Kenn ich dich?
Petunia unterdrückte einen Aufschrei, als sie in Harrys Zimmer trat. Vor ihr auf dem Boden hockte eine etwa sechsjährige Version ihres fast 17-jährigen Neffen und spielte selbstvergessen mit einigen alten Bauklötzen von Dudley. Als er sie entdeckte, schaute er ganz erschrocken drein.
„’schuldige, Tante Petunia. Ich räum sie sofort weg!“
An diesem Punkt hielt Petunia für das beste, sich erst einmal zurückzuziehen. Auf keinem Fall wollte sie in einem Zimmer bleiben, in dem so offensichtliche Zauberei durchgeführt wurde. Rückwärts gehend zog sie sich zurück, die Augen immer auf ihren Neffen gerichtet, der nun damit beschäftigt war, hastig die Bauklötze wegzuräumen. Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, atmete sie erleichtert auf. Als Harry etwa eine halbe Stunde später, als ob nichts geschehen wäre, in der Gestalt des Teenagers, der er war, in die Küche kam, sagte sie kein Wort. Hauptsache, es war wieder alles so, wie es sein sollte.
Zwei Jahre zuvor war Harry enttäuscht gewesen, nicht zum Vertrauensschüler ernannt worden zu sein. Heute wünschte er sich von ganzem Herzen, dass er auch das Abzeichen des Schulsprechers nie erhalten hätte. Er wusste beim besten Willen nicht, wie er den Posten ausfüllen sollte, wo er doch auch noch Quidditchkapitän war und am Ende des Jahres die UTZ anstanden. Aber er hatte niemanden enttäuschen wollen, also hatte er die Ehre akzeptiert. Was wiederum bedeutet, dass er, anstatt die Reise nach Hogwarts zu genießen, gezwungen war, sich mit einer Gruppe von Vertrauensschüler herumzuschlagen, von denen er die meisten praktisch gar nicht kannte.
Zum Glück war (den allgemeinen Erwartungen entsprechend) der Posten der Schulsprecherin an Hermine vergeben worden. Mit Feuereifer hatte sie tagelang Pläne, Alternativpläne und Notfallpläne für die Kontrollrunden der Vertrauensschüler im neuen Schuljahr ausgearbeitet. So bestand seine Aufgabe in erster Linie darin, neben ihr zu sitzen und zuzuhören, wie sie Anweisungen gab und den neuen Vertrauensschülern unermüdlich die Regeln einschärfte, nach denen diese sich zu verhalten hatte. Als ihm schließlich das Wort übergeben wurde, hatte sie im Grunde schon alles gesagt, was zu dem Thema gesagt werden konnte. Nervös räusperte er sich.
„Uns allen ist eine Ehre zuteil geworden. Aber mit dieser Ehre ist auch eine Verantwortung verbunden. Ich bin zuversichtlich, dass ihr alle dieser Verantwortung gerecht werden werdet.“
„Und was weißt du schon von der Verantwortung eines Vertrauensschülers?“ unterbrach ihn prompt Draco Malfoy. „Du bist doch nie einer gewesen. Aber natürlich ist für den großen Harry Potter nur das Beste gut genug. Was andere sich hart erarbeiten bekommt er unverdienterweise hinterher geschmissen.“
Harry antwortete nicht. Im Grunde gab er Malfoy recht. Schulsprecher war er jedenfalls gewiss nicht wegen seiner überragenden Noten oder seinem Regelbewusstsein zu verdanken. Ron jedoch verlor sofort die Beherrschung.
„Harry hat mehr für die Schule getan, als jeder Schüler in den vergangenen Jahren! Du bist ja nur neidisch!“
„Ich sage nur, wie es ist!“ gab Malfoy zurück. „Einige von uns haben hart gearbeitet. Oder was meinst du, Boot? Nachdem du jahrelang deine Pflicht erfüllt hast, findest du es richtig, dass man dich abschiebt?“
Kein ungeschickter Zug, das musste Harry ihm zugestehen, auf diese Weise zu versuchen, die Ravenclaws auf seine Seite zu ziehen. Doch Terry ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Wenn du die Schulchronik kennen würdest, dann wüsstest du, dass schon zuvor Schulsprecher ernannt worden sind, die vorher keine Vertrauensschüler waren. Dieser Posten wird nicht nur aufgrund von Noten vergeben, sondern vor allen auch an besonders erwachsene Schüler, die die nötige Reife für diesen Posten besitzen. Harry hat einen Krieg für uns gekämpft und gewonnen. Es hat wohl niemand je mehr für Hogwarts und seine Schüler getan.“
Fast alle im Abteil nickten zustimmend und Harry wurde ganz verlegen. Draco lehnte sich schmollend zurück. Normalerweise wäre die Diskussion damit wohl erledigt gewesen, aber Rons Temperament war viel zu sehr in Wallungen geraten, um die Sache auf sich beruhen zu lassen.
