tief atmete Ferlan die nach Tannennadeln riechende Luft ein und freute sich an dem jungen Grün, das die kahlen Äste der hohen Bäume überzog und die letzten Spuren des erst vergangenen Winters vertrieb.

Ferlan blickte nach oben zum Himmel, wo die Kronen der Bäume sich raunend und wispernd etwas zuflüsterten.
 

Ein Vogel flog erschrocken aus dem Unterholz auf, als ein Stück Holz unter Ferlans Füßen mit einem lauten Knacken zerbrach und Ferlan hob reflexartig seinen Speer.

Vorsichtig sah er sich um.

Etwas unwohl war ihm nun doch zumute, obwohl auch nach intensiver Suche nichts ungewöhnliches zu sehen war. Aber, seit er gestern diese fremde Person entdeckt hatte, fühlte Ferlan sich ständig beobachtet, egal, wohin er ging.

Sich ständig misstrauisch umblickend und auf jedes Geräusch achtend, kam Ferlan nach kurzer Zeit zu der kleinen Anhöhe, auf der sich ihr Aussichtspunkt befand.

Er hob seinen Arm und winkte Iona zu, dessen schlanke Gestalt er auf der östlich gelegenen Seite des Tales erkennen konnte.

Ein weiterer langer Tag voller Ungewissheit lag vor ihm und seufzend konzentrierte Ferlan sich auf seine Aufgabe.
 

Müde gähnte Ferlan hinter vorgehaltener Hand.

Der Morgen war ereignislos verstrichen und mittlerweile war es später Nachmittag. Ein leichter Regen hatte eingesetzt und den Boden um Ferlans Aussichtspunkt innerhalb kurzer Zeit in ein unangenehmes Gemisch aus Schlamm und Laub verwandelt, das sich bei jedem Schritt des jungen Mannes an die Sohlen seiner Lederstiefel hing.

Kühl kroch die Nässe Ferlans Stiefel herauf und zog er sich seinen durchnässten Umhang fester um die zitternden Schultern.

Unkonzentriert beobachtete Ferlan das Gebirge in der Ferne, das sich von dichtem Wald gesäumt über den Horizont erstreckte. Irgendwo am Fuße der riesigen Berge lag die Siedlung zu der Tyrna mit seinem Trupp unterwegs war. Und dazwischen lag gut versteckt in den Wäldern, das Dorf der Dardager.

Ferlan trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und wischte sich den Regen aus den grauen Augen, der ihm in kleinen Rinnsalen aus den Haaren über die Stirn lief.

Wenn die Dardager den Trupp, wie man in Ferlans Stamm befürchtete, nicht passieren ließen, würde der Umweg bis zu ihrer Siedlung mindestens vier weitere Tage in Anspruch nehmen, wie ursprünglich eingeplant waren.

Ferlans Gedanken schweiften ab.

Auch wenn ihn sein Auftrag mittlerweile langweilte und seine anfängliche Begeisterung nüchterner Erkenntnis über den Sinn und die wahre Verantwortung seines Tun gewichen war, so wusste Ferlan doch, wofür er all das auf sich nahm.

Sein Ziel war es, in den Kreis der Krieger aufgenommen zu werden. Und das möglichst bald.

Immerhin zählte Ferlan schon 21 Winter und einige seiner Freunde hatten die Zeremonie der Aufnahme schon im letzten Jahr erfolgreich bestanden.

Wenn sie diese Aufgabe hier ohne Schwierigkeiten hinter sich brachten, wären in diesem Jahr am Erntemond Aredh, Iona und er selbst an der Reihe, zu richtigen Kriegern ernannt zu werden.
 

Ferlan lächelte gedankenverloren vor sich hin.

Dann durften sie endlich auch die Siedlung für längere Zeit verlassen und einen Trupp begleiten. Genau so einen, wie der, auf den sie im Moment warteten.

Ferlan dachte an die Waffen, deren Benutzung ihnen nach der Aufnahme erlaubt sein würde. Er zögerte noch, welcher Gruppe der Krieger er beitreten sollte. Den Bogenschützen oder lieber doch den Schwertkämpfern?

Pfeil und Bogen waren zwar schneller zu erlernen, wie die richtige Führung der um einiges schwereren Schwerter, aber dank Tyrna hatte Ferlan schon etwas Vorsprung, wenn es um Technik und Taktiken im Schwertkampf ging.

Außerdem war er schon lange genug Späher und Ferlan reizte es mehr, im direkten Kampfgeschehen mitzuwirken.

"Was neues?", erklang es hinter Ferlan.
 

Erschrocken drehte Ferlan sich zu der Stimme um und sah in Aredhs grinsendes Gesicht.

"Wieso schleichst du dich an, Aredh?"

"Anschleichen?" Ungläubig blickte Aredh seinen Freund an. "Ich bin nicht geschlichen, sondern nur leise gegangen."

"Das ist doch das selbe!", schnaubte Ferlan.

Aredh zog eine Augenbraue in die Höhe. "Wenn du mich tatsächlich nicht kommen gehört hast, bist du meiner Meinung nach immer noch nicht geeignet, bei den Kriegern aufgenommen zu werden."

"Deine Meinung ist zum Glück nicht gefragt!" Ferlan klang beleidigt. "Wenn ich erst zu den Kriegern gehöre, ist das Hören nicht das wichtigste, sondern mehr, dass ich mit dem Schwert umgehen kann!"

"Schon gut", beschwichtigend hob Aredh eine Hand. "Noch keine Spur von Tyrna und den Männern?"

"Nein." Ferlan hatte sich von dem Tal abgewandt und setzte sich auf einen umgestürzten Baum. "Hat Barneagh schon was darüber gesagt, was er tun will, wenn wir noch länger nichts von dem Trupp hören?"

Aredh, der nun Ferlans Posten bezogen hatte, antwortete, ohne sich zu seinem Gesprächspartner umzudrehen. "Darüber haben wir nicht gesprochen, aber ich denke, dass er wohl einen zweiten kleineren Trupp nachsenden wird, wenn wir weiter ohne Nachricht von Tyrna bleiben."

Ferlan hatte den Apfel aus seiner Tasche genommen und biss hungrig hinein. "Vielleicht dürfen wir ja dieses mal mit."

"Wäre möglich." Aredh ging ein paar Schritte und reckte seinen Kopf, um einen Blick in einen etwas unübersichtlichen Teil des Tales werfen zu können. "Mehr als drei Männer wird Barneagh aber bestimmt nicht losschicken. Die Sicherheit der Siedlung hat Vorrang."

"Wie weit seid ihr mit den getöteten Tieren gekommen?"

"Fast fertig. Bis morgen früh werden sie die Scheiterhaufen noch brennen lassen. Aber, sag mal, Ferlan", Aredh zeigte auf den Apfel in Ferlans Hand. "Seit wann nimmst du dir was zum Essen mit? Das tust du doch sonst nie."

"Bedana hat mir die Sachen gegeben. Hier!" Ferlan warf Aredh den Beutel mit dem gesalzenen Fleisch zu.

"Danke." Aredh drehte verlegen den kleinen ledernen Beutel in seinen Händen. "Ist aber nicht nötig."

Aredh wollte Ferlan den Beutel mit dem Fleisch wieder zurückgeben, was dieser aber mit einer abwehrenden Handbewegung ablehnte. "Iss es und hör auf zu diskutieren. Ich weiß, dass du auch noch nichts gegessen hast."
 

Aredh ließ sich neben Ferlan auf dem umgestürzten Baum nieder und nahm sich ein Stück Fleisch aus dem Lederbeutel.

Unauffällig sah Ferlan zu, wie sich Aredh das gepökelte Fleisch in den Mund schob.

Er wusste warum Aredh kaum etwas aß. Statt sich Essen zu kaufen, sparte er jedes Stück Geld, um davon Salben und Heilkräuter für seinen Vater zu kaufen. Der alte Mann, mit dem Aredh nach dem Tod seiner Mutter alleine lebte, war einer derer, die am meisten unter dem Nahrungsmangel des vergangenen Winters gelitten hatten.

Eigentlich war Enree schon seit Ferlan ihn kannte, krank und Aredh, sein einziger Sohn, sorgte für ihn, aber die entbehrungsreiche Zeit hatte sich bei dem ohnehin schon durch das Alter und unzählige vorhergegangene Krankheiten geschwächten Körper schlimmer ausgewirkt, als man gedacht hatte.

"Willst du?" Ferlan hielt Aredh den Krug entgegen.

Schweigend nahm Aredh das tönerne Gefäß, entfernte den Verschluss und nahm einen Schluck Wein.

Insgeheim bewunderte Ferlan Aredh dafür, was dieser schon jahrelang für die Pflege seines Vaters aufgab.

Ferlan dagegen hatte noch nie ohne seine Familie sein müssen. Gut, sein Vater war tot, aber immerhin hatte er noch seine Mutter und seine Schwester, die, sämtlichen Göttern zum Dank, gesund waren.

Für Aredh musste die Ernennung zu den Kriegern was ganz besonderes sein, doch anders als bei Ferlan, war Aredh nicht unbedingt davon begeistert, sich von der Siedlung und seinem kranken Vater entfernen zu müssen.

Aredh würde wohl doch zuerst heiraten und innerhalb ihres Stammes seine Aufgabe als Krieger beim bewachen der Siedlung, erfüllen.

Ein schriller Pfiff riss Ferlan aus seinen Gedanken und er hob den Kopf.
 

"Iona?" Fragend blickte Aredh dem neben ihm Sitzenden an.

"Wer sonst?!" Ferlan war aufgestanden. Er trat an den Rand des kleinen Hügels, auf dem ihr Aussichtspunkt lag und winkte jemandem zu, den Aredh von seinem Sitzplatz aus nicht sehen konnte. Ferlan legte zwei Finger seiner rechten Hand an die Lippen und pfiff zurück.

"Wenn er hier ist, können wir nach Hause gehen."

"In Ordnung." Aredh gab Ferlan den Beutel zurück.

Schweigend standen sie auf der Anhöhe und warteten auf das Eintreffen ihres Kameraden.

Das Rascheln von Laub und das Geräusch zerberstender Zweige ließ die beiden jungen Männer aufblicken.

"Iona?" Ferlan drehte sich in die Richtung aus der die sich nähernden Schritte zu hören waren. "Du warst aber schnell. Wir hatten nicht so früh..."

Ferlan hielt inne und starrte der kleinen Person entgegen, die aus dem nahen Gebüsch gestürmt kam und flink auf ihn und Aredh zulief.
 

"Stehen bleiben!" Blitzschnell sprang Aredh von seinem Sitzplatz auf. Der Krug fiel zu seinen Füßen ins Gras und zerbrach und der restliche Wein, der sich noch darin befunden hatte, versickerte im Boden.

"Hast du nicht verstanden? Stehen bleiben, hab ich gesagt!", schrie Aredh noch einmal lauter und hielt seinen Speer der Unbekannten drohend entgegen.

"Nein, Aredh, warte!" Ferlan war vor Aredh getreten und hielt diesen davon ab, seinen Speer der Fremden entgegenzuschleudern.

Ferlan ließ seinen eigenen Speer fallen und fing die Fremde, die sich ihm rasend schnell näherte, auf.

Die Wucht, mit der sich die Person aus dem Tal in seine Arme warf, ließ beide zu Boden fallen.

"Das - das ist ja noch ein Kind...", stotterte Aredh fassungslos nach einer Weile.

Verzweifelt krallten sich die fremden Finger in den blauen Stoff von Ferlans Umhang.

"Bitte...", kam es leise aus dem Mund des etwa zehnjährigen Mädchens, bevor ihr Körper in sich zusammensank.
 

Verwirrt hielt Ferlan das ohnmächtige Kind in seinen Armen und strich ihm ein paar nasse Strähnen des braunen Haares aus dem bleichen Gesicht.

Aredh sah seinen Freund aus weitaufgerissenen Augen an. "Wer ist das? Und wo kommt sie so plötzlich her?"

"Woher soll ich das wissen, Aredh?!" Ferlan betrachtete sich das Kind genauer.

Über die von Locken umrahmten Wangen und die Stirn zogen sich lange rote Kratzer, die teilweise noch frisch waren. Die Kleidung des Kindes war an vielen Stellen zerrissen und starrte vor Schmutz. An den Füßen trug es keine Schuhe, was in dieser Jahreszeit noch undenkbar war.

Aredh hatte sich neben Ferlan niedergelassen und die Hand des Mädchens in seine genommen. Er beugte sich zu ihr herab und hielt sein Ohr lauschend an ihren Brustkorb.

"Sie lebt noch", sagte Aredh nach einer Weile.

"Und jetzt?"

Ratlos sahen sich die beiden Freunde an.
 

"Hey ihr zwei. Seid ihr fertig, um nach Hause zu gehen?" Unbemerkt war Iona den Hügel heraufgekommen. Wie erstarrte blieb er stehen, als er Aredh und Ferlan auf dem Boden knien sah. "Was macht ihr denn da?"

Aredh rückte etwas zur Seite und gab den Blick auf Ferlan und das kleine Mädchen frei.

"Wer... wer ist das...?" Iona war verwirrt und fuhr sich mit seiner Hand über die Stirn.

Aredh zuckte mit den Schultern. "Wir haben keine Ahnung. Sie kam gerade eben den Berg hinauf. Wir dachten zuerst, dass du es bist, weil sie aus deiner Richtung kam."

"Wie konnte sie das Tal durchqueren, ohne dass wir sie sahen?"

Aredh hob ahnungslos die Schultern und warf Iona einen Blick zu, der zeigte, dass auch er keine Antwort darauf wusste.
 

"Wir nehmen sie mit zu uns!" Ferlan war aufgestanden. Das Kind in seinen Armen haltend, sah er seine beiden Freunde entschlossen an.

"Aber du kannst doch nicht einfach...", wand Iona ein.

"Sollen wir sie vielleicht hier lassen?", unterbrach ihn Ferlan barsch. "Aredh, nimm meinen Speer."

Ferlan marschierte auf den nahen Waldrand zu. "Wir bringen sie zu Alinor. Sie kann sich die Kleine mal ansehen und ihr helfen."

"Wir wissen doch gar nichts über sie. Woher kam sie so plötzlich und was macht ein so kleines Kind alleine im Wald?" gab Iona zu bedenken und blickte zu Aredh, der zustimmend nickte.

"Ferlan!" Aredh hielt den Angesprochenen am Arm fest. "Ich denke auch, dass Iona mit seinen Zweifeln Recht hat."

"Und wie Iona schon gesagt hat, Aredh, ist sie nur ein kleines Kind! Was haben wir vor ihr zu befürchten?! Oder willst du sie lieber im Wald lassen, wo sie mit Sicherheit die nächsten Tage nicht überleben wird?"

Missmutig schüttelte Ferlan Aredhs Hand ab und setzte seinen Weg zu ihrer Siedlung fort. "Wir sollten uns erst anhören, was ihr zugestoßen ist und dann kann der Rat immer noch entscheiden, was mit ihr geschieht."
 

Iona warf Aredh, den er um einen Kopf an Größe überragte, einen resignierten Blick zu.

"Lass ihn." Aredh zuckte mit den Schultern. "Wenn der sich mal was in den Kopf gesetzt hat, kannst du auf ihn einreden wie du willst. Es bringt nichts."

Ohne noch ein weiteres Wort zu wechseln, folgten Iona und Aredh Ferlan durch den Wald.
 

~ * ~
 

"Der Kleinen geht es gut."

Ferlans Mutter trat aus der kleinen Kammer ihres Sohnes und nickte den drei jungen Männern zu, die am Tisch saßen und ihr abwartend entgegenblickten.

Die kleine weißhaarige Frau die kurze Zeit später aus Ferlans Zimmer kam, lächelte ebenfalls beruhigend. "Ich habe ihr etwas gegeben, damit sie schlafen kann und die Wunden versorgt. Sie wird wohl bis Morgen durchschlafen. Selia", sagte sie zu Ferlans Mutter gewandt. "Ich lasse dir das Serum und die Salbe für die Wunden hier. Sieh in der Nacht bitte noch mal nach der Kleinen."

"Danke, Alinor." Ferlans Mutter bedeutete der alten Frau, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.
 

"Hier, das hatte sie bei sich." Alinor legte ein paar glänzende Gegenstände vor sich auf die Tischplatte.

Ferlans Mutter nahm eines der silbernen Schmuckstücke in die Hand und betrachtete sich die filigrane Arbeit. "Ich werde ihr den Schmuck Morgen geben", sagte sie, bevor sie die fremden Sachen in einer kleinen Schatulle verstaute.

Selia kam mit einem kleinen Kessel zurück und goss den Inhalt in Becher.

Alinor nahm den Becher den Selia vor ihr abstellte entgegen und trank einen Schluck der dampfenden Flüssigkeit. "Wo habt ihr das Kind gefunden, Ferlan?"

Bevor er antwortete, warf Ferlan Iona und Aredh einen schnellen Blick zu.

"Sie kam aus dem Tal den Hügel zu unserem Aussichtspunkt herauf."

Alinor sah die drei Männer der Reihe nach an, die wie sie am Tisch saßen. "Hat sie irgendwas gesagt? Warum sie alleine ist, oder woher sie kommt?"

"Nein." Aredh schüttelte seinen Kopf. "Sie fiel Ferlan in die Arme und wurde ohnmächtig."
 

"Seltsam." Alinors dunkle Augen verdüsterten sich kaum merklich. "Was macht so ein kleines Mädchen ohne Begleitung im Wald?"

"Die gleiche Frage haben wir uns auch schon gestellt."

Iona und Ferlan nickten auf Aredhs Worte hin.

"Nun, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten, was die Kleine uns zu erzählen hat, wenn sie wach wird." Bedächtig erhob sich die alte Frau von ihrem Sitzplatz. "Kann sie die Nacht bei euch bleiben?"

"Selbstverständlich." antwortete Ferlans Mutter.

"Wenn es Probleme gibt, dann schick Ferlan um mich zu rufen." Verabschiedend nickte Alinor jedem in der kleinen Hütte zu und schlurfte langsam auf die Tür zu. "Ich komme Morgen früh wieder vorbei und schaue nach der Kleinen. Vielleicht kann sie uns dann schon sagen, was mit ihr los ist. Wenn wir mehr wissen, werde ich die anderen des Rates zusammenrufen und dann wird entschieden, was als nächstes zu tun ist."
 

"Wir müsse jetzt auch nach Hause."

Iona und Aredh waren ebenfalls aufgestanden und hatten sich dem Ausgang zugewandt.

"Ich gehe Morgen alleine zu Barneagh und frage, ob wir drei zum Tal sollen." Aredh klopfte Ferlan kameradschaftlich auf die Schulter und verließ mit Iona das Haus. "Ich hole dich dann später ab."

"Dieses Mal kommst du aber zur Tür herein, Aredh!"

"Keine Sorge, Ferlan", rief Aredh von draußen. "Darauf, dich wieder im Nachthemd zu sehen, kann ich gerne verzichten."

"Sei froh, dass ich viel zu gut erzogen bin, um dir auf diese Frechheit die passende Antwort zu geben!" Wütend schüttelte Ferlan seine erhobene Faust in Richtung des lauthals lachenden Aredh.

Grinsend hatte Iona die Szene zwischen den beiden Männern beobachtet. "Gute Nacht, Ferlan", sagte er und verschwand in der Dunkelheit. "Wir sehen uns dann morgen."

"Ja, gute Nacht." Ferlan gähnte müde und streckte sich. "Wird Zeit, dass Tyrna zurückkommt. Noch eine Woche länger mit Aredh unterwegs ertrage ich nicht."

So leise es ging, zog Ferlan die Tür hinter sich ins Schloss.
 

Seufzend nahm Ferlan ein paar Decken von einem Stapel und breitete sie in der Mitte des Zimmers auf dem Boden aus.

Heute Nacht würde er sich seine Nachtlager wohl oder übel auf dem Boden im Wohnraum aufschlagen müssen.

Das fremde Mädchen schlief in seinem Bett und die Kammer seiner Mutter war noch winziger als sein eigenes Zimmer. Zu zweit hätten er und seine Mutter darin einfach keinen Platz.

Ein letztes Mal noch ging Ferlan zu dem Vorhang, der sein Zimmer abteilte und lauschte.

Alles war still. Die Kleine schien tatsächlich zu schlafen.

"Wer weiß, was sie die letzten Tage mitmachen musste."

Ferlan legte sich auf den Decken am Boden nieder und schloss die Augen.

Morgen würden sie mehr wissen.
 

~ * Ende 2. Kapitel * ~

Licht & Schatten

~ * ~
 

Die Arme voller Brennholz, betrat Ferlan sein Elternhaus.

Es war der Morgen nachdem er zusammen mit Aredh und Iona das fremde Mädchen im Wald gefunden und mit nach Hause genommen hatte.

Mit dem Fuß stieß Ferlan die Tür hinter sich zu und ging zum Kamin, um das Holz davor abzulegen.

Die Flamme loderte hell auf, als er ein paar Holzscheite hinein warf. Schweigend sah Ferlan zu, wie sich das Feuer durch das Holz fraß und die Ränder schwarz färbte.

Etwas müde von der vergangenen Nacht, lauschte er dem leisen Knistern und sah den kleinen Rauchsäulen nach, die sich in die Höhe wanden.

Aus dem Nebenzimmer waren die leisen Stimmen seiner Mutter, Bedanas und des Kindes zu hören.

Ferlan steckte seine Hände aus und hielt sie wärmend dem Feuer entgegen.
 

Noch immer war es morgens recht kalt, auch dann, wenn es mal nicht regnete. Der Wechsel vom Frühling zum Sommer schien dieses Jahr in einem solch schleichenden Tempo voranzugehen, wie noch nie zuvor.

"Guten Morgen, Mutter", sagte Ferlan ohne aufzusehen, als er die sich ihm nähernden Schritte bemerkte. Er kannte Selias Art sich zu bewegen, bis ins kleinste Detail. Ihre Schritte, das Rascheln ihrer langen Kleider, wenn sie über den staubigen Boden glitten und er wusste auch, dass sie jetzt lächelte.

"Hast du gut geschlafen?", erklang Selias freundliche Stimme.

"Ja." Ferlan warf noch ein paar Stücke Holz in die größer gewordenen Flammen und wand sich seiner Mutter zu. "Wie geht es dem Kind?" Ferlan nickte Richtung Kammer, in der das kleine Mädchen leise mit Bedana sprach.

"Schon viel besser als gestern." Selia nahm eine Kanne, füllte sie mit dem Inhalt des Kessels der über dem Feuer hing und brachte sie zum Tisch. "Alinor und Barneagh wollen nachher mit ihr reden."

"Alinor war doch heute Morgen schon hier. Oder wollte das Kind nicht mit ihr sprechen?"

"Nein, Alinor war nur hier, um sich das Kind kurz anzusehen. Viel gesprochen haben sie noch nicht miteinander."
 

Ferlan war seiner Mutter gefolgt und nahm Geschirr und Besteck für sie alle aus einem niedrigen Schrank und stellte alles auf der Tischplatte ab. "Soll ich sie zu Alinor bringen?", fragte er, während er die Teller verteilte.

"Musst du nicht wieder zum Tal?"

"Nein. Aredh war schon hier und hat mir gesagt, dass er, Iona und Cal hingehen."

"Cal auch?" Selia brachte das karge Frühstück. "Dann haben sie in der Schmiede wohl nicht viel zu tun."

"Kann sein." Ferlan zuckte mit den Schultern. "Ich geh, und rufe Bedana und die Kleine."

"Gut." Suchend blickte sich Selia um. "Wo ist Melva? Sie war doch eben noch bei dir."

"Draußen", antwortete Ferlan im weggehen. "Sie hat von Cal ein kleines Schwert aus Holz bekommen und wollte es ausprobieren."

"Ferlan!", schimpfte Selia. "Du weißt doch, dass Melva die meiste Zeit nur Unsinn im Kopf hat! Wie kannst du sie unbeaufsichtigt draußen spielen lassen? Und dann ausgerechnet noch mit einem Holzschwert..."

Leise vor sich hin schimpfend, verließ Ferlans Mutter die kleine Hütte.

"Früh übt sich eben", murmelte Ferlan grinsend.
 

"Bedana?" Ferlan stand vor dem Vorhang, der zu seinem Zimmer führte. "Ihr könnt essen kommen."

Der bunte Stoff wurde zurückgezogen und Bedanas fröhliches Gesicht erschien dahinter. "Wir kommen sofort." Lens Ärmchen streckten sich Ferlan entgegen und Bedana gab den kleinen Jungen an ihren Bruder weiter.

"Hallo", begrüßte Ferlan das kleine fremde Mädchen, das hinter Bedana auftauchte und ihn aus großen dunklen Augen schüchtern ansah.

Statt der zerrissenen Kleidung trug es ein rotes, an Kragen und Saum mit Stickereien verziertes, knöchellanges Kleid.

Das zerzauste Haar war gekämmt und sorgfältig zu einem Zopf geflochten und nur noch ein paar hellrote Kratzer im blassen Gesicht, erinnerten daran, was das Kind vermutlich hatte durchmachen müssen.

Ohne auf Ferlans Begrüßung zu antworten, senkte das Mädchen den Blick und drängte sich schutzsuchend an Bedanas Seite.

Beruhigend strich Bedana dem Kind über den Kopf und warf ihrem Bruder einen verständnisvollen Blick zu. "Wir reden später."

"Ist gut." Ferlan zwinkerte dem Mädchen, das seine Neugier nicht verbergen konnte und wieder etwas hinter Bedana hervorgekommen war, noch einmal freundlich zu und verließ mit Len auf dem Arm die kleine Kammer.
 

"Halt!", wurde Ferlan im Wohnraum empfangen.

Melva hatte sich ihm in den Weg gestellt und hielt ihm drohend ein Holzschwert entgegen. Ihre Augen funkelten Ferlan böse an, der sich nur mühsam zusammenreißen konnte, um nicht laut loszulachen.

"Nicht schlecht", lobte er seine Nichte und fuhr ihr durch das lange Haar, das ihr wild in die grauen Augen fiel.

"Schau mal, mein Schwert", krähte Melva fröhlich und schwang die kleine Holzwaffe von einer Seite zur anderen.

Ferlan setzte Len auf seine Spieldecke und nahm selbst am Tisch Platz. Interessiert besah er sich das für seine Verhältnisse winzige Schwert.

"Gute Arbeit," murmelte er, während er mit den Fingern über den Griff fuhr, in den verschiedene Tiere geschnitzt waren. "Cals Holzschwerter sind genauso perfekt, wie die richtigen."

"Nimmst du mich mit, wenn du wieder nach Papa schaust?", rief Melva aufgeregt. "Ich kann euch helfen. Wenn jemand kommt, dann..."

"... Dann muss er sicher über das kleine Mädchen mit dem Holzschwert lachen." Bedanas Worte sorgten dafür, dass das unternehmungslustige Glitzern aus Melvas Augen verschwand.

Düster sah sie ihrer Mutter entgegen, die mit dem fremden Mädchen an der Hand den Wohnraum betreten hatte und sich ihr nun gegenüber an den Tisch setzte.
 

Sichtlich enttäuscht nahm Melva ihrem Onkel das Schwert aus der Hand und legte es vor sich auf die Tischplatte.

"Ich nehme dich irgendwann mal mit. In Ordnung?" Aufmunternd nickte Ferlan Melva zu.

Sofort verschwand der traurige Ausdruck in deren Gesicht. "Ja, wirklich?"

"Versprochen!", lachte Ferlan.

Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen blickte Melva an Ferlan empor und drückte ihr Schwert fest an sich.
 

"Lass stehen, wir räumen das nachher weg."

"Danke, Ferlan." Selia stand von ihrem Platz am Tisch auf. "Ich bringe die Kleine zu Alinor, damit sie mit ihr reden kann. Barneagh kommt auch und dann wird man am Nachmittag noch den Rat hinzuziehen, wenn man Näheres weiß."

Selia warf sich ihren Umhang über die Schultern und fuhr sich ein letztes Mal noch ordnend durch ihr Haar. "Komm," sagte sie zu dem kleinen Mädchen, das noch immer stumm am Tisch saß, und streckte ihr die Hand entgegen.

"Ich will auch mit!" Melva klammerte sich an dem Arm der älteren Frau.

"Na gut", lachte Selia. "Ich nehme Melva mit, wenn es dir recht ist, Bedana."

"Ja, natürlich. Ich bleibe hier und helfe Ferlan beim aufräumen."

"Bis später", verabschiedete sich Selia und verschwand mit Melva an der einen und dem fremden Kind an der anderen Hand, durch die Tür nach draußen.
 

~ * ~
 

"Gehst du alleine zum Erntemond, oder hast du schon eine Begleitung?", fragte Bedana, als sie mit ihrem Bruder alleine war. Es sollte anscheinend so beiläufig wie möglich klingen, aber es fiel der jungen Frau schwer, sich ein vielsagendes Lächeln zu verkneifen.

"Wie es aussieht, werde ich wohl alleine hingehen müssen", seufzte Ferlan und schob sich das letzte Stück Brot in den Mund.

"Was? Das kann ich mir gar nicht vorstellen." Gespielt empört schüttelte Bedana den Kopf. "Aber du hast ja noch fast ein halbes Jahr Zeit, um jemanden zu finden."

"Du meinst wohl eher, dass ich noch Zeit habe, um jemanden dazu zu überreden, mit mir dort hinzugehen..." Ferlan verschränkte die Arme vor der Brust. "Selbst Aredh hat schon eine Begleitung."

Bedana hatte den auf seiner Spieldecke eingeschlafenen Len ins Zimmer ihrer Mutter gebracht und kam gerade noch rechtzeitig, um Ferlans Satz zu verstehen.

"Aredh?"

"Ja." Ferlan war aufgestanden und machte sich daran das Geschirr wegzuräumen. "Und du wirst nie erraten, mit wem er dort hingeht."

"Cal", antwortete Bedana.
 

Verwirrt sah Ferlan seine Schwester an. "Stimmt. Woher weißt du das? Hat Aredh es dir schon erzählt?"

"Nein, hat er nicht. Das meinte ich auch nicht." Bedana hob ihre Hand und deutete zum Eingang. "Ich wollte sagen, dass Cal da ist."

Bedana ließ Ferlan einfach stehen und lief zur Haustür.

"Cal!", rief Ferlan nun auch, als er die junge Frau im Türrahmen erblickte. "Was machst du hier? Ist etwas passiert?"

"Das kann man wohl sagen." Sichtlich darum bemüht, zu Atem zu kommen, hielt sich Cal die vom Rennen schmerzenden Rippen. Sie strich sich eine Strähne ihres kupferroten Haars aus dem geröteten Gesicht und zog sich ihren halb herabgerutschten Umhang wieder über die Schultern.

"Komm rein, und erzähl uns, was los ist." Bedana hatte die junge Frau am Arm gepackt und schob sie sanft zum Esstisch hin, wo sie ihr bedeutete, sich hinzusetzen.
 

"Ich habe nicht viel Zeit," wehrte Cal Bedanas Angebot, etwas zu trinken, ab. "Ich muss noch zu Barneagh und ihm Bescheid sagen..."

"Was ist denn überhaupt passiert?", unterbrach Ferlan Cal in ihrem Redestrom.

Bedana erbleichte. "Ist etwa was mit Aredh oder Iona? Oder sonst was Schlimmes?"

"Ganz im Gegenteil." Cal, die wieder zu Atem gekommen war, lächelte. "Wir haben Tyrna und den Trupp gesehen!"

"Wirklich?", riefen Ferlan und Bedana im Chor.

"Ja!" Cal hatte Mühe sich aus Bedanas anschließender Umarmung zu befreien. "Sie sind zwar noch etwas weiter weg, aber bis heute mittag dürften sie hier ankommen."

Ferlan, der sich als erster wieder gefangen hatte, sagte nach kurzem Überlegen: "Cal, du gehst zu Barneagh und berichtest ihm alles. Später treffen wir uns und gehen zum Tal."

"In Ordnung!" Cal strahlte über das ganze Gesicht. Im Eilschritt verließ sie das Haus, um ihrem Stammesführer die Neuigkeit zu überbringen.

Endlich gab es einen winzigen Funken Hoffnung für die Siedlung.

"Ich komme mit dir!" Bedana sah ihren Bruder entschlossen an.

"Ich weiß nicht." Zögernd blickte Ferlan auf die Frau herab. "Ach, was soll's! Mutter wird schon auf die Kinder aufpassen, bis wir wieder hier sind."
 

~ * ~
 

Gegen Mittag machten sich Bedana, Ferlan und Cal, die mittlerweile Barneagh über das baldige Eintreffen Tyrnas und der Truppe aufgeklärt hatte, auf den Weg.

Schweigend durchquerten die Drei den Wald.

Kein Wort und kein Satz hätte jetzt beschreiben können, was jeder von ihnen dachte. Sie wären sowieso nicht im Stande gewesen, das auszudrücken, was sie empfanden.

Auch wenn noch niemand wusste, ob die Männer mit guten Nachrichten, und vor allem, mit gesundem Vieh zurückkehrten, war man erleichtert, die geliebten Menschen heil wieder zu hause zu wissen.

Ferlan sah rüber zu Bedana.

So glücklich wie jetzt hatte er sie die letzte Zeit nur selten gesehen.

Sie hatte sich ihr langes Haar hochgesteckt es mit Haarnadeln aus dunklem Holz befestigt. Ihre Augen strahlten vor Aufregung und sie ließ ihre Blicke nicht vom Horizont, wo schon bald das Tal auftauchen würde.

Fest hatte Bedana die Hand ihres Bruders gepackt und zog ihn hinter sich her.
 

"Da!", rief Cal, als sich der Wald lichtete.

Die junge Frau beschleunigte ihre Schritte und stand schon bald auf einem freien Feld. Grün, und in ihren Augen, heute sogar grüner als sonst, breitete sich das Tal vor ihr aus.

"Aredh! Wir sind wieder da!" Cal lief auf die Gestalt am Rande des Hügels zu.

"Na endlich," antwortete Aredh und winkte Bedana und Ferlan zu, die gerade den Wald verließen. "Was hat Barneagh gemeint?", richtete er wieder das Wort an Cal.

"Er sagte, dass er sich darum kümmern wird, dass im Dorf alles auf die Ankunft vorbereitet wird." Cal hielt sich wegen dem blendenden Sonnenlicht eine Hand schützend vor die Augen, um besser sehen zu können, wo der Treck blieb.

"Sie müssten doch schon viel näher sein." Fragend blickte Cal Aredh an.

Der hob nur hilflos die Schultern und antwortete "Vor einer Weile haben sie mal angehalten. Warum, weiß ich nicht. Iona ist schon bei ihnen und als ich auch losgehen wollte, um nachzufragen, was los ist, setzten sie sich wieder in Bewegung."
 

"Wo sind sie?" Bedana war neben Aredh und Cal angekommen und reckte ihr Kinn in die Höhe, um das Tal überblicken zu können.

"Da hinten." Cal zeigte auf eine Stelle. "Sie sind gerade hinter der Baumgruppe dort verschwunden."

"Wieso dauert das so lange?"

Gebannt starrten die Drei ins Tal und warteten auf das Erscheinen der Männer. Endlich wurden sie erlöst.

"Ich kann sie sehen!" Bedanas Stimme überschlug sich fast vor Freude. "Da ist Tyrna! Und seht, wie viele Tiere sie bei sich haben!"

Aus dem Schatten der Bäume trat Tyrnas große Gestalt. Gefolgt von seinen Männern und einigen dunklen Punkten, die ungeordnet die Truppe begleiteten.

"Unglaublich", murmelte Ferlan und Aredh nickte stumm.

"Los, wir gehen ihnen entgegen!" Cal schnappte sich Bedana und beide liefen so schnell es ging, den Hügel hinab.
 

Nach einiger Zeit, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, hatten sie sich dem Trupp bis auf ungefähr hundert Meter genähert.

Tyrna der dem Zug voranschritt, hatte an einem Seil eine braune Kuh und blickte überhaupt nicht glücklich drein.

Mit Schrecken bemerkte Ferlan das Grinsen in Aredhs Gesicht.

"Ein Wort von dir," fing er an, doch leider zu spät.

"Unser tapferer Krieger...", lachte Aredh leise, ohne seinem Freund Gehör zu schenken.

"Aredh, ich warne dich!", unterbrach ihn Ferlan schnell und hoffte, dass Tyrna auf die Entfernung hin noch nichts mitbekommen hatte. Wenn doch, konnten sie sich mit Sicherheit auf was gefasst machen.

