Heimflug
Es wurde wieder telefoniert. Inzwischen konnte sich Kuro das Wort merken und auch die anderen Begriffe, die damit zu tun hatten.
Lord Genesis rief an, um Bescheid zu sagen, dass er mit Crimson ins Schattenreich zurückkehrte, weil der Magier sein Schlossherz nicht länger allein lassen wollte. Der Vampir deutete an, dass Crimson mit Soach ein paar Takte reden wollte... laut Sugoroku hatte es aber nicht so geklungen, als müsste der Prinz der Eisigen Inseln sich Sorgen machen.
Soach wurde auch kurz an das Gerät gebeten. Er machte ein ziemliches Geheimnis aus der Sache, aber Kuro ließ nicht locker.
„Sag schon... was hast du da ausgeheckt? Irgendwer ist doch da noch im Spiel!“ drängte er.
„Ich habe organisiert, dass Crimsons spezieller Freund ihn in England besucht,“ informierte Soach ihn.
„Drück dich deutlicher aus!“ Kuro war genervt von dieser Heimlichtuerei.
Schließlich ließ seine Hoheit sich zu der gewünschten Information herab: „Arcana, der Zauberer... er ist der Duellant, der immer Crimsons Karte gespielt hat. Ich fand, dass es eine gute Gelegenheit wäre, wenn die beiden sich mal treffen und aussprechen. Arcana hat sich bei mir für die Idee bedankt... er bleibt auch gleich noch in England, um sich von Fachärzten untersuchen zu lassen. Wegen seines vernarbten Gesichts, weiß du.“
„Ach, dieser Typ, von dem er immer nichts hören will... na wenn das mal gutgegangen ist...“
„Naja, scheint so. Das kann Crimson uns ja dann erzählen.“
Kuro verdrehte die Augen. „Falls er das macht. Wenn es um diesen Duellanten geht, ist er ziemlich schweigsam.“
Seto rief ab und zu an, und später am Tage kam er mit der Limousine und brachte eigenhändig mehrere Duel Disks mit, die dann im Laden verkauft werden sollten. Natürlich war Yami bei ihm. Sugoroku hatte den beiden schon erzählt, dass die Besucher abreisen wollten, also wollten sie sich verabschieden.
Auch Joey rief an und sagte, dass er wieder okay war. Er und Marik trudelten ein, als es schon dunkel wurde, denn der Antiquitätenladen hatte immer bis neunzehn Uhr auf. Der ehemalige Hund wurde überschwänglich begrüßt und ließ sich das auch gerne gefallen, aber dann klemmte er sich Yugi unter den Arm und knuffte ihn mit der Faust auf den Kopf. „Mich einfach Marik mitzugeben!“ Dasselbe wiederholte er mit Yami, dann blieb er unschlüssig vor Seto stehen, der ihn mehr als nur abweisend ansah.
Marik trat neben Joey. „Brauchst du Hilfe?“
Gemeinsam überwältigten sie auch Seto und unterzogen ihn einer ähnlichen Behandlung. Sugoroku hingegen kam mit ein paar scherzhaften Bemerkungen davon.
„Au weia... bestimmt sind wir auch gleich dran,“ murmelte Kuro, nur um festzustellen, dass Soach nicht mehr neben ihm stand. „Hey... Dieser Kerl!“
Doch gleich darauf entdeckte er den Gesuchten: Er verschwand gerade mit Sugoroku im mittlerweile geschlossenen Laden. Kuro eilte hinterher, ehe Joey ihn erwischen und für die Vorfälle verantwortlich machen konnte. Als der Magier den Laden betrat, wurde er Zeuge, wie Soach eine verpackte Dueldisk entgegennahm. Er trat neugierig näher.
„Du musst sie nicht bezahlen... es war so schön mit euch, da gebe ich sie dir gerne,“ sagte Sugoroku.
„Wenn sie ein Geschenk für mich wäre, würde ich das dankend annehmen, aber ich erwerbe sie für einen anderen. Also...“ Soach schien zu überlegen, griff an verschiedene Stellen in seiner Kleidung und zog schließlich ein kurzes Schwert aus einer versteckten Halterung an seinem Gürtel. Er reichte es Sugoroku mit dem Griff voran.
Der alte Mann hob abwehrend die Hände. „Nein, nein, das muss ein Vermögen wert sein...“ Zugleich leuchteten aber seine Augen vor Begeisterung, und als der Blauhäutige nicht von seinem Angebot zurücktrat, nahm er das Schwert ehrfürchtig an sich.