„Was hast du denn geglaubt, Frettchen? Das du den Posten bekommst? Weil du so gut darin bist, deine Position auszunutzen? Oder hast du gedacht, der Einfluss deines Vaters würde ihn dir verschaffen? Ups, ich vergaß, der ist ja in Azkaban! Der einzige, der dort noch beeinflusst wird, ist er selbst, von den Dementoren.“
Malfoy war hochrot angelaufen während Rons kleiner Ansprache. Außer sich vor Wut sprang er auf.
„Das wirst du mir büßen!“
Er wollte sich auf Ron stürzen, doch ehe er auch nur einen Schritt getan hatte, sah er sich bereits von mehreren Schülern mit gezückten Zauberstäben umringt. Überraschenderweise machte keiner der Slytherins die geringsten Anstalten, ihm zur Hilfe zu kommen. Sogar Pansy saß schweigend da und beobachtete, wie ihr Freund in die Ecke gedrängt wurde. Einer der jüngeren Vertrauensschüler aus Ravenclaw, drückte ihm seinen Zauberstab an die Kehle.
„Niemand hier interessiert sich für deinen Mist, Malfoy!“
Noch ehe jemand etwas unternehmen konnte, hatte er einen Zauber ausgesprochen. Harry erkannte die Worte, mit denen Ron sich in ihrem zweiten Schuljahr aus Versehen selbst verflucht hatte. Sofort wurde Malfoy ganz blass im Gesicht, schlug die Hand vor den Mund, drängte sich durch die wie erstarrt dastehenden Schüler und stürzte aus dem Abteil.
Die zurückbleibenden sahen sich verstört an. Niemand hatte gewollt, dass es so weit kommt. Sicher, Malfoy hatte so etwas schon lange verdient, aber einen Wehrlosen zu verfluchen ging nicht nur den Gryffindors gegen den Strich.
Harry räusperte sich.
„ Fünf Punkte Abzug für Ravenclaw!“
Von allen Seiten war Widerspruch zu hören, aber Harry ließ nicht mit sich reden.
„Was immer Malfoy gesagt hat, er hatte seinen Zauberstab nicht gezogen, es gab keinen Grund, ihn zu verhexen. Und jetzt vergessen wir die Angelegenheit!“
Mit diesen Worten verließ er das Abteil und überließ es somit Hermine, sich mit den aufgebrachten Vertrauensschülern auseinanderzusetzen. Sein Kopf schmerzte. Einen Moment lehnte er sich gegen die Tür und massierte seine Schläfen, aber dann wandte er sich zur nächstgelegenen Toilette. Er war sich sicher, dass Malfoy dorthin gelaufen war, und als Schulsprecher war es wohl seine Pflicht sich zumindest davon zu überzeugen, dass er halbwegs in Ordnung war. Ein misslungener Fluch konnte ganz schönen Schaden anrichten.
Im Gegensatz zu denen in Muggelzügen waren die Toiletten im Hogwartsexpress sehr geräumig. In jeder gab es mehrere Kabinen und Waschbecken. Sobald Harry durch die Tür trat, konnte er Malfoy in einer Kabine würgen hören. Er zögerte. Er wusste beim besten Willen nicht, was er zu seinem Rivalen sagen konnte, ohne einen erneuten Streit zu provozieren. Seine Kopfschmerzen wurden immer heftiger. Das war alles einfach zu viel für ihn. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Ein junges Mädchen stand in der Toilette des Hogwartsexpresses und betrachtete sich kritisch. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, als sie sich diese Kleidung angezogen hatte? Dabei hatte sie doch, als sie sich nach ihrem 17. Geburtstag in der Winkelgasse aufhielt, extra einige hübsche Kleider und Roben besorgt. Und nun trug sie eine Jeans, die dank des Gürtels nicht von ihrer Hüfte rutschte, und ein viel zu weites, fadenscheiniges T-Shirt. Sie sollte sich so schnell wie möglich umziehen!