"Ach komm schon, Ferlan." Aredh bemühte sich vergeblich ein ernsteres Gesicht aufzusetzen. "Als ob du nicht das selbe gedacht hast." Er stieß den neben ihm Gehenden sachte den Ellenbogen in die Rippen.

"Doch, und du weißt das ganz genau." Bittend sah Ferlan Aredh an. "Sag jetzt nichts mehr, ja?!"

"Na schön. Komm, wir gehen und begrüßen sie."
 

Während sie über die Wiese liefen, musste Ferlan sich eingestehen, dass Aredh Recht hatte.

Es sah wirklich etwas komisch aus, wie die zehn Männer daher kamen.

Insgesamt begleiteten die Truppe noch drei weitere Kühe und ein Stier und zwei der Krieger mühten sich verzweifelt ab, ungefähr acht bis neun Ziegen dahin zu bugsieren, wo sie hin sollten.

Vier der Männer trugen auf dem Rücken bis oben hin gefüllte Körbe, von denen einer eine Art Käfig war, durch dessen schmale Gitterstäbe sich die Köpfe neugieriger Hühner und Gänse streckten.

Genauso missmutig dreinschauend wie ihr Anführer, stapften auch sie durch das niedrige Gras.
 

Bedana hatte Tyrna als erste erreicht und fiel ihm um den Hals. "Ich bin so froh, dass du wieder hier bist!", schluchzte sie. "Geht es dir gut?"

"Ja, alles in Ordnung." Dankbar nickte Tyrna Aredh zu, der ihm die Zügel aus der Hand nahm und das Führen der Kuh übernahm. "Wir sind alle nur etwas müde und freuen uns auf ein warmes Essen. Und vor allem, auf Schlaf."

Tyrna legte einen Arm um Bedana und drückte sie kurz an sich. "Und wie ist es euch ergangen? Was macht die Siedlung?"

"Fast alle Tiere sind jetzt tot. Der größte Teil davon ist schon beseitigt worden", antwortete Ferlan und sah Tyrna an, um seine Reaktion darauf abzuwarten.

Der kniff die Augen zusammen und der strenge Zug um seine Mundwinkel vertiefte sich. "Gibt es sonst noch was neues?"

"Nichts, außer dem Mädchen."

"Mädchen?" Tyrnas Kopf fuhr herum und er musterte seinen jüngeren Schwager. "Welches Mädchen?", fragte er lauernd.
 

Ferlan atmete in Gedanken auf. Die erste Hürde, Tyrna von ihrem Gast zu erzählen, war genommen und den Rest musste er auch noch schaffen.

"Wir fanden sie gestern hier auf dem Hügel. Sie war alleine und verwundet, und da haben wir..."

"Da habt ihr sie mit nach hause genommen?" Tyrnas Frage war mehr eine Feststellung. Seine Stimme glich dem düsteren Grollen des Donners.

Tyrna konnte wohl mit seinen Mitmenschen lachen und scherzen, aber wenn er wollte, konnte seine Stimme von einem zum anderen Augenblick eiskalt und kühl, wie das Klirren frostbedeckter Äste klingen lassen.

Und genau diese Stimmungswechsel machten Ferlan und allen, die auf irgendeine Weise mit Tyrna zu tun hatten, zu schaffen.

Manchmal hatte Ferlan das Gefühl, alles falsch zu machen, wenn er versuchte mit dem Ehemann seiner Schwester über etwas anderes außer Waffen und Kämpfe zu reden. Es war so gut wie sinnlos.

Die Einzigen, die in der Lage waren dem hünenhaften, dunkelhaarigen Mann ein Lächeln auf das stets glattrasierte, mit hohen Wangenknochen versehene Gesicht zu zaubern, waren Bedana und die Kinder.

Und Bedana war es schließlich auch, die das Gespräch entschärfte und versuchte, es in eine angenehmere Richtung zu lenken.
 

"Das arme Kind war ganz alleine. Und das ausgerechnet in so einem Gebiet, wie hier, wo man tagelang auf keine Menschenseele trifft."

Die kleinere Bedana sah ihren neben ihr gehenden Mann von unten herauf mitleidheischend an. Und es wirkte.

Tyrnas Miene entspannte sich ein wenig und die verärgerten Falten auf seiner Stirn glätteten sich. "Kind? Wie alt ist das Mädchen denn?"

"Höchstens zehn Winter." Ihrem Bruder ein beruhigendes Lächeln zuwerfend, nahm Bedana ihrem Mann mit dem folgenden Satz die letzten Zweifel. "Ohne Eltern war sie unterwegs. Stell dir das mal vor, welche Angst dieses Kind gehabt haben muss. Weißt du noch, als Melva einmal..."

"Ja, ich weiß es noch." Tyrna erbleichte in Erinnerung an ein gerade erst vergangenes Erlebnis. "Und was haben Alinor und Barneagh zu der Sache gesagt?"

Unmerklich schüttelte Ferlan seinen Kopf. Bedanas Geschick, was das umgehen unangenehmer Gespräche anging, war nicht zu übertreffen.

Ferlan verlangsamte seine Schritte, bis er neben Aredh ankam, der die ganze Zeit hinter ihnen gegangen war und die Unterhaltung wohl oder übel mitbekommen hatte. Er musste Aredh nicht erst ansehen oder danach fragen, um zu wissen, das es so war.
 

"Schade", seufzte Aredh. "Ich hätte gerne gewusst, wie du dich aus der Situation gewunden hättest."

"Überhaupt nicht, vermutlich." Ferlan stieß genervt den Atem aus. "Wahrscheinlich hätten meine Erklärungsversuche alles nur noch schlimmer gemacht."

Um das Thema zu wechseln, sah sich Ferlan die Kuh, die langsam neben Aredh ging, genauer an. "Sie ist kräftig und gut genährt." Ferlan klopfte der Kuh in die Seite. "Wie viel sie dafür wohl bezahlen mussten?"

"Ziemlich viel, wie es aussieht. Von den Sachen, die sie zum tauschen mitgenommen hatten, ist nichts mehr übrig und sieh mal", Aredh deutete zu den Männern, die Tyrna auf der Reise begleitet hatten. "Sie haben kaum noch eigene Waffen. Nur das nötigste. Anscheinend mussten sie das alles gegen die Tiere und das andere Zeug hier tauschen."

"Es hat sich aber gelohnt", sagte Ferlan optimistisch.
 

Iona und Cal tauchten neben Ferlan und Aredh auf.

"Das bedeutet wohl viel Arbeit für uns in der Schmiede", sagte Cal, die Aredhs Satz mit den eingetauschten Waffen noch verstanden hatte. An einer Leine hatte sie eine kleine braun-weiß gefleckte Ziege, die sie mit Grashalmen fütterte, die sie im Gehen abriss. "Endlich. Vater hat schon angefangen darüber nachzudenken, wie alt er nun ist und ab wann mein Bruder und ich die Schmiede übernehmen sollen. Als ob nicht noch Zeit dafür wäre."

Ferlan musste über Cals Gesicht lachen, als sie ihre Augen zum Himmel hin verdrehte.

"Da fällt mir etwas ein!", rief Iona plötzlich. "Treffen wir uns bald, um die Schilde fertig zu machen?"

Aredh zuckte mit den Schultern. "Ich habe Zeit. Was ist mit euch?"

Ferlan und Cal nickten und Aredh wandte sich wieder zu Iona. "Und wo treffen wir uns? Bei euch, oder bei uns?"

"In drei Tagen bei uns", antwortete Iona.

Sich weiter miteinander unterhaltend, folgten die vier jungen Leute dem Trupp den Hügel hinauf.

Mit dem Ende der langen Reise vor Augen, beschleunigten die Männer ihre Schritte. Kaum einer konnte es noch abwarten, endlich wieder daheim zu sein.
 

~ * ~
 

Spät am Abend trafen sich fast alle Bewohner der Siedlung im Gemeindehaus, um die Ankunft der Truppe zu feiern und sich anzuhören, was es Neues gab.

Vor dem Eingang des größten Hauses der Siedlung, brannten Fackeln und lautes Lachen, vermischt mit dem Duft von warmem Kräuterwein, der eine Spezialität des Dorfes war, drang durch die weitgeöffnete Tür nach draußen und lockte die Besucher in Scharen an.

Iona, Cal, Aredh und Ferlan gingen gemeinsam auf das hell erleuchtete Haus zu und betraten es zusammen mit einigen anderen Einwohnern.
 

Nach den üblichen Begrüßungen, verteilte man sich anschließend an den Wänden entlang. Aus Mangel an genügend Sitzmöglichkeiten hatte man nur für die Ältesten und die Mitglieder des Großen Rates Stühle aufgestellt, während der Rest auf dem Boden Platz nehmen musste.

Über dem Feuer in der Mitte des Raumes hing ein Kessel, dem weiße, wohlriechende Wolken entstiegen und sich in dem Zimmer verteilten. Und nachdem jeder erwachsene Bewohner mit einem Kelch Wein versorgt war, wartete man gespannt auf die offizielle Eröffnung des Treffens.

Unzählige Augenpaare wandten sich den neun Mitgliedern des Großen Rates zu, die den Raum betraten und auf den für sie vorgesehenen Stühlen Platz nahmen.

Als Barneagh sich nach einer Weile von seinem Platz erhob, verstummten auch die letzten Gespräche augenblicklich.

"Schön, dass so Viele von euch gekommen sind." Barneagh sah sich in der Runde um. "Als erstes begrüßen wir den Trupp, der heute wohlbehalten und mit den so lange erwarteten Tieren angekommen ist. Natürlich wollen wir zuerst einmal wissen, was ihnen auf ihrer Reise so alles geschehen ist und danach möchten wir noch einen Punkt ansprechen, der uns seit gestern beschäftigt."
 

Aredh und Ferlan sahen sich an.

Mit dem Punkt meinte Barneagh das kleine Mädchen aus dem Tal. Die Nachricht darüber hatte sich schon längst unter den Einwohnern des Dorfes herumgesprochen, wie man dem sich nun erhebenden Gemurmel, heraushören konnte. Und nicht jeder schien eine positive Meinung dazu zu haben.
 

"Also gut", wandte Barneagh beschwichtigend ein. "An eurer Reaktion sehe ich, dass wir den Punkt wegen unseres neuen Gastes wohl zuerst behandeln sollten. Aber nur, wenn Tyrna nichts dagegen hat."

Tyrna nickte. "Dass der Trupp gesund und unversehrt zurückgekommen ist, dürften mittlerweile alle wissen. Lasst uns zuerst über das weitere Vorgehen wegen dem fremden Kind beraten."

"Nun gut." Barneagh setzte sich. "Ich denke, Ferlan sollte als Erster noch einmal beschreiben, wie und wo das Kind gefunden wurde und danach hat Alinor das Wort. Sie hatte heute Mittag die Gelegenheit, ausführlich mit dem Kind zu reden und kann uns den Grund nennen, weshalb das Mädchen alleine im Wald umherirrte."
 

Auf ein Kopfnicken Barneaghs hin, erhob sich Ferlan und begann den Einwohnern davon zu erzählen, wie am gestrigen Abend ihm, Iona und Aredh das Mädchen über den Weg gelaufen war.

Gebannt hörten diejenigen, die die Geschichte noch nicht in allen Einzelheiten kannten, zu und nur selten unterbrach man den jungen Mann in seiner Rede, um etwas zu fragen.

Als Ferlan seine Erzählung beendet hatte, herrschte im ersten Moment schweigen, bis die Männer und Frauen anfingen, über das gerade gehörte zu diskutieren. Ein paar kamen und setzten sich zu den drei jungen Männern, denen dieser seltsame Vorgang widerfahren war, um näheres zu erfahren.

"Und sie war wirklich ganz alleine?"

"Wo ist sie jetzt?"

"Ist sie hier?"

"Was wird nun aus ihr?"

Barneagh, dem auffiel, dass Ferlan und seine Freunde mit den Fragen, die auf sie einstürzten, überfordert waren, räusperte sich hörbar, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. "Überlassen wir doch Alinor das Wort. Sie weiß mittlerweile sicher mehr."

Die Gesichter der versammelten Bewohner, wandten sich ihrem Stammesführer und der kleinen alten Frau neben ihm, zu.

Alinor, die im Gegensatz zu Barneagh auf ihrem Stuhl sitzen blieb, hatte die Hände in ihren Schoß gelegt und ließ ihre Blicke in dem großen Raum umher schweifen.

"Dann würde ich euch zuallererst gerne berichten, was das Kind mir gesagt hat und danach haben wir Zeit genug, damit ihr eure Fragen stellen könnt. Sind alle einverstanden damit?"

Niemand widersprach der älteren Frau und Alinor begann ihre Geschichte.
 

"Die Kleine heißt Ianee und wohnte mit ihrer Familie abseits einer Siedlung und ungefähr einen Tagesmarsch von hier entfernt, in einer Hütte im Wald. Ihr Vater war Händler und außer ihr und den Eltern gab es noch vier weitere Kinder. Sie erzählte, dass eines Tages ein paar Männer eines unbekannten Stammes auftauchten und mit den Eltern sprachen. Als sich anscheinend daraufhin ein Streit zwischen den Erwachsenen entwickelte, erschlug einer der Fremden den Vater.

Ianee flüchtete mit ihrer Mutter und den Geschwistern in den Wald. Am nächsten Tag dachten sie wohl, dass es jetzt wohl sicher wäre und sie wieder in ihre Hütte zurückkehren konnten. An der Hütte angekommen, fanden sie diese leer und verlassen vor. Keine Spur mehr von den Fremden.

Sie betraten ihr Haus, doch die Männer waren nicht verschwunden, sondern hatten sich, wie es aussah, nur im Wald versteckt und darauf gewartet, dass die Frau und die Kinder wieder zurückkamen.

Ianee erzählte, dass sie noch versuchten zu fliehen, aber alle hatten es wohl nicht mehr geschafft.

Alleine ist sie dann tagelang durch die Wälder hier in der Umgebung geirrt, auf der Suche nach anderen Menschen, bis sie dann gestern schließlich auf Aredh und die anderen traf."
 

Alinor wartete, bis die Leute, die stumm da saßen und betreten vor sich hin blickten, die Geschichte verarbeitet hatten. Nur langsam wich der anfängliche Schock aus den Gesichtern und die Ersten standen auf, um ihre Fragen zu stellen.

"Was geschieht jetzt mit dem Kind? Bleibt es hier bei uns?"

Alinor und Barneagh blickten sich kurz an.

"Vorerst bleibt sie hier", antwortete Barneagh. "Im Moment wohnt sie bei Bedana und Tyrna. Was danach kommt, wissen wir nicht. Vielleicht sollten wir zusammen mit dem Kind ein paar Leute aussenden, damit sie sie zu ihrem Zuhause führt. Es könnte ja sein, dass die Mutter oder ein paar der Geschwister noch am leben sind."

"Und wer soll das Kind begleiten?"

"Wie wäre es mit euch?" Fragend sah Barneagh zu Aredh, Ferlan und Iona. "Natürlich kommt noch ein erfahrener Krieger mit, aber ich denke, dass wäre eine ganz gute Übung für euch. Was meinst du, Alinor?"

Die weißhaarige Frau nickte bestätigend. "Ich wüsste nicht, wer besser für diese Aufgabe geeignet wäre, als die Drei. Wollt ihr?"

"Gerne!", riefen Ferlan und Iona gleichzeitig.

Nur Aredh sagte nichts.
 

"Ich kann nicht" wandte Aredh schließlich zaghaft ein. "Wer soll sich in der Zwischenzeit um meinen Vater kümmern?"

Alinor lächelte Aredh freundlich zu. "Wäre es in Ordnung, wenn ich das übernehmen würde?"

Auf Aredhs Gesicht begann sich ein Lächeln auszubreiten. "Dann bin ich einverstanden. Aber trotzdem würde ich meinen Vater gerne zuerst fragen, ob es ihm auch recht ist."

"Ist gut." Sichtlich zufrieden lehnte Alinor sich auf ihrem Stuhl zurück.

"Wir treffen uns dann später noch einmal, um das alles genauer zu besprechen", sagte Barneagh zu Ferlan und seinen Freunden gewandt. "Hat noch Jemand eine Frage wegen dem Kind, bevor wir Tyrna und die anderen von ihrer Reise berichten lassen? Anscheinend nicht." Beantwortete der Stammesführer sich seine Frage selbst. "Dann hast du jetzt das Wort, Tyrna."
 

Was folgte, war ein ausführlicher Bericht Tyrnas, über die Hinreise und den Handel mit den befreundeten Stämmen.

Nicht alle Nachrichten, die er und seine Männer vortrugen, waren gut. Mit Schrecken erfuhr man, dass die Seuche unter den Nutztieren auch vor ein paar anderen Siedlungen im näheren Umkreis nicht halt gemacht hatte, weshalb der Trupp zu einer weiter entfernten Siedlung musste, was dann am Ende auch die lange Dauer der Reise erklärte.

"Aber", sagte Tyrna nach einer Weile, "Uisvan, der Stammesführer der Cahalar, hat uns versprochen, dass er uns irgendwann in der nächsten Zeit besuchen möchte, um uns noch weitere Rinder und ein paar Schweine zu bringen."

Vergeblich versuchten Barneagh und Alinor die Leute zu beruhigen, die bei Tyrnas letztem Satz in lauten Jubel ausbrachen.
 

"Dann beenden wir die Sitzung für heute einfach", sagte Alinor zu Barneagh und den übrigen Mitgliedern des Großen Rates, die sich die meiste Zeit aus der Diskussion rausgehalten hatten.

"Sie hören uns heute sowieso nicht mehr zu", lachte Barneagh. "Lassen wir sie. Wir berufen dann in den nächsten Tagen eine neue Sitzung ein."

Amüsiert sahen sie zu, wie sich die Bewohner um die Männer, des Trupps scharten und sie mit Fragen und Glückwünschen überhäuften.

Barneagh und der Rest des Großen Rates mischten sich unter die Dorfbewohner und man feierte noch bis spät in die Nacht, bis sich alle müde nach Hause aufmachten.
 

~ * Ende - Kapitel 3 * ~

Verraten!

4. Kapitel: Verraten!
 


 

" Wie siehst du denn aus?"

" Ich fürchte, es ist gestern Abend etwas spät geworden," murmelte Ferlan verschlafen und schlich an seiner Schwester vorbei ins Haus. " Ist Tyrna da? Er wollte mit mir reden."

" Ja, da hinten am Feuer sitzt er." Bedana schloss die Tür. " Er sah heute morgen übrigens genau aus so wie du. Ihr habt wohl noch lange gefeiert, oder?"

" Mach dich nur über uns lustig." Ferlan sah sich in dem Wohnraum um. " Guten Morgen," begrüßte er Tyrna, der vor dem Kamin saß und damit beschäftigt war, die Klinge von seinem Schwert zu schärfen.

Statt zu grüßen winkte er Ferlan zu sich.
 

Abwartend stand Ferlan neben Tyrna und sah auf den Älteren herab, der sich wieder seiner Waffe zugewandt hatte und den jungen Mann an seiner Seite keines Blickes mehr würdigte.

Das Geräusch, das der Schleifstein auf den Klingen verursachte, verstärkte bei Ferlan den dumpf pochenden Schmerz hinter seiner Schläfe. So schnell würde er die nächste Zeit keinen Kräuterwein mehr anrühren.

" Barneagh hat eure Arbeit beim Tal gelobt," sagte Tyrna nach einer Weile. " Er hat euch unter anderem als , gewissenhaft' und , vorbildlich' bezeichnet."

" Wirklich?"

" Ja," Tyrna warf Ferlan von unten herauf einen seiner berühmten Blicke zu. " Erstaunt dich das etwa?"

" Ja... ich meine, nein..." stotterte Ferlan. " Ein wenig schon."

" So..." Tyrna legte den Stein, den er zum schärfen des Schwertes benutzt hatte, zur Seite und stand auf. " Barneagh hat gefragt, ob du den Zug zum Haus des Kindes leiten willst."

Ferlan musste sich Mühe geben, die Freude, die sich bei Tyrnas letztem Satz in ihm zu regen begann, zu unterdrücken. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht.
 

" Traust du dir zu, den weiten Weg zu machen? Ihr seid ganz auf euch alleine gestellt! Nur ein einziger der älteren Krieger begleitet euch und ihr habt einen Marsch von mehr als drei Tagen Länge vor euch. Mindestens. Wer weiß, wie lange ihr braucht, um die Gegend zu erkundschaften." Tyrna hatte das Schwert an seinen Platz gebracht und stand nun, die Hände in die Seiten gestemmt, vor Ferlan und sah diesen kontrollierend an. " Du weißt hoffentlich, welche Verantwortung das für dich bedeutet. Es geht nicht nur um dein eigenes Leben, sondern um das von noch vier weiteren Menschen."
 

~ * ~
 

" Ich bin mir absolut bewusst, was das heißt!" Ferlan, der im ersten Moment unter den Blicken seines Schwagers zusammengesunken war, straffte die Schultern und sah den Mann mit den dunklen Haaren entschlossen an, um seine Worte zu bekräftigen.

" Gut," Tyrna war von dem selbstbewussten Auftreten des Jüngeren etwas überrascht. Skeptisch hob er eine Augenbraue. " In fünf Tagen geht es los. Wenn du scheiterst, stehe auch ich schlecht da. Also überleg dir jeden einzelnen Schritt, den du tun willst, mindestens zweimal!"

Ferlan errötete unter Tyrnas heftigen Worten. Warum nur konnte der ihm nicht ein einziges Mal etwas zutrauen?

, Solange Barneagh mir vertraut, reicht das,' dachte Ferlan bei sich. " Keine Sorge, ich werde alles befolgen, wie du es mir beigebracht hast, Tyrna," antwortete er seinem Schwager laut.

Etwas unverständliches vor sich hin murmelnd, drehte Tyrna dem jungen Mann den Rücken zu und das Gespräch war damit beendet.
 

~ * ~
 

" Komm und setz dich endlich!" riss Bedana Ferlan aus seinen Gedanken. " Du schaffst das schon," ermunterte sie ihren Bruder. " Stell dir mal vor, wie schön das wäre, wenn ihr tatsächlich die Mutter oder die Geschwister von Ianee finden würdet."

" Noch sind wir nicht unterwegs," versuchte Ferlan die Begeisterung seiner Schwester zu bremsen. " Niemand garantiert uns, dass wir jemanden finden. Obwohl es für die Kleine natürlich besser wäre."

Am Tisch sitzend, sah Ferlan dem kleinen Mädchen zu, wie es Len in einem kleinen Bottich neben dem Kamin badete.
 

" Sie hat sich schon eingewöhnt, oder?"

Bedana nickte. " Nur Melva benimmt sich ihr gegenüber ziemlich abweisend. Aber das ist wahrscheinlich nur Eifersucht. Ich mag Ianee. Sie wirkt zwar meistens ernst, aber sie interessiert sich sehr für die Siedlung. Anscheinend gefällt es ihr hier." Bedana hielt kurz inne. " Denkst du, sie darf bleiben, wenn man ihre Verwandten nicht findet?"

" Kann ich mir gut vorstellen. Wohin sollte man sie auch sonst bringen? Soviel ich aus ihren Erzählungen weiß, hatte sie sonst niemanden außer ihren Eltern und den Geschwistern."

" Wenn Tyrna nichts dagegen hat, könnte sie hier bei uns wohnen bleiben. Egal, für wie lange."

Ferlan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. " Wir werden ja sehen, wie der Rat entscheidet, wenn wir nach Ianees Familie gesucht haben."
 

* * * * *
 

" Ihr seid ja mehr als pünktlich!" begrüßte Iona seine Gäste und hielt ihnen die Tür auf.

" Soll das heißen, du hast unser Treffen vergessen?" Mit gespieltem Empören stand Ferlan vor der Tür und wartete, bis Iona ihn eintreten ließ.

" Natürlich nicht," lachte Iona. " Und wie es aussieht, habt ihr heute noch viel vor," sagte er zu Aredh, der mit zwei Schilden auf dem Arm an ihm vorbei ging.

" Das ist noch nicht alles," antwortete Aredh. " Cal hat den Rest."

" Wo ist sie denn?"

" Hier!" Mit einem Weidenkorb im Schlepptau kam Cal so schnell es ging, angelaufen. " Tut mir leid, aber mir ist ein Farbtopf auf dem Weg hierher umgekippt und ich musste erst wieder nach hause, um den Korb von der ausgelaufenen Farbe zu reinigen.

" Macht nichts," Iona wartete bis auch Cal das Haus betreten hatte und schloss dann die Tür. " Wir haben Zeit genug."

" Euer Trupp zu Ianees Haus, hat sich ja erledigt. Ich verstehe nicht, wieso sie auf einmal verschwunden ist. Es hat ihr hier doch gefallen." Cal schüttelte verständnislos ihren Kopf.

" Ich weiß auch nicht," Ferlan zuckte mit den Schultern. " Als ich vor ein paar Tagen noch bei Bedana und Tyrna war, hatte sie Len gebadet und Bedana erzählte mir, dass sie sich schon gut eingewöhnt hätte."

" Mitten in der Nacht ist sie verschwunden!" Mit Nachdruck stellte Aredh die Schilde auf dem Boden ab. " Und Ferlan, Iona und ich mussten die ganze Nacht nach ihr suchen!"

" Keine Spur von der Kleinen?"

" Nein," antwortete Iona auf Cals Frage. " Ich war gestern Abend noch einmal mit Aredh unterwegs, aber wir haben nicht das Geringste gefunden. Weder im Wald, noch im Tal, wo sie uns das erste Mal begegnete. Es sieht fast so aus, als wäre sie nie da gewesen."
 

" Barneagh meinte, man soll sich deswegen jetzt nicht unnötig den Kopf zerbrechen. Man hätte alles versucht und daran, dass sie verschwunden ist, lässt sich auch nichts mehr ändern." Aredh hatte die Schilde an die Wand angeordnet und half Cal, die Farbtöpfe aus dem Korb zu räumen. " Ist ja auch egal. Mehr als suchen können wir nicht! Vielleicht taucht sie wieder auf."

" Glaube ich kaum." Ferlan kniete sich neben Aredh und drehte einen der Schilde kontrollierend hin und her. " Warum ist sie dann überhaupt erst abgehauen?"

" Ziemlich unhöflich von ihr, so einfach zu verschwinden. Und das, wo alle sich so bemüht haben, es ihr hier so schön ,wie möglich zu machen."
 

" Lass gut sein," sagte Ferlan beruhigend zu der verärgerten Cal. " Das Thema hat sich erledigt. Barneagh wollte uns zuerst trotzdem dorthin schicken, wo die Kleine angeblich gewohnt hat, aber Tyrna meinte, dass wir lieber hier bleiben sollten, für den Fall, dass wir noch einmal in eines der anderen Dörfer müssen, um Tiere zu kaufen."

" Dann dürft ihr dieses Mal also mit," stellte Cal erfreut fest.

" Du könntest auch mit, wenn du willst."

" Nein, danke," antwortete Cal Ferlan und lachte kurz auf. " Da bleibe ich lieber hier und kümmere mich mit meinem Bruder um die Schmiede."

" Keine schlechte Idee. Perfekte Arbeit, wie immer," sagte Iona, als er sich die Schilde ansah. " Die bronzenen Beschläge am Rand sind gut geworden."

" Fehlt nur noch die Farbe." Aredh hatte die Deckel von den Töpfen genommen und tauchte einen Pinsel in die Farbe.
 

~ * ~
 

" Machst du auch zuerst deinen Schild fertig, oder...?" Iona nickte fragend zum Tisch, auf dem verschiedene Utensilien lagen.

" Der Schild hat Zeit," antwortete Ferlan.

" Dann setz dich da auf den Stuhl."

Ferlan tat, wie befohlen, und nahm auf einem Stuhl nahe des Fensters Platz.

Iona nahm einen dünnen Holzstab von etwa einer halben Elle Länge in die Hand und hielt ihn sich prüfend vors Gesicht. " Hast du dir schon ein Motiv ausgesucht?"

" Ja. Ich dachte vielleicht an einen Falken. Geht das?"

" Willst du mich beleidigen?" Iona verschränkte die Arme vor der Brust. " Du bekommst den schönsten Falken, den man je am Erntemond gesehen hat!"

Iona stellte ein niedriges Schälchen mit dunklem dickflüssigem Inhalt vor sich auf den Tisch. " Zieh dein Hemd aus," sagte er zu Ferlan. Geschickt befestigte Iona zwei kleine Nadeln an einem Ende des Holzstabes und tauchte die Spitzen in die Farbe. " Fertig?" fragte er ohne aufzusehen.

" Ja." Ferlan hängte sein Hemd über die Rückenlehne und setzte sich wieder. Gespannt sah er zu, wie Iona die Spitzen der Nadeln sorgfältig mit der blauen Farbe benetzte.
 

" So, dann sag mir noch, auf welchen Arm du das Vögelchen gerne hättest."

" Auf den Rechten." Ferlan drehte sich so zu Iona, dass dieser ohne Probleme an seinen rechten Arm heranreichte.

" Und jetzt schön stillhalten, wenn dein Falke nachher nicht wie eine Gans aussehen soll."

In Erwartung des Schmerzes biss Ferlan die Zähne zusammen. Es war nicht sein erstes Tattoo, aber den ersten Stich fand er immer am schmerzhaftesten. Seine Augen zuckten kurz, als sich die Nadeln in das Fleisch seines Oberarmes bohrten.

" Ich glaube, ich lasse das lieber sein, mit dem tätowieren." Aredh verzog das Gesicht, als wäre es nicht Ferlans Arm, sondern sein eigener, in den die Nadeln stachen und sich langsam aber stetig eine dünne blaue Linie abzuzeichnen begann, wo Iona sein Werk vollbracht hatte.
 

* * * * *
 

" Tut es sehr weh?" fragte Iona Ferlan, nach einer Weile.

" Es geht." Ferlan versuchte einen Blick auf seinen Arm zu erhaschen. " Weißt du überhaupt, wie ein Falke aussieht?" fragte er den jungen Mann an seiner Seite scherzhaft.

" Nein, aber wenn ich hier fertig bin, werden wir es sehen," erwiderte Iona in leicht säuerlichem Tonfall.

" Au!" rief Ferlan auf, als Iona etwas fester als bisher zustach.

" Tut mir leid." Unschuldig sah Iona Ferlan an.

" Gib doch zu, dass du das gerade mit Absicht getan hast!" knurrte Ferlan und rieb sich über seinen schmerzenden Arm

" Finger weg!" fuhr ihn Iona an und warf noch einen warnenden Blick hinterher. " Wenn du nicht sofort stillhältst, kannst du Aredh bitten, dass er dir das Tattoo sticht!"

" Bloß nicht," murmelte Ferlan grinsend.
 

" Das habe ich gehört!" erklang Aredhs Stimme von der anderen Seite des Zimmers. Vornüber gebeugt kniete er auf dem Boden und bemalte den hölzernen Mittelteil des Schildes in einem kräftigen Rot. " Habt ihr schon mit den neuen Waffen angefangen?" fragte er Cal, die nicht weit entfernt hockte und an einem anderen Schild arbeitete.

" Ja." Cal blies sich eine Strähne ihres Haars aus dem Gesicht. Sie legte den Kopf leicht schief, und betrachtete sich ihr bisheriges Werk. " Und dieses Mal haben wir viel zu tun. Tyrna war bei Vater und hat alles in Auftrag gegeben. Nicht nur die Vorbereitungen für Erntemond stehen an, sondern es fehlen viele Schwerter und Dolche, die die Männer beim Tausch gegen die Tiere hergeben mussten."
 

~ * ~
 

" Wenn Uisvan kommt, will er bestimmt auch Waffen und Schmuck für seine Tiere haben." Iona hielt in seiner Arbeit inne und wischte Ferlan etwas überschüssige Farbe vom Arm. " Wenigstens müssen wir bei Uisvan keine Angst haben, dass er uns betrügt, was den Preis für das Vieh angeht," fügte er noch hinzu.

" Da wäre ich mir nicht so sicher," gab Cal zu bedenken. " Uisvan hat schon öfter für Überraschungen gesorgt, so wie uns Vater einmal erzählt hatte."

" Aber man muss sagen, dass er fair ist, wenn er um Hilfe gebeten wird." Ferlan erinnerte sich nur noch schleierhaft an den Stammesführer der Cahalar, einem der größten Stämme in der nächsten Umgebung, der von ihnen aus gesehen weiter nördlich lag. Der spärliche Kontakt zu ihnen begrenzte sich auf den üblichen Handel, den die meisten der Stämme hier miteinander betrieben. Manchmal kam es zwar vor, dass junge Leute aus verschiedenen Stämmen heirateten, aber das war eher selten der Fall. Dafür lagen die Dörfer zu weit von einander entfernt.
 

Das letzte Mal war Uisvan bei ihnen zu Besuch gewesen, als Ferlan knapp zehn Winter alt war und damals war Barneagh noch Führer der Krieger ihres Dorfes. Tyrna hatte den Kontakt zu den anderen fast völlig einschlafen gelassen. Er war davon überzeugt, dass sie zuerst einmal ihre Probleme selbst regeln sollten, bevor man jemand Fremdes um Hilfe bittet.

Beim Gedanken daran, schüttelte Ferlan kurz den Kopf.

Tyrnas manchmal übertriebener Ehrgeiz hatte die Siedlung erst so nah an den Rand der bevorstehenden Hungersnot getrieben. Nur, weil er zu eitel war, schon früher ein paar gesunde Tiere zu erwerben, war es jetzt schon fast zu spät, die kranke Herde zu ersetzen.

Ferlan konnte nur erahnen, wie viele schlaflose Nächte es seinen Schwager wohl gekostet haben musste, als Barneagh sich von Tyrnas Erklärungsversuchen nicht mehr blenden ließ und schließlich befahl, dass man die Hilfe der anderen Stämme bräuchte.
 

* * * * *
 

Unterbrochen von lauten Rufen die durch die Straßen schallten, blickten Iona und Ferlan, die nahe an den Fenstern saßen auf. Ein paar Schatten huschten draußen vorbei, begleitet von mehreren hektisch klingenden Stimmen.

" Kinder?"

Aredh hatte den Pinsel zur Seite gelegt und kniete, die Hände auf seinen Oberschenkeln ruhend, da und lauschte dem Tumult, der in den Straßen ausgebrochen war. " Oder vielleicht hat sich wieder eine der Kühe aus ihrem Stall befreit und versucht zu fliehen."

" Nein, wartet." Iona hatte die Hand gehoben. " Seid mal einen Moment still!"

Aredh und Cal verließen ihren Platz vor den Schilden und näherten sich Ferlan und Iona.

In das Gewirr aus lauten Rufen mischten sich Schreie und der Klang von Metall, der auf Metall traf, war jetzt eindeutig herauszuhören.

" Das sind weder Kinder noch Kühe!" Iona ließ die Sachen, die er gerade in der Hand hielt, fallen und sprang auf. " Los, wir sehen nach!"

Hastig streifte sich Ferlan sein Hemd über und schloss es notdürftig.

Iona, der zuerst an der Tür angekommen war, öffnete diese und trat nach draußen.

" Was ist denn hier los?" fragte er einen Mann aus ihrem Dorf, der gerade an ihnen vorbei lief.
 

" Da... da kommen sie!"

" Wer denn?"

Iona schüttelte den Mann an den Schultern, der ihn nur aus weit aufgerissenen Augen geschockt ansah, ohne wirklich was von den Worten des jungen Mannes verstanden zu haben.

" Das hat keinen Zweck!" unterbrach Aredh Iona bei seinem Versuch, von dem Mann zu erfahren, was hier vor sich ging. " Wir suchen einen der Krieger oder Barneagh!"

" Iona," sagte Ferlan in einem seltsam ruhigen Tonfall. " Habt ihr Waffen?"

" Ja, ein oder zwei Schwerter und meinen Speer müssten wir noch zu hause haben," antwortete Iona. " Warum?"

" Deswegen." Ferlan deutete auf den Weg, der von Ionas Haus einen kleinen Hügel hinab zur Mitte des Dorfes führte.

Männer in voller Kriegsmontur und mit allen möglichen Waffen versehen, kamen laut brüllend den Hügel hinaufgestürmt. Alles und jeden, der sich ihnen in den Weg stellten, niederschlagend.
 

~ * ~
 

" Iona! Wo sind die Schwerter!" schrie Ferlan seinen Freund nun an, der mit offenem Mund den Fremden entgegenstarrte. " Die Schwerter, Iona! Wo sind sie?"