„Es ist gar nicht so unglaublich wertvoll... eher zweckmäßig,“ erklärte Soach. „Wie du siehst, ist der Griff sehr schlicht gehalten und nicht extra beschichtet, er ist lediglich mit einem Lederband umwickelt für besseren Halt und hat ansonsten die gleiche silberne Farbe wie die Klinge. Die ist allerdings extra stabil gearbeitet, damit der Benutzer damit sogar durch manche Rüstungen stoßen kann, oder durch Insektenpanzer und dicke Tierhaut. Die eingravierten Runen machen das Schwert stark gegen Unterweltler und Zombies.“
Und das nannte er nicht wertvoll? Eine Waffe von den Eisigen Inseln, getragen von einem Prinzen, war niemals Massenware. Kuro seufzte innerlich, aber ihm war auch klar, dass Soach mit seinen Worten Sugoroku ermutigen wollte, das Schwert anzunehmen. Für einen Archäologen musste die Waffe noch einen ganz besonderen Wert haben.
Damit war das Tauschgeschäft dann auch besiegelt und die Duel Disk wechselte den Eigentümer. Kuro glaubte nicht, dass Soach das Ding mit ins Schattenreich nehmen wollte, daher folgte er dem Mann zurück ins Wohnzimmer.
Aus sicherer Entfernung beobachtete er, wie Soach zu Joey ging und ihm die Duel Disk überreichte. Ob er sich dafür verantwortlich fühlte, dass Joeys alte Duel Disk kaputt gegangen war? Kuro musste lächeln, als er zusah, wie die beiden sich kurz gut gelaunt unterhielten. Dann aber nahm Soachs Gesicht einen ernsten Ausdruck an, der auch auf Joey abfärbte. Die beiden gingen zusammen vor die Tür, und der Finsternismagier spürte, dass er lieber nicht hinter ihnen her schleichen sollte.
Als alle sich im Wohnzimmer an den großen Esstisch setzten und bei einer Runde Saft einfach noch ein bisschen schwatzten und abwechselnd Gandora knuddelten, warf Kuro immer wieder nervöse Blicke zur Tür. Es dauerte gut eine halbe Stunde, bis Soach und Joey wieder zu ihnen stießen. Beide wirkten sehr ernst und Joey schien ein wenig blass zu sein, doch außer Kuro fiel es vielleicht niemandem auf, denn der Junge hatte gleich wieder ein Grinsen drauf, als er einen freien Stuhl beanspruchte und von seinen Freunden scherzhaft auf den Boden verwiesen wurde.
Kuro hatte einen Platz neben sich freigehalten. „Was hattet ihr zu bereden?“ erkundigte er sich halb besorgt und halb neugierig.
„Ich hatte den Eindruck, dass Joey eine Erklärung verdient... dafür, dass er den Chaoshexer nicht mehr spielen kann und sich als Hund durchschlagen musste. Also habe ich es ihm erzählt,“ sagte Soach.
„Was... alles?“ hakte Kuro nach. „Etwa auch... ich meine... darüber redest du doch sonst nicht!“
Soach seufzte und lächelte ansatzweise. „Naja... nicht mit jedem zumindest. Es... tat mal wieder ganz gut, das jemandem zu erzählen. Die ganze Geschichte, angefangen damit, dass der junge Bursche mit dem Diebesgut vor dem Schlosstor auftauchte.“
„Die ganze Geschichte also... ist alles in Ordnung?“
„Sicher...“
Kuro beobachtet, wie der andere den leicht traurigen Ausdruck von seinen Zügen verbannte, als ihn jemand ansprach. Seit wann sorgte er sich um den Kerl? Er benahm sich bald noch wie Crimson, wenn er nicht ganz schnell wieder damit aufhörte. Allerdings war es ja nicht verkehrt, ab und zu mal einen... Freund... nach seinem Befinden zu fragen. Aha. Sein Verstand nahm Soach jetzt als Freund wahr. Na großartig.
Sie saßen noch eine Weile mit den Duellanten am Tisch und amüsierten sich, aber allzu lange wollten sie die Gruppe nicht mehr vom Schlafen abhalten, denn soweit sie es mitbekommen hatten, mussten die meisten früh aufstehen.
Und so verabschiedeten sie sich gegen Mitternacht herzlich von allen und quetschten sich mit Joey auf die Rückbank des kleinen aquablauen Autos. Der Blonde wollte nämlich unbedingt mitfahren.
Das gleiche galt für Sugoroku, der auf dem Beifahrersitz Platz nahm und es sich nicht nehmen ließ, Gandora auf dem Schoß zu halten. Yugi fuhr den Wagen. Yami wollte auch gerne mit, ließ aber dem Großvater den Vortritt.
Sie hatten sich im Laufe des Abends darauf geeinigt, vom Stadion aus abzufliegen, um der ganzen Sache einen runden Abschluss zu geben. Außerdem war der Weg nicht so weit wie zum Stadtrand. Nun, da die Abreise unmittelbar bevorstand, erwischte Kuro sich dabei, dass er gerne diese Welt als Wanderer erkundet hätte.
Die Fahrt kam ihm viel kürzer vor als bei seiner Ankunft. Schon standen sie vor dem leeren Stadion und fanden keinen Grund mehr, um die Sache noch aufzuschieben. Kuro knackte das Schloss des vergitterten Eingangstores