In dem Augenblick wurde eine Kabinentür aufgerissen und ein blasser Junge trat heraus. Er sah ziemlich krank aus, also fragte sie besorgt: „Ist alles in Ordnung?“
„Was geht dich das an? Mach lieber Platz!“ Herrschte er sie an. Sie warf ihr dunkelrotes Haar schwungvoll über ihre Schulter zurück, und verschränkte die Arme vor dem Körper.
„Kein Grund mich so anzufahren! Ich war nur besorgt um dich!“
„Besorgt?“ er schnaubte verächtlich. „Weißt du nicht, wer ich bin?“
Sie betrachtete ihn eingehend, sein zurückgegeltes Haar, sein spitzes Kinn und die hochmütige Haltung.
„Nein, ich habe keine Ahnung, wer du bist. Ist das von Bedeutung?“
Nun wirkte er überrascht.
„Ich bin Draco Malfoy!“
Die Betonung auf dem Nachnamen war nicht zu überhören. Draco erwartete offensichtlich irgendeine Reaktion von ihr. Als diese nicht kam, wurde er verwirrt.
„Der Sohn von Lucius Malfoy? Dem bekannten Todesser? Zur Zeit im Hochsicherheitstrakt von Askaban?“
Sie interessierte sich nicht für Politik. Weder der Name, noch der Begriff Todesser sagten ihr etwas. Von dem, was Draco da sagte, begriff sie nur eine einzige Tatsache, und die machte sie sehr traurig.
„Dein Vater ist im Gefängnis? Wie schrecklich für dich!“
Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu.
„Findest du? Die meisten sagen, dass er bekommen hat, was er verdient hat.“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Davon verstehe ich nichts. Aber für dich muss es schwer sein, deinen Vater auf diese Weise zu verlieren.“
Ärger machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Er ist nicht tot!“ erklärte er. „Und er hat noch immer viel Einfluss!“
„Aber er kann nicht erleben, wie du die letzten Tage deiner Kindheit verbringst, oder wie du deinen Abschluss in Hogwarts machst. Das ist doch traurig, oder?“
Für einen Moment wirkte er betroffen, dann schob sich wieder die undurchdringliche Maske vor sein Gesicht.
„Wer bist du überhaupt! Ich habe dich hier noch nie gesehen. Doch kein Weasley, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. Langsam hatte sie es satt, sich so anschnauzen zu lassen.
„Nein, kein Weasley! Was ist jetzt, brauchst du Hilfe?“
„Ich komme schon allein zurecht!“ fauchte er. Dann schob er sich an ihr vorbei zum Waschbecken. Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich zum gehen. „Wer nicht will, der hat schon!“ dachte sie für sich.
„Warte!“
Sie hielt an der Tür inne.
„Wie ist dein Name?“
„Lilith! Lilith Anne Jameson!“
Mozart stand im Raum der Wünsche und gab sich ganz seiner Musik hin. Er war froh, endlich seine geliebte Querflöte wieder benutzen zu können. Wie hatte er sich nur je mit der Holzflöte, die Hagrid ihm geschnitzt hatte, zufrieden geben können? Nun, genauso genommen hatte er das auch gar nicht. Erst hatte er die Flöte nicht anrühren wollen, aus Angst, sich zu verraten. Als er dann doch gezwungen gewesen war, sie zu benutzen, um Fluffy einzuschläfern, war ihm klar geworden, dass dieses Instrument, auch wenn es mit liebe geschnitzt worden war, doch niemals an seine geliebte Querflöte heranreichen würde. Er behielt die Holzflöte zwar, aber die wenigen Male, an denen er darauf gespielt hatte, war er nicht mit dem Herzen dabei gewesen.
Doch das sollte nun anders werden. Mozart wollte nicht mehr dazugehören. Er wollte nicht länger an der hektischen Welt mit ihren Forderungen teilnehmen. Er wollte nur noch bei seiner Musik sein.
Und so stand er in dem geräuschisolierten Raum, der für seine Bedürfnisse erschaffen wurden war und spielte das Konzert für Harfe und Flöte in C-Dur, zweiter Satz. In der Ecke stand eine vom Raum erschaffene magische Harfe und begleitete ihn. Die langen goldenen Locken fielen ihm über die Schulter, auf seinem statuengleichen Gesicht lag ein verzückter Ausdruck, die Lider waren fest über seine silberfarbenen Augen geschlossen.