" Hier!" Aredh hatte in der Zwischenzeit die Schwerter und die Schilde nach draußen gebracht und gab sie an seine Freunde weiter.

" Gib mir den Speer," sagte Cal zu ihm. " Mit dem Schwert kann ich nicht kämpfen."

" Dann nimm auch den Schild." Ohne auf die Antwort der jungen Frau zu warten, drückte Aredh ihr einen der Schilde, die sie eben noch bemalt hatten, in die Hand.
 

" Ich kann keinen unserer Krieger sehen! Was sollen wir jetzt tun?" fragte Iona panisch.

Die Fremden, deren Zahl sich mit jeder Minute zu steigern schien, strömten aus allen Winkeln des Dorfes.

Laut schreiend flohen diejenigen der Bewohner, die keine Waffen bei sich trugen und vor Schreck gelähmt mussten die vier jungen Leute mit ansehen, wie einer der Flüchtenden vor ihren Augen von den Waffen der fremden Krieger getroffen wurde und blutend zu Boden stürzte.

" Los, wir laufen durch die Seitenstrassen zur Mitte der Siedlung! Vielleicht treffen wir dort einen der Älteren!"

Immer auf der Hut vor den Angreifern, folgten Cal, Ferlan und Iona Aredh den kleinen Hügel zur Mitte des Dorfes. " Bleibt zusammen!"
 

* * * * *
 

" Ferlan!"

Der Angesprochene blieb stehen und drehte sich zur Quelle der Stimme herum. Bedana kam, Len auf dem Arm, zwischen zwei Häusern heraus auf sie zu gelaufen.

" Wo ist Mutter?" fragte Ferlan seine Schwester.

" Ich weiß es nicht. Sie war mit Melva unterwegs." antwortete Bedana ängstlich.

" Und wo ist Tyrna?"

Hilflos drückte Bedana Len an sich. " Bevor er ging hat er zu mir gesagt, dass ich mit Len im Haus bleiben sollen, aber dort sind welche von den Fremden. Was soll ich tun? Ich kann Tyrna nirgendwo finden und Mutter auch nicht!"

" Schon gut," Ferlan drückte Bedana an sich. " Aredh, lauft weiter, ich komme gleich nach!" rief er seinem Freund zu, der zusammen mit Iona und Cal abwartend an einer Hausecke stand. " Geh schon!" schrie er den zögernden Aredh an und bekräftigte seine Worte mit einer energischen Handbewegung.

Wortlos nickte Aredh und zusammen mit den anderen beiden jungen Leuten rannte er weiter durch die schmalen Strassen der Siedlung, ohne zu wissen, was sie alle am Ende wohl erwarten würde.
 

" Hör mir genau zu, Bedana," sagte Ferlan an seine Schwester gewandt. " Ich bringe dich jetzt zum Rand der Siedlung. Du versteckst dich mit Len im Wald. Dort seid ihr sicherer, als hier. Wenn ich Mutter und Melva gefunden habe, schicke ich sie zu euch!"

" Ist gut," beruhigt wischte sich Bedana die Tränen aus dem Gesicht.

" Na, dann komm!" Ferlan zog seine Schwester an der Hand haltend, Richtung Dorfausgang.
 

~ * ~
 

" Kannst du nicht schneller laufen?" rief Ferlan ungeduldig.

" Wie denn, mit dem Baby?" Bedana mühte sich verzweifelt ab, mit ihrem Bruder Schritt zu halten und gleichzeitig darauf zu achten, den Kämpfen aus dem Weg zu gehen.

" Warte!" Ferlan hielt an einer Wegkreuzung an. Vorsichtig sah er um die Ecke eines Hauses. " Komm, weiter!"

So schnell sie konnten, überquerten Ferlan und Bedana die Strasse, die sie aus der Siedlung herausführte und liefen zum nahen Waldrand.

Nach ein paar Metern blieb Ferlan stehen. Die Schreie aus der Siedlung waren nur noch ganz schwach zu hören. Irgendwo raschelte es. Sie schienen also nicht die Einzigen zu sein, die sich im Wald versteckten.

" Geht es, wenn ich dich und das Baby alleine hier lasse?" fragte Ferlan seine Schwester.

" Und was sollen wir tun?" Bedanas Hände zitterten unkontrolliert, als sie dem weinenden Len über den Kopf strich.

" Ihr versteckt euch hier in der Nähe, und wenn im Dorf wieder alles ruhig ist, komme ich euch holen, ja?!"

Ferlan konnte nur mit Mühe seine Angst vor seiner Schwester verbergen. Er atmete einmal tief ein und aus und versuchte, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. " Ich gehe wieder," sagte Ferlan und wandte sich in die Richtung, in der die Siedlung lag. " Passt auf euch auf."

" Vergiss Melva nicht!" rief Bedana ihrem Bruder hinterher.

Ferlan nickte. " Wir sehen uns bald wieder!"
 

~ * ~
 

In der Siedlung angekommen, versuchte Ferlan sich, ein Bild von der Situation zu machen. Die anfängliche Panik unter den Bewohnern hatte sich etwas gelegt und Ferlan konnte ein paar der Krieger aus ihrer Siedlung in dem Gewühl Menschen ausmachen.

" Was soll ich tun?" fragte er Duanan, einen der Männer, der auch Tyrnas Trupp begleitet hatte.

Erschrocken drehte der sich um. " Ach, du bist es," sagte er erleichtert, als er Ferlan erkannt hatte. " Ich weiß es auch nicht, tut mir leid. Das kam alles so überraschend, dass wir keine Zeit hatten, irgendetwas zu planen."

" Ist Tyrna in der Nähe?"

" Der ist zur Mitte gelaufen, und seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen"

Ferlan dachte kurz nach. " Ich geh auch!" sagte er entschlossen.

" Wenn du Tyrna siehst, sag ihm, dass Ordha und ich hier unten alles unter Kontrolle haben!"

" Ist gut, ich sag es ihm!" rief Ferlan und verschwand in einer schmalen Gasse.
 

Im Eiltempo überquerte Ferlan einen verwaisten Hinterhof. Im Unterdorf war es wirklich still geworden. Genau, wie es ihm Duanan gesagt hatte. Die Kämpfe schienen sich auf die Mitte und den oberen Teil der Siedlung verlagert zu haben und noch während Ferlan darüber nachdachte, wo er als erstes hin sollte, erklang der dumpfe Ruf eines Hornes.

, Sie sind weg,' dachte Ferlan aufatmend bei sich, als er das Signal erkannte. Ohne sich eine Pause zu gönnen, rannte er weiter, um seine Familie und seine Freunde zu suchen.
 

* * * * *
 

Als Ferlan an einem Schuppen vorbei lief, wurde er an der Schulter gepackt und in das Gebäude gezogen.

" Endlich hab ich dich gefunden!"

" Aredh!" Ferlan atmete erleichtert auf. " Bist du verletzt?" fragte er seinen Freund, als er dessen blutverschmiertes Gesicht sah.

" Nein, das ist nicht von mir," antwortete Aredh. Wie zum Beweis hob er sein Schwert und zeigte Ferlan die blutige Klinge. " Schau mal, wen ich noch hier gefunden habe." Aredh verschwand in einem dunklen Teil des Schuppens und kam nach wenigen Augenblicken wieder zurück.

Ferlans Augen weiteten sich vor Erstaunen.

Auf dem Arm trug Aredh Melva, die das dreckverschmierte Gesicht an seine Schulter gelehnt hatte und leise vor sich hin schluchzte.

" Melva!" Ferlan riss Aredh das kleine Mädchen aus den Armen und drückte es fest an sich. " Zum Glück, geht dir gut!" sagte er nach einem schnellen Blick auf das offensichtlich unverletzte Kind. Mit einem erleichterten Lachen entfernte er seiner Nichte den Staub und ein paar Strohhalme aus dem Haar.

" Sie war anscheinend die ganze Zeit hier in dem Stall."
 

" Wieso bist du nicht bei Oma geblieben?" Ferlan bereute seine heftigen Worte, als Melva zu weinen anfing.

" Ich war doch bei ihr, aber dann... dann habe ich sie nicht mehr gesehen," Melva vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und weinte noch lauter, als zuvor.

" Komm, wir suchen sie, und dann bringe ich dich zu deiner Mama und Len." Ferlan nahm das Kind auf den Arm und fuhr ihm tröstend über den Kopf.

" Ich habe die Kette kaputt gemacht," flüsterte Melva tränenerstickt.

" Die Kette?"

" Ja," Melvas Gesicht verzog sich, um in erneutes Weinen auszubrechen. " Bist du jetzt mit mir böse?"

" Aber nein," Ferlan versuchte zu lächeln. " Die Kette ist nicht so schlimm. Hauptsache, dir ist nichts passiert."

" Ich habe auch fast alle Perlen eingesammelt." Ein zögerliches Lächeln breitet sich auf Melvas Gesicht aus, als sie in den Taschen ihres Kleides zu suchen begann und anschließend ihrem Onkel die kleine Hand hinhielt, in der knapp ein Dutzend Glasperlen umherkullerten.

Ferlan griff sich die Perlen und verstaute sie in seinem kleinen Lederbeutel. " Ich repariere dir deine Kette wieder, in Ordnung?"

Stumm nickte Melva und vergrub ihr Gesicht an Ferlans Hals.
 

~ * ~
 

" Danke, Aredh," sagte Ferlan.

" Schon gut." Angewidert wischte Aredh sich die Spuren des Kampfes von der Haut. " Ich hasse diesen Geruch!" fügte er hinzu und säuberte sich die Hand von dem fremden Blut. " Ich hatte Iona und Cal aus den Augen verloren und war gerade auf dem Weg zum Zentrum, als ich die Kleine hier fand."

" Dort wollte ich auch gerade hin."

" Worauf warten wir dann noch?" Aredh schritt energisch los. " Bestimmt finden wir auch irgendwo die anderen."

Mit Melva auf dem Arm folgte Ferlan seinem Freund.
 

" Es waren weniger, als wir zuerst gedacht haben," sagte Aredh und deutete auf einen am Boden liegenden getöteten Fremden. " Sie wussten wohl genau, was sie wollten, und wo sie es her bekamen."

Ferlan setzte Melva ab und bückte sich zu dem Toten herab. Vorsichtig drehte er dessen Kopf herum, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Er entfernte den ledernen Helm, den der fremde Krieger noch auf dem Kopf trug und besah ihn sich von allen Seiten.

" Irgendwo hab ich dieses Muster schon mal gesehen." Nachdenklich strich Ferlan über ein in das gegerbte Leder gestickte Monogramm an der Stirnseite des Helmes.
 

Aredh riss dem Toten einen kleinen Beutel vom Gürtel und schüttete sich den Inhalt in seine Handfläche. " Von hier sind sie nicht. Eher aus dem Osten, oder aus dem Norden," sagte er und zeigte Ferlan ein paar Münzen, die der Tote bei sich getragen hatte.

" Wir nehmen die Sachen mit!" Ferlan drückte Aredh den Helm in die Hand und steckte sich noch den Dolch des fremden Angreifers ein.

Fast überall, wo die beiden Männer hinkamen sahen sie schwarze Rauchsäulen, die aus eingestürzten Ruinen brennender Häuser und Ställe aufstiegen.

" Bei allen Göttern, die es gibt," murmelte Aredh vor sich hin und wich einem Toten aus, der halb an ein Haus gelehnt da lag.
 

* * * * *
 

Ängstlich kamen die ersten Bewohner wieder aus ihren Verstecken hervor und blickten sich fassungslos um.

Ein paar ihrer Krieger gingen langsam an ihnen vorbei. Viele von ihnen hatten tiefe Wunden am Körper und einer der Soldaten, der zu schwer verletzt war, um auf eigenen Beinen zu stehen, wurde von einem anderen getragen.

" Wo ist meine Mama?"

" Schon gut, Melva, wir finden sie sicher gleich." Ferlan presste Melvas Gesicht an seine Brust, damit ihr der Anblick der vielen Toten und Verwundeten erspart blieb. Er musste selbst gegen die ständige Übelkeit ankämpfen, die in ihm aufstieg und schaffte es nur mit Mühe, die furchtbaren Szenen zu ignorieren.

Stumme Stoßgebete zum Himmel schickend, folgte Ferlan Aredh wie in Trance durch die Straßen.

, Nur nicht stehen bleiben,' dachte er bei sich.
 

" Selia!" schrie Aredh plötzlich ohne Vorwarnung und Ferlan schrak ängstlich zusammen.

, Bitte lass sie am Leben sein,' dachte Ferlan. Aredh hatte ihn am Ärmel gepackt und zog ihn mit sich.

Alles, was Ferlan mittlerweile noch wahrnahm, war sein Herz, das ihm heftig gegen die Rippen schlug und Melvas kleine Hände, die sich in seinen langen Haaren festkrallten.
 

~ * ~
 

" Oma! Oma!" rief Melva.

" Mein kleiner Schatz!" kam es als Antwort.

Noch nie zuvor in seinem Leben war Ferlan so erleichtert, wie jetzt, als er die Stimme seiner Mutter hörte.

Melva begann auf Ferlans Arm zu strampeln, bis der sie schließlich runter lassen musste. Kaum auf dem Boden angelangt, rannte das kleine Mädchen los, und warf sich in die Arme Selias die ihnen, etwas blass im Gesicht, aber unverletzt, entgegen gelaufen kam.

" Ich bin so froh, dass ich euch endlich treffe! Geht es euch auch wirklich gut?" Mit ihrer freien Hand strich Selia über Aredhs Gesicht, als könne sie das Gesehene erst glauben, wenn sie es unter ihren eigenen Fingern spüren konnte.

" Ferlan!" Selias Stimme brach, als sie ihren Sohn an sich zog.
 

Stumm beobachtete Aredh die Szene.

" Wie geht es meinem Vater?" fragte er nach einer Weile zaghaft.

Selia löste sich aus Ferlans Umarmung und wandte sich Aredh zu. " Ich weiß es leider nicht," flüsterte sie und schüttelte ihren Kopf.

Aredh senkte den Blick und schwieg einen Moment betreten.

" Dann gehe ich besser mal, und sehe nach."

" Soll ich mitkommen?"

" Nein, ist schon gut," Aredh warf Ferlan ein gequältes Lächeln zu. " Wir sehen uns später noch." Er winkte den Dreien noch einmal zu und machte sich auf den Weg, um bei sich zu hause nach dem Rechten zu sehen.

" Ich will zu meiner Mama!" meldete sich Melva und zog Selia am Arm.

Selia küsste Melva auf die Wange. " Ja, meine Kleine, wir werden uns sofort auf den Weg machen, und deine Mama suchen."

" Bedana und Len warten noch im Wald," erklärte Ferlan seiner Mutter. " Ich habe sie dorthin gebracht, damit sie sich verstecken können."

" Gut," Selias Anspannung wich etwas und ein erstes Lächeln zog sich über ihr Gesicht. " Komm, wir gehen ihnen entgegen!"
 

* * * * *
 

" Da ist Papa!" rief Melva aufgeregt und zeigte zum Ausgang der Siedlung, wo sich Tyrnas dunkle Haare und seine große Gestalt gegen die anderen Bewohner abhoben, die ihn begleiteten.

" Tatsächlich!" Selia lief los, um ihren Schwiegersohn zu begrüßen.

" Ich will auch hin! Ich will auch hin!" Ungeduldig hüpfte Melva von einem Bein auf das andere und versuchte, ihren Onkel zum gehen zu bewegen.

Ferlan, der Melva noch immer an der Hand hatte, blieb etwas zurück und sah den Leuten abwartend entgegen. Irgendetwas stimmte nicht.

Die Bewohner hatten es allem Anschein nicht eilig und wirkten nicht erleichtert darüber, dass sie wieder in ihr Zuhause zurückkehren konnten, sondern sie bewegten sich seltsam langsam, fast wie Schlafwandler auf Ferlan und die Eingrenzung der Siedlung zu.

Ferlan reckte sich etwas, um besser sehen zu können, doch alles was er zwischen den unzähligen Köpfen erkennen konnte, war Tyrna. Keine Spur von Bedanas blonden Haaren.

Als sie die umgestürzten Holzzäune der Siedlung hinter sich gelassen hatten, verteilte sich die Menge und gab endlich den Blick auf Tyrna ganz frei.
 

" Warum trägt Papa Mama denn?" Verständnislos blickte Melva nach oben zu ihrem Onkel.

Der Schreck fuhr Ferlan in alle Knochen und sein Herz setzte einen Schlag lang aus. " Warte!" schrie er seiner Mutter noch nach, doch es war zu spät.

Als sie Tyrna erkannte, der Bedana auf dem Arm trug, stoppte Selia augenblicklich. Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte voller Entsetzen ihrer Tochter und deren Mann entgegen.

" Mutter!" schrie Ferlan und rannte los.

Haltsuchend streckte Selia ihre zitternde Hand aus. Ihre Schultern fielen in sich zusammen, und noch bevor Ferlan Selia erreicht hatte, sank diese ohnmächtig zu Boden.
 

* * * * *
 

Ende - Kapitel 4: Verraten!

Sühne

Kapitel 5: Sühne
 

~ * ~
 

Ferlan kniete sich neben seine Mutter auf den Boden. Er schob einen Arm unter ihrem hindurch und brachte sie in eine aufrechte Position. Sachte hob er eine von Selias eiskalten Händen an sein Gesicht und versuchte, sie zu wärmen.

" Mutter", flüsterte er und drückte Selia vorsichtig an sich. Stumm sah Ferlan Tyrna nach, der mit der regungslosen Bedana an ihnen vorbei ging.

" Wo ist das Baby?" fragte er eine Frau, die um ihn und Selia herum stand.

Ein mitleidiges Kopfschütteln war die einzige Antwort, die er bekam.

Selia, die mitbekommen hatte, dass sich das Gespräch um ihren Enkelsohn drehte, grub ihre Hände tief in Ferlans Unterarm. " Was - was ist mit Len?"

" Ich weiß es noch nicht genau", antwortete der ausweichend. Suchend blickte er sich um. Gerade kam ein Bewohner langsam auf den Dorfeingang zu. In den Armen trug er ein winziges Bündel Stoff. Len?

Ferlan schwieg und wartete, bis alle Leute an ihnen vorbei gegangen waren. Eine der Frauen hatte die weinende Melva an sich genommen und ging mit ihr weg.

" Komm", sagte Ferlan zu seiner Mutter und half ihr vorsichtig auf die Beine.

" Ich will nach Hause", antwortete Selia kaum hörbar.

" Sollen wir nicht zuerst zu Alinor, damit sie sich dich ansehen kann?"

" Nein!" Selia riss sich aus Ferlans Armen und schritt los. " Mir geht es gut! Ich muss zu Bedana!"
 

~ * ~
 

Die Menschen, die vor Bedana und Tyrnas kleinem Haus standen, traten hastig beiseite, als sich Selia energisch ihren Weg zwischen ihnen hindurch ins Hausinnere bahnte.

Tyrna hatte Bedana auf dem Bett niedergelassen und hockte neben ihr.

Selia nahm ebenfalls auf dem Bett an der Seite ihrer Tochter Platz und unterhielt sich flüsternd mit Tyrna.

" Wie geht es ihr?" fragte Ferlan.

" Sie lebt", kam es als Antwort.

Ferlan trat näher und blickte auf seine bewusstlose Schwester hinab. Ihr Oberkörper hob und senkte sich nur minimal und in Brusthöhe prangte ein großer Blutfleck auf ihrem Kleid.

" Ich geh und rufe Alinor!" rief Ferlan bei dem Anblick erschrocken.

" Schon gut!" Tyrna griff nach Ferlans Handgelenk und hinderte ihn am weggehen. Der traurige Blick, den er dem jungen Mann zuwarf verriet mehr, als man es von dem sonst eher ernst wirkenden Tyrna gewohnt war, und obwohl er noch keine dreißig Winter zählte, wirkte er in diesem Moment um viele Jahre gealtert. " Das ist nicht ihr Blut", fügte er flüsternd hinzu.

" Von wem dann?" Irritiert sah Ferlan von seinem Schwager zu seiner Mutter, die ihr Gesicht in ihren Händen verbarg und leise vor sich hin weinte.

Wortlos nickte Tyrna zur Wiege, in der normalerweise Len schlief. Mehr musste er nicht mehr sagen.

Fluchtartig stürmte Ferlan aus dem kleinen Haus und verließ das Dorf.
 

* * * * *
 

Seine schmerzenden Lungen zwangen Ferlan schließlich, anzuhalten.

Erschöpft ließ er sich auf einem umgestürzten Baum nieder und atmete tief durch. Die Sonne war mittlerweile schon längst hinter dem Horizont verschwunden und die ersten Sterne zeigten sich am immer dunkler werdenden Himmel.

Wie lange er ziellos durch den Wald gelaufen war, wusste Ferlan nicht mehr. Nachdem ihm Tyrna zu verstehen gegeben hatte, dass Len nicht mehr lebte, war er einfach drauflos gegangen und hatte nicht eher angehalten, bis er sich schließlich am Rande des Waldes wiederfand.

Zurück wollte er vorerst nicht mehr. Die Enge im Dorf und die vielen Toten und Verletzten, machten ihn wahnsinnig.

Ferlan schlang die Arme um seine angezogenen Knie und starrte zwischen den Bäumen hindurch ins Leere.

Der Arm, der sich nach einer Weile um seine Schulter legte, ließ Ferlan das erste mal seit Stunden wieder aufblicken. Neben ihm standen Iona, Aredh und Cal, zu der der Arm gehörte. Ihre hellen Augen wirkten in dem rußgeschwärzten Gesicht wie zwei im Mondlicht glitzernde Seen und ihr Mund lächelte aufmunternd.

" Euch geht es gut?!" Ferlans Gesicht erhellte sich.

" Ja", nickte Aredh. " Ich schätze, wir hatten Glück. Ionas Familie ist wohlauf und die Schmiede steht auch noch."
 

" Was ist mit Enree?"

" Dem geht es auch gut." Aredh ließ sich neben Ferlan auf dem Baum nieder und drehte sich so herum, dass er seinen Freund ansehen konnte. " Wir suchen dich schon die ganze Zeit."

Ferlan erhob sich von seinem Sitzplatz. " Tut mir leid, dass ich einfach weggelaufen bin und euch nicht beim aufräumen geholfen habe."

" Nein, das ist es nicht." Cal warf Aredh einen unsicheren Blick zu. " Wir sind wegen etwas anderem gekommen."

" Wegen was denn?"

" Alinor meinte, es wäre besser, wenn du vorerst im Dorf bleibst, bis alles geklärt ist", antwortete Iona ausweichend und vermied es, Ferlan anzusehen.

" Wieso, bis alles geklärt ist? Wegen den Waffen, die wir benutzt haben?" Misstrauisch kniff Ferlan seine Augen etwas zusammen und sah die drei jungen Leute der Reihe nach an. Seine Freunde schienen mehr zu wissen, als sie ihm verraten wollten.

" Wir sollten jetzt zurückgehen", sagte Iona und machte sich auf den Weg ins Dorf.
 

Ferlan wartete, bis auch Cal losgegangen war.

" Was soll das?" fragte er Aredh, der neben ihm herging.

" Du weißt doch noch, als wir den Helm und die anderen Sachen bei einem der getöteten Gegner gefunden haben, oder?"

Ferlan nickte in Erinnerung daran. " Die Münzen und den Dolch..."

" Und eben auch den Helm", unterbrach Aredh Ferlan. " Du hast doch da gesagt, dass du die Symbole irgendwann schon mal gesehen hattest."

" Ja", Ferlan legte nachdenklich einen Finger an seinen Mund. " Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Ich weiß nur nicht mehr, woher."

" Ianee..."

" Was hat sie damit zu tun?" fragte Ferlan verwirrt.
 

* * * * *
 

Aredh war stehen geblieben und wartete, bis Ferlan schließlich die Zusammenhänge verstanden hatte. Stumm nickte er, als sich Ferlans Gesichtsausdruck wandelte.

" Ihr Schmuck", sagte Aredh leise. " Der und die Symbole auf dem Helm des Kriegers waren identisch."

" Heißt das, sie haben nach Ianee gesucht? Dachten sie, wir hätten sie entführt?"

" Nicht ganz", Aredh fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes Haar. " Ianee hat uns doch erzählt, dass sie völlig alleine mit ihren Eltern im Wald gewohnt hat."

" Stimmt!" Angestrengt ging Ferlan in Gedanken die weiteren Möglichkeiten durch.

" Ferlan!" unterbrach Aredh seinen Freund. Sie waren stehen geblieben und Aredh blickte sich nach Iona und Cal um, die schon ein gutes Stück vorausgegangen waren und den beiden jungen Männern keine besondere Aufmerksamkeit mehr schenkten. " Ich dürfte es dir noch nicht sagen, weil es nur eine Vermutung ist und noch niemand etwas genaueres weiß, aber", Aredh senkte die Stimme. " Sie machen dich für den Angriff verantwortlich."

Ferlan erbleichte. " Aber - aber wieso?" rief er geschockt.
 

" Ianee muss gelogen haben. Etwas an ihrer Geschichte von dem Überfall auf ihre Familie und dass sie ganz alleine war, muss falsch gewesen sein. Aber was genau, und warum sie das getan hat, weiß keiner."

" Sie können doch nicht mir die Schuld geben! Für was denn?!" zischte Ferlan Aredh leise zu, damit es Iona und Cal, die mittlerweile stehen geblieben waren und auf ihre beiden Freunde warteten, nicht mithören konnten.

" Weil du derjenige warst, der die Kleine ins Dorf gebracht hat."

" Das ist doch lächerlich! Woher sollte ich denn wissen, dass das Mädchen lügt?" Ferlan lief ein paar Schritte vor, um dann wieder zu Aredh zurückzukehren. Vor seinem Freund blieb er stehen und sah ihn fragend an. " Wer behauptet denn so was? Barneagh?" Ferlan begann wieder damit, im Kreis zu laufen. " Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so etwas von mir denkt! Aredh!" Ferlan packte seinen Freund an den Schultern. " Wie kommt Barneagh darauf, mir so was vorzuwerfen?"
 

" Es war nicht Barneagh, der das gesagt hat..." Aredh ließ die Schultern sinken und schwieg einen Moment lang. " Barneagh... Er hat den Angriff nicht so gut überstanden, wie wir."

" Was?!" Ferlan musste sich an einem nahen Baumstamm festhalten, so überrascht war er von der Neuigkeit, die ihm Aredh unterbreitete. " Er lebt doch noch, oder?"

" Ja", Aredh winkte Cal und Iona zu, damit sie weitergingen und lehnte sich gegen einen alten zerfurchten Baum, bevor er Ferlan antwortete. " Er lebt, aber er ist sehr schwer verletzt und kann sich nicht um seine Aufgaben kümmern."

" Jetzt versteh ich!" Ferlan sank zu Füßen des Baumes und starrte ausdruckslos vor sich hin. " Tyrna! Er ist Barneaghs Stellvertreter! Diese Vorwürfe kommen von ihm, oder?!"
 

~ * ~
 

" Es tut mir leid, Ferlan, das war nicht meine Absicht", murmelte Aredh schuldbewusst.

" Wie kommst du darauf, dass es deine Schuld gewesen sein sollte?"

Aredh sah auf seine Hände hinab. " Weil ich es war, der den Helm und die anderen Sachen zu Alinor und dem Rat gebracht hatte..."

" Aber du kannst doch nichts dafür, was Tyrna sich schließlich ausdenkt!" schob Ferlan Aredhs Zweifel beiseite. " Ich frage mich, warum er das tut? Ich weiß, dass Len tot ist, aber mich dafür verantwortlich zu machen, ist doch mehr als unsinnig!"

Stumm zuckte Aredh mit den Schultern. " Barneagh hätte wahrscheinlich anders entschieden, als Tyrna."

" Komm, wir gehen! Ich möchte mit Tyrna sprechen!"
 

* * * * *
 

Aredh hob die Hand und klopfte an die Tür von Tyrnas Haus.

" Kommt rein!"

Dicht gefolgt von Ferlan, betrat Aredh das Haus und sah sich im Raum um. Die vielen Menschen, die noch bis vor wenigen Stunden das Haus des stellvertretenden Stammesführer belagert hatten, waren bis auf zwei Männer die zusammen mit Tyrna am Tisch saßen, verschwunden.

Sich mutig ein Herz fassend, trat Ferlan hinter Aredh hervor. " Ihr habt mich gesucht?"

Die beiden Männer, die zur Wache des Dorfes gehörten und die Ferlan nur vom sehen her kannte, drehten sich zu ihm herum und betrachteten sich ihren neuen Gast.

" Gut, dass du wenigstens von alleine hergekommen bist, Ferlan." Nervös trommelte Tyrna mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte.

" Ja", Ferlan trat noch einen Schritt vor und sah den drei Leuten fest in die Gesichter. " Ich bin hier, obwohl es gar keinen Grund dazu gibt!"

" Was?!" der Stuhl kippte um, als Tyrna aufsprang. " Ich habe mich wohl gerade verhört?!"

Ferlan fing die Sachen auf, die ihm sein Schwager entgegen warf.

" Gibt es immer noch keinen Grund, Ferlan?!" schrie Tyrna.

Aredh bückte sich und hob eine silberne Kette auf, die herunter gefallen war. Wortlos hielt er sie seinem Freund hin.
 

~ * ~
 

Ferlan blickte stumm auf die Gegenstände in seiner Hand. Bei dem einen handelte es sich um Ianees Kette, die sie trug, als sie sie im Wald fanden und das andere war eine bronzene Schnalle - Offensichtlich von einem Gürtel, der einem Erwachsenen gehört haben musste.

Beide waren auf den ersten Blick vollkommen unterschiedlich, aber die Verzierungen in der Mitte, zeigten das selbe ungewöhnliche Muster.

" Sie gleichen sich, aber dass muss ja nichts bedeuten", wand Ferlan ein. " Ianees Vater war Händler und kam viel herum. Es könnte doch sein, dass er zufällig mit dem Stamm gehandelt hat, der uns überfiel!"

" Du bist anscheinend dümmer, als ich dachte!" Tyrna war ein Stück auf Ferlan zu gekommen, doch der wich kein Stück zurück. Im Gegenteil.

Ferlan verschränkte die Arme vor seiner Brust und reckte das Kinn. " Und du kannst nur Behauptungen aufstellen, ohne sie zu begründen!" knurrte er trotzig.

" Jetzt reicht es mir endgültig!" schrie Tyrna und machte eine, für Ferlan zu schnelle und unerwartete Bewegung nach vorne.
 

Der Schlag seines Schwagers ließ den jungen Mann gegen den Tisch taumeln und zu Boden stürzen.

" Deine Rachegedanken haben dich wohl um den Verstand gebracht!" schrie Ferlan laut und rappelte sich wieder vom Fußboden auf. Er war gerade im Begriff, sich auf den Älteren vor sich zu stürzen, ließ es aber sein, als die zwei Männer, die bis jetzt dem Streit schweigend zugesehen hatten, nach ihren Waffen griffen und sich von ihren Sitzplätzen erhoben.

Auf ein Zeichen Tyrnas wartend, standen sie hinter dem Anführer der Krieger und ließen Ferlan nicht aus den Augen.

" Wir sollten besser nach draußen gehen", sagte Aredh in die aufgekommene Stille hinein. " Bedana zuliebe." Er nickte zu dem Bett an der Wand, in dem Ferlans ältere Schwester schlief und sich von dem Angriff erholte.

Tyrna schien noch zu überlegen, ob Aredh recht hatte, entschied sich dann aber dazu, dem Jüngeren zu glauben.
 

* * * * *
 

" Wie viele Beweise willst du denn noch, bis du begreifst, dass es stimmt, was ich sage?" Tyrna hatte Ferlan an seinem Hemd gepackt und schob ihn vor sich her, zur Tür hinaus.

" Weiß Barneagh davon, was du mir vorwirfst?" Ferlan riss an seinem Hemd, bis Tyrna losließ. " Wahrscheinlich nicht, oder?! Geh zu ihm! Ich will wissen, was er dazu sagt! Zu Unrecht lasse ich mich nicht von dir beschuldigen!"

" Hör zu!" Tyrna ergriff Ferlans Kinn und zwang ihn dazu, ihm in die Augen zu sehen. " So lange, wie Barneagh seinen Aufgaben nicht nachkommen kann, bin ich derjenige, der die Entscheidungen trifft! Und ich sage dir, dass du an dem Angriff Schuld bist und dafür bezahlen wirst!"

Wütend schlug Ferlan Tyrnas Hand weg. " Du kannst nicht einfach entscheiden, wie du willst, Tyrna! Auch du musst dich an die Befehle Anderer halten! Was hat der Große Rat dazu gesagt?"

Tyrnas Gesichtsausdruck wandelte sich. Das Wütende darin wich einem Lächeln.
 

" Alinor hat gesagt, dass du hier bleiben sollst, bis wir mehr wissen." Tyrna machte eine kleine Pause. " Du stehst, bis der Rat sich versammelt und darüber beraten hat, unter Arrest!"

Auf Tyrnas Kopfnicken hin, näherten sich die zwei Männer.

" Los, komm!" sagte der größere der Beiden ruhig und fasste Ferlans Oberarm, um ihn wegzubringen. Gefolgt von Tyrna und dem anderen Mann, schritten sie Richtung Dorfmitte hin.

" Tyrna, warte!" rief Aredh und rannte hinter dem großen dunkelhaarigen Mann her. " Vielleicht tust du Ferlan wirklich Unrecht."

" Geh nach Hause, Aredh! Meine Entscheidung steht fest und daran lässt sich nichts ändern!" Den jungen Mann ignorierend, drehte sich Tyrna wieder um und ließ Aredh stehen.

" Wir werden ja sehen, was der Rat dazu sagt!" rief Aredh dem Anführer der Krieger hinterher. Wütend machte er sich auf den Weg nach Hause.
 

* * * * *
 

Der leise Klang einer Trommel ließ Ferlan die Augen öffnen.

Langsam erhob er sich von seinem Platz vor dem Fenster und ging mit schlurfenden Schritten zur Tür.

Ein paar Strahlen des hellen Mondlichts fielen durch die kleine Öffnung im oberen Teil der Holztür und spiegelten sich in seinen erstaunten Augen wieder. Ferlan streckte sich etwas und lauschte.

Das trommeln ebbte ab, wurde leiser, um dann im nächsten Moment wieder anzuschwellen.

" Was ist passiert, Laoren?" fragte Ferlan den Mann, der vor der Hütte, in die man ihn vor zwei Tagen eingesperrt hatte, auf seinem Posten stand.

Stumm stand Laoren, das Gesicht zur Dorfmitte gewandt, da und schwieg.

" Sag mir doch was ist!" rief Ferlan aufgebracht. " Ich weiß, dass etwas passiert sein muss! Ich kenne diese Art der Trommelschläge!"

" Wenn du so gut Bescheid weißt, dann muss ich es dir ja nicht mehr erklären", antwortete Laoren herablassend.
 

" Es kann aber nicht sein! Sie müssen sich irren!" Ferlan rüttelte an der Tür und schrie. " Lass mich raus! Ich will es selbst sehen!"

Laoren versuchte, das Geschrei zu ignorieren. " Es wäre besser für dich, wenn du jetzt still bist!"

" Zuerst will ich hier raus! Hast du gehört!" Ferlan schlug so heftig gegen die Tür, dass die Scharniere verdächtig knarrten und aus ihrer Verankerung zu springen drohten. " Mach auf, Laoren!"

Erschrocken wich Ferlan zurück, als die Tür zu seinem Gefängnis aufgerissen wurde und Laoren vor ihm stand. Die Schatten in seinem Gesicht wirkten im Dunkel der Hütte bedrohlich und kalt.

Völlig ruhig stand er vor Ferlan und sah auf ihn herab.

" Ich darf gehen?" fragte Ferlan zögerlich und deutete zur Tür, die einen Spalt breit offen stand.

" Aber gerne doch", erwiderte Laoren in betont ruhigem Tonfall. " Nur so, wie du jetzt aussiehst, kannst du nicht gehen..."

" Wieso? Was stimmt denn nicht mit mir?" Ferlan blickte an sich herab. " Gut, meine Kleider sind nicht gerade sauber, aber..."

Statt zu antworten, lachte Laoren leise.
 

" Du bist verrückt!" Ferlan machte Anstalten, an dem vor ihm Stehenden vorbei zu gehen, doch ein plötzlicher Schlag in sein Gesicht schleuderte ihn zu Boden.

" Was soll das?" schrie Ferlan auf und hielt sich die Hände vor sein Gesicht. " Du hast doch gesagt, dass ich gehen kann! Warum schlägst du mich?"

Ein blinkender Gegenstand fiel vor Ferlan auf den staubigen Fußboden.

Äußerst beherrscht, fast emotionslos erklang Laorens Stimme. " Ich sagte doch, dass du so, wie du jetzt bist, nicht gehen kannst! Das", er zeigte auf den silbernen Gegenstand vor Ferlan. " Das ist für dich der einzige Weg nach draußen!"

Leise entfernten sich Laorens Schritte von Ferlan. Die Tür wurde zugezogen und er war wieder so alleine, wie vorher.
 

~ * ~
 

Nachdem der Schlüssel in der Tür herumgedreht und Laorens Schritte endgültig verklungen waren, hob Ferlan den Kopf.

Das Blut, das ihm aus Nase und Mund strömte, fiel in dicken Tropfen herab auf den kleinen Dolch, den Laoren ihm hingeworfen hatte.

Ferlan wischte sich das Blut weg und griff mit zitternden Händen nach dem Messer. Betrachtend drehte er es hin und her und strich mit seinen Fingern über die silbern blitzende, sanft geschwungene Klinge, die hier und da von ein paar Scharten unterbrochen war.

, Laoren und die anderen haben Recht', dachte Ferlan bei sich. Viele Leute waren tot; durch seine Schuld.

Barneagh nun auch...

Was wollte er hier? Warten, bis der Rat ihn unter Tyrnas Einfluss zum Tode verurteilte? Warten, bis jemand wie Laoren kam und ihn aus Rache tötete? Warten, und ewig an seine Schuld erinnert werden?

Ferlans Hände verstärkten ihren Griff um den Dolch. Wenn das wirklich der einzige Weg für ihn in die Freiheit war, würde er ihn nehmen! Trommeln würde niemand für ihn schlagen, aber das interessierte Ferlan nicht mehr. Sollten sie seinen kalten Körper in den Wald werfen.
 

Schwer wog die Waffe in Ferlans Hand. Genauso schwer, wie die Schuld, die ihn fast zu erdrücken schien.

Tränen liefen Ferlans Wangen hinunter. Sie mischten sich mit dem Blut, das immer noch unaufhörlich aus den Wunden strömte und tropfte zusammen damit in den Staub.

Seine Gedanken schweiften zu den Menschen in seinem Dorf, die er seit ewigen Zeiten kannte. Sie alle könnten noch am Leben sein, hätte er damals auf seine Freunde gehört und das Kind im Wald gelassen.

Ferlan hob den Dolch in die Höhe und hielt kurz inne.

Das fahle Gesicht, das von der blanken Klinge reflektiert wurde, starrte ihn vorwurfsvoll an. Die unausgesprochenen Worte, die es ihm entgegenschleuderte, hallten in seinem Kopf wider.

, Feigling!' schrie ihn sein Spiegelbild an. , So viele mussten wegen dir leiden und du machst es dir einfach und stiehlst dich davon?!'

Wütend warf Ferlan den kleinen Dolch in ein Ecke der Hütte.
 

* * * * *
 

Ende - Kapitel 5: Sühne

Neue Pfade

Pers. Notiz: Ich muss zugeben, dass ich für dieses Kapitel hier am längsten gebraucht habe, auch wenn es von der Länge her nicht so scheint. Es lag mehr an dem Grund, dass ich Abschiede hasse - auch im Privatleben - und es mir dieses mal sehr schwer fiel, eine Person, die ja schon fast ein Teil von mir ist, das glaubhaft darstellen zu lassen. Ich hoffe, es ist ein wenig gelungen ^__^;;;

Viel Spaß beim lesen.
 

~ * ~
 

" Bist du wach?"

Ferlan, der auf dem Boden seines Gefängnisses gelegen und geschlafen hatte, erschrak als unvermutet eine leise Stimme von der Tür her erklang. Müde setzte er sich auf und rieb sich über die Augen. " Ja", antwortete er und lehnte seinen Kopf gegen das Holz der Tür. " Wo ist Laoren?"

" Den hab ich zu Tyrna geschickt. Wie geht es dir?"

" Aredh, ich kann nicht mehr. Ich möchte hier raus", flüsterte Ferlan heiser.

" Ich weiß", kam es als Antwort.

" Wie lange bin ich jetzt schon hier?"

Aredh atmete hörbar aus. " Morgen sind es siebzehn Tage."

Ferlan vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Dass es schon so lange her sein sollte, seit er unter Arrest stand, war ihm die ganze Zeit nie richtig bewusst gewesen. Irgendwann hatte er aufgehört, die Sonnenaufgänge zu zählen, deren Licht nur spärlich in sein abgedunkeltes Gefängnis schien. " Gibt es was Neues?" fragte er schließlich.

" Sie treffen sich gerade im Gemeindehaus, um zu beraten, was nun aus dir wird."

" Ist Tyrna dabei?" Ferlan wartete nicht auf Aredh und beantwortete sich seine Frage selbst. " Natürlich ist er dabei. Dann kenn ich das Ergebnis schon..."

" Warte doch zuerst mal ab."
 

" Aredh?" ertönte es nach einer Weile wieder.

" Ja?"

Ein leises Rascheln war hinter der Tür zu hören. " Tust du mir einen Gefallen?" kam es leise von drinnen und Aredh musste sich etwas zum Haus hindrehen, um das Flüstern verstehen zu können.

" Was denn?" fragte er Ferlan.

" Gib die Melva zurück..."

Abwartend sah Aredh zu, wie nacheinander ein paar kleine Glasperlen unter der Tür durchgeschoben wurden.

" Ich hatte Melva versprochen ihre Kette zu reparieren, aber werde ich wohl nicht mehr können..."

" Vergiss es!" erwiderte Aredh wütend.

Sprachlos blickte Ferlan auf die winzigen Perlen, die auf dem selben Weg zu ihm in sein Gefängnis zurück geschoben wurden, den sie kurz zuvor noch in die entgegen gesetzte Richtung genommen hatten.

" Die gibst du ihr selbst zurück!" Aredh schlang seine Arme um die angezogenen Knie. Er wusste nicht, ob Ferlan mit seiner Vermutung, was die Strafe anging, so falsch lag. Schließlich hatten sie noch nie zuvor einen ähnlichen Fall in ihrer Gemeinschaft gehabt, wie diesen, aber dass man ihn mit dem Tod bestrafen würde, konnte und wollte Aredh sich nicht vorstellen.
 

* * * * *
 

Zur selben Zeit war im Gemeindehaus ein heftiger Streit zwischen den Mitgliedern des Rates und ein paar Bewohnern ausgebrochen.

Alinor, die solche Streitereien schon zur Genüge kannte, verharrte ruhig auf ihrem Sitzplatz und lauschte schweigend den Gesprächen. Irgendwann aber war auch ihre Geduld vorbei und sie schlug mit einer Hand auf die Tischplatte vor sich.

" Tyrna!" fuhr sie den Mann mit den dunklen Haaren an, der mit wütendem Gesicht vor dem Großen Rat stand und seinen Ärger dessen Mitgliedern verständlich zu machen versuchte. " Du bist vielleicht der Anführer der Krieger, aber hier", mit einer weitausholenden Geste, die die gesamte Runde einschloss, zeigte Alinor auf die versammelten Mitglieder des Rates. " Hier habe ich das letzte Wort!"

" Alinor", Tyrnas zuvor verärgerte Stimme klang nun beschwörend, als er das Wort an die alte grauhaarige Frau richtete. " Ferlan ist daran schuld, dass wir überfallen wurden."

" Das gesamte Vieh ist tot und das wenige Vermögen, das wir zum tauschen hatten ist ebenfalls weg! Wovon sollen wir leben?" rief ein weiterer aufgebrachter Dorfbewohner in die Diskussion und erntete zustimmendes Gemurmel der übrigen Leute.

" Wenn ihr nicht sofort still seid, dann werdet ihr alle gehen und der Fall wird nur vom Großen Rat entschieden!" Alinors Worte, die wie scharfe Messer durch das Durcheinander aus Stimmen schnitt, ließ die Bewohner der kleinen Siedlung augenblicklich verstummen und sich wieder hinsetzen.

Tyrna fiel es sichtlich schwer, sich zusammenzureißen." Ferlan hat diese kleine Spionin ins Dorf gebracht! Er ist für den Tod von vielen Bewohnern verantwortlich und dafür, dass ich keinen Erben mehr habe!"

" Du verstehst anscheinend nicht, was ich dir sagen wollte, Tyrna! Es geht hier nicht darum, ob du deinen Sohn verloren hast, so leid es mir tut. Du hast deine Frau und deine Tochter. Dafür solltest du dankbar sein!"

Tyrna verbiss sich einen weiteren Kommentar und nahm Platz.
 

Schweigend sahen alle zu der kleinen grauhaarigen Frau. Mit fester Stimme begann Alinor zu reden. " Ferlan ist kein schlechter Mensch. Er hat einen Fehler gemacht, bei dem er nicht ahnen konnte, dass es sich als unsere schwierigste Prüfung herausstellen würde.

Was ich damit sagen will, ist, dass Ferlan uns nicht bewusst in die Katastrophe geführt hat. Er ist einfach noch zu jung und unerfahren und hat die Situation falsch eingeschätzt. Aber wenn wir ehrlich sind, hätte das jedem von uns passieren können. Wer hätte auch gedacht, dass dieses kleine Mädchen zu eben dem Stamm gehörte, der plante uns auszurauben?!

Jeder hat ihr vertraut - Nicht nur Ferlan..."

Eindringlich blickte Alinor einen Bewohner nach dem anderen an.

" Die meisten von euch habe ich schon in den Armen gehalten, als sie noch kleine Kinder waren und ich weiß, dass niemand von Grund auf böse ist. Keiner von euch - Egal, was er auch schon getan hat! Ferlan auch nicht!

Es war unser, und vor allem sein Schicksal, das uns hierher gebracht hat und derjenige, der am meisten dafür büßen muss, ist Ferlan. Ihn zum Tode zu verurteilen, wie es manche von euch verlangen, bringt keinen unserer Getöteten zurück! Aber ich weiß auch, dass Ferlan nicht ohne Bestrafung davonkommen darf."

Alinor endete ihre lange Rede und stand auf. Und trotz ihrer kleinen Gestalt wirkte diese Geste auf die immer noch schweigende Menge, ehrfürchtig. Kein Wort erklang und niemand wagte es, sich auch nur zu bewegen - So gespannt waren alle darauf, was ihre Stammesälteste zu sagen hatte.
 

" Ich beschließe, das Ferlan für sein schweres Fehlverhalten bestraft werden muss. Aber statt den Tod der anderen mit seinem Tod zu vergelten, bestimme ich im Namen des Großen Rates, dass Ferlan für seinen Fehler anders büßen wird. Das", Alinor unterbrach sich selbst und sah Tyrna fest an, der sich erhoben hatte und protestieren wollte. " Das soll Ferlans Strafe sein: Er soll den Stamm verlassen. Ohne Waffen und ohne ein Stück seines alten Besitzes, außer dem, was er am Leib trägt. Sollen die Götter darüber entscheiden, ob er am Leben bleibt.

Er darf sich der Siedlung nicht mehr bis auf einen Tagesmarsch Entfernung nähern. Sollte sich er nicht daran halten, hat jeder Bewohner das Recht und die Pflicht, Ferlan daran zu hindern. Wenn nötig auch mit Waffengewalt - Selbst, wenn es Ferlans Tod bedeuten sollte.

Ich erkläre Ferlan für frei. Er wird zum Ausgestoßenen und verliert sämtliche Rechte und Positionen, die er sich bis jetzt hier erarbeitet hatte."

Alinor hielt kurz inne. Was sie als nächstes zu sagen hatte, fiel ihr sichtbar schwer.

" Ferlan existiert in unserem Stamm nicht mehr!"

Alle, Tyrna miteingeschlossen, schwiegen betreten und sahen zu, wie Alinor wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm. Mit ausdrucksloser Miene, saß sie da und hatte die Hände vor sich auf dem Tisch verschränkt.
 

* * * * *
 

Ferlan kniff die Augen geblendet zusammen und hielt sich eine Hand vors Gesicht, als der helle Lichtstrahl durch die geöffnete Tür zu ihm ins Dunkel hineinfiel.

" Steh auf!" fuhr ihn Laoren an, der begleitet von einem weiteren, finster dreinblickenden Krieger, ins Innere von Ferlans Gefängnis kam.

Langsam erhob sich Ferlan vom Boden - Die Spitze des auf ihn gerichteten Speeres absichtlich übersehend.

Mit schleppenden Schritten ging er vor den beiden Männern her ins Freie. Draußen hob Ferlan den Kopf.

Tief atmete er durch und musste husten, als die lang entbehrte, kühle Luft seine Lungen füllte. Es war das erste mal seit langem, dass er wieder den Himmel und die Wolken sah. Die Äste der Laubbäume waren nun allesamt vollständig von sattem Grün überzogen und wisperten sich im sachten Wind zu, dass es nun endgültig Frühling war. So vieles hatte sich seit dem Angriff verändert. Von überall her erklang Vogelgezwitscher und alles strahlte. Ganz im Gegensatz zu ihm... Ferlan sah an sich hinab.

Der lange Aufenthalt in dem finsteren Häuschen und das wenige Essen, das man ihm zugestanden hatte, hatten sichtbare Spuren an ihm hinterlassen.

Der Schmutz der staubigen Hütte hatte sich wie ein feiner Schleier auf seine Kleider und seinen ganzen Körper gelegt. Mit einer matten Handbewegung strich sich Ferlan sein sonst blondes Haar aus den Augen, das ihm in zottigen Strähnen in sein blasses Gesicht fiel.

Seit Aredhs letztem Besuch waren wieder etliche Tage verstrichen und in der ganzen Zeit hatte man Ferlan im Ungewissen darüber gelassen, welche Strafe ihn nun erwartete.

Und jetzt? War es nun soweit? Sollte heute sein letzter Tag sein?

Ferlan unterdrückte die aufkommende Angst. Er drehte sich zu Laoren und seinem Begleiter um. " Wohin?" fragte er leise.

" Zum Dorfausgang", antwortete Laoren und bekräftigte seine Worte mit einem energischen Wink mit der Speerspitze in die entsprechende Richtung.
 

Während sie über die von der warmen Frühlingssonne getrockneten Wege gingen, sah sich Ferlan um. Eine seltsame, ungewohnte Ruhe lag über der Siedlung. Fast keine Wolke aus den Kaminen der Häuser, stieg in den Himmel. Noch nicht einmal aus der Richtung der Schmiede, über der normalerweise immer eine dichte, schwarze Rauchwolke hing, war etwas zu sehen.

Die Häuser, die beim Angriff Schaden genommen hatten, waren teilweise wieder aufgebaut und repariert. Äußerlich schien alles in Ordnung zu sein und trotzdem waren die Straßen wie ausgestorben. Nicht ein einziger Mensch war zu sehen.

Waren sie schon alle an dem Platz, an dem er die letzten Minuten seines Lebens vor ihren vorwurfvollen Augen verbringen würde?

Ferlan wand den Blick ab, als sie die Zäune der Siedlung hinter sich ließen und an den frisch aufgeworfenen Grabhügeln vorbeigingen. Elf. Es waren genau Elf - Zehn Große und ein Kleiner. Ferlan musste sie nicht zählen.

Als der letzte Grabhügel endgültig aus seinem Blickfeld verschwunden war, hob Ferlan wieder den Kopf. Nicht weit entfernt erkannte er die Silhouetten der wartenden Dorfgemeinschaft.

Ferlans erster Reflex war, sich umzudrehen und wegzulaufen, aber Laoren und sein Begleiter würden ihn mit Sicherheit nach ein paar Schritten eingeholt haben.

Schnell verwarf er den Plan wieder und ging seinem Schicksal entgegen, das ihn aus unzähligen Augenpaaren ansah.

" Es wird ja auch Zeit!" fuhr Tyrna die drei Männer ungeduldig an.

Ferlan atmete tief ein und ging mit gestrafften Schultern auf seinen Schwager zu.
 

~ * ~
 

Alinor, die neben Tyrna trat, bedeutete diesem, dass er ruhig sein sollte.

" Ferlan", wand sie sich an den jungen Mann vor sich, der sie mit unsicherem Blick ansah. " Du weißt, weshalb wir hier sind, oder?"

" Ja", antwortete Ferlan kaum hörbar. Seine Hände wurden kalt und sein Magen begann zu rebellieren. Zwischen all den Menschen erkannte er auch seine Freunde und seine Familie, die wie erstarrt da standen und ihn beobachteten.

Wollten sie etwa alle zusehen, wie man ihn hinrichtete?

" Ab hier wird sich dein Weg von unserem trennen", riss Alinor Ferlan aus seinen Gedanken.

Stumm blickte Ferlan die alte Frau an. " Wie?" fragte er leise.

" Was meinst du damit?"

Ferlan schluckte. " W - wie wollt ihr mich hinrichten?" Er griff nach Alinors Hand. " Tut es bitte schnell! Ich weiß, dass ich einen langsamen Tod verdient habe, wie diejenigen, die wegen mir sterben mussten, aber ich bitte dich, Alinor..." Ferlans Stimme überschlug sich vor Angst und seine Finger gruben sich tief in den Stoff des Kleides der alten Frau.

" Ferlan!" unterbrach Alinor den verzweifelten jungen Mann erneut und löste dessen Hände sanft, die sich um ihre dünnen, faltigen Unterarme schlossen.

" Niemand hat vor, dich hinzurichten!"

" ... Nicht?"

" Nein", Alinor schüttelte langsam und bedächtig ihren Kopf.

" Und was soll ich hier? Warum sind die anderen alle hier?"

Die alte Frau machte eine kurze Pause. " Sie sind hier, um sich von dir zu verabschieden."

Ferlan benötigte einen Augenblick, um das Gehörte zu verarbeiten. " Was genau heißt das?"

Alinor zog sich ihren Umhang fester um die gebeugten Schultern. " Du wirst von nun an auf dich selbst gestellt sein, Ferlan. Der Große Rat hat beschlossen, dass du unseren Stamm verlassen musst."

" Verlassen?" Ferlans Augen blickten unruhig zwischen Alinor und den anderen hin und her. " Für wie lange?"

" Für immer!" fuhr ihn Tyrna an.
 

Alinor hob die Hand und wehrte Tyrnas weitere Versuche, seinen Schwager zu beschimpfen, mit einer energischen Bewegung ab.

" Du wirst uns, so schwer es uns auch fiel zu entscheiden, für immer verlassen müssen, Ferlan", begann Alinor wieder zu reden. " Es war das einzig gerechte Urteil, das wir fanden", fügte sie leise, fast entschuldigend hinzu.

Ferlan schwieg betroffen. Er musste die Neuigkeit erst einen Moment verdauen, bevor er darauf reagieren konnte. Das war also der Grund, warum man ihn so lange im Unklaren gelassen hatte - Der Rat war nicht zu einem Ergebnis gekommen... Ferlan hob den Kopf und sah zur Siedlung hinüber.

" Es ist in Ordnung", fing Ferlan nach einer Weile an zu reden. Er senkte seinen Blick. " Ich weiß, dass es euch schwer gefallen sein muss, ein gerechtes Urteil für meine Schuld zu finden."

" Du bist dir auch bewusst, dass es für dich bedeutet, nie wieder hierher zurückzukehren?!"

Ferlan atmete tief ein. " Ja", hauchte er kaum hörbar.

" Dann hast du jetzt noch etwas Zeit, um dich von deiner Familie und Freunden zu verabschieden." Alinor nahm Ferlan beiseite und brachte ihn zu seiner Mutter, die die ganze Zeit regungslos dagestanden und aus einiger Entfernung dem Gespräch zugesehen hatte.
 

* * * * *
 

Ferlan stockte der Atem, als er das Gesicht seiner Mutter sah. Er spürte den stummen Schmerz, der in Selias Augen lag, auch wenn sie tapfer lächelte.

" Es tut mir so leid", flüsterte Ferlan erstickt und lehnte seinen Kopf gegen die Schulter seiner Mutter.

" Ich liebe dich, Ferlan", antwortete Selia und versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Mit einer Hand fuhr sie die Gesichtszüge ihres Sohnes nach und wischte ihm die Tränen weg, die trübe Spuren auf Ferlans schmutzigem Gesicht hinterließen. Selia nahm Ferlans Kopf in ihre beiden Hände und drehte ihn zu sich.

" Ferlan, egal was vorgefallen ist und egal, was noch passieren wird, ich liebe dich und werde es immer tun. Das darfst du nie vergessen."

Ferlan hatte bis hierher schweigend den Worten seiner Mutter gelauscht und genau in dem Moment, als Selias letzter Satz verstummt war, wurde er sich seinem Schicksal richtig bewusst und verlor alle Achtung und alle Scham vor den Umherstehenden. Er zog seine Mutter in die Arme und weinte.

Selia wartete einige Augenblicke. " Ich glaube, es wird Zeit, Ferlan." Ein letztes Mal noch strich sie über das Haar ihres Sohnes und gab ihm einen Kuss. " Hör mir gut zu, Ferlan", fest sah Selia Ferlan in die Augen. " Ich möchte, dass du von hier mit dem selben Stolz weggehst, den du vorher hattest, ja?!"

Ferlan rang sich ein gequältes Lächeln ab. " Ich versuche es..."

" Dann geh jetzt. Ich weiß, dass ich mir um dich keine Sorgen machen muss." Selia ließ die Hände ihres Sohnes los. Schnell vergrub sie ihre eigenen Hände in den Taschen ihres Kleides, um dem Drang zu widerstehen, ihr Kind fest zu halten, am weggehen zu hindern und vor allem Bösen zu beschützen, das ihm in der Fremde auflauern würde.
 

' Die Glasperlen!' durchfuhr es Ferlan, als er Melva an der Seite seiner Schwester erblickte. Seine Hand griff nach dem kleinen Lederbeutel an seinem Gürtel. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Er konnte sie Melva nicht so einfach zurückgeben - Schließlich hatte er ihr versprochen, sie zu reparieren... Ferlan ließ seine Hand sinken und streckte sie stattdessen seiner kleinen Nichte entgegen.

Melva, die die Situation mit ihrem kindlichen Verständnis nicht in ihrem ganzen Ernst erfassen konnte, schlang ihre Arme um Ferlans Hals und drückte sich schweigend an ihn.

Ebenso stumm löste sie sich nach einer Weile aus der Umarmung und warf ihm ein Lächeln zu, ehe sie wieder ihren Platz neben Bedana einnahm.

' Du bekommst deine Perlen wieder zurück. Genau, wie ich es dir versprochen habe', dachte Ferlan und erwiderte Melvas Lächeln.

" Pass gut auf dich auf", Bedana umarmte Ferlan.

" Das werde ich", Ferlan küsste seine Schwester auf beide Wangen und sah sie sich genau an, als wolle er sich ihr Bild für immer ins Gedächtnis brennen. " Und du versprichst mir, dass du gut auf Melva aufpasst. Lass ihr das Holzschwert. Sie ist sehr tapfer und ich wünschte, ich könnte sehen, wie sie ihr erstes richtiges bekommt..."

Bedana nickte wortlos und fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung über ihre tränennassen Augen.
 

~ * ~
 

Nachdem Ferlan sich auch von Cal und Iona und deren Familien verabschiedet hatte, kam er schließlich vor Aredh an.

Fest schloss Aredh seinen Freund zum Abschied in seine Arme. " Geh zu dem kleinen Felsen, nicht weit von hier", flüsterte er Ferlan leise ins Ohr. " Du weißt ja, welchen ich meine. Oder?!"

Ferlan nickte. " Ja."

" Gut", fuhr Aredh fort. Unauffällig warf er einen schnellen Blick zu Tyrna.

" Dort in einer Spalte findest du einen Stein zum Feuer machen, eine Decke und etwas zu Essen. Das müsste für die ersten paar Tage reichen. Nimm es, aber pass auf, dass dich niemand dabei sieht! Waffen konnte ich dir keine hinlegen. Der Große Rat hat alle noch vorhandenen Waffen genauestens aufgelistet und verwahrt sie in der Kammer, in der normalerweise die Vorräte sind. Mehr kann ich leider nicht für dich tun. Ich will nicht wissen, was passiert, wenn sie das rausfinden. Mein Vater..."

" Ich weiß", unterbrach ihn Ferlan leise. " Danke für alles. Du hast mehr getan, als ich dir vielleicht je zurückgeben kann..."

" Ferlan!" Tyrna hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und blickte seinen Schwager unerbittlich an. " Es wird Zeit, dass du uns nun endlich verlässt!"

" Ja." Ferlan löste sich aus Aredhs Umarmung.
 

Ein letztes Mal noch sah Ferlan zu seiner Familie und seinen Freunden, die wie gelähmt in der ersten Reihe standen und ihm stumm entgegenblickten.

Iona hob die Hand und öffnete den Mund um Ferlan noch etwas zuzurufen, ließ es aber sein, als ihn Tyrnas eisige Blicke trafen.

" Du kannst ihn gerne begleiten!" zischte Tyrna dem jungen Mann zu.

Ferlan zog die Augenbrauen zusammen und wand der versammelten Dorfgemeinschaft den Rücken zu.

Langsam, aber trotzdem mit vor Stolz erhobenem Kopf, verließ er für immer die schützenden Mauern seiner Kindheit, um in den unbekannten Tiefen der Wälder eine neue Heimat zu finden.
 

* * * * *
 

Wütend hatte Aredh die Hände zu Fäusten geballt, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Fest presste er seine Lippen aufeinander. Warum musste man Ferlan so dermaßen hart bestraften?

Verbannung!

Als ob das die Leben der Getöteten sühnen könnte...

Mutig fasste sich Aredh ein Herz und trat beherzt einen Schritt vor.

" Ferlan!" schrie er dem schon in der Ferne Verschwindenden zu. " Bleib am Leben!" Leise und für die anderen unhörbar, sagte er zu sich selbst " Damit wir uns vielleicht wiedersehen. Irgendwann..." Er machte auf dem Absatz kehrt und bahnte sich grob einen Weg zwischen seinen betreten herumstehenden Stammesmitgliedern hindurch, die ihm wortlos nachstarrten.

Wie konnten sie nur alle damit einverstanden sein und schweigen?!

Sie kamen ihm wie Verräter vor.

Heftig schüttelte Aredh die Hand ab, die sich ihm beruhigend entgegenstreckte. Er musste erst einmal selbst einen klaren Gedanken fassen und dann erst konnte er sich wieder mit dem Alltag auseinandersetzen.
 

Bedana ließ ihren Arm sinken und sah Aredh nach. Sie wusste, wie zerrissen es in ihm aussehen musste und sie wünschte, dass sie ihm etwas tröstendes sagen konnte. Ihre Trauer darüber, noch zusätzlich ihren einzigen Bruder verloren zu haben, überwog ihren eigenen Schmerz über den Verlust ihres Babys.

Diese Ungewissheit, die sich schon in ihr breit zu machen begann, fegte alle anderen Sorgen beiseite. Würde Ferlan überleben? Und wenn nicht - Niemand würde es je erfahren...

Bedana schlug die Hände vor ihr Gesicht und wand sich ab. Sie wollte nicht zusehen müssen, wie ihr Bruder im Wald und für immer aus ihrem Leben verschwand.

" Komm!" Tyrna legte seine Hand sanft auf Bedanas Oberarm und drängte sie Richtung Dorf.

Bedana biss sich auf die Lippen. Fast schämte sie sich für den kurzen Moment, an dem sie so etwas wie Hass gegenüber ihrem Mann empfunden hatte.

Unwirsch entzog sie Tyrna ihren Arm. Ihm noch einen letzten vernichtenden Blick zuwerfend, ließ Bedana ihren Mann stehen und ging mit gestrafften Schultern zu ihrer weinenden Mutter.
 

~ * ~
 

Von den Ereignissen noch immer völlig aufgelöst, betrat Aredh das kleine Häuschen, das er zusammen mit seinem Vater bewohnte. Achtlos warf er seinen Umhang in eine Ecke und nahm an dem Tisch, der vor dem Kamin stand, Platz.

Nachdenklich blickte er in die hell lodernden Flammen.

" Aredh? Bist du es?"

" Ja, Vater", antwortete Aredh der leisen Stimme, die aus dem hinteren Teil des Wohnraumes zu ihm herüber drang. " Möchtest du was essen?"

" Nein."

Die Stille ließ Aredh für einen Moment die Augen schließen.

" Aredh?"

Unterbrochen von seines Vaters Stimme, öffnete der junge Mann wieder seine Augen und rieb sich mit einer Hand über die müden Lider. " Was ist denn?"

Ein leises Rascheln war aus dem mit einem Vorhang vom restlichen Haus abgeteilten Zimmer, zu hören.

" Komm doch bitte mal her."

Aredh erhob sich von seinem Sitzplatz und schlurfte langsam zum Schlafzimmer seines Vaters.
 

Der graue Vorhang verbreitete einen modrigen Geruch, als ihn der junge Mann zur Seite schob, um einzutreten und der aufgewirbelte feine Staub kitzelte Aredh in der Nase. ' Hier muss unbedingt mal wieder sauber gemacht werden', dachte er bei sich.

Die letzten Wochen hatte er dafür nie Zeit gefunden. Zuerst waren sie von der erwarteten Heimkehr der Truppe zu sehr abgelenkt und danach war die Sache mit dem Überfall und Ferlans Verhaftung zuvorgekommen.

Aredh biss sich auf die Unterlippe und ließ den Vorhang hinter sich zufallen. Wenigstens hatten er und sein Vater Glück und ihr Haus stand noch. Im Gegensatz zu denen, die weiter im Zentrum der Siedlung standen, war ihres beim Angriff gut geschützt gewesen, als sich die Kämpfe auf die Dorfmitte konzentriert hatten.

Aredh seufzte leise.

Bis alles wieder aufgebaut und verarbeitet war, dauerte es sicher Monate und ihr Problem mit dem Vieh hatte wieder von vorne angefangen. Alles war durch den Angriff durcheinander gebracht worden. Überall herrschte Hektik und Unruhe und die Menschen fanden nur schwer wieder in ihren gewohnten Alltag zurück. Der Schock, über so eine Tat saß allen noch zu sehr in den Knochen.

Aredh fühlte sich hier nicht mehr wohl und am liebsten wäre er mit Ferlan mitgegangen, doch das konnte er seinem Vater nicht antun.

Seine Blicke fielen auf das Bett, in dem ein alter Mann lag.
 

Die Augen in dem faltigen Gesicht waren geschlossen und die keuchenden Atemzüge, die aus dem leicht geöffneten Mund drangen, verstärkten den Eindruck, dass es dem Alten momentan sehr schlecht ging. Der Überfall hatte auch an ihm seine Spuren hinterlassen. Wenn auch nicht sichtbar.

Langsam öffneten sich die Lider des Alten und seine trüben Pupillen schauten seinen Sohn blicklos an.

" Ich habe das Gefühl, dass es dir nicht gut geht..." Der Alte hielt einen Moment ein, um Atem zu schöpfen. " Es ist wegen Ferlan, hab ich Recht?! Heute ist doch der Tag, an dem er die Siedlung verlassen muss, oder?! Willst du mir nicht erzählen, wie es dir geht?"

Aredh ließ den Kopf hängen und atmete leise aus. Was sollte er seinem Vater darauf antworten? Wenn er all das, was er ihm Augenblick fühlte, in Worte fassen würde, dann befürchtete er, dass er sich nicht mehr beherrschen könnte und zu weinen anfing.
 

~ * ~
 

" Aredh!" Sein Vater klang nun forscher, als man es ihm auf den ersten Blick zutrauen würde. Er streckte seine welke Hand aus und umklammerte die seines Sohnes am Handgelenk. Mit sanfter Gewalt zog er diesen zu sich herab. " Man muss nicht immer den Helden spielen! Wenn es dir schlecht geht, dann sag es auch und verbirg nicht das, was dich belastet! Es würde mit der Zeit nur immer mehr und mehr werden, bis es dich zum Schluss nicht mehr schlafen oder essen lässt. Verstehst du, wie ich das meine?"

" Ja", flüsterte Aredh. Er hatte auf der Bettkante Platz genommen, sich zu seinem Vater herabgebeugt und seinen Kopf auf dessen Schulter gelegt.

Sachte fuhr ihm seine Vater mit einer Hand durch die hellbraunen Haare. " Es tut mir leid, dass ich dir einen Teil deines Lebens geraubt habe, der sehr wichtig für dich war..."

" Das stimmt doch überhaupt nicht!" Entsetzt unterbrach Aredh die Rede seines Vaters. Er hatte sich wieder aufgerichtet und sah den Mann vor sich an. " Du hast mir nichts genommen! Ich habe es gerne getan!"

" Laß mich ausreden!" fuhr Enree seinen Sohn wütend an. " Erzähl mir nicht, dass du dir nichts besseres vorstellen kannst, als einen alten halbblinden Krüppel zu versorgen?! Egal, was du jetzt antwortest, es kann nicht das sein, was du dir von deinem Leben erhofft hattest!"

" Du willst darauf doch nicht wirklich eine Antwort von mir, Vater?! Es gibt keine, weil ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht habe! Und, das werde ich auch in Zukunft nicht tun!"

Wütend verließ Aredh das Zimmer seines Vaters. Das letzte, was der Alte noch von seinem Sohn hörte, war das zuschlagen der Eingangstür.

" Und es ist doch so, wie ich gesagt hatte", flüsterte Enree leise vor sich hin und schloss seine Augen.
 

~ * ~
 

Ferlan, dem Aredhs letzte Worte nicht mehr aus dem Kopf gingen, hatte mittlerweile die Lichtung hinter sich gelassen und den Rand des Waldes erreicht. Mit einer Mischung aus Beklommenheit und dem Willen, sich von dem Fremden nicht unterkriegen zu lassen, betrat er nun diese ihm bekannte, aber in seiner jetzigen Situation feindliche, neue Welt. Er musste sich dieser Herausforderung stellen und - in Ferlans Augen blitzte Trotz auf - Er würde nicht aufgeben. Niemals!

" Keine Sorge, Aredh", stieß Ferlan zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

" Ich werde am Leben bleiben!"

Energischen Schrittes ging er weiter. Immer tiefer in den Wald hinein.
 

* * * * *
 

Ende Kapitel 6

Auf Leben und Tod

~ * ~
 

Nachdem Ferlan am Tage seiner Verbannung bis zum Abend ziellos im Wald herumgelaufen war, begann er nun, sich für die hereinbrechende Nacht einen Schlafplatz zu suchen.

Er hatte seine Reise entgegen den Bestimmungen des Rates unterbrochen und war nicht, wie Alinor es befohlen hatte, einen Tagesmarsch von der Siedlung entfernt. Ferlan hatte es vorgezogen, im nahen Umkreis herumzuschleichen und auch jetzt noch trieb er sich nicht weit vom Dorf entfernt in einem kleinen Waldstück herum - Immer die Furcht im Nacken, von Bewohnern seines Stammes entdeckt zu werden.
 

In einem Abschnitt des Waldes, der zum größten Teil aus riesigen Tannen bestand, beschloss Ferlan, die Nacht zu verbringen.

Er trug einige große Zweige zusammen und lehnte sie so gegen einen umgestürzten Baumstamm, dass dahinter eine schmale Nische entstand, die gerade groß genug war, um sich hinzulegen.

So versteckt würde er vor den wachsamen Blicken eines Spähtrupps gut geschützt sein.

Völlig erschöpft machte es sich Ferlan auf dem weichen Waldboden bequem.

Die Sachen, die ihm Aredh bereit gelegt hatte, hatte er in ihrem Versteck gelassen. Außer etwas Wasser und einer warmen Decke hatte er nichts davon mitgenommen. Wenn er genau wusste, wohin er wollte, dann würde er alles zusammenpacken, aber zuerst ging es nun darum, die Gegend auszukundschaften.

Ferlan breitete eine Hälfte der Decke auf dem nadeligen Boden aus und zog sich den anderen Teil über den Körper.
 

Sich ständig von einer Seite auf die andere wälzend, verbrachte Ferlan den ersten Teil der Nacht. An Einschlafen war nicht zu denken, egal wie müde er auch war.

Der Duft nach feuchtem Moos und die verrottenden Tannennadeln umwehten Ferlans Nase und die nächtlichen Geräusche ließen ihn einfach keine Ruhe finden. Von den Erinnerungen an zu Hause ganz zu schweigen.