Mozart hatte keinerlei Interesse, mit der Welt um sich herum in Kontakt zu treten. Und im gewissen Sinne konnte er das auch gar nicht mehr. Mozart war stumm.
Yra wusste, er war anders als die anderen. Lilith erinnerte sich nur an ihre eigene Existenz. Die Lücken in ihrem Gedächtnis nahm sie gar nicht war. Sie war eben Lilith Jameson, mehr brauchte sie nicht zu wissen.
Klein-Harry erinnerte sich nur an alle Ereignisse, die bis zu seinem eigenen Alter geschehen waren. Mozart hingegen hatte zwar alle Erinnerungen von Harry, hatte sie aber ganz und gar als die eigenen adaptiert und für sich interpretiert. Wenn man ihn fragen würde, wer Harry war, dann würde er wohl einfach mit den Schultern zucken. Falls er überhaupt reagieren würde.
Yra hingegen wusste genau, was er war. Er wusste, dass seine hoch gewachsene Gestalt, die einem jungen Tom Riddle sehr ähnlich sah, nur das Ergebnis von Metamorph-Fähigkeiten war. Er wusste auch, dass er nur ein Teil von Harry Potters Persönlichkeit war, der Teil, der alle Slytherin-Qualitäten aufwies. Er war der einzige von allen, Harry eingeschlossen, der Parsel sprechen konnte. Er war auch derjenige, der das Wissen über die dunkleren Zaubersprüche wie den Cruciatus erhalten hatte. Und er war auch der, der die Herrschaft über Harrys Unterbewusstsein hatte. Es war manchmal schwierig, die anderen Alter zu kontrollieren, aber meistens gelang es ihm zu verhindern, dass sie Harrys Geheimnis preisgaben.
Er sorgte dafür, dass Mozart nur im Raum der Wünsche übte. Er hatte Klein-Harry eingesperrt, seit sie wieder in Hogwarts waren. Lilith unter Kontrolle zu halten, war praktisch unmöglich, vor allem deshalb, weil ihr Teil in Harrys Geist nur von einem Vorhang abgetrennt war. Doch bislang hatte er wenigstens dafür sorgen können, dass sie wartete, bis Harry alleine war, bevor sie sich rauswagte.
Er selbst verließ nur selten die Sicherheit von Harrys Geist. Meistens während Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Ansonsten war er zufrieden damit, zu beobachten, und nur im Notfall einzugreifen. Er sah nun wirklich keinen Sinn darin, zu riskieren, dass Harry oder gar jemand anderes misstrauisch wurde. Außerdem musste ja jemand die Eisentruhe mit den vielen Vorhängeschlössern bewachen.
Anm.: Ersteinmal möchte einigen Leuten danken: Erstens Scooter-XP für das Beta-lesen der Prologs, was mich dazu gebracht hat, den gesammten Text nochmal zu überarbeiten, dann Ophidien, mit der ich intensiv einige Dinge im diesem Kapitel diskutiert habe, was mir für die Beschreibung der Begegnung zwischen Lilith und Draco sehr hilfreich gewesen ist, und schließlich Starlight, die sich bereiterklärt hat, für mich beta zu lesen, obwohl Slash nicht unbedingt ihr Lieblingsgenre ist, und sie auf m-preg so gar nicht steht.
Dann möchte ich noch eine Erklärung abgeben: Eigentlich war es so geplant, dass ich erst HPe zuende schreibe, ehe ich für diese Geschichte weitere Kapitel hochlade. Die Sache ist nur, dass ich im Augenblick nicht zum schreiben komme, da ich sehr viel für die Uni zu tun habe. Deswegen habe ich mich entschlossen, wenigstens dieses Kapitel hochzuladen, damit ihr etwas habt um die Zeit zu überbrücken. Geschrieben habe ich es schon vor Monaten und in den letzten Wochen nach und nach überarbeitet.
Zum Schluss möchte ich euch noch darauf aufmerksam machen, dass ich einen One-Shot geschrieben habe...ich schätze mal, dass das hier auf Animexx etwas untergegangen ist. Bis jetzt hat den jedenfalls noch niemand kommentiert, obwohl ich ihn schon vor Wochen hochgeladen habe, und ich würde gerne eure Meinung hören.
Also dann bis zum nächsten Mal,
gruß, Swanpride