Dort waren ihm diese Laute nie richtig aufgefallen und den Geruch des Waldes hatte er eigentlich immer geliebt, aber hier, wo es still und einsam war, hörte man jeden Luftzug, der durch die Wipfel der Bäume rauschte und die Äste dabei unheimlich knacken ließ. Hier störte ihn mit einem mal der Duft, den jeder Wald hatte.

Nach einer Weile hatte Ferlan genug.

Er streifte sich die Decke von den Schultern, stieß die Äste um, die sein Versteck schützen sollten, und stand auf.

Ferlan streckte sich und strich sich über Arme und Beine, in denen es kribbelte. Die gekrümmte Haltung, in der er die ganze Zeit auf dem Boden gelegen hatte, hatte seine Muskeln einschlafen gelassen.

Ferlan versteckte seine Decke wieder hinter den Ästen, setzte sich auf den umgestürzten Baum und dachte nach.

Schliefen schon alle zu Hause? Seine Mutter sicher nicht. Und die anderen? Konnte Tyrna nach alledem überhaupt ruhig schlafen?

Ferlan bekam eine Gänsehaut, als er an seinen Schwager dachte und verwarf das aufkommende ungute Gefühl sofort wieder.
 

Ein ungewöhnliches Geräusch, das nicht zu den anderen der Umgebung passte, ließ Ferlan einige Augenblicke später von seinem Sitzplatz aufschrecken.

Sich hinter den gefallenen Baum duckend, sah er zu, wie ein dunkler Schatten zwischen den Tannen umherhuschte.

Ein Tier?

Ferlan kniff die Augen zusammen und wartete ab.

Jetzt tauchte die Gestalt wieder auf, aber ein Tier war es nicht - Kein Tier ging aufrecht auf zwei Beinen...

Den Atem anhaltend sah Ferlan zu, wie sich ihm die unbekannte Person näherte.

Sie schien etwas zu suchen, denn von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, drehte den Kopf hin und her und schlich dann schließlich weiter.

Langsam wurde Ferlan nervös. Wer war der Fremde und was wollte er um diese Zeit hier im Wald? Waren es Späher aus der Siedlung? Liefen hier etwa noch mehr herum?

Gespannt blieb Ferlan in seinem Versteck.

Die Person war nur noch wenige Meter von ihm entfernt und zur Hälfte von ein paar Bäumen verdeckt.
 

Das Rascheln des Laubes und der Nadeln kam näher und Ferlan wurde immer unruhiger. Sollte er aus seinem Versteck hervor kommen und sich der Gestalt stellen? Unbewaffnet?

Ferlan zögerte. Er war kurz davor, aufzustehen und etwas zu sagen, als er endlich erkannte, wer der Unbekannte war: Tyrna!

Voller Anspannung saß Ferlan hinter dem Baum und wartete ab.

Was machte Tyrna hier? Hatte der Große Rat es sich anders überlegt und man suchte ihn nun, damit er wieder zurück durfte?

Ferlan unterdrückte ein Lachen. Weshalb sollten sie ihn wieder nach Hause lassen?! Es musste einen anderen Grund geben, weshalb Tyrna hier herumschlich.

Vorsichtig lugte Ferlan wieder hinter dem Baumstamm hervor.

Die Wolken, die den Mond und die Sterne die ganze Zeit verdeckt hatten, verzogen sich und im bläulich schimmernden Licht blitzte etwas in Tyrnas Hand auf. Etwas Silbernes. Etwas langes Silbernes...

Ferlan hielt die Luft an.

Jetzt war ihm klar, was sein Schwager hier suchte: Ihn - Ferlan!
 

~ * ~
 

Ferlans Gedanken rasten und fieberhaft dachte er nach, was er jetzt tun sollte. Fliehen? Tyrna würde ihm nachrennen.

Hier sitzen bleiben? Aber der Schwarzhaarige würde wohl sowieso nicht eher ruhen, bis er Ferlan gefunden hatte und ewig konnte er ihm nicht aus dem Weg gehen. Dafür war er noch zu nahe an der Siedlung.

Am besten würde er wohl Tyrna ansprechen und fragen, was er wollte. Zeit zum fliehen blieb ihm dann immer noch. Und wenn nicht...

Ferlan schüttelte die Gedanken ab und wartete, bis Tyrna ein Stück an dem Baum vorbei gegangen war. Er stand auf, lockerte seine angespannten Muskeln und kam hinter dem Stamm hervor.

Tyrna fuhr herum, als er die Schritte hinter sich hörte und blickte direkt in das wie versteinert wirkende Gesicht des Jüngeren.
 

Stumm stand Ferlan vor seinem Schwager, der im ersten Moment ziemlich überrascht drein gesehen hatte, sich aber angesichts der in seinen Augen nicht ernstzunehmenden Person wieder entspannte.

"Endlich..." Ein kaltes Lächeln zog sich über Tyrnas Gesicht. "Ich hab dich schon gesucht..."

"So..." Ferlan bemühte sich, wo gut es ging in einem ruhigen Tonfall weiter zu reden. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, aber er wollte Tyrna nicht zeigen, wie sehr er sich vor dieser Konfrontation fürchtete. "Jetzt hast du mich ja gefunden. Und nun?"

"Was ,Und nun'? Du wirst dir doch denken können, was ich hier will!" Tyrnas Augen verengten sich und das Lächeln um seinen Mund wurde noch etwas breiter.

"Natürlich weiß ich, weshalb du mir folgst", Ferlan machte einen Schritt nach hinten. Sicher war sicher. "Was ich gerne erfahren würde, ist, warum?"

"Das Urteil des Rates war viel zu mild für das, was du angerichtet hast! Was du uns angetan hast! Bedana, Melva und mir. Und Len, vor allem!" Tyrna hatte den Schritt, den sein jüngeres Gegenüber sich von ihm entfernt hatte, wieder aufgeholt.
 

"Denkst du, ich würde je vergessen können, was geschehen ist?! Für was hältst du mich? Ich kann seit dem Tag nicht mehr schlafen, nicht essen und ich denke auch nicht, dass sich das in der nächsten Zeit ändern wird!" rief Ferlan. Seine Verzweiflung schwang in seiner brüchigen Stimme mit, aber Tyrna merkte nichts davon, oder wollte es schlicht und einfach nicht merken.

"Du bist nur noch eine lästige Unannehmlichkeit, die beseitigt werden muss. Sonst nichts!" antwortete Tyrna überheblich. "Um deine Mutter tut es mir leid. Dass sie ausgerechnet auf diese Weise erfahren musste, was sie da großgezogen hat!"

Ferlan merkte, wie die Wut in ihm sich in Hass zu wandeln begann. "Leider hat sie ja noch immer nicht gemerkt hat, dass sie mit dir noch weitaus schlechter dran ist!"

Für Ferlans Wutausbruch hatte Tyrna nur Spott übrig. "Dein Pech, dass du dich nicht an die Anweisungen des Rates gehalten hast und noch immer hier bist... Aber gut für mich. Niemand wird je merken, dass du nicht weit gekommen bist!"

Tyrna hob den Dolch in seiner Hand hoch und strich mit den Fingern seiner freien Hand über die Klinge.

Noch bevor Ferlan reagieren konnte, schnellte Tyrna nach vorne, stieß den Dolch in Richtung des Jüngeren, aber Ferlan, der sich wieder gefasst hatte, reagierte endlich und wich dem Schwarzhaarigen im letzten Augenblick aus.
 

Ehe Tyrna sich wieder zu seinem Gegner herumdrehen konnte, hatte der ihm einen Schlag in den Rücken verpasst, der den Dunkelhaarigen zu Boden gehen ließ.

Der kleine Dolch entglitt der Hand des Älteren, flog durch die Luft und kam nicht weit von Tyrna entfernt auf dem Boden auf. Tyrna versucht nach dem Dolch zu greifen, aber Ferlan schnellte hervor, warf sich mit einem Schrei auf den auf dem Bauch liegenden Tyrna und griff sich die Waffe.

Tyrnas Rippen knackten bedenklich, als ihm sein Gegner ein Knie in den Rücken stieß.

Ferlan grub eine Hand in die Haare seines Schwagers, drückte dessen Kopf nach unten in den Waldboden und presste ihm die stumpfe Klingenseite des Dolches an die Kehle.

"Na, siehst du nun, wie schnell der Jäger zur Beute werden kann?!" zischte Ferlan atemlos.

Schweißperlen traten auf Tyrnas Stirn, als er sich in dieser misslichen Situation wieder fand. Vergeblich versuchte er seinen Kopf zu heben und Ferlan anzusehen, der rittlings auf seinem Rücken saß und dem größeren Tyrna damit alle Bewegungsfreiheit nahm.

"Lass mich gehen und ich lasse dich dafür am Leben!" knurrte Ferlan, als der Schwarzhaarige beharrlich schwieg.

Ein kehliges Lachen war die Antwort.
 

Ferlan stieß Tyrnas Kopf erneut in den Schmutz, was dieser mit einem unterdrückten Aufschrei quittierte.

"Du hast mich anscheinend nicht richtig verstanden!" Ferlan presste den Dolch - dieses Mal mit der scharfen Seite - noch etwas fester gegen den schutzlosen Hals seines Schwagers.

Mit Genugtuung nahm er dessen zunehmende Angst wahr. "Lass mich gehen und du siehst mich nie wieder! Ist es nicht das, was du wolltest?"

"Eigentlich nicht..." flüsterte Tyrna heiser. "Aber gut... Du kannst gehen..."

Misstrauisch wartete Ferlan noch ab, aber Tyrna bewegte sich kein Stück. Alles was man von ihm hören konnte, waren seine unregelmäßigen Atemzüge.

"Verschwinde endlich! Sonst überlege ich es mir noch anders!" stieß Tyrna ungeduldig aus.

Ferlan zweifelte, erhob sich aber schließlich doch, die Waffe immer auf den Rücken des Liegenden gerichtet.

So leichtsinnig, jetzt eine falsche Bewegung zu machen, wäre Tyrna sicher nicht. Er war schließlich völlig unbewaffnet, während Ferlan noch den Dolch hatte.
 

* * * * *
 

Tyrna atmete tief ein, als das Gewicht von seinem Rücken verschwand. Er drehte sich herum und setzte sich auf. Von unten herauf warf er Ferlan einen abwartenden Blick zu, der unbeweglich vor ihm stand und auf ihn hinab starrte.

Zitternd strich Tyrna über die noch schmerzende Stelle an seiner Kehle, wo bis vor wenigen Augenblicken noch der Dolch war. Er zog seine Hand wieder hervor und betrachtete sich das Blut, das auf seinen Fingerspitzen zurückgeblieben war. Er hatte Ferlan wohl unterschätzt.

"Keine Sorge, es ist nur ein Kratzer", sagte Ferlan mit einem Nicken zu den Händen seines Schwagers.

"Das hoffe ich für dich", murmelte Tyrna. Er schüttelte sich ein paar Blätter und Tannennadeln aus den Haaren und wollte aufstehen.

"Bleib dort sitzen, bis ich weg bin!" wurde er von Ferlan in seinem Tun unterbrochen. Drohend hielt der Blonde seinem Gegenüber den Dolch vor die Nase.

"Wie du meinst." Das Gesicht des Dunkelhaarigen bekam einen zufriedenen Ausdruck. Regungslos sah Tyrna Ferlan zu, wie der sich rückwärts von ihm entfernte.

Gebannt starrte der Ältere auf Ferlans Füße. Er hob den Kopf und sah den blonden jungen Mann an. Ein Grinsen zog sich über Tyrnas Gesicht.

Irritiert durch das Mienenspiel des Schwarzhaarigen, achtete Ferlan nicht mehr weiter auf den Weg und kam ins Straucheln.

Tyrna ergriff die Gelegenheit und trat von der Seite her gegen Ferlans Knie.

Ferlan knickte ein und Tyrna schnellte flink nach vorne und trat noch einmal zu.

Äste knackten und Laub wirbelte umher, als Ferlan zu Boden fiel.
 

"Du dummes, naives Kind!" lachte Tyrna gehässig. Er saß auf dem am Boden liegenden Ferlan und hatte dessen Hand mit dem Dolch gepackt. Mit einem heftigen Stoß nach hinten, entwand er dem Jüngeren das Messer. "Vielleicht hätte ich dir statt dem Umgang mit Waffen, den richtigen Kampf Mann gegen Mann beibringen sollen!"

"Warum kannst du mich nicht einfach gehen lassen?" schrie Ferlan.

"Weil ich dann nie Ruhe finden könnte, wenn ich wüsste, dass du irgendwo da draußen bist!" Tyrna spie die Worte förmlich aus. "Irgendwann würdest du wieder zurückkommen!"

"Bestimmt nicht!" stritt Ferlan ab. "Nicht so lange es dich noch gibt!"

Tyrnas Gesicht verzog sich unmerklich. Schneller als Ferlan reagieren konnte, hob er den Arm mit dem Dolch in der Hand.

Die Klinge sauste hinab und bohrte sich dicht neben Ferlans Kopf in den Waldboden.

Schockiert sah Ferlan seinen Schwager an. Hatte er Tyrnas Worte die ganze Zeit nur als Warnung abgetan, wusste er nun mit Sicherheit, dass der Schwarzhaarige ihn wirklich töten wollte und wohl erst Frieden geben würde, wenn einer von ihnen seinen letzten Atemzug getan hatte.

"Der nächste Schlag geht nicht mehr daneben!" zischte Tyrna bedrohlich. Er begann zu grinsen, hob die Hand zum nächsten Angriff - und sank mit einem Stöhnen über Ferlan zusammen.
 

~ * ~
 

Ferlan ließ den Stein fallen, mit dem er Tyrna niedergeschlagen hatte und versuchte, sich von dem schweren Körper seines Schwagers zu befreien. Er rutschte unter dem Arm des Dunkelhaarigen drunter durch und warf dessen schlaffen Körper herum.

Nach Atem ringend kniete Ferlan neben dem leblos scheinenden Tyrna, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag und sich nicht mehr rührte. Blut rann ihm aus einer langen Platzwunde an der linken Schläfe hinab und versickerte im Ansatz seiner schwarzen Haare.

Hatte er Tyrna umgebracht?

Ferlan wollte aufspringen und davon laufen, aber das Gewissen, über das Tyrna sich immer lustig gemacht hatte, hielt den jungen blonden Mann von seinem Vorhaben ab.

Widerstrebend beugte er sich zum Oberkörper des Dunkelhaarigen herab und presste sein Ohr gegen Tyrnas Brustkorb, der sich noch minimal hob und senkte. Das Herz schlug auch noch. Tot war Tyrna also nicht.

Erleichtert richtete sich Ferlan wieder auf und fuhr sich über seine Stirn. Er konnte Tyrna wohl schlecht hier sterben lassen.

Ferlan sah sich um.

Sie waren zwar nicht allzu weit vom Dorf entfernt, aber bis man Tyrna am nächsten Morgen finden würde, wäre er sicher schon verblutet oder an einer Unterkühlung gestorben.

"Eigentlich hättest du es gar nicht anders verdient, als hier im Wald zu verrecken!" stieß Ferlan verärgert aus.

Tyrna war hergekommen, um ihn umzubringen und nun schaffte er selbst es nicht einmal, den Mann, der ihm fast das Leben genommen hatte, auch seinem Schicksal zu überlassen...
 

"Du kannst den Göttern danken, dass du eine Familie hast!" fluchte Ferlan weiter, während er den Schwarzhaarigen nach Waffen und anderen Habseligkeiten absuchte und die gefunden Sachen - ein paar Münzen und eine winzige Bronzefigur - in seine eigene Tasche steckte.

Mit fliegenden Fingern löste Ferlan Tyrnas Gürtel mitsamt der Hülle des Dolches und wand ihn sich um seine eigene Hüfte.

Hastig und den wie schlafend Daliegenden dabei nicht aus den Augen lassend, kroch Ferlan auf allen Vieren über den Waldboden, auf dem sie gerade eben noch gekämpft hatten und durchwühlte ihn, bis er das kühle Metall des Dolches unter seinen Fingerspitzen spürte. Er säuberte ihn von Blättern und Schmutz und steckte ihn schnell ein.

"Tyrna!" Ferlan rüttelte den Bewusstlosen an den Schultern, um ihn wach zu bekommen. "Tyrna!" rief er noch einmal etwas lauter, doch es nützte nichts.

Der schwarzhaarige Hüne blieb stumm.
 

Ferlan gab nicht nach und rüttelte den Älteren, bis er endlich die Augen aufschlug.

"Was - was tun wir hier...?" flüsterte Tyrna erstickt. Er verdrehte die Augen und sank kopfüber auf den Waldboden.

Wieder begann Ferlan damit seinen Schwager wach zu bekommen.

"Tyrna", sagte Ferlan, als der Dunkelhaarige zum wiederholten Male etwas zu Bewusstsein kam. "Komm, wir müssen ins Dorf zurück."

Ohne Protest ließ Tyrna zu, dass Ferlan ihm auf die Beine half. Er schien von dem Vorgefallenen nichts mehr zu wissen.

Einen Arm um die Schultern des blonden jungen Mannes gelegt, folgte er diesem mit wackeligen Schritten durch den Wald.

Nur schleppend langsam näherten sich die beiden Gestalten einer Lichtung, die in der Nähe der Siedlung lag.

"... Ferlan... nicht so schnell..." Tyrnas Beine gaben nach. Er versuchte noch, sich am Hemd seines Begleiters festzukrallen, aber die Ohnmacht war stärker.

Tyrnas Körper sank auf der Stelle zusammen, an der sie gerade standen und Ferlan, der den Größeren noch im Arm hatte, wurde unweigerlich von dessen Gewicht mitgerissen.

"So ein elendiger Mist!" schrie Ferlan wütend. Sie waren jetzt zwar näher als eben, aber noch immer nicht nah genug, dass man Tyrna rechtzeitig finden würde.

Ferlan wischte sich über seine Stirn, die schweißnass glänzte. Müde blickte er sich um und wartete auf eine Idee, die ihn und Tyrna aus dieser Situation befreite.

Es dauert nicht lange und Ferlan wusste was zu tun war.
 

~ * ~
 

Die Häuser, in denen noch Licht brannte, meidend, schlich Ferlan im Zickzackkurs durch seine alte Siedlung, bis er an seinem Ziel ankam.

Ratlos stand Ferlan vor der Hütte seines Freundes. Alle Türen waren verschlossen und von innen verriegelt und bei den Fenstern war es nicht anders. Bis auf eines...

Der Holzladen vor Aredhs Zimmer stand einen Spalt breit offen.

Warum sollte er es nicht einmal so versuchen, wie Aredh und einfach durch das Fenster in die Hütte eindringen?! Ferlan unterdrückte das Lachen, das in seiner Kehle aufstieg.

Noch ein letztes Mal sah er sich prüfend um und lauschte in die Stille, dann wand er sich dem Fenster zu.

Ferlan bemühte sich, den nur angelehnten Fensterladen so leise wie möglich zu öffnen. Er zog sich am oberen Teil des Holzrahmens hoch, schwang die Beine durch die Öffnung des Fensters und schlüpfte ins Zimmer seines Freundes.

"Aredh?"
 

Aredh lag in seinem Bett und hatte schon fest geschlafen, als die leise Stimme ihn ansprach. Müde wollte er sich auf die andere Seite drehen, wurde aber an der Schulter zurückgerissen.

"Wie kann man nur so fest schlafen?" Ferlan kniete neben dem Bett seines Freundes und piekte dem Schlafenden einen Finger in die Wange.

Ein widerwilliges Grummeln war die Antwort und Ferlan musste sich ducken, als Aredhs Hand zwecks Beseitigung des Störenfriedes nur wenige Zentimeter an seinem Gesicht vorbeisauste.

Genervt sah Ferlan zu, wie Aredh sich wieder auf die andere Seite drehte und friedlich weiter schlief, ohne auch nur ein Lid gehoben zu haben.

"Los, du Faulpelz! Mach endlich die Augen auf!" Ferlan kniff seinem Freund nun feste in den Oberarm, bis dieser mit einem Schrei auffuhr.

Aredh fuhr sich mit einer Hand durch sein verwuscheltes Haar und sah sich im düsteren Zimmer um. Seine Blicke blieben an dem jungen Mann hängen, der auf seiner Bettkante saß und ihn angrinste. Selbst im Halbdunkel waren die Umrisse und das blonde lange Haar unverkennbar. "Fer..."

Noch ehe Aredh ausgesprochen hatte, hatte sich eine Hand auf seinen Mund gelegt und erstickte den freudigen Ausruf.

"Es schmeichelt mir, dass du noch weißt wer ich bin", Ferlan ließ Aredhs Mund frei.

"Was machst du hier? Du solltest doch schon längst weg sein, oder nicht?" flüsterte Aredh. Gähnend setzte er sich in seinem Bett auf und streckte sich.

"Dank Tyrna musste ich meine Reise unterbrechen..."
 

Irritiert schüttelte Aredh seinen Kopf. "Tyrna?"

"Er ist draußen, nicht weit von der Siedlung", Ferlan stand auf und sah auf den im Bett Sitzenden hinab, der ihm aufmerksam zuhörte. "Tyrna ist mir gefolgt und wollte mich töten, aber ich bin ihm zuvor gekommen."

Aredh erbleichte. "Ist - ist er tot?"

"Nein, obwohl er es schon auf eine Weise verdient hätte", Ferlan lachte kurz auf. "Tyrna liegt etwas weiter im Wald. Bis hierher konnte er noch etwas laufen, aber jetzt ist er wieder bewusstlos. Du musst mit mir kommen! Alleine kann ich ihn nicht bis in die Siedlung tragen."

"Kann ich mich vorher noch anziehen?" machte Aredh seinen Freund grinsend auf sein Leichtbekleidetes Äußeres aufmerksam.

"Ich halte dich sicher nicht davon ab", Ferlan griff nach Aredhs Hose, die neben dem Bett lag und warf sie dem Wartenden entgegen.

Nervös wartete Ferlan, bis Aredh schließlich fertig mit ankleiden war.
 

* * * * *
 

"Wo ist Tyrna denn?" fragte Aredh Ferlan, als sie nebeneinander durch die ruhige Siedlung liefen.

Ferlan legte seinen Finger auf den Mund und bedeutete Aredh still zu sein, bis sie in sicherer Entfernung zu den Häusern waren.

Schweigend folgte Aredh Ferlan über den Hügel, der die Siedlung wie ein Schutzwall umgab

Als sie schließlich an einer kleinen Lichtung ankamen, deutete Ferlan zu einem dunklen Fleck, der sich gegen das hellere Gras abhob. "Da hinten ist er."

"Na dann los!" Aredh verschränkte seine Hände ineinander und bog sie nach außen, bis die Gelenke seiner Finger knackten. "Bringen wir das Riesenbaby zurück, wo es herkam!"

Ferlan lachte leise, bei Aredhs Umschreibung des großen hünenhaften Mannes, der wie ein Häufchen Elend vor ihnen auf der feuchten Wiese lag und noch immer keine Regung zeigte.

Aredh fasste Tyrna unter einer Achsel und wartete, bis es Ferlan auf der anderen Seite gleich tat. Zusammen richteten sie den Schwarzhaarigen auf, brachten ihn unter größter Anstrengung einigermaßen auf die Beine und schleiften den Halbbewusstlosen hinter sich her zur Siedlung.
 

"Wohin?" fragte Aredh.

"Keine Ahnung!" Ferlans verbissenes Gesicht verriet seine Mühe, den schweren Körper dorthin zu bugsieren, wo er hin sollte.

"Es reicht wohl, wenn wir ihn zur großen Scheune am Eingang bringen. Dort ist es warm und morgen früh könnte ich ihn zufällig dort ,finden'." Aredh stolperte über ein paar Äste und landete mit dem Hünen fast ihn einem Graben.

"Ja, besser als nichts. Und bevor ihr Beide euch noch die Knochen bricht, liefern wir den Guten einfach dort ab." Ferlan wartete, bis Aredh wieder sicher auf seinen Füßen stand. "Wenigstens hat die Blutung an seinem Kopf nachgelassen."

An der Scheune angekommen, in der die Heu- und Futtervorräte für die Tiere lagerten, stieß Aredh mit seinem Fuß das Tor auf und trat mit Ferlan und ihrer Fracht ein.

Sie warfen Tyrna gleich neben den Eingang in einen Haufen Heu, versicherten sich, dass er auch nicht allzu sehr im Kalten lag, und verschwanden dann wieder.

Ferlan drückte das Tor der Scheune halb zu und wandte sich dann an Aredh, der neben ihm stand.
 

"Geschafft", sagte Aredh grinsend und nickte zur Scheune.

Ferlan lächelte schief. "Zum Glück." Er rückte seine Kleidung zurecht und legte Aredh einen Arm auf die Schultern. "Zeit, zum gehen."

"Einverstanden!" Aredh ließ Ferlan stehen und marschierte Richtung Dorfausgang.

"Ich meinte mich!" rief Ferlan hinter seinem Freund her. Als Aredh nicht auf sein Gesagtes einging, rannte Ferlan dem Verschwindenden nach.

"Das weiß ich doch", sagte Aredh, als Ferlan neben ihm ankam. "Ich wollte nur noch ein Stück weit mitkommen."
 

* * * * *
 

"Wieso warst du überhaupt noch hier im Wald?" Aredh sah zu Ferlan, als sie auf ihrem alten Aussichtspunkt am Rande des Tals saßen.

Ferlan zuckte mit den Schultern. Warum eigentlich? Weil er hier über zwanzig Jahre gelebt hatte? Weil alles, was er hatte noch immer hier war?

"Schon gut. Wahrscheinlich wäre ich auch nicht weiter gegangen", Aredh klopfte Ferlan verständnisvoll auf den Arm. "Dass Tyrna allerdings so schnell keinen Frieden gibt, war abzusehen, aber dass er dafür auch einen Verwandten töten würde..." murmelte Aredh bestürzt.

"Ich habe schon so viele verschiedene Seiten von Tyrna kennen gelernt, dass es mich irgendwie nicht verwunderte, als er im Wald auftauchte."

Aredh nickte zustimmend. "Und jetzt bringst du denjenigen, der dich von hier vertrieben hatte und sogar töten wollte, zurück, wo du eigentlich hingehörst. Hier, wo deine Familie ist, deine Freunde... Und jetzt, wo Tyrna wieder in der Siedlung ist, gehst du wohl endgültig, oder?"

Prüfend sah Ferlan seinen Freund an. Worauf wollte Aredh hinaus?
 

Aredh wich Ferlans Blicken aus und rupfte konzentriert die Grashalme neben sich aus.

"Danke, Aredh, dass du immer bei mir warst, wenn es nötig war", begann Ferlan das Gespräch. "Und das war sehr oft der Fall", fügte er hinzu, als er sich an Tyrnas Bevormundungsversuche der vergangenen Jahre erinnerte.

Aredh wand sein Gesicht dem Redenden zu, schwieg aber auch weiterhin.

Ferlan biss sich auf die Unterlippe. Gerne hätte er Aredhs stummes Angebot, ihn zu begleiten, angenommen, aber es wäre nicht fair. Weder den anderen im Dorf gegenüber, denen er so viel Leid beschert hatte, noch Alinor und dem Großen Rat, die das Urteil gerecht gefällt hatten.

Und am wenigsten wäre es Enree gegenüber gerecht, der auf die Hilfe seines Sohnes nicht verzichten konnte - körperlich und auch seelisch würde es der alte kranke Mann niemals verkraften, seinen Sohn nicht in seiner Nähe zu wissen.

Aredh senkte seinen Kopf. Beim Anblick des gepackten Bündels mit dem Essen und den anderen Sachen, das sie mittlerweile aus dem Versteck geholt hatten, wurde ihm wieder einmal bewusst, dass der Abschied für eine längere Zeit sein könnte. Dass er seinen Freund, den er schon aus Kindertagen kannte, nun endlich loslassen musste. Für immer, im schlimmsten Fall...
 

"Wir sehen uns bestimmt irgendwann wieder", sagte Ferlan, als hätte er die Gedanken seines Freundes gelesen. Ermutigend stieß er Aredh den Ellbogen in die Seite und versuchte ein Lächeln. "Bis es aber soweit ist, ist dein Platz hier bei Enree und Cal."

Aredh nickte schweigend.

Ein letztes Mal noch beobachteten Aredh und Ferlan gemeinsam, wie sich der Himmel rosa zu färben begann.

So vielen Morgendämmerungen hatten sie schon von hier aus beigewohnt, sich unterhalten, gelacht und auch schon des Öfteren geweint.

Selbst wenn sich ihre Wege nun trennen würden, die Erinnerung an all diese Erlebnisse konnte ihnen niemand nehmen.

Aredh atmete tief ein und erhob sich von seinem Platz. Er wartete bis Ferlan ebenfalls aufstand und schloss ihn in die Arme.

"Ich bin froh, dass ich zweimal die Gelegenheit hatte, dir auf Wiedersehen zu sagen", sagte Aredh. Er packte Ferlan an den Schultern und betrachtete sich ihn ganz genau - versuchte sich alles einzuprägen und nie mehr zu vergessen.

Ferlan nickte. "Deinen eigenen ganz persönlichen Abschied war ich dir noch schuldig. Du bist immerhin mein bester Freund."

Bevor die Situation noch schlimmer wurde, ließ Aredh Ferlan los, winkte ihm endgültig ein letztes Mal zu und trat auf den Waldrand zu.
 

Stumm stand Ferlan nach Aredhs Verschwinden da und sah weiter zu, wie der Morgen hereinbrach, aber seine Augen sahen ins Nichts. Sie registrierten nicht mehr die Schönheit des Waldes. Seine Ohren waren taub für den Gesang der Vögel.

Alles, was er wahrnahm, waren Bäume, ein endlos weiter Himmel und eine alles verzehrende Einsamkeit, die sein zukünftiger Begleiter sein würde.

Wehmütig blickte Ferlan zurück zu den Spitzen der Bäume, die seine Siedlung umgaben. So schmerzhaft wie gestern, war es nicht mehr. Das Erlebnis mit Tyrna in der vergangenen Nacht, hatte ihm den Abschied leichter gemacht.

Im Wald hatte er eine Chance zu überleben - Hier, unter den Augen so Vieler, die ihm den Tod wünschten, nicht...

Ferlan blickte hinauf zum Himmel.

Weiter östlich, wo die Wolkendecke im Morgengrauen nun bereits golden schimmerte, zogen ein paar Falken ihre Kreise.

Mit einem leisen Seufzen schulterte Ferlan die Decke, in die er seine wenigen Habseligkeiten eingewickelt hatte und machte sich auf den Weg Richtung Osten - in seine neue Heimat.
 

~ * Ende - Kapitel 7 * ~

Anam Cara - Seelenfreunde

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Anam Cara - Seelenfreunde (zensiert)

Warnung: Keine. Alles ist nahezu klinisch rein. :)
 


 

Ein Niesen und missmutiges Raunen erklang zwischen ein paar gefüllten Leinensäcken hervor, die an der morschen Holzwand der Scheune lehnten.

Das kleine Mädchen, das über den Boden des nach Tieren und Heu riechenden Raumes krabbelte, hielt kurz inne, entfernte die Spinnenweben aus seinen dunklen Haaren und kroch gleich darauf wieder weiter über den knarrenden Dielenboden.

"Was tust du denn da, Melva?" Bedana, die auf der Suche nach ihrer Tochter auch in dem ehemaligen Stall nachgesehen hatte, hob ihre kleine Tochter von der staubigen Erde und zupfte ihr ein paar Strohhalme aus dem verwuschelten Haar.

Ungehalten wich Melva mit dem Kopf den geschäftigen Händen ihrer Mutter aus und blickte stur zu Boden.

"Willst du mir denn keine Antwort geben?" Bedana legte ihre Hand unter Melvas Kinn und hob es etwas in die Höhe, bis Melva die Augen endlich für wenige Sekunden vom Boden abwandte und sich ihre Blicke mit denen ihrer Mutter trafen. "Warum kriechst du hier in diesem alten Bretterverschlag herum?"

Melvas Lippen bildeten zwei dünne Striche, als sie sie fest aufeinander presste. Mit einer ihrer kleinen Fäuste wischte sie sich über die schmutzigen Wangen und versteckte ihre andere Hand hinter ihrem Rücken. Als hätte sie die Frage ihrer Mutter nicht verstanden, schwieg das Mädchen beharrlich.

"Du wirst noch die ganzen Mäuse verjagen, wenn du hier herum stöberst", versuchte Bedana ihre schweigende Tochter aufzuheitern, deren konzentrierte Blicke bereits wieder suchend über den Stallboden huschten. Doch Melva ignorierte ihre Mutter auch weiterhin völlig.

Jetzt erkannte Bedana die Ernsthaftigkeit hinter dem Tun des Mädchens. Es war wohl kein Spiel, das Melva hier in den alten Schober geführt hatte. "Suchst du etwas? Ich helfe dir, ja?", schlug Bedana versöhnlich vor und sah sich nun ihrerseits in dem düsteren Stall um.

Melva schüttelte nur verneinend ihren Kopf. Sie streckte ihre kleine Hand Bedana entgegen und öffnete sie. Ungefähr zehn Glasperlen kullerten über die schmutzige Handinnenfläche des Mädchens und kamen in deren Mitte zum Liegen.

"Es sind keine mehr da!", stieß Melva mit eisiger Stimme hervor. "Ferlan hat die anderen. Und..." Melvas Augen schimmerten wässrig und sie schniefte kurz, ehe sie weiter reden konnte. "Und... und... er hat vergessen, sie mir wieder zu geben..."
 


 

In der kommenden Nacht saß Bedana im Wohnraum ihrer kleinen Hütte auf einem Stuhl vor dem Kamin. Schlafen wollte sie nicht und das Nachdenken über das Geschehene war zu zermürbend. Um alldem zu entgehen, hatte es sich die junge Frau vor der Feuerstelle gemütlich gemacht und arbeitete im angenehm golden schimmernden Licht der prasselnden Glut.

Irgendwann weckte Bedanas Schaffen auch Tyrnas Interesse. Er verließ seinen eigenen Sitzplatz und ging hinüber zu seiner Frau. Tyrna beugte seinen Oberkörper etwas nach vorne, um Bedana über die Schulter schauen zu können.

"Du nähst?", wollte Tyrna wissen. "Was wird es denn?"

Bedana zog den Faden, mit dem sie gerade die letzte Glasperle befestigt hatte, glatt und riss den überflüssigen Teil davon ab. Dann gab sie ihr Werk an Tyrna weiter.

Tyrna nahm den kleinen Lederschlauch von seiner Frau entgegen und blickte ratlos auf das wirre Muster der vielfarbigen Fäden. Selbst nach genauem Hinsehen konnte er in den ungeordneten Fadenschlingen kein richtiges Motiv erkennen.

"Du musst es erst wieder auf Rechts drehen", erklärte Bedana.

Der Mann nickte und befolgte die Anweisung seiner Frau. Tyrna wendete das momentane Innenleben der Tierhaut nach Außen, strich das kunstvoll bearbeitete Leder etwas glatt und besah sich Bedanas Werk von der richtigen Seite aus.

Es war eine Hülle - eine Schwerthülle, wie sie die erwachsenen Krieger am Gürtel trugen, nur war diese hier ein erhebliches Stück kleiner und schmäler, als die, für die normalgroßen Schwerter.

Tyrna staunte nicht schlecht, als er die Vorderseite der Schwerthülle sah. Bedana hatte mit bunten Fäden einen springenden Hirsch darauf gestickt. Den Kopf mit dem siebenendigen Geweih hielt das Tier stolz in die Höhe gereckt und blickte den Betrachter mit seinen kleinen honigfarbenen Bernsteinaugen furchtlos an.

Alles wurde von einem knappen Dutzend erbsengroßer Glasperlen eingerahmt, den Glasperlen eben jener Kette, die Ferlan Melva geschenkt hatte und mit deren Suche das kleine Mädchen den vergangenen Vormittag zugebracht hatte.

"Für Melvas Holzschwert", flüsterte Bedana erstickt. Sie hätte Tyrna gerne den wahren Hintergrund dafür erklärt, dass Ferlan es für wichtig gehalten hatte, dass Melva ebenso kundig im Schwertkampf wurde, wie es für den männlichen Nachwuchs in ihrer Siedlung schon selbstverständlich war, aber Bedana brachte kein Wort mehr hervor.

Jetzt, nach dem Überfall auf ihre Siedlung, wusste Bedana nur zu gut, was ihr Bruder damit gemeint hatte. Melva durfte später nicht auch irgendwo hilflos im Wald hocken, wenn ihr Dorf angegriffen wurde - nicht so, wie sie, Bedana, es damals hatte tun müssen.

Niemals dürfe ihre kleine Tochter sich ebenso ohnmächtig fühlen, wenn man ihre Familie, ihre Freunde, ihre Herkunft und ihre Zukunft bedrohte.

Nie!

Nie wieder...
 

Die Konturen des tänzelnden Hirsches verschwammen und die bunten Farben mischten sich miteinander. Die Tränen, die Bedana die ganze Zeit so mühsam zurückgehalten hatte, strömten nun ungehemmt aus ihren Augen und tropften auf die Lederhülle hinab.

Tyrna zog Bedana in seine Arme und tröstete seine weinende Frau. Er wartete kurz und sagt dann: "Der Hirsch ist wirklich wunderschön. Melva wird sicher genauso aufrecht und weise handeln, so wie er." Tyrna strich Bedana beruhigend über das Haar, deren Weinkrampf unter den sanft streichelnden Händen ihres Mannes bald wieder abebbte.

"Aber etwas ist noch falsch", warf Tyrna plötzlich leise ein. "Kann man die Schwerthülle ein wenig vergrößern?"

Bedanas Tränen versiegten bei den unerwarteten Worten ihres Mannes und sie sah ihn entgeistert an. Wie konnte er jetzt so etwas sagen?!

Tyrna zeigte auf die Lederhülle, die noch auf Bedanas Schoß lag. "Geht das?", fragte er nach, als er außer einem fragenden Blick von seiner Frau, nichts als Antwort bekam. "Sie ist zu klein."

"Wieso zu klein?" Bedana konnte mit der Kritik ihres Mannes nicht viel anfangen. "Ich habe sie genau abgemessen. Mehrmals sogar", rechtfertigte sie sich. Bedana wollte aufstehen und das Holzschwert nehmen, um ihrem Mann zu beweisen, dass sie sich nicht in der Größe geirrt hatte, aber Tyrna zog Bedana wieder zurück auf ihren Sitzplatz.

Tyrna lächelte wissend und verunsicherte Bedana damit noch mehr.

Seit man Tyrna vor einigen Tagen mit einer Platzwunde an der Stirn schlafend im großen Heuschober vom alten Rhojar gefunden hatte, verhielt sich der Stammesführer ungewöhnlich still, im Gegensatz zu früher. Er hatte kein Wort darüber verloren, was in jener Nacht vor sich gegangen oder wie er in den Stall gekommen war, aber dahinter verbarg sich ohne Zweifel mehr, als Tyrna vor den anderen zugeben wollte.
 

"Ich habe bei Cal ein kleines Übungsschwert für Melva in Auftrag gegeben", verriet Tyrna nun sein gut gehütetes Geheimnis. Freudig sah er zu, wie sich Bedanas gerunzelte Stirn entspannte und die Frau das erste Mal seit langer Zeit nicht mehr so traurig vor sich hin blickte.

Und Tyrna hatte noch mehr auf Lager. "Du und Melva könnt hingehen, wann ihr wollt und aussuchen, wie das Schwert werden soll. Cal wartet so lange", platzte es schließlich aus ihm heraus.

Bedana schlug sich die Hände vor den Mund, um den Freudenschrei zu unterdrücken und damit nicht Melva aufzuwecken, die nebenan schlief. "Woher nimmt Cal das Material?", flüsterte Bedana und rückte dabei näher zu ihrem Mann. "Ich dachte, es gäbe im Moment nichts mehr, was man zu Waffen verarbeiten könnte?"

"Das Meiste stammt von Resten, die Cals Vater noch in der Schmiede hatte und von den Kriegern hat auch jeder etwas dazu gegeben", gestand Tyrna und musste sich im gleichen Augenblick an der Stuhllehne festhalten, um nicht von Bedana zu Boden geworfen zu werden, die ihm stürmisch um den Hals fiel.

"Das kann nicht sein! Wirklich?!", rief Bedana überglücklich. "Und wer wird Melva unterrichten? Du?"

"Das wäre nicht gut", verneinte Tyrna und lächelte schief. "Ich verstehe wohl nicht sonderlich viel davon, meine Schüler zu motivieren..."

"Wer dann?", wollte Bedana aufgeregt wissen.

"Aredh", antwortete Tyrna. "Ich dachte, dass er das vielleicht übernehmen könnte. Er ist sicher der Richtige dafür. Er hat Geduld und genug Erfahrung."

Bedana sah ihren Mann kopfschüttelnd an. Für sie klang das Gesagte eher nach einem Scherz. "Aber was ist mit der Initialisierung? Wollte Aredh dieses Jahr nicht dabei sein?"

Tyrna zuckte resigniert mit den Schultern. "Aredh hat schon abgelehnt. Er will nicht am Ritus teilnehmen. In diesem Jahr nicht und später auch nicht..."

"Oh", hauchte Bedana überrascht. Durch die jahrelange Freundschaft ihres Bruders zu Aredh hatte sie von Anfang an mitbekommen, wie sich Beide auf diesen Ritus, der sie auch offiziell endgültig in die Erwachsenenwelt einführen sollte, gefreut hatten. Umso weniger verstand Bedana jetzt Aredhs Abweisung. "Warum nicht?"

"Ich weiß es nicht", Tyrna hob bedauernd die Achseln. "Er hätte den Ritus ohne Probleme geschafft, alle Aufträge und Übungen hat er mit Leichtigkeit bestanden." Tyrna machte eine kleine Pause, bevor er mit Erzählen fortfuhr. "Aredh hat zur Zeit einfach keine Lust, sich an irgendwelchen Dingen zu beteiligen, fürchte ich. Er weiß wohl nicht so recht, wohin er soll und ehe er noch auf die Idee kommt, das Dorf ganz zu verlassen, muss er beschäftigt werden."

Bedana nickte verstehend. "Der Verlust wäre groß - für uns alle."

"Eben", stimmte Tyrna leise zu. Jedes weitere Mitglied, das ihren Stamm verließ, fehlte an mindestens zwei Stellen, die in Krisenzeiten wie jetzt ausgefüllt werden mussten. Die ganze Siedlung wäre gefährdet; ihr Schutz, ihr Fortbestand. "Deswegen dachte ich auch, dass er Melvas Ausbildung in die Hand nehmen könnte. Nur, wenn du einverstanden bist."

"Sicher bin ich einverstanden!", betonte Bedana noch einmal. "Hast du Aredh schon gefragt?"

Tyrna verneinte mit einem knappen Kopfschütteln. "Noch nicht. Ich wollte erst wissen, was du davon hältst."

"Vielleicht bekommt Aredh durch die Arbeit mit Melvas Ausbildung selbst irgendwann wieder Interesse an den Kriegern", sinnierte Bedana.

"Das gleiche dachte ich mir auch schon, aber wir sollten noch abwarten, ehe wir uns darüber Gedanken machen und uns vorschnell freuen", seufzte Tyrna. "Aredh ist momentan schwer einzuschätzen."
 


 

Endlich war es soweit und Melva bekam ihr Schwert. Sie und Tyrna kamen gerade von der Schmiede und waren nun auf dem Heimweg.

Mit vor Stolz geröteten Wangen trug Melva die Übungswaffe auf dem Arm und ihre grauen Augen glitzerten mit der auf Hochglanz polierten Klinge um die Wette.

Es war ein wirklich kleines Schwert, etwa so lang wie der Unterarm eines Erwachsenen gemessen vom Ellenbogen bis zum Handgelenk, und das Material der Waffe war auch nicht ganz so rein, wie üblich, doch das kleine Schwert mit den ungeschliffenen Kanten erfüllte seinen Zweck zur Genüge. Mehr als die richtige Haltung und die Handhabung zum Angriff und zur Abwehr, musste Melva noch nicht beherrschen.

So vorsichtig, als handele es sich um etwas Zerbrechliches, hielt Melva den gefurchten Schwertgriff in ihren kleinen Kinderhänden.

Die Ornamente, die den oberen Teil des Hefts schmückten, zeigten wieder den Hirschgott mit dem siebenendigen Geweih, der auch schon die Schwerthülle zierte. Er thronte inmitten einer Vielzahl anderer Waldbewohner, die sich rund um die schlanken Beine des Tieres tummelten und zu ihm aufschauten.

"Ist es dir zu schwer?", befragte Tyrna seine Tochter, die sich sichtlich mit dem ungewohnten Gewicht ihrer neuen Errungenschaft abmühte.

"Nein", erwiderte Melva. Sie straffte die Schultern und lächelte ihren Vater tapfer an. "Ich packe es."

Tyrna musste über den Eifer des kleinen Mädchens schmunzeln. "Gut."

"Ich zeige es Mami!", rief Melva tatendurstig und rannte zu ihrem Haus.

"Nein, Melva!" Tyrna setzte flink seiner Tochter nach. Kurz vor der Eingangstür hatte er die davonstürmende Melva eingefangen. "Lass Mami ein wenig in Ruhe", ermahnte er seine störrische Tochter und nahm dem Mädchen die Übungswaffe aus der Hand.

"Aber sie hat das Schwert doch noch gar nicht gesehen!", protestierte Melva und wollte sich aus dem Griff ihres Vaters befreien.

Doch Tyrna gab nicht nach und hielt die sich sträubende Melva fest auf dem Arm. "Mami ist müde. Du kannst später immer noch zu ihr gehen."

Melva verschränkte die Arme vor ihrer Brust und verzog ihren kleinen Mund zu einer trotzigen Schnute.

"Soll ich dir zeigen, wie man mit dem Schwert pariert?", versuchte Tyrna seine Tochter umzustimmen.

Melva vergaß gleich ihren Ärger. Ihre Augen wurden groß wie Wagenräder und sie begann, auf dem Arm ihres Vaters zu zappeln. "Jetzt? Sofort?", krähte sie unternehmungslustig.

"Natürlich jetzt." Tyrna ließ die vor Vorfreude strampelnde Melva zu Boden. "Wenn Aredh morgen kommt, dann weißt du auch schon, wie man das Schwert richtig hält."
 


 

"Tyrna..."

Nur ungern unterbrach Tyrna die vorgezogene Lehrstunde in Schwertführung, die er seiner Tochter gerade beizubringen versuchte und sah den hinzugekommenen jungen Mann dementsprechend mürrisch an.

"Aredh?! Wir haben dich erst morgen erwartet", wandte sich Tyrna an den jungen Mann, der am Rande des kleinen Hofes stehen blieb, ohne näher zu kommen. "Du solltest doch beim Aussichtspunkt sein."

"Ich weiß." Aredh schaute zu Melva, die noch mit dem Bestaunen der Schwertklinge beschäftigt war, und gab Tyrna schnell ein Zeichen, zu ihm hinüber zu kommen. Aredh wartete, bis der Stammesführer bei ihm war und berichtete, weswegen er störte. "Ich komme gerade vom Tal und es wäre gut, wenn du mitkommst und es dir auch ansiehst."

"Sag, was los ist und hör auf, um alles drumherum zu reden, als wäre ich ein Kind!", rief Tyrna verärgert.

"Wir bekommen Besuch."

"Wer ist es?" Tyrnas Augen verdunkelten sich. "Wieder Fremde? Krieger etwa?", zischte er Aredh zu.

Aredh schüttelte den Kopf. "Es ist Uisvan. Er ist mit einigen seiner Leute auf dem Weg hierher und er hat -"

"Sind sie bewaffnet?", unterbrach Tyrna Aredh alarmiert.

"Nein, so weit wir das gesehen haben, nicht." Aredhs angestrengte Mimik veränderte sich ins Gegenteil. "Sie haben Tiere dabei."

Der alleine gelassenen Melva wurde es zu langweilig. Sie schlenderte zu den beiden redenden Männern, denn dort schien es bei weitem interessanter zu sein. Möglichst unauffällig drängte sie sich zwischen ihren Vater und Aredh und versuchte, etwas von deren Gespräch aufzuschnappen.

Aus Rücksicht auf die allzu wissbegierigen Kinderohren, die der Unterhaltung der beiden Männer aufmerksam folgten, senkte Tyrna seine Stimme. "Gut, Aredh, dann geh schon mal zum Dorfausgang vor und sieh zu, dass du ein paar andere Männer erwischst, die mitkommen. Nimm aber höchstens noch zwei oder drei weitere mit, die anderen sollen hier in der Siedlung bleiben!"

Aredh nickte Tyrna schnell zu und rannte wieder los.
 

"Melva", Tyrna beugte sich zu seiner kleinen Tochter hinab, die neben den beiden Männern gestanden und alles mitangehört hatte. "Geh rein zu Mami und bleib dort. Ich bin bald wieder da."

Nur widerwillig ließ sich Melva von ihrem Vater zu ihrer Hütte schieben. "Ich möchte mitkommen, ich habe ein Schwert!" Wie um ihrem Vater zu demonstrieren, was sie konnte, schwang Melva ihr kleines Schwert, doch Tyrna achtete nicht mehr weiter auf das kleine Mädchen, das missgelaunt hinter ihm her tappte. "Bitte!", quengelte Melva.

"Bedana", rief Tyrna seiner Frau von der Haustür aus zu. Die junge Frau sah erschöpfter aus als sonst und ihre bleichen Wangen schienen noch einen Ton mehr an Farbe zu verlieren, als sie ihren Mann in der Tür stehen sah. Seine ausdruckslose Mimik sollte wohl über seine tatsächlichen Sorgen hinweg täuschen, aber Bedana kannte Tyrna zu lange, um den wahren Grund dahinter zu bemerken.

Tyrna gab Bedana Melva an die Hand. "Ich muss mit Aredh zum Tal. Es dauert nicht lange", versuchte er Bedana zu beruhigen, obwohl er selbst nicht wusste, was ihn genau erwartete.

"Was ist los?", hakte Bedana besorgt nach. "Wieder irgendwelche Fremden?"

Tyrna verneinte. "Es sind Uisvan und sein Gefolge. Sie bringen Tiere mit. Ich sage Selia, dass sie zu euch beiden kommen soll, solange ich weg bin, ja?", Tyrna drückte seine Frau fest an sich und küsste sie liebevoll. "Mach dir keine Sorgen. Uisvan hat sicher nur seine Geschäfte im Kopf, statt selbst Streit anzufangen."

"Sei trotzdem vorsichtig." Bedana lächelte und sah ihrem Mann nach, der ihr ein letztes Mal zuwinkte und dann Richtung Dorfausgang davon ging.
 


 

Der Einmarsch der Calahar in die kleine Siedlung hätte nicht feierlicher ablaufen können, als es gerade vor den ungläubigen Augen der angelockten Dorfbewohner geschah. So einen Anblick bekam man nicht jeden Tag geboten.

Auf stattlichen Pferden ritt man ein. Das Zaumzeug der Reittiere war mit flatternden Stoffstreifen prächtig verziert, bunte Glasplättchen blinkten auf dem bestickten Stirnschmuck der Pferde und bei jedem Schritt bimmelten kleine Glöckchen im Takt der eisenbeschlagenen Hufen mit.

Vor der Einzäunung zur Siedlung stoppte der farbenfrohe Treck.

Uisvan, ein hochgewachsener hagerer Mann mit strohblondem Haar und wettergegerbtem Gesicht, stieg mit Schwung von seinem Pferd herab und gab einem anderen Mann die Zügel des Tieres in die Hand.

"Es freut mich sehr, euch gesund anzutreffen", begrüßte Uisvan Alinor und Tyrna. Er stützte seine Hände seitlich in die Hüften und sah sich in der Siedlung um. "Ihr seid schwer beschäftigt?", fragte er, als ihm die teilweise noch zerstörten und im Wiederaufbau befindlichen Häuser auffielen.

Die Bewohner des Dorfes, die anwesend waren, sahen sich verhalten an. Uisvan war der Überfall anscheinend noch nicht zu Ohren gekommen.

"Ja, es war nötig", drückte sich Alinor um eine genaue Antwort, weshalb die Häuser renoviert werden mussten.

"Recht habt ihr, man muss öfter bereit für Neues sein, oder?!" Uisvan lachte herzlich auf. Offensichtlich freute er sich tatsächlich über den Aufbau der Siedlung, von dessen weniger rühmlichen Vorgeschichte er nichts ahnte.

"Wir hatten mehr Neues, als uns lieb war...", murmelte Alinor.

"Dann habt ihr sicher nichts dagegen, wenn wir das fortsetzen?!" Der Führer der Calahar wartete nicht auf die Antwort. Er pfiff kurz und acht Männer mit beladenen Pferden kamen nach vorne. "Hier ist noch etwas für euch."
 

Nach und nach beförderte man Leinensäcke und tönerne Gefäße aus den riesigen Satteltaschen, von denen immer mindestens zwei seitlich an jedem Pferd hingen.

Bald türmten sich Waren um Waren auf dem Boden. Große Stücke geräucherten Fleisches lagen neben Töpfen mit eingelegten Früchten und auch die mitgebrachten lebenden Tiere hatte man vorgeführt.

Eine Weile sah Alinor noch dem Entladen der Pferde zu, dann hielt sie es für nötig, den Elan des Calahars zu bremsen. "Wir haben leider nichts, was wir gegen eure Sachen tauschen könnten, Uisvan", lehnte Alinor die gut gemeinten Angebote freundlich ab.

Uisvan stellte einen Tontopf zu Boden. "Nichts? Auch keine Waffen oder Saatgut?"

Alinor schüttelte langsam ihren Kopf. "Nichts, was wir entbehren könnten. Das, was Tyrna beim letzten Mal mit euch getauscht hat, war alles, was wir hatten."

"Nun", begann Uisvan nach einer Weile. "Dass wir gekommen sind, um mit euch Geschäfte zu machen, lässt sich nicht verleugnen und dass wir nichts zu verschenken haben, auch nicht."

"Wir möchten nichts geschenkt, Uisvan", antwortete Alinor kurz und bündig. "Es tut uns sehr leid, dass ihr den Weg zu uns umsonst gemacht habt, aber wir können euch nichts anbieten, so gerne wir auch wollten."

"Konntet ihr wenigstens etwas mit den Tieren und Waren anfangen, die wir Tyrna mitgegeben haben?", erkundigte sich der Anführer der Calahar.

"Wir haben fast nichts mehr davon."

Uisvan war keineswegs überrascht. "Ihr habt es mit anderen Händlern weiter getauscht?!", stellte er fest.

"Nein, so weit kam es zu unserem Bedauern nicht." Alinor verneinte gelassen, ohne dabei ihre stets gewahrte Würde einzubüßen. Erzählen, wie schlecht es wirklich um ihre Siedlung stand, war äußerst unangenehm, doch verschweigen konnte man es genauso wenig. Falscher Stolz war ebenso gefährlich, wie Blauäugigkeit gegenüber Dritten. "Wir wurden vor einigen Wochen überfallen. Sie nahmen die meisten Tiere mit, sofern sie sie nicht auf der Stelle töteten. Aber der persönliche Verlust, den sie uns bescherten, lässt sich damit nicht vergleichen", endete Alinor.

Uisvans Augen vergrößerten sich, als ihm das Ausmaß der Neuigkeit bewusst wurde. "Barneagh?"

Die Stammesälteste bestätigte. "Ja, ihn auch."

"Verstehe. Darum war er auch noch nicht hier, um uns zu begrüßen." Uisvan pausierte kurz und dachte nach. Er winkte ein paar seiner Männer zu sich und unterhielt sich eine Weile ausführlich mit ihnen. Nach einiger Zeit war die gestenreiche Diskussion abgeschlossen und Uisvan wandte sich wieder Alinor und den anderen wartenden Dorfbewohnern zu.

"Vermutlich war unser Weg doch nicht ganz umsonst und es könnte sich für euch lohnen, was wir außer den Waren noch anzubieten haben", begann Uisvan. "Allerdings lässt sich darüber nur schlecht mitten auf der Straße sprechen."

Tyrna und Alinor wechselten ein paar schnelle Blicke, ehe die ältere Frau ihren Gast fragte: "Und was willst du tun, Uisvan?"

Der Mann gab sich weiterhin geheimnisvoll. "Wäre es möglich, eine Beratung aller Einwohner einzuberufen?"

"Sicherlich", antwortete Alinor ohne lange nachzudenken. Ihre Sorge lag woanders. "Wenn ihr bleibt, dann solltet ihr aber auch wissen, dass unser Platz und die Vorräte nur begrenzt verfügbar sind. Und wie man sieht, seid ihr einige, die man unterbringen und verpflegen müsste."

"Das ist nicht nötig", lehnte der Calahar dankend ab. "Wir haben alles bei uns, was wir brauchen. Das einzige, das uns noch fehlt, ist ein Fleckchen, an dem wir uns niederlassen können."

"Vor der Siedlung findet ihr so viel Platz, wie ihr benötigt."

"Sehr gut." Uisvan gab Alinor die Hand und schüttelte sie verabschiedend. "Wir sehen uns heute Abend."
 


 

Noch während man in der Siedlung emsig damit beschäftigt war, alles für die abendliche Versammlung vorzubereiten, hatte sich die Wiese vor den Zäunen des Dorfes in eine bunte Zeltstadt verwandelt.

In kurzer Zeit hatten die Calahar sechs Unterkünfte aus knapp Hausgroßen zusammengenähten Lederteilen aufgestellt. Auch für die mitgebrachten Tiere gab es ein behelfsmäßiges Gatter aus herbei geschleppten Ästen, in dessen Mitte nun Ziegen, Ferkel und Hühner standen und von den Kindern des Dorfes gefüttert wurden.

Das Geschäftsmäßige Treiben zog sich durch die schmalen Gänge der Aufbauten. Die fremden Männer saßen zwischen den einzelnen Zelten, kümmerten sich um die Verpflegung ihrer Pferde, nahmen ihnen die schweren Sättel ab, reinigten die Hufe und das Zaumzeug ihrer Reittiere und unterhielten sich dabei angeregt miteinander.

Einige der Calahar hockten rund um ein prasselndes Lagerfeuer, über dem ein Kupferkessel hing. Wohlduftende Rauchkringel stiegen aus der Kesselöffnung und wanden sich in den sich rötlich verfärbenden Abendhimmel. Andere aus der Gruppe führten außerhalb der Zeltunterkünfte ein paar Pferde über die Wiese, auf deren Rücken laut lachende Kinder saßen. Pferde gab es in ihrem Stamm keine und die Begeisterung der Kinder war angesichts der unbekannten Tiere grenzenlos.
 

Skeptisch beobachtete Tyrna das Tun vor dem Dorf. Er hatte sich neben dem Eingang zur Siedlung postiert und besah sich die befremdliche Szene, die sich ihm unweit seines Standortes bot.

Dass die Calahar sicher nicht ganz uneigennützig gekommen waren, sah man an den Tieren und Waren, die sie zum Tauschen mitgebracht hatten. Doch warum man noch unbedingt bleiben wollte, obwohl Alinor ausdrücklich betont hatte, man habe nichts, was man zum Gegentausch anbieten könnte, war Tyrna nach wie vor ein Rätsel.

Es sah auch nicht aus, als ob die Calahar bald zu einem anderen Stamm weiterziehen wollten, sondern eher so, als würde man sich hier für einen längeren Aufenthalt einrichten.

Die Calahar waren friedlich - ohne Zweifel. Die meisten ihrer Reichtümer hatten sie durch Handel mit anderen Dörfern und fremdländischen Völkern angesammelt. Kriege führten sie keine mehr, der reine Verkauf von Waffen hatte sich als lohnender herausgestellt, und ihre Gebiete erweiterten sie durch gewaltfreie Zusammenschlüsse mit anderen Stämmen. Dennoch beunruhigte Tyrna das nicht absehbare Verhalten der Fremden. Und Vorsichtsmaßnahmen waren für alle Fälle schon getroffen.

Unauffällig, damit ihre Gäste sich nicht bedroht fühlten, hatte Tyrna die Männer ihrer Siedlung angewiesen, die Besucher nicht aus den Augen zu lassen.

So lange nicht klar war, aus welchen Gründen man blieb, war alle Achtsamkeit von Nöten.
 


 

Die Versammlung verlief zu Anfang recht beschaulich. Man begann damit, den Gästen ein schnell zusammen getragenes Mahl zuzubereiten und stellte alles auf den Tisch, der im Zentrum des Gemeindehauses stand.

Bis auf die kleinsten Bewohner der Siedlung, die zu dieser späten Stunde schon selig schliefen, waren fast alle anwesend. Die Jüngeren hatten sich ein eigenes Eckchen, abseits der Erwachsenen, in dem großen Raum reserviert und waren in ihre eigenen Gespräche vertieft, die Älteren hockten nahe am Kamin.

Aufmerksam wurden alle erst so richtig, als Uisvan mit seinem Gefolge das Haus betrat. Still setzten sich die Calahar auf die noch freien Plätze.

Uisvan, der von Alinor an den mittig im Zimmer stehenden Tisch gebeten wurde, nahm zwischen der Älteren Frau und Tyrna Platz. Uisvan wirkte zufrieden, gelassen und seiner Sache sicher. Die Nervosität, die unter den Dorfbewohnern herrschte, schien ihn und seine Männer nicht zu berühren.

Nach einer kurzen Begrüßung der Gäste, der Bitte, sich von den Speisen und Getränken zu nehmen, was man möchte, gab Alinor die Führung des Gesprächs an Uisvan weiter, der sich von seinem Platz erhob und den Bewohnern zuwandte.

Die flüsternden Stimmen verstummten auf der Stelle.

"Schön, dass ihr uns einen so herzlichen Empfang bereitet", fing Uisvan an. "Einige, der bekannten Gesichter, die wir erwartet hatten, können zu unserem tiefsten Bedauern nicht anwesend sein. Und auch, wenn es nicht unbedingt so beabsichtigt war, ist dies vielleicht ein Grund mehr, der uns bestätigt, dass wir keinen besseren Zeitpunkt für einen Besuch hätten wählen können." Uisvan schwieg einen Moment. Selbst die jüngeren Bewohner konzentrierten sich auf die Worte des Weitgereisten, doch der hatte es nicht eilig, wie es schien. "Ob sich diese Tragödie hätte verhindern lassen, wenn die Entfernung von eurem Stamm zu unserem geringer wäre, kann niemand sagen, von Vorteil wäre es allerdings sicher gewesen, Beistand zu haben. Nun", Uisvan machte wiederholt eine geschickte Pause, ehe er fortfuhr. "Dies ließe sich für die Zukunft eventuell verhindern."

Die Leute, die sich gegen Ende der Rede Aufklärung über die Versammlung erhofft hatten, sahen sich so verwundert an wie zu Beginn des Treffens.

"Und was soll das bedeuten?", fasste jemand die Frage in Worte, die sich jeder mittlerweile stellte. "Gibt es dann ein Bündnis, das den Handel zwischen eurem Stamm und unserem erleichtert?"

Uisvan schüttelte den Kopf. "Etwas mehr", antwortete er. "Hier fehlt es an allem. Kaum ein Haus ist unbeschädigt, es gibt keine Grundlage an Tieren mehr, die euren Nahrungsfortbestand sichern und mit dem Getreide steht es wahrscheinlich nicht besser. Auch Waffen könnt ihr keine mehr herstellen. Bei einem erneuten Angriff seid ihr so wehrlos wie frischgeschlüpfte Vogelkinder."

Alinor blieb kritisch. "Du sprichst in Rätseln, Uisvan. Ein Bündnis mit euch ist schön und gut, aber was bringt es uns, wenn wir Tagelang voneinander entfernt wohnen? Wir können in Notzeiten nicht immer jemanden zu euch schicken, wenn es an etwas fehlt."

"Du greifst mir mit deinen Bedenken schon weit in meiner Rede vor, Alinor. Man sieht, dass euer Stamm vor allem dank deiner klugen Entscheidungen so lange bestehen konnte", Uisvan lächelte der älteren Frau anerkennend zu. "Unser Angebot besteht darin, dass wir gerne unsere bisherige Freundschaft fortsetzen und intensivieren wollen. Nicht nur was den Handel betrifft, sondern auch räumlich."
 

Die Ankündigung war wie ein Schock für die Versammelten. Die Hoffnung, die Uisvan ihnen zu machen versuchte, weckte in Alinors Stamm eher Misstrauen. Alles saß stumm da und starrte den Führer der Calahar entsetzt an. Auch Alinor wusste nichts darauf zu erwidern.

Tyrna fasste sich als erster. "Wie ist das gemeint?", hakte er nach.

"Dass wir die Stämme zusammen legen", erklärte Uisvan.

"Auf keinen Fall!", brauste Tyrna empört auf. "Wir lassen uns von euch doch nicht unterwerfen!"

"Unterstellt ihr uns, dass wir Landräuber und Sklavenhändler sind?!", schrie einer der Calahar in gleicher Lautstärke zurück.

"Weit davon entfernt seid ihr mit diesem törichten Vorschlag jedenfalls nicht! Habt ihr nichts besseres zu tun, als durch unser Gebiet zu schleichen und alles an euch zu reißen, was ihr seht?!" Tyrna sprach so überheblich daher, dass es einige der Calahar zur Weißglut trieb.

"Ihr könnt froh sein, dass sich jemand für eure stinkende Siedlung interessiert!", tönte es aus den Reihen der Calahar zurück.

Einer der Calahar baute sich nun drohend eine Handbreit vor Tyrna auf und grinste hämisch auf den dunkelhaarigen Mann hinab. "Vielleicht sollten wir auch nur bis nächsten Sommer warten, bis ihr alle von selbst krepiert seid, dann könnten wir wenigstens in Ruhe eure verlausten Hütten plündern!", spottete er.

Gelächter der fremden Gäste erscholl und provozierte damit wiederum Tyrnas Stamm.

"Ihr seid doch das Parasitenpack!", brüllte Tyrna zornig. Er fuhr von seinem Platz auf und gab dem Calahar, der vor ihm stand einen so heftigen Stoß gegen die Brust, dass dieser nach hinten taumelte und dabei einen seiner Stammesbrüder von dessen Sitzplatz riss.

Nun brach das völlige Chaos aus, das man eigentlich hatte vermeiden wollen. Stühle fielen krachend um, als ihre Besitzer aufsprangen, und Becher und Teller flogen samt Inhalt zu Boden. Der ruhigere Teil der Zuhörer wich dem Handgemenge aus, das sich in der Mitte des Zimmers abspielte und brachte sich vor den tieffliegenden Geschossen in Sicherheit, die durch die Luft segelten.

Würde man nicht schon im Vorfeld peinlichst genau darauf achten, dass ein jeder seine Waffen ablegte, bevor er den Gemeinschaftsraum betrat, so hätte man in brenzligen Situationen wie dieser, wohl schon längst zu den Schwertern gegriffen und die Unstimmigkeiten mit blitzender Klinge geregelt. Und dann würde es am Ende nicht bei ein paar blauen Augen und aufgeplatzten Lippen bleiben...

Aber so war es wieder einmal Alinor, die ihre Stimme erhob und die streitenden Parteien ermahnte, die wie die Kampfhähne voreinander standen und sich gegenseitig mit geballten Fäusten und wüsten Beschimpfungen drohten.

"Setz dich bitte wieder, Tyrna, und belass es dabei." Die alte Frau redete dem Stammesführer so ruhig wie möglich zu. "Mit deinem Gebrüll bestätigst du ihre Vorhaltungen doch nur."

"Sie können sich doch nicht einfach so in unser Leben hier einmischen und verlangen, dass wir das so hinnehmen!", tobte Tyrna weiter. "Sie sind fünfmal so viele wie wir und werden uns mit Sicherheit jedes mal überstimmen, wenn es etwas zu entscheiden gilt!"

Uisvan erhob sich und stellte sich demonstrativ neben die Stammesälteste. "Niemand hat vor, euch eure Rechte abzusprechen", lenkte er beschwichtigend ein. "Ich denke, nahezu alles ist miteinander vereinbar. Wir wollen schließlich nicht die Völker spalten, sondern so viele wie möglich vereinen. Bisher hat das auch immer sehr gut funktioniert."

Tyrna hatte es schwer, das Gesagte so zu akzeptieren. Mühsam schluckte er die Worte hinunter, die ihm noch in der Kehle steckten und darauf brannten, gesagt zu werden. Doch eine Einhalt fordernde Geste Alinors genügte, den Stammesführer sofort verstummen zu lassen.

Tyrna bedachte die Calahar, die sich auf Uisvans Weisung hin auch wieder zurücknahmen, noch mit einem letzten verächtlichen Blick und setzte sich, wenn auch widerstrebend, auf seinen Platz.
 

"Als Teil unseres Stammes könntet ihr auch profitieren", sagte Uisvan in die eingekehrte Ruhe hinein. "Das einzige, das es euch kosten würde, ist euer jetziger Landbesitz."

Alinor haderte mit sich selbst und Uisvans Vorschlag. Sie sah in die Runde, als erhoffe sie sich eine Antwort der Betroffenen, doch diese schauten die Stammesälteste ebenso ratlos an. Kein Wort fiel. Das Entsetzen war in stille Angst um die eigene Existenz umgeschlagen und man schwieg mittlerweile bedrückt und versuchte das Vorgeschlagene zu verdauen.

Alinor ahnte, was gerade in den Köpfen ihrer Stammesbrüder und -schwestern vorging. Dort wurden Kämpfe ausgefochten, wie sie real nicht hätten schlimmer sein können.

Die Chance auf einen Neuanfang nutzen oder sollte man wieder von selbst auf die Beine kommen? Ungewisse Zukunft in einem fremden Land oder ungewisse Zukunft in bekannter Umgebung?

Wie man es auch wendete und betrachtete, es gab keine befriedigende Antwort.

"Wir wissen euer Angebot sehr zu schätzen, aber wir benötigen dennoch etwas Bedenkzeit, Uisvan", gab die alte Frau nach kurzem Überlegen gefasst zurück. "Das wirst du sicher verstehen."

Uisvan lächelte zuversichtlich. "Natürlich, die gestehen wir euch selbstverständlich gerne zu. Bedenkt bitte auch, dass wir nicht vorhaben, euren Leuten etwas wegzunehmen. Es geht vor allem darum, die Fähigkeiten unserer beider Stämme auszuschöpfen, so dass jeder von uns etwas davon hat", bemühte sich der Mann die Zweifel zu zerstreuen.

"Ich habe es auch nicht anders verstanden, aber aus Rücksicht auf unseren Stamm, können Tyrna und ich das nicht einfach so bestimmen", entgegnete Alinor. Sie wollte diese Entscheidung nicht alleine fällen müssen. Viel zu viel würde davon beeinflusst werden. "Wir werden uns wohl erneut zu einer Versammlung treffen. Betrachtet euch bitte so lange als unsere Gäste, bis wir euch unsere endgültige Entscheidung mitteilen."

"Vielen Dank, Alinor." Uisvan bedeutete seinen Leuten, sich für den Aufbruch zu richten.

Alinors Worte hielten Uisvan jedoch noch auf. "Denkt aber auch daran, dass die Gastfreundschaft irgendwann ihre Grenzen erreicht hat und dies geschieht dann, wenn du deine Männer nicht zu zügeln weißt, Uisvan.", ermahnte die ältere Frau den jüngeren Mann mit forschem Tonfall. "Noch mehr Streit können wir nicht gebrauchen."

"Ich werde sie zu mehr Beherrschung aufrufen", versprach der Führer der Calahar. Er beugte leicht das Haupt vor der Respektgebietenden älteren Frau und verließ zusammen mit seinen Männern, den Gemeinderaum.

"Wir vertagen die Besprechung wegen der Zusammenlegung", wandte sich Alinor an die Wartenden ihrer eigenen Siedlung. "Heute Abend habe ich kein Verlangen mehr danach, mir weiter über diese Sache den Kopf zu zerbrechen. Ihr sicher auch nicht, oder?"

Zustimmendes Gemurmel setzte ein.

"Gut, dann treffen wir uns in den nächsten Tagen und sehen weiter." Bevor Alinor endgültig das Gemeindehaus verließ, gab es auch an ihre Stammesmitglieder eine Mahnung. "Für euch gilt das gleiche, wie für unsere Gäste. Wer nicht weiß, wie er sich anderen gegenüber zu verhalten hat, der schadet damit nicht nur sich selbst, sondern dem ganzen Dorf!"

Diejenigen, die sich angesprochen fühlten, senkten schuldbewusst die Köpfe.

"Gute Nacht", verabschiedete sich die Stammesälteste und ging, gefolgt von ein paar ihrer engsten Vertrauten.
 


 

Tyrna drängte sich durch die diskutierende Menschenmenge hindurch und rannte hinter Alinor her, die gerade aus der Tür des Gemeindehauses verschwand.

"Alinor", mit wenigen Schritten hatte Tyrna die grauhaarige Frau eingeholt und kam neben ihr zu stehen.

Die Stammesälteste wandte sich dem hünenhaften Mann zu. "Was ist, Tyrna?"

"Ich möchte mit dir über etwas reden", begann Tyrna sein Anliegen zu erörtern, doch Alinor schnitt ihm sofort das Wort ab.

"Wenn es um Uisvans Angebot geht, muss ich dir sagen, dass wir alle das zu entscheiden haben und wir erst wieder eine Sitzung abhalten müssen. Und bis dahin werde ich mich auch nicht umstimmen lassen. Was du dazu zu sagen hast, kannst du auf der nächsten Sitzung tun, Tyrna."

Alinor wollte wieder ihres ursprünglichen Weges gehen, aber Tyrna folgte ihr hartnäckig.

"Entschuldige, Alinor, lass mich bitte erst erklären", bat Tyrna. Er sah es nicht für angebracht, die alte Frau am Arm festzuhalten und lief deswegen ein wenig vor ihr her, bis sie stehen blieb. "Es geht schon um den Umzug, aber ich - oder besser gesagt, Bedana hat Gründe, ihn derzeit abzulehnen", fuhr Tyrna fort, als er sich der Aufmerksamkeit der Älteren sicher war.

Alinor stand nun still da und sah den dunkelhaarigen Stammesführer prüfend an. "Ich hoffe für dich, dass diese Gründe auch für alle anderen einsehbar sind."

"Das werden sie sein", versicherte Tyrna der alten Frau eifrig. "Ich möchte Bedana die lange Reise im Moment nicht zutrauen. Es wäre zu beschwerlich für sie. Wenn ihr euch wirklich für die Umsiedlung entscheidet, dann werden Bedana, Melva und ich hier bleiben. Vorläufig."

Alinor nickte geduldig. "Schön, Tyrna, aber wenn ich das all den anderen aus dem Stamm sagen soll, musst du mir auch erst genau erläutern, weshalb die Reise zu schwer für Bedana ist und ihr lieber in der alten Siedlung bleiben wollt."

"Mit Uisvan hat es nichts zu schaffen. Es ist eine Angelegenheit, die nur Bedana und mich betrifft. Und Melva." Tyrna hielt inne und suchte nach einer Erklärung. "Wir könnten frühestens im nächsten Spätsommer folgen. Zu Viert."

Die Falten auf Alinors Stirn glätteten sich ein wenig und ein gütiges Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie Tyrna verstand. "Ich bin sicher, es reicht, wenn wir alle erst im nächsten Frühjahr zu planen beginnen, falls wir uns für die Umsiedlung entscheiden."

"Danke, Alinor!" Tyrnas braune Augen strahlten glücklich. Er packte Alinors schmale Schultern und war kurz davor, der Stammesältesten einen Kuss auf die Wange zu drücken, besann sich aber ihrer hohen Stellung und umarmte die ältere Frau nur schnell, bevor er davon stürmte.

"Tyrna!"

Der Angesprochene stoppte seine schnellen Schritte und wandte sich zu der Rufenden um.

"Grüß Bedana und Melva von mir. Und sag deiner Frau, dass ich in den nächsten Tagen bei euch vorbei komme, um sie mir anzusehen", rief Alinor dem Mann nach. "Pass gut auf die Drei auf, ja?!"

Tyrna nickte und eilte weiter.

Nachdenklich sah Alinor Tyrna hinterher. Nur selten bekam man als Außenstehender von dem sonst so ernsthaft wirkenden Stammesführer solche Gefühlsausbrüche zu sehen, wie gerade eben.
 

~ * ~
 

Bis in den kleinsten Muskel erschöpft, ließ sich Ferlan auf einem moosigen Stein am Fuße einer Quelle nieder. Er streckte seine Beine zur Entspannung aus, schloss kurz seine Augen und lauschte dem leise murmelnden Wasser, das zwischen ein paar Steinen aus einem Felsen entsprang.

Tage- und Nächtelang war Ferlan ohne Unterbrechung durch die Wälder gelaufen, hatte die Zeit und die durchreisten Orte vergessen, bis er die ihm bekannte Umgebung endgültig hinter sich gelassen hatte.

Jetzt war er in der Fremde angekommen. Es sah hier zwar nicht viel anders aus, als zu Hause, aber dennoch ungewohnt.

Ferlan vermisste die vertrauten Geräusche und Gerüche seiner Siedlung. Das Hahnengeschrei, die dumpfen Rufe der Rinder, der helle rhythmische Klang der Schmiedehämmer, wenn sie das Metall bearbeiteten, der würzige Rauch, der aus der Esse drang - und seine Freunde und Familie, die ihn begrüßten. Letzteres fehlte Ferlan am meisten.

Sein erster richtiger Halt, bei dem er nicht das andauernde Bedürfnis hatte, sofort wieder weiterziehen zu müssen, hatte Ferlan an einen gemächlich vor sich hinplätschernden kleinen Fluss gebracht, wo er nun saß und ratlos den Wellen des Wassers nachsah.

Wenn er hier bleiben wollte, musste er sich erst genau erkundigen, wo es ihn hin verschlagen hatte. Und vor allem, ob er hier überhaupt eine Möglichkeit hatte, zu überleben.

Wasser war genügend da. Fehlten noch das Essen und ein ruhiger Platz, um sich einen vorläufigen Unterschlupf zu bauen.

Aber das Essen war wichtiger, fand Ferlan und wie zur Bestätigung knurrte sein leerer Magen.
 

Ferlan entknotete sein Bündel, das neben ihm auf dem Boden lag und besah sich den abnehmenden Inhalt. Ein kleines Stück Heimat, das langsam mit der Entfernung, die Ferlan zu ihr zurücklegte, ebenfalls mitschwand, dachte er sehnsüchtig.

Nur noch wenig gepökeltes Fleisch war da, das Obst war auch bis auf einen einzigen runzeligen Apfel schon längst gegessen und das klägliche Tröpfchen Wasser, das aus dem Lederschlauch rann, war nicht der Rede wert.

Im Vorübergehen hatte Ferlan so viele essbare Beeren gesammelt, wie er nur konnte. Die weicheren hatte er sofort aufgegessen und die Festfleischigen eingepackt, um sie zu trocknen und später verzehren zu können. Aber er konnte sich schlecht nur ausschließlich von Beeren ernähren. Und sonst sah es ja nicht gerade hervorragend mit Nahrungsmitteln aus.

Für den Winter musste er Vorsorge treffen, welche Pilze er etwa ohne Gefahr verzehren konnte. Vorräte müsste er sich auch anlegen, am besten jetzt schon, nicht, dass er völlig überrumpelt wurde, wenn der Winter vorzeitig einbrach.

Zuerst würde er Wasser holen. Oder er versuchte gleich, etwas zu erlegen. Wenn er Glück hatte, erwischte er sogar einen Hasen, den er dann zubereiten konnte. Aber wie erlegte man nur mit einem kurzen Dolch bewaffnet ein Tier? Kein Hase ließ einen Menschen freiwillig so nahe an sich heran, dass er ihn mit einem kleinen Dolch töten könnte...

Ferlans Eifer war so schnell verschwunden, wie er gekommen war.

Dann zuerst einmal das Wasser holen, erwog er die Dringlichkeit der benötigten Sachen und die Möglichkeit ihrer Beschaffung.

Ferlan nahm das längliche Stück Tierhaut und hielt es mit der Öffnung in das fließende Wasser. Raschelndes Laub und knackende Äste ließen ihn in seinem Tun aufsehen.

'Nicht schon wieder!', dachte Ferlan, der das Auftauchen eines unliebsamen Gastes befürchtete, verbittert. Er hatte sich so darum bemüht, sämtliche Siedlungen an denen er vorbei gekommen war, weiträumig zu umgehen und jetzt sollte es doch nichts genutzt haben?!

Ferlan war drauf und dran sein Bündel zusammen zu raffen und sich auf schnellstem Wege davon zu machen, als die Gestalten, die aus dem beinahe undurchdringlichen Gehölz kamen, ihn augenblicklich wieder zu Boden sinken ließen.
 

Das dichtgewachsene Gestrüpp auf der gegenüberliegenden Seite des Ufers teilte seine grünen Arme und heraus traten mit geschmeidigen Bewegungen die schönsten Geschöpfe, die Ferlan je auf diese kurze Distanz zu Gesicht bekommen hatte.

Wie versteinert saß Ferlan auf seinem Platz und beobachtete die Wesen, die zum Wasser gingen und ihre Köpfe dem Wasserspiegel entgegen neigten: Es war ein Rudel Wölfe und umfasste ungefähr Fünfzehn Tiere.

Ferlan sah erstaunt zu, wie sich einer der Wölfe, ein großer Rüde mit graumeliertem Fell, von der Gruppe absonderte und einen Baumstumpf erklomm, auf dem er sich niederließ. Geduldig beaufsichtigte er seine Meute, die nun das klare Quellwasser zu trinken begann.

Der wachehaltende Wolf auf dem Stumpf, saß derweil fast reglos da, als wäre er selbst ein Teil des Baumes, auf dem er Platz genommen hatte. Das Sonnenlicht, das durch das grüne Laubdach blitzte, ließ helle Flecken über sein glänzendes Fell tänzeln.

Keine Spur von Nervosität war dem Grauen anzumerken. Er hatte die Lefzen hochgezogen und entblößte die starken Kiefer mit den langen Reißzähnen, machte im Allgemeinen aber einen entspannten Eindruck. Alleine seine Ohren, die sich ständig lauschend in alle Richtungen drehten, sondierten die Gegend und nur wenn es im Unterholz knackte oder ein Vogel über das trockene Laub hüpfte, drehte er seinen Kopf in die entsprechende Richtung, schnüffelte prüfend und suchte mit seinen gelben Augen den Wald nach dem Störenfried ab.

Ferlan jedoch, der im gegenüberliegenden Ufergras lag, traute sich kaum zu atmen, um die Tiere nicht zu verscheuchen. Ob sie ihn schon gewittert hatten? Ferlan duckte sich noch etwas weiter zu Boden und hielt abrupt inne, als das Gras verräterisch unter ihm raschelte.

Doch die Wölfe, die auch während des Trinkens stets ihre Augen aufmerksam auf ihre Umgebung gerichtet hatten, schienen den jungen Mann glücklicherweise nicht zu bemerken und so konnte Ferlan den Anblick der Tiere auch weiterhin genießen.
 

Als die Wölfe fertig getrunken hatten, machten sie sich so elegant wie sie gekommen waren, wieder auf den Rückweg.

Ferlan zögerte keinen Moment und beschloss, den Tieren zu folgen.

So faszinierend diese erhaben wirkende Tiere auch waren, hatten sie für den jungen Mann noch einen ganz anderen Nutzen. Wo so ein großes Rudel überlebte und satt wurde, musste es genug Wild geben, wovon auch er profitieren würde, dachte Ferlan erfreut.

Hastig knotete Ferlan die Ecken seines Stoffbündels zusammen und warf es sich über die Schulter.

Ferlan hatte gerade den an dieser Stelle niedrigen Fluss durchquert und war im Begriff das Waldstück zu betreten, in dem die Tiere verschwunden waren, als er unfreiwillig aufgehalten wurde.

Ein Regen aus Steinen, kleinen Ästen und Erde kam auf Ferlan zugeflogen und er musste sich schleunigst ducken, um dem Dreck auszuweichen, der auf ihn niederprasselte. Nur knapp entging er dabei ernsthaften Verletzungen durch die doch recht großen, umher fliegenden Gegenstände.

Als der Hagel endlich nachließ, konnte Ferlan die Arme herunter nehmen, die er schutzsuchend vor sein Gesicht gehalten hatte. Er wischte sich den Schmutz aus den Augen, hob den Saum seines Leinenhemdes an und schüttelte den Unrat, der ihm oben in den Kragen hinein gefallen war, raus.

Verwirrt sah sich Ferlan um.

Es konnte unmöglich sein, dass es hier Steinschläge gab! Weder Felsen noch andere Quellen dafür waren in unmittelbarer Nähe.

Ferlans Frage blieb unbeantwortet, aber dafür erklang erneut ein leises konstantes Sirren vor ihm. Vorsorglich brachte sich Ferlan vor dem nichts Gutes verheißenden Geräusch hinter dem nächststehenden Baum in Sicherheit und wagte einen zögerlichen Blick Richtung Waldweg.

Kaum, dass Ferlans Kopf wieder hinter dem Baum erschien, wurde das Sirren schneller und lauter. Von einem bedrohlich sausenden Luftzug begleitet flog der nächste Stein dicht an Ferlans Kopf vorbei und schlug Sekunden später in dem Baumstamm ein, hinter dem Ferlan sich verborgen hielt.

Ferlan keuchte erschrocken auf. Irgendjemand wollte anscheinend nicht, dass er auch nur einen Schritt weiter in diesen Teil des Waldes machte. Und derjenige meinte es mehr als ernst!

Schockiert besah sich Ferlan das Einschlagsloch des Steines im Stamm. Die Rinde war zerfetzt und eine kleine Delle zierte das Holz dort, wo der Stein den Baum getroffen hatte. Das hätte genauso gut auch sein Kopf sein können, dachte Ferlan erschüttert. Der junge Mann verdrängte den ersten Schock des Angriffs. Jetzt wollte er wissen, wer ihn grundlos mit Steinen bewarf!

Ferlan zückte seinen Dolch und sprang hinter seinem Versteck hervor. Blitzschnell huschte er zu einem dichten Gebüsch und ging dort in Deckung.

Durch das Astwerk des Busches hindurch suchte Ferlan den Waldweg vor sich nach dem Steinewerfer ab. Nicht weit von sich selbst entdeckte Ferlan ihn auch.

Dem Fremden war, wie es aussah, die Munition ausgegangen und er hatte sich ebenfalls hinter eine dichtstehende Baumgruppe geflüchtet. Alleine ein dünner, schmutziger Arm war zu sehen, der hektisch den Boden vor sich nach Steinen abtastete. Doch bis zu einem erfolgreichen Fund wollte Ferlan es nicht kommen lassen. So lange der andere praktisch unbewaffnet war, hatte Ferlan selbst die besseren Chancen, ihn gefahrlos stellen zu können.

Ferlan sprang auf und sprintete Richtung Baumgruppe.
 

Der Steinewerfer hatte mit so etwas wohl schon gerechnet und rannte nun seinerseits ebenfalls los.

"Warte!", schrie Ferlan dem Flüchtenden nach, der durch das Baum-Labyrinth davon lief und dabei Haken wie ein Hase schlug.

Ferlan biss die Zähne zusammen und beschleunigte seine Schritte. Das Stechen in seiner Rippengegend wurde immer heftiger, aber er wollte diese Person um jeden Preis zur Rede stellen. Er hatte ihm nichts getan und erwartete eine Erklärung, weshalb er dennoch angegriffen wurde!

Der Unbekannte unterdessen rannte unbeirrt weiter, als ahne er, dass er nichts Gutes von seinem Verfolger zu erwarten hatte. Auch Ferlans Rufe, er würde ihm nichts tun, hielten ihn nicht auf. Mit einer unglaublichen Geschicklichkeit sprang er über Baumstümpfe und eilte fliegenden Schrittes über den Waldboden, ohne auch nur einmal ins Straucheln zu geraten.

Ganz im Gegensatz zu Ferlan, der in dem unwegsamen Waldstück aufpassen musste, wo er seinen Fuß hinsetzte und gleichzeitig den Fremden nicht aus den Augen verlieren durfte. Doch schon bald hatte er dank seiner guten Kondition dessen Vorsprung nahezu aufgeholt. Immer näher kam Ferlan dem Fliehenden, der vor ihm her durch das Laub hastete.

Der Fremde erkannte auch, dass Ferlan sich nicht so leicht abschütteln ließ. Im Rennen drehte er sich zu Ferlan um und warf diesem in letzter Verzweiflung den Gegenstand entgegen, mit dem er ihn zuvor bedroht hatte.

Ferlan verhedderte sich in der langen Schnur, die er in die Beine geworfen bekam und stolperte. Glücklicherweise fing er sich aber wieder, schaffte es sogar, das Seil um seine Füße abzustreifen und jagte dem anderen nach. Hielt er noch ein wenig durch, würde er den anderen bald zu fassen kriegen! So weit war er dem anderen schon gefolgt, dass er jetzt nicht mehr aufgeben wollte.

Er war tatsächlich sehr weit gerannt. Weiter, als er sollte.

Ferlans ausholende Schritte wurden langsamer.

Hoffentlich fand er nachher den Weg auch wieder zurück, fiel es Ferlan plötzlich ein. Sein Bündel hatte er hinter dem Baum liegen lassen, wo er dem jungen Mann das erste mal begegnet war. Wenn er den Weg nicht mehr fand, dann waren seine restlichen Essensvorräte auch dahin, ohne dass er Neue hatte.

Ferlan gab auf. Er stoppte seine Schritte ganz und sah dem Unbekannten nach, der ihm einen letzten gehetzten Blick zuwarf, ehe er endgültig zwischen den Bäumen verschwand.

Verärgert machte sich Ferlan auf den Heimweg.
 

Auf dem Rückweg hatte Ferlan Zeit, sich zu fragen, weshalb er dem Fremden hinterher gelaufen war. Alleine wegen des zur-Rede-stellens sicherlich nicht. War sein Verlangen, sich mit irgendeinem Menschen zu unterhalten schon so groß, dass er es sogar mit demjenigen tun würde, der ihn angegriffen hatte - obwohl er sämtlichen Menschen bisher erfolgreich ausgewichen war und ihre Abwesenheit bisher kein Stück bedauert hatte?!

Ferlan musste über sich selbst lachen. Arme, bedauernswerte Kreatur, verspottete er sich, was wurde in Zukunft nur aus ihm, wenn er sich schon nach nicht einmal einem Monat ohne Gesellschaft eben nach dieser sehnte? Na ja, jetzt war der Fremde ohnehin spurlos verschwunden, als wäre er nie da gewesen. Die Fragen erübrigten sich also.

Noch im selben Augenblick widerrief Ferlan diesen Gedanken wieder. Ganz ohne einen Hinweis auf den Fremden war er doch nicht! Das Teil, das er von seinem Angreifer vor die Füße geschleudert bekam, hätte er fast vergessen. Es musste noch irgendwo sein!

Die Blicke vor sich auf den Boden gerichtet, suchte Ferlan die nahe Umgebung ab. An einer großen Wurzel, die zum Teil über der Erde lag, fand er den Gegenstand endlich. Ferlan bückte sich. Er entwirrte die Schnur, die sich um den Baum schlang und besah sich das Fundstück.

Es war ein kleiner Lederbeutel, der an zwei armlangen geflochtenen Riemen befestigt war. Ferlan bog die Seitenkanten des Beutels auseinander und betrachtete sich dessen abgenutzt aussehendes Inneres. Damit hatte der Unbekannte die Steine geworfen?!

Es musste funktionieren, sagte sich Ferlan. Andere Waffen hatte der Geflüchtete immerhin nicht benutzt.

Ferlan sah auf den Beutel, der an der langen Schnur hin und her baumelte.

Der junge Mann wollte es nun selbst ausprobieren und legte einen Stein in die Mitte des stark abgegriffenen Beutels. Dann erhob er sich aus der Hocke, hielt die Enden der Lederschnüre fest in der Hand und begann damit, seinen Arm gleichmäßig kreisen zu lassen.

Das gleiche helle Sirren, das Ferlan noch lebhaft in Erinnerung geblieben war, ertönte, als der Lederbeutel mit dem Stein in einem immer weiter ausholenderen Radius schräg über Ferlans Kopf rotierte.

Jetzt musste nur noch der Stein aus dem Beutel befördert werden.

Ferlan gab sich Mühe, den Halteriemen, sobald diese sich nahezu waagerecht vor ihm befanden, einen kurzen Ruck zu geben und so den Stein aus dem Lederbeutel zu schleudern.

Er schaffte es auch fast.

Fast.

Ferlan verpasste den besten Moment und zog die Schnur zu spät zurück, so dass der Stein nicht auf dem zu Ferlans Körper entferntesten Punkt herausgeschleudert, sondern mitsamt seines ledernen Behälters noch ein Stück hoch in die Luft gewirbelt wurde und dem jungen Mann beim Herunterfallen auf die Schulter fiel.

Ferlan fluchte und presste die Hand auf die schmerzende Stelle seines Schlüsselbeins. Dieses verflixte Teil zu kontrollieren war schwerer, als er gedacht hatte. Aber mit etwas Übung wurde aus diesem simplen Lederbeutel eine gefährliche Waffe, wie Ferlan selbst hatte feststellen müssen. Und wenn er sie zu beherrschen lernte, konnte er damit selbst auf Jagd gehen.

Ferlan nahm den Stein aus dem Lederbeutel und band diesen sicher an seinem Gürtel fest. Dieses ärgerliche Zusammentreffen hatte sich dann doch als lohnend heraus gestellt, auch, wenn es zu spät war, seinem unfreiwilligen Spender dafür zu danken.
 


 

Schnell hatte Ferlan den rätselhaften jungen Mann und die Wölfe vergessen. Das Revier der Wölfe umfasste anscheinend ein sehr weitläufiges Gebiet und der Fluss war wohl nicht ihre einzige Wasserstelle, die sie aufsuchten. Ferlan hatte die Tiere seit dem Treffen an der Quelle jedenfalls nicht mehr zu Gesicht bekommen und sich anderen Dingen zugewendet.

Mittlerweile war es ihm gelungen, eine kleine Höhle auszumachen, in der er vorübergehend Unterschlupf finden konnte. Zufrieden war Ferlan aber nur bedingt, denn groß war die Höhle nicht. Wenn Ferlan auf dem Boden lag, schaffte er es sage und schreibe vier Mal um seine eigene Achse zu rollen, bevor er an der gegenüberliegenden Wand anstieß. Obendrein war es unangenehm feucht, was vor allem nachts sehr störte und Ferlan bald einen lästigen Schnupfen bescherte.

Ein Feuer ließ sich in dem winzigen Raum zudem auch keines machen. Ferlans erster Versuch, eben dies zu bewerkstelligen, hatte ihn, zwecks mangelnden Rauchabzugs durch den engen Ausgang, nach kurzer Zeit wieder ins Freie getrieben. Erst nach einem halben Tag war es ihm unter Zuhilfenahme von Blätterbewachsenen Ästen und seines Umhangs gelungen, den giftigen Rauch aus der Höhle zu entfernen, um wieder darin schlafen zu können.

Gut, das Feuer war sowieso unnötig. Wofür auch? Zum Schlafen in der schimmligen Höhle, wo er das Feuer nicht gebrauchen konnte, wenn er nicht ersticken wollte? Um seine Mahlzeit, eine Handvoll Pilze, zu rösten, die die einzige Ausbeute seiner 'Jagdversuche' darstellten und die er trotz ihrer Ungenießbarkeit gegessen hatte? Die heftigen Magenschmerzen hatten den Aufwand nicht gelohnt.

Auch Ferlans spartanische Einrichtung beschränkte sich nach etlichen Tagen seines Einzugs noch immer auf ein riesiges klebriges Spinnennetz, das fast die ganze Decke überzog und einen großen glatten Stein, den er mühevoll in seine Unterkunft geschoben hatte, damit er nicht auf dem nassen Boden sitzen musste.

Diese jämmerliche Behausung eignete sich allenfalls als Notquartier, dachte Ferlan zerknirscht, selbst Füchse lebten in größeren. Für den Herbst würde er sich dringend etwas anderes suchen müssen, wenn er die Kälte überstehen wollte.

Und da war auch schon die nächste Hürde.

Da eine Höhle ohne warme Kleidung ebenfalls unnötig war, hatte Ferlan in der Zwischenzeit sein untätiges Selbstmitleid aufgegeben müssen und hatte sich lieber daran gemacht, etwas zu organisieren, das ihm einen qualvollen Erfrierungstod ersparte. Und am besten eigneten sich dafür Tiere.

Das Fleisch würde er kochen oder für später trocknen, aus den Knochen ließen sich Nadeln schnitzen und mit den getrockneten Sehnen der Tiere konnte er die Felle zu wärmender Kleidung vernähen.

Wenn er dann noch genügend Felle übrig hatte, wäre es sogar möglich, sie in einer nahen Siedlung zu verkaufen und so an weitere wichtige Dinge, wie etwa Salz zum Haltbarmachen des Fleischs zu kommen.

Ferlans neu aufflammender Eifer wuchs und er beeilte sich, sein Vorhaben umzusetzen. Fallenbauen war das einzige, das ihm keinerlei Mühe bereitete, da er das als Kind, zusammen mit Aredh, genügend hatte tun müssen. Auch jetzt ging ihm die Arbeit relativ leicht von der Hand. Drei Stück hatte Ferlan fertig und er würde wohl auch bald zum aufstellen kommen.

Ferlan bog die dünnen Äste der vierten Falle so, dass sie mit Rindenflechten umwickelt, wie kleine Häuser aussahen - mit dem Unterschied, dass sie keine schützenden Wände besaßen, sondern solche, die ein Entkommen unmöglich machten. Sobald im hinteren Teil durch Berührung einer unscheinbaren Stelle, ein Mechanismus ausgelöst wurde, wurde eine Klappe betätigt, die dann den Eingang verschloss.

Simpel, aber zweckmäßig und wirkungsvoll.
 

Tage später hatte Ferlan es tatsächlich geschafft, Vier kleine, aber doch recht ansehnliche Fallen fertig zu bauen, die er nun nur noch aufstellen musste. Und eben zu diesem Zweck war er den ganzen Morgen über von einer Stelle im Wald zur anderen gelaufen und hatte nach dem bestmöglichsten Platz gesucht.

Die bekannten Wege, die Händler und andere Leute benutzten, hatte er verlassen und befand sich nun in einem Teil des Waldes, den er bisher kaum erforscht hatte.

Ferlan sah sich um und suchte den besten Platz, um seine Falle aufzustellen. An dieser Stelle war der Wald von einigen Lichtungen durchsetzt und vielleicht gab es in dem besonders hügeligen Gebiet ja den ein oder anderen Hasen, der hier seinen Bau hatte.

Wie lange es wohl dauern würde, bis ein Tier in die Falle tappte? Heute noch?

Ferlan betrachtete zweifelnd das schlabberige Ampferbüschel, das er als Köder in die hintere Ecke der Falle gelegt hatte. Vielleicht ließ sich ja doch ein Häschen dazu herab, wenigstens etwas von dem Grünzeug zu kosten?!

Es musste ja noch nicht einmal ein Hase sein, dachte Ferlan. Wählerisch war er schon lange nicht mehr, das hatte ihm der dumpf rumorende Hunger schnell ausgetrieben, der ihn so sehr plagte. Er würde alles essen, was er fing, selbst Mäuse, wenn es sein musste!

Das Erlernen, mit Hilfe der Steinschleuder zu jagen, war der größte Reinfall bisher. Viel erfolgreicher, als würde er die Tiere von Hand fangen, war Ferlan damit auch nicht. Er schaffte es nicht, das Ziel zu treffen, das er anvisierte und vertrieb ständig sämtliches Jagdtier mit seinen unbeholfenen Versuchen. Jetzt, mit den Fallen, würde es hoffentlich besser werden.

Der junge Mann stieg voller Vorfreude auf einen etwaigen Fang eine kleine Erhebung hinauf und blieb abrupt stehen, kaum dass er oben angekommen war.

Der Wald, der sich vor ihm auftat - war kein Wald mehr, wie er ihn kannte.
 

Alles war rot.

Der Wald war ein einziges Schlachtfeld. So weit man sehen konnte, herrschte nur sinnlose Zerstörung.

Der Boden, die Baumstämme, die Blätter der blühenden Büsche waren übersäht mit roten Spritzern - Blut.

Es sah aus, als hätte es das Blut geregnet.

Ferlans Atem stockte. Er hatte schon öfter zugesehen, wenn in seiner Siedlung das Vieh geschlachtet wurde, aber das hier war vollkommen anders; wütender, zerstörender.

Niedrighängende Äste der umstehenden Bäume lagen nun abgebrochen auf dem Boden. Die Erde in der übersehbaren Umgebung war aufgewühlt, als wäre eine Rinderherde darüber hinweg getrampelt und hätte alles mit ihren Hufen umgepflügt.

Rosige Flecken stachen aus den üblichen Grün- und Brauntönen des Waldes hervor.

Still und ohne Fell lagen mehr als ein Dutzend Tiere verstreut im grünen Farn.

Um welche Tiere es sich handelte, konnte Ferlan auf die Entfernung hin nicht genau sagen, da man ihnen die Köpfe abgetrennt hatte.

Ferlan ließ den Baumstamm los, an dem er sich unbewusst mit einer Hand abgestützt hatte. Die kaltgewordenen Finger des jungen Mannes schlossen sich fester um den langen Stock, den er stets bei sich trug, wenn er im Wald unterwegs war. Schleppend langsam setzte sich Ferlan in Bewegung.
 

Es kostete Ferlan Mühe und Überwindung, den ersten Schritt den Hügel hinunter zu machen und sich dem Grauen zu nähern, das sich ihm dort offenbarte.

So gerne er wieder gegangen wäre, ahnte Ferlan, dass er sowieso keine Ruhe finden würde, ehe er nicht wusste, was mit diesen geschändeten Tieren vorgegangen war.

Ferlan hob eine Ecke seines Umhanges hoch und bedeckte damit Mund und Nase. Die aufsteigende Übelkeit unterdrückend wanderte er zwischen den reglosen Tierleichen hindurch.

Der Anblick der verunstalteten Tiere ließ Ferlan nicht los, wie magisch angezogen konnte er sich der Szene nicht entziehen und starrte die abgeschlachteten Kreaturen fassungslos an.

Ferlans Blicke glitten über die dahingestreckten Tiere, denen man gewaltsam die Felle geraubt hatte. Ihre Statur glich der von Wölfen. Für Füchse waren sie zu groß und für Rotwild zu klein. Und sonst gab es hier keine Tiere, die der Größe entsprachen.

Waren es die Wölfe, die Ferlan beim Trinken beobachtet hatte? Diese friedvollen Wesen, deren Lebens- und Reisewege er gerne weiterhin verfolgt hätte?

Schnell zählte Ferlan jedes einzelne tote Tier, das er sah. Die Anzahl kam in etwa mit dem des Rudels vom Fluss hin. Sie waren es also wirklich.

Ferlan schien es bei dieser Erkenntnis, als hätte man ihm selbst die Wunden zugefügt und nicht den toten Wölfen.

Die Tiere, die er vor wenigen Tagen noch am Ufer des Flusses bewundert hatte, jetzt so unnötig dahingemetzelt ansehen zu müssen schmerzte ihn tief.
 

Was war hier nur geschehen? Hatten die Wölfe eine Siedlung angegriffen? Ferlan verwarf den Gedanken sofort.

Das hier war kein Werk von Bauern, die ihre Herden vor den Wölfen beschützen wollten. Nein, die Täter wussten vom ersten Augenblick an, als sie ihr Vorhaben planten, bis hin zur Ausführung, was sie wollten: die Felle! Und um diese zu bekommen, hatte man alles in Kauf genommen.

Bilder von Treibern und Jägern, die einen laut rufend hinter der Meute her hetzend, die anderen still im Unterholz auf ihre Opfer wartend, formten sich in Ferlans Gedanken.

Die Jäger mussten in der Überzahl gewesen sein, und sie hatten Zeit gehabt. Mehr als genug. So weit draußen im Wald, hatten sie ungestört ihr Werk verrichten können.

Wahrscheinlich hatte man schon Tage oder gar Wochen zuvor genau ausgekundschaftet, wie die Gewohnheiten des Rudels waren, um sie dann in einem geeigneten Moment zu überrumpeln, zusammen zu treiben und schließlich einfach abzuschlachten.

Man hatte die Wölfe gezielt getötet. Fleischwunden waren kaum vorhanden, wohl um zu vermeiden, dass die wertvollen Felle unnötig beschädigt wurden. Die tiefen Schnitte kamen anscheinend erst später hinzu, als man den Tieren die Felle abzog.
 

Mit seinem Stock stieß Ferlan einen der Körper an und wich dem schwarzen Fliegenschwarm aus, der sich, empört über die Störung, laut summend von dem Tier erhob und davonflog.

Ihrem elenden Zustand nach zu urteilen, lagen die Wölfe sicher schon einige Zeit hier.

Der intensive Geruch der toten Tiere übertünchte den frischen frühsommerlichen Duft der blühenden Bäume und Pflanzen. Selbst durch den Stoff, den sich Ferlan vor seine Nase presste, konnte er alles riechen.

Was er nicht konnte, war etwas außer den Trittgeräuschen seiner eigenen Schritte zu hören, denn es war absolut still.

Es war so still, wie Ferlan es noch in keinem Wald erlebt hatte. Er hatte das Gefühl, den Kopf unter Wasser zu tauchen, so ruhig war es. Und es war eine unerträgliche Stille, die der junge Mann in den Ohren, die Geräusche erwarteten, als äußerst unangenehm empfand.

Die Tiere schienen sich aus dem Teil des Waldes zurückgezogen zu haben. Der Tod hatte sich hier wohl schnell herum gesprochen.

Kein einziger Vogel zwitscherte, nirgendwo lugte eine Maus neugierig aus ihrem kleinen Erdloch heraus, und außer den unzählbaren Fliegen, die die Tierleichen bevölkerten, war kein Insekt zu sehen.
 

Ferlan konnte dem Drang, zu flüchten, kaum noch widerstehen. Keine Minute länger wollte er mehr hier bleiben.

Statt den Weg zu nehmen, den er gekommen war, machte Ferlan einen ausreichend großen Bogen, um auf anderem, aber dennoch schnellstmöglichen Wege zu seiner Höhle zu gelangen. Er hatte lange genug den Anblick der toten Tiere ertragen und die Strecke wieder zurück, an all den Kadavern vorbei, würde er nicht mehr durchstehen.

Nicht mehr der Hunger, sondern eine nie gekannte Angst, ließen Ferlan die Schritte beschleunigen.

Der junge Mann achtete nicht mehr darauf, wohin er trat. Nur nicht mehr zu Boden blicken, keine blutigen Spuren mehr sehen müssen!

Mit jedem gelaufenen Meter schwand bei Ferlan der tranceähnliche Zustand, der ihn, seit er die abgeschlachteten Wölfe gefunden hatte, im festen, gedankenlähmenden Griff gehalten hatte. Auch Ferlans Ekel vor dem Gesehenen wich einen kurzen Augenblick, als ihm dämmerte, dass er wahrscheinlich mehr über das Vorgefallene wusste, als ihm lieb war.

Ob der Unbekannte, der Ferlan mit Dreck und Steinen beschmissen hatte, als er den Wölfen vom Fluss aus in den Wald folgen wollte, etwas damit zu tun hatte? War er einer der Wilderer und hatte sich durch Ferlans Interesse an den Tieren gestört gefühlt?

Die Wut in Ferlan wuchs. Hätte er sich doch nur nicht vertreiben lassen! Dann wären die Wilderer womöglich verschwunden - und später wieder zurückgekehrt...

Bei dem Gedanken erschauerte Ferlan. Wer wusste schon, zu was diese Berserker noch alles fähig waren, wenn ihnen schon das Leben eines Tieres nichts außer dem Geld für deren Felle wert waren?!

Ganz untätig wollte Ferlan nicht bleiben. Ob er es nur wegen den Tieren oder auch sich selbst und seinem schuldbeladenen Gewissen zuliebe tat, wusste er nicht, aber er wollte diesen Personen keine weitere Chance mehr gönnen, so etwas wie dieses Abschlachten erneut veranstalten zu können! Und das wenige Wissen, das ihm blieb, musste reichen. Mehr Anhaltspunkte zum Aussehen der Wilderer, außer dem bisschen, das er an dem Fremden mit der Steinschleuder erkannt hatte, besaß Ferlan nicht. Bis auf die hellen Augen, die aus dem schmutzigen Gesicht gut hervorstachen, konnte sich Ferlan an kaum etwas von dem Verdächtigen erinnern. Der Rest setzte sich nur aus Schemen und Umrissen zusammen.

Vielleicht reichte es ja, um wenigstens diesen Unbekannten irgendwann ausfindig zu machen und für dieses sinnlose Massaker zur Rechenschaft zu ziehen?

Ferlan kletterte über einen felsigen Hügel. Nicht mehr lange und er war am Fluss, in bekanntem Gebiet.

Auf der anderen Seite des kleinen Felsen sprang Ferlan behende hinab. Unten wollte er den Sprung abfedern, aber die Erde unter Ferlans Füßen gab unerwartet nach. Ferlan sackte plötzlich ein und steckte kurz darauf bis zu den Knien im Waldboden.
 


 

Ferlan schrie erschrocken auf und fluchte im nächsten Moment, als er seine missliche Lage sah. Er setzte sich, um nicht noch weiter einzubrechen und bewegte probeweise sein fest im Boden steckendes linkes Bein.

Sein Stock lag zerbrochen neben im, aber wenigstens hatte er sich selbst nicht verletzt, dachte Ferlan erleichtert, als er keinen Schmerz spüren konnte.

Ferlan sah sich um. Es schien, als wäre er auf einen alten Kaninchenbau oder Ähnliches getreten. Jetzt wusste er zumindest, dass es hier Kaninchen gab...

Ferlan begann, den Boden um seinen unfreiwilligen Sitzplatz herum abzutasten. Die Erde war fest. Alleine die Stelle im näheren Umkreis, an der er eingesackt war, war lockerer als der Rest. Er konnte es also riskieren, sein Bein gefahrlos zu befreien und aufzustehen, ohne noch mehr Schaden anzurichten.

Ferlan stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab und zog mit einem kräftigen Ruck sein Bein aus der Falle hervor.

Der lehmige Waldboden um das von Ferlan eingetretene Loch fiel etwas in sich zusammen und eine kleine Lawine aus Laub und Grund rutschte ins Erdinnere.

Ein kaum hörbarer Laut, so leise, wie das Piepsen eines Vogels, erklang, doch bei der Stille aber war er gerade laut genug, um von Ferlan bemerkt zu werden.

Der junge Mann stutzte und horchte.

Sekunden später folgte ein weiterer Ton - ein unterdrücktes Winseln.

Ferlan legte den Kopf schief, um die Lage genauer auszumachen, aus der das Winseln kam.

Unter ihm, ganz klar. Das leise Jaulen kam unmittelbar aus dem Bereich, auf dem er saß!

Ferlan wollte aufspringen, besann sich allerdings.

Wenn sich der Verursacher der klagenden Laute unter ihm und dem brüchigen Erdboden befand, dann musste er auf jede Bewegung achten, die er tat, damit der noch feste Grund nicht ebenfalls nachgab.

Vorsichtig rutschte Ferlan nach hinten, weg von dem Loch im Boden. Er kniete sich hin und beugte seinen Kopf lauschend etwas weiter zur Erde hin.

Das Winseln, das er zu hören geglaubt hatte, war verstummt. Nur das leise raschelnde Laub unter seinem Körper war zu vernehmen.

Sollte er sich doch getäuscht haben?

Ferlan kroch auf allen Vieren um das Erdloch herum. Als unter seinen Knien ein kleiner Ast knackend zerbrach, ertönte zeitgleich wieder das das Winseln.

Etwas war da unten in der Erde und es wollte offensichtlich nicht dort sein!

Nun kam Leben in Ferlan. Er legte sich bäuchlings auf den Boden, robbte durch das Laub und folgte dem unterirdischen Winseln, bis er an eine Stelle kam, an der die weinerlichen Geräusche am lautesten waren.

Ferlan stieß seine Hände in die modrige Erde und begann zu graben.
 

Ferlan grub weiter und mit jedem freigelegten Stück des Bodens tauchten immer mehr kleine Fellbündel in dem höhlenartigen Bau auf, in dem Ferlan eingebrochen war. Der junge Mann schaufelte weiter Erde aus dem Loch, bis endlich fünf kleine leblos wirkende Fellbündel, Wolfswelpen, vor ihm im Laub lagen. Nach ein paar Zentimetern kam auch noch der Kopf eines größeren Wolfes zu Tage - die Mutter der Kleinen, und augenscheinlich tot.

Ferlan hob eines der kleinen Wesen hoch und kontrollierte es auf Lebenszeichen. Doch es regte sich nichts. Schlaff hingen die Beinchen des kleines Wolfs herab und der Kopf baumelte haltlos zur Seite.

Wie es aussah waren alle erstickt. Die Wilderer hatten bei ihrer Hatz wohl den Bau der Wölfin und ihrer Welpen übersehen und waren darüber hinweg getrampelt.

Und er selbst auch.

Ferlan legte den toten Welpen neben die anderen. Er war zu spät gekommen und hatte zu viel Zeit mit graben verbraucht. Ferlan wollte die toten Tiere wieder zurück in ihren zerstörten Bau legen, als die Pfote eines der kleinen Wolfsjungen zuckte. Nur ein letzter Reflex der Nerven? Ferlan fasste den Welpen unter den Vorderbeinchen und hielt ihn sich vors Gesicht. Der junge Mann presste sein Ohr gegen die fellige Brust des Tieres und horchte. Ein leises Pochen war zu hören. Ferlan schloss die Augen und bemühte sich, das Geräusch seines eigenen Pulses von dem des leblos scheinenden Wolfs zu trennen. Und es gelang.

Es war tatsächlich nicht nur sein eigenes Blut, das Ferlan rauschen hörte, sondern ein sehr leises unregelmäßiges Klopfen kam aus dem Rumpf des Tieres.

Hastig bettete Ferlan den kleinen Wolf auf seinem Schoß. Er öffnete das Maul des Welpen und sah hinein. Der hintere Teil des Rachens war mit Dreckklumpen verstopft. Ferlan schob die winzige Zunge des Welpen zur Seite, steckte zwei Finger in das kleine Maul und befreite alles sorgfältig von dem Dreck.

Nachdem seine Luftröhre frei war, erklang plötzlich ein Würgen und Husten, und kurz darauf erbrach der Welpe die letzten Erdbrocken.

Auch bei den anderen Welpen verfuhr Ferlan so.

Bei Dreien hatten Ferlans verzweifelte Bemühungen schließlich Erfolg und nach einigen kräftigen Niesern, die die kleinen schwarzglänzenden Schnauzen von den letzten Erdklumpen erlösten, tapsten die drei kleinen Wolfsjunge auf wackeligen Beinen um Ferlan herum und begutachteten noch etwas desorientiert ihren Retter, der vor ihnen auf dem Boden saß und glücklich die fortschreitende Erholung seiner neuen kleinen Bekannten beobachtete.

Eine grau-braune Wölfin mit dunklen strubbeligen Haaren auf dem Kopf, ein kleiner Rüde und eine Wölfin mit schwarzem Fell waren die einzigen Überlebenden. Die einzigen von ehemals zwanzig Rudelmitgliedern...
 

Noch etwas distanziert und ein wenig misstrauisch gegenüber Ferlan, schlichen die kleinen Wölfe wenige Meter um den jungen Mann herum. Doch die welpenhafte Neugier ließ sich bald nicht mehr auf Dauer zügeln und ihre zaghaften Kreise um Ferlan herum begannen sich zu verkleinern.

Ihre Scheu überwindend, krochen die drei Wölfchen, die unablässig schnuppernden Schnauzen dicht an den Boden gedrückt, näher auf Ferlan zu. Mit jedem unerwarteten Laut zuckten sie ängstlich zusammen und duckten sich.

Ferlan sah gebannt zu, wie sich die drei Welpen abwartend umschauten, sich dann aber wieder ihrem Retter zu nähern begannen. Statt seiner eigenen Neugierde auf die kleinen Wesen nachzugeben blieb Ferlan sitzen und rührte sich nicht. Die Kleinen mussten selbst wissen, wann sie ihm so weit vertrauten, dass sie sich anfassen ließen.

Das kleine Strubbelköpfchen schien das Mutigste unter den Geschwistern zu sein. Es erreichte Ferlan als erstes, hob eine Pfote und legte sie auf dessen Bein. Wenige Augenblicke später folgte die zweite Pfote und nach kurzem Zögern, in dem das Wölfchen Ferlan keine Sekunde unbeobachtet ließ, machte es einen mutigen Satz und sprang gänzlich auf den Schoß des Mannes.

Herausfordernd wurde Ferlan aus knopfgroßen Augen angeschaut. Als von der Seite des Mannes jedoch nichts Außergewöhnliches geschah, tapste der Welpe offensichtlich mächtig stolz darauf, das wohl größte Wagnis seines jungen Wolfslebens erfolgreich hinter sich gebracht zu haben, triumphierend über seinen neuen Besitz. Er sprang von dem eroberten Schoß herunter und wetzte einer großen Hummel hinterher, die ihm vor die Schnauze flog.

Auch die beiden anderen Wölfchen folgten nun dem Beispiel des Ersten. Eines umrundete Ferlan, betrachtete sich den Fremden von allen Seiten und der andere probierte frech, was passierte, wenn man dem großen Mann in den Stiefel biss.

Ferlan lachte auf. Er entzog dem kleinen Frechdachs den Schuh und hielt ihm ersatzweise seine Hand hin.

Die beiden auf der Erde herumwuselnden Wölfe hielten auf ihrer Erkundungsreise rund um Ferlan inne und beschnupperten wissbegierig der Hand, die sich ihnen entgegen streckte. Einige prüfende Nasenstüber später, ließen sie sich bereitwillig von Ferlan berühren.

"Und du bist das Anhänglichste, oder?", sagte Ferlan zu dem Strubbelköpfchen, das jetzt wieder auf seinem Schoß saß und sich von dem jungen Mann unter dem Kinn kraulen ließ. Immer näher rückte der Welpe zur streichelnden Hand hin und reckte den Kopf höher und höher, bis er irgendwann das Gleichgewicht verlor und von Ferlans Bein purzelte.

Erschrocken rappelte sich das Wölfchen vom Boden auf, wo es zu liegen gekommen war. Empört über dieses kleine Missgeschick, schüttelte es kurz den Kopf, so dass seine Ohren wie zwei Flügel hin und herflatterten und sprang wieder auf Ferlans Schoß. Mit einem ungeduldigen Kläffer in Richtung des lauthals lachenden Ferlans, verlangte es nach mehr Streicheleinheiten.
 

Der Winzling mit der piepsigen Stimme kam wohl zu dem Schluss, dass es einen Grund geben musste, weshalb seine Schwester nicht mehr von der Seite des großen Menschen wich, und erklomm nun seinerseits unbeholfen Ferlans Schoß.

Er stellte sich auf seine kleinen Hinterbeinchen, legte die Vorderpfoten auf die Brust des Mannes und machte einen raschen Sprung Richtung Ferlan, um diesem mit seiner rosigen Zunge über das Kinn zu lecken.

Ferlan wischte sich über die nasse Stelle an seinem Kinn. "Das war aber eine nette Begrüßung", lachte er und wuschelte dem Kleinen durch das Fell. Das Wölfchen wedelte freudig mit dem Schwanz und wollte eine erneute Aktion starten, wurde aber von seiner Schwester daran gehindert.

Das Strubbelköpfchen sah sich vernachlässigt. Gewichtig schob es sich zwischen den Mann und sein Brüderchen und drängelte den Störenfried kurzerhand von Ferlans Schoß.

Der Winzling setzte sich auf und kläffte seine rücksichtslose Schwester an.

Die kleine graue Wölfin sprang nun ebenfalls vom Schoß des Mannes und wetzte zu ihrem Bruder, der, das wackelnde Hinterteil in die Höhe gereckt, auf dem Boden kauerte und, sobald seine Schwester sich ihm näherte, aus seiner Lauerstellung auffuhr und nach der Wölfin schnappte.

Ein paar mal ging dieses Spiel noch so, bis es der Wölfin zu bunt wurde. Sie rang ihren bissigen Bruder blitzschnell nieder, bis der erschrocken fiepte und von seiner stärkeren Schwester abließ.

Mit hängenden Ohren trollte sich der Kleine und suchte sich eine andere Beschäftigung.
 

Die schwarze Wölfin mit dem Knick am Ende ihrer Rute hatte sich zwischenzeitlich auf Jagd begeben.

Amüsiert sah Ferlan zu, wie der Welpe seiner Beute, einem blau-glänzenden Käfer, durch das Unterholz folgte.

Der Käfer, dem die für seine kleinen Verhältnisse riesige Wolfsschnauze wohl unheimlich vorkam, flüchtete sich geschwind unter einen Haufen Blätter. Doch die kleine Wölfin gab sich nicht geschlagen. Sie presste ihre Schnauze tief zu Boden und durchwühlte damit das Laub, unter dem der Käfer untergetaucht war. Aber das winzige Tier blieb spurlos verschwunden.

Ein letztes enttäuschtes Schnauben der Wölfin, das die Blätter vor ihrer Schnauze aufwirbelte, ertönte, dann widmete sie sich wieder ihren Geschwisterchen, die nicht weit von ihr entfernt herum tollten und Blätter von niedrigen Sträucher abrissen, um sie nach kurzem Kauen wieder auszuspucken.

Ferlan lehnte sich gegen einen Baumstamm und verschränkte die Arme vor der Brust.

Müde vom Spielen krabbelten die drei Wölfchen gegen Abend auf Ferlans Schoß, rollten sich, jedes dicht an das andere gekuschelt, zusammen und schlossen die Augen.
 

Nachdem die kleinen Wölfe eingeschlafen waren, blieb Ferlan noch eine Weile sitzen. Als aber ein immer stärker werdendes Kribbeln durch seine angewinkelten Beine zog, wurde er unruhig und versuchte, durch abwechselndes Positionieren, seine Beine besser zu durchbluten. Eigentlich müsste er sich aus dieser unbequemen Lage befreien, doch die leise schnaufenden Welpen auf seinem Schoß ließen Ferlan seinen Plan vergessen.

Ratlos sah der junge Mann auf die drei Fellknäuel hinab.

Was sollte er jetzt mit ihnen tun? Sie einfach hier lassen und auf ihren angeborenen Instinkt vertrauen, der sie eventuell am Leben lassen würde?

Ferlan reckte die Hand nach den Wölfen aus und streichelte ihnen über das wollig-weiche Fell. Das Strubbelköpfchen drehte sich auf den Rücken und streckte seine vier Beinchen von sich, schlief aber selig weiter.

Ferlan griff nach einer im Schlaf zuckenden Pfote und klaubte ein paar Blätter aus den Zehenzwischenräumen, die sich darin verfangen hatten. Die kleinen ledrigen Hautballen an der Unterseite der Tatze fühlten sich warm an, voller Leben, das er unmöglich so leichtfertig riskieren könnte, indem er die Wölfchen alleine im Wald zurück ließ, dachte Ferlan.

Die Hand des jungen Mannes strich über den sich regelmäßig hebenden Brustkorb bis hinauf zur leicht geöffneten Wolfsschnauze. Prompt öffnete sich das kleine Mäulchen unter der Berührung noch weiter und schnappte mit den kleinen nadelspitzen Zähnen nach Ferlans Fingern.

Die Kleinen würden Hunger haben, wenn sie wach wurden.

Nein, er könnte sie nicht einfach hier zurück lassen. Auch wenn sie nicht mehr nur ausschließlich auf Muttermilch angewiesen zu sein schienen, waren sie doch noch zu klein, um auf eigene Faust im Wald zu überleben. Irgendjemand musste bei ihnen bleiben, bis sie selbständiger waren und von alleine jagen konnten. Eine Mutter oder eine restliche Familie, die diese Aufgaben normalerweise übernahmen, gab es nicht mehr.

Nur wie sollte er diese Aufgabe bewältigen? Er brachte ja nicht einmal selbst etwas Anständiges zur Strecke, von dem er sich ausreichend ernähren konnte, wie sollte er da drei kleine Wolfswelpen durchbringen?

Ferlan seufzte auf. Er hatte sich entschieden.
 


 

Sachte, damit sie nicht erschraken, nahm Ferlan einen der Wölfe nach dem anderen von seinem Schoß und legte sie auf dem weichen Moosteppich ab, auf dem er saß.

Die Kleine mit dem Knick in der Rute war sofort wach. Aufmerksam spitzte sie die Ohren und folgte Ferlan mit ihren Blicken, der nun aufstand und seine eingeschlafenen Beine ausschüttelte, um wieder Leben in sie zu bringen.

Ferlan legte einen Finger auf seine Lippen und bedeutete der Kleinen, die leise vor sich hin fiepte, still zu sein. Er bückte sich zu ihr hinab und strich ihr über das eifrig gereckte Köpfchen.

Aufgeschreckt durch ihr winselndes Geschwisterchen wurden auch die anderen beiden Wölfe hellwach. Flink waren sie auf den Beinchen und rannten so schnell sie konnten hinter Ferlan her.

Das Strubbelköpfchen biss sich in einem schmalen Lederriemen fest, der an der Seite von Ferlans Stiefel herab hing und wurde von dem Gehenden mitgeschleift. Der Winzling und die schwarze Wölfin sprangen neben Ferlan her und kläfften ihn an, als wüssten sie genau, dass der Mann sie alleine lassen wollte.

"Ihr könnt erst einmal mitkommen", erklärte Ferlan seinen kleinen hartnäckigen Verfolgern. "Vorerst!", fügte er streng hinzu, als wolle er sich selbst eine weitere Möglichkeit offen halten, wenn das Zusammenleben nicht funktionieren sollte.

Die drei Welpen achteten nicht auf die bestätigenden Worte. Für sie war Ferlan schon längst etwas Lohnendes, dem man unbedingt hinterher rennen musste und das man auf keinen Fall entwischen lassen durfte. Sie strichen dem Mann schmeichelnd um die Beine, der sich durch diese Geste endgültig erweichen ließ.

Sie waren einfach noch Babys, die Fürsorge brauchten.

"Es wird schon gehen", murmelte Ferlan.

Doch ehe er mit seinen neuen Mitbewohnern zu seinem Unterschlupf gehen konnte, musste noch etwas anderes erledigt werden.
 

Ferlan ging, gefolgt von den Wölfchen, zum wenige Meter entfernten eingestürzten Bau. Je näher sie eben diesem kamen, umso aufgeregter wurden die kleinen Wölfe. Sie hatten den vertrauten Geruch ihres ehemaligen Zuhauses anscheinend bereits gewittert, noch ehe es in Sicht war und stromerten suchend um ihren alten Bau herum.

Ferlan nahm die kleinen schlaffen Körper der Welpen, die nicht überlebt hatten, und legte sie zu ihrer Mutter in das teilweise freigegrabene Erdloch.

Danach schob Ferlan den Bau mit genügend Grund zu und verteilte Laub und Äste darauf, bis er absolut sicher war, dass niemand, erst recht nicht die Wilderer, die zum Grab gewordene Kinderstube entdecken würde.

Wenigstens im Tode sollten sie ihre Ruhe haben, wenn schon nicht in ihrem zu kurzen Leben.
 

Ferlan wandte sich den drei wartenden Wölfchen zu, die auf der Stelle zu ihm gerannt kamen und sich an ihn drängten.

Die restlichen toten Tiere fielen Ferlan wieder schmerzhaft ein. Was war mit ihnen? Wieder dorthin wollte er nicht. Er konnte ihren Anblick kaum aushalten. Und Begraben ging schon gar nicht.

Blieb nur zu hoffen, dass sich die Natur der geschändeten Tiere selber annahm...

"Bereit?", wollte Ferlan von seinen kleinen Gefährten wissen. Er nahm die Wölfe auf den Arm und erhob sich. "Morgen überlegen wir uns ein paar Namen für euch, in Ordnung?!"
 


 

Vor seiner kleinen Höhle setzte Ferlan die Wölfchen ab. Augenblicklich wurde das Gebiet von den drei neuen Bewohnern ausgekundschaftet und in Beschlag genommen.

Ferlan indessen sammelte weiche Mooskissen, die er von Steinen und vom Boden aufklaubte, trug sie in seine Höhle und legte alles vor der hinteren Wand auf einen kleinen Haufen. Das würde als Bett für die Welpen reichen.

"Gefällt es euch?", wandte sich Ferlan an die Wölfe, die hinter ihm in die Höhle getapst kamen. Die Drei schnüffelten in allen Ecken, betrachteten sich auch das Moosbett und machten es sich schließlich auf Ferlans Umhang bequem, den der junge Mann zusammengefaltet neben dem großen Stein liegen hatte.

"So etwas fangen wir erst gar nicht an." Ferlan hob seine drei Untermieter von seinen Kleidern und legte die protestierenden Wölfe auf den selbsterrichteten Schlafplatz an der Wand. "Das ist euer Bereich", sagte er streng und setzte die Wölfchen, die immer wieder aufstanden und zu dem wärmenden Stoffstück zu gelangen versuchten, hartnäckig zurück auf ihren vorgesehenen Platz.

Nach einigen Kämpfen gaben die Welpen schließlich nach. Zu groß war die Müdigkeit. Sie legten sich auf dem Moosbett nieder, krabbelten noch ein wenig umher, bis ihnen ihre Lage gefiel und schliefen kurz darauf ein. Auch Ferlan, der sich auf dem Stoffstück, in dem er seine Habseligkeiten transportiert hatte, niederlegte, schlief irgendwann ein.
 

Die Nacht schritt voran. Es war schon weit nach Mitternacht, da wurde Ferlan wach. Eine seltsame Unruhe hatte ihn aus seinem tiefen Schlaf gerissen. Die kleinen Wölfchen hatten wohl Heimweh und sich zu dem jungen Mann gelegt. Ferlan wollte sich erheben, um die Welpen notfalls zu trösten, spürte aber plötzlich etwas in seinem Nacken, das ihn wieder zu Boden presste.

Ein erschrockener Laut kam Ferlan über die Lippen. Der Griff um seinen Hals wurde verstärkt und ein Gewicht verlagerte sich auf seinen Rücken. Etwas Kaltes drückte ihm gegen die Kehle und bei Ferlan sträubten sich alle Nackenhaare. Die Situation war nicht neu.

"Tyrna?", wisperte Ferlan.

Es folgte keine Antwort.

Ferlan musste kurz die Augen schließen. "Ich bin nicht bewaffnet, Tyrna, wenn du also wieder gekommen bist, um mich zu töten, dann tu es doch endlich!", stieß Ferlan mühselig hervor. Er wartete, aber noch immer bekam er keine Antwort. Nur der Druck auf seinen Hals wurde nahezu unerträglich. Wie eiserne Schlingen klammerten sich die kalten Finger seines Hintermanns um Ferlans Kehle und würgten ihn, bis ihm schwindelig wurde.

Ferlan unterdrückte die hochkommende Panik und versuchte an den kleinen Dolch an seinem Gürtel zu kommen, den er auch im Schlaf nicht mehr ablegte. Doch er griff ins Leere. Das Messer war nicht mehr da!

Unbewaffnet, die Gefahr sprichwörtlich im Nacken, lag er bäuchlings auf dem Boden und wusste noch nicht einmal, wem er das zu verdanken hatte.

"Tyrna?", fragte Ferlan unsicher nach. Hatte sein Schwager das Sprechen verlernt oder weshalb sagte er nichts? Ferlan hob vorsichtig seine Hand und zuckte gleich darauf schmerzerfüllt zurück. Ein kleiner Schnitt, aus dem Blut hervor quoll, klaffte auf seinem Handrücken.

"Du", erklang nun eine heisere Stimme hinter Ferlan, die dem jungen Mann kalte Schauer über den Rücken laufen ließ.

Die Hand an Ferlans Hals lockerte sich für einen Sekundenbruchteil und Ferlan nutzte diesen kurzen Augenblick der Freiheit. Er stieß den Angreifer mit dem Ellenbogen von sich und rollte sich rasch auf den Rücken. Die Beine endlich wieder frei habend rückte Ferlan ein Stück weit nach hinten weg und starrte ins Dunkel vor sich.

Zu seiner Überraschung sah Ferlan sich jedoch nicht wie schon befürchtet seinem Schwager gegenüber. Der Fremde, der ihn am Fluss daran gehindert hatte, den Wölfen zu folgen, hockte vor Ferlan auf dem Boden und streckte ihm drohend den kleinen Dolch entgegen, den Ferlan schon vermisst hatte.

Das Gesicht des unbekannten jungen Mannes hob sich bleich gegen die dunklere Umgebung ab. Schlecht verheilte, rote Kratzer zogen sich von einer Wange über den Mund bis zum gegenüberliegenden Unterkiefer hinunter. Er hatte die Augen aufgerissen und starrte Ferlan wütend an. Das Schwarz seiner erweiterten Pupillen verdrängten die hellen Iriden fast vollständig. Er öffnete den Mund, sagte aber nichts mehr. Nur sein keuchender Atem war zu hören.

Ferlan wollte noch etwas weiter von dem Fremden wegrücken, hielt jedoch abrupt inne und hob beschwichtigend die Hände, als dieser wieder mit dem Messer auf ihn einstechen wollte. Ferlan blieb nun lieber ruhig liegen und wartete ab. Der andere war nicht einzuschätzen und immerhin hatte er es fertig gebracht, lautlos in Ferlans Höhle einzudringen und diesen zu entwaffnen, ohne dass er etwas davon bemerkt hatte.

Der Unbekannte hob nun erneut seine eisige Stimme an und jedes Wort, das er sprach, ließ Ferlan mehr und mehr erbleichen. "Du hast die Wölfe getötet, jetzt wirst du dein Leben für ihres geben müssen!"

Ehe Ferlan auch nur ein Wort erwidern konnte, machte sein Gegenüber einen Satz nach vorne und der Dolch blinkte auf, als seine Hand auf Ferlan nieder fuhr.
 

~ Ende - Kapitel 8 (9) ~



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Kommentare zu dieser Fanfic (26)
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Von:  hamfre
2005-06-16T17:53:39+00:00 16.06.2005 19:53
Hallo!
Hab mir gerade deine Story durchgelesen und finde sie sehr schön!!! Ich würde mich freuen wenn es bald weiter geht!!!

cu
Von:  Kasandra
2005-02-28T20:19:18+00:00 28.02.2005 21:19
Hy
Ich habe gerade deine Geschichte entdeckt und finde sie klasse.
ich würde gerne wissen welcher Unterschied zwischen dem Adult und dem zensirtem teil ist könntest du mir den adult Teil schicken?
Bitte!!!
Ich hoffe du schreibst bald weiter.
Kasandra
Von:  Kitty
2005-02-16T19:55:59+00:00 16.02.2005 20:55
Juhu, jetz hab ich endlich das erste Kapitel gelesen!! ^__^ (oO gott, bin ich lahm)... ich find du kannst total gut beschreiben!! Das ist echt der hammer, mir gefällt dein Schreibstil! Vorallem der kleine Neffe von Ferlan (hieß er so, ich hab ein furchtbares Namensgedächtnis...) wie er nach der Kette greift und so, das konnt man sich so richtig vorstellen. Total süß klang das^^
Ich werde bald weiterlesen... bloß hab ich jetz nich viel Zeit =.= Also denn bis zum nächsten Kapi^^
Von: abgemeldet
2004-12-04T08:54:47+00:00 04.12.2004 09:54
Hallo!

Was kann ich schreiben, was die anderen nicht schon geschrieben haben und was gleichzeitig nicht eine Wiederholung von dem ist, was ich selbst schon mal geschrieben habe?
Das ist gar nicht so leicht..
Vielleicht der Punkt "Dialoge"!
Mir gefällt es sehr, dass sie in diesem Kapitel so viel Platz einnahmen! Und trotzdem gingen Beschreibungen etc. nicht unter...Das ist wirklich toll gemacht!! Wie bekommt man das nur so hin? O.O Bei mir wieder nicht sehr viel geredet...*selberärger*
Und dann stimme ich doch einfach mal wieder jemandem zu:
Milu hat recht, das Kapitel ist wirklich beeindruckend! Es..."wirkt" einfach! (Wer versteht was ich meine kann stolz auf sich sein, mir fehlt einfach das richtige Wort! ^^'')
Zum Schluß dann noch die Bemerkung, dass es mir gefällt, wie viel man über die Charaktere erfährt! Das macht die Identifikation richtig einfach!
Bye

Pitri
Von: abgemeldet
2004-12-03T14:20:45+00:00 03.12.2004 15:20
Hallo!

Ich habe leider nicht viel Zeit - ich sitze noch in der Fh und schreibe im Grunde heimlich ^^'' - aber einen Kommentar bekommst du trotzdem!
Von der Länge her war das Kapitel schon mal toll! ^^
Und die Rechtschreibung wie immer ebenfalls!
Und um hekari zuzustimmen: Wölfe!! ^^
Einfach ein tolles Thema! ^^
Das einzige was mich etwas stört waren die Absätze. Nicht, das ich etwas gegen Absätze habe, aber sie waren oft recht kurz und zumindest mich stören diese Leerzeilen und die Wechsel immer etwas beim Lesen. Doch das ändert ja nichts an der Geschichte!
Bis dann!

Pitri
Von: abgemeldet
2004-11-13T03:41:38+00:00 13.11.2004 04:41
Salve!
ÄRSCHTA x3~

Wah~ ich liebe Wolf-Lover (°_°) Voll genial, irgendwie - niemand sonst schreibt geschichtliche Fics und dann auch noch so tolle mit Wölfen. (^_^) Mit jedem Kapitel, das du schreibst, wird's toller ... Bitte schreib schnell das nächste :3

Nyarr. Ich fand die Szenen mit Tyrna und Bedana toll, aber irgendwie fehlte da das Feuer. Die beiden sind doch verheiratet und alles, die müssen sich lieben, oder? Ich meine jetzt nicht, dass du hingehen solltest und heiße Sexszenen schreiben, aber ich weiß auch nicht, ein bisschen mehr Liebe? Wäh, ich weiß auch nicht, wie ich das jetzt sagen soll. Kennst du die Bücher von Diana Gabaldon um die Frau, die durch den Steinkreis ins Schottland von vor zweihundert Jahren zurückreist und da ihre große Liebe trifft? Das klingt jetzt kitschig, aber die sind absolut genial und tasuendmal so unterhaltend und die Charaktere und wah~, lies es xD Was ich sagen wollte ... Ich mag in diesen Büchern die Beziehung zwischen Claire (dem Steinkreistouri *lol*) und Jamie (der Schotte aller Schotten und nebenbei Claires Mann und absolut toll °_°), die beiden lieben sich von ganzem Herzen und das kommt halt auch rüber mit Feuer und allem. Das ist es, was mir etwas zwischen Tyrna und Bedana fehlt.
Melva ist süüüß~ =3

Die Entwicklung der Geschichte gefällt mir. Du erzählst von beiden Seiten gleichermaßen - von Ferlan und auch von Tyrna und den anderen Dorfleuten. Das macht die Story interessant, sie wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, von gleichermaßen interessanten Charakteren. Die Idee, die beiden Stämme zusammenzulegen, finde ich gut, das bringt ein bisschen "politischen" Wind in die Sache ... Nur, ich finde, die Situation auf der Versammlung eskaliert zu schnell. Kaum sagt Tyrna ein Sterbenswörtchen, gehen die Calahar an die Decke wie ein Faß Dynamit. Ih meine, ich an Uisvars Stelle hätte meinen Leuten vorher klargemacht, was ich will, und das gehört ja wohl nicht dazu. Uisvar kommt mir auch nicht gerade vor wie der Mann, der seine Männer nicht unter Kontrolle hat. Diese Szene kam mir etwas zu gekünstelt vor. ^^°

Die Beschreibung von Ferlans Leben in der Wildnis ist dir interessant gelungen, wie er mit seinen Problemen kämpft, wie er sie zu lösen versucht und alles ... Ich fand das mit der Höhle lustig xD
Die Beschreibung des Waldstückes mit den Tierleichen ist auch so eindrucksvoll genug, danke, dass du die detailiertere Darstellung den älteren unter uns überlassen hast *hüstel*

Das macht für mich keinen Sinn: Ferlan weiß, dass es eine große Truppe war, und will nur diese eine Person daraus finden? Gut, er "kennt" ja auch nur die eine Person, aber dass er sie dann stellvertretend für alle zur Rechenschaft ziehen will, ist irgendwie kindisch, das hätte ich von ihm nicht erwartet ...

Awww, awwwwwwwwwww, awwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww, Wolfswelpen *schmelz* Großartig, genial, einzigartig, süß, fantastisch, faszinierend, super, toll, eine Fic mit Wölfen (°_°) Ich liebe sie ... Escht mal ... WOLFSWELPEN ... Ich meine, WOLFSWELPEN ... Waaaaaah *anbet* Die Beschreibung, wie sie spielen, ist ja so~ niedlich! Zum Knutschen! Das konnte ich richtig vor meinen Augen sehen x3~
Ich finde, Ferlan sollte den Wölfen Namen geben - das macht sie für den Leser individueller. Und du kannst dir die aufwendigen Beschreibungen (Knick in der Rute, Strubbelköpfchen, Wasweißich ...) sparen. :)

Manchmal sind deine Sätze etwas unübersichtlich, ich finde darin zu viele Verbindungen mit "und" - entweder setz Kommas zur besseren Übersicht oder mach gleich neue Sätze draus, das erleichtert das Leseverständnis. :)

Jetzt nich ein bisschen Kleinkram:

>>Aber so war es einmal wieder Alinor
wieder einmal. Das ist so ein hinterlistig versteckter Anglizismus, "once more", und selbst dann müsste es noch "einmal mehr" heißen - was aber genauso dumm klingt wie es ist. ;)

>>Verärgert machte sich Ferlan auf den Heimweg.
Heimweg is' *lol* Wie wär's stattdessen mit Rückweg?

>>der Ferlan mit Dreck und Steinen beschmissen
BEWORFEN. Bitte. BITTE (;_;) "beschmissen" klingt so dämlich.

Alles in allem hat's mir gefallen, und du bist eine Sadistin, immer an den spannendsten Stellen aufzuhören. xD~
ich sag nur:

*sabbbaÜ +gaifa* *lächts* SCHREIB WEIDÄ DA SIST VOL COOL!!!!!!!11111!!!!!!!!!!11

xDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDD

~ Milu
Von: abgemeldet
2004-10-18T07:50:36+00:00 18.10.2004 09:50
Hallöchen!

Um den anderen mal zuzustimmen: Die Rechtschreibung ist wirklich gut! ^^
Selbst mit der Hilfe von word schaffe ich sowas nicht. *seufz*
Einerseits mag mich also die Technik nicht, andererseits bin ich zu faul um selber zu kontrollieren...^^''
Also bewundere ich dich einfach mal, dass das bei dir klappt! ^^
Und dann wieder ein schönes langes Kapitel....O.O
Ich muß mir daran mal ein Beispiel nehmen. ^^''
so sit man richtig gut drin in der Geschichte und es ist schon richtig schade, dass ich jetzt nicht weiter lesen kann! Vor allem, wo mich das Ende so neugierig gemacht hat...^^ Naja, bald!!
*wink*

Pitri
Von: abgemeldet
2004-10-10T06:08:57+00:00 10.10.2004 08:08
Kuckuck!!

Bevor die FH morgen losgeht noch mal ein Komentar von mir!!
Also:
Schon allein die Namen!!
Klasse!!
Woher hast du die??
Sie gefallen mir total!! *nick*
Und dann mal wieder deine Beschreibungen...Zum Beispiel "Ein kleines grünes Blatt segelte zu seinen Füßen und Ferlan hob es auf.
Gedankenverloren drehte er es zwischen Zeigefinder und Daumen hin und her." Einfach klasse!! Kaum Wörter und trotzdem entsteht dabei eine Atmosphäre....Ich bin echt begeistert!! ^^
Hoffentlich komme ich bald wieder zum Lesen...^^''
Bye

Pitri
Von:  katana09
2004-01-02T17:23:30+00:00 02.01.2004 18:23
hallöchen

müsst mi eigentlich schämen dass i die story erst jetzt gfunden hab....
ich find sie spitze ;)
bitte schreib sobald wie möglich weiter!!!!

grüße
katana09
Von:  hekari
2003-08-04T15:12:50+00:00 04.08.2003 17:12
Conichi wa!

Das Kapitel ist sehr schöm. Mal wieder alles rund und im einwandfreiem Stil niedergeschrieben. Die Action ist schon ganz gut ausgebaut, ich finde die Kampfszene toll. Nur das Abschiednehmen wird langsam lang.
Geht er jetzt? wohin? wann kommen die wolfis?
Es ist gut wenn Leser mit Spannung den Fortgang erwarten ich freu mich jedenfalls sehr drauf.

Hekari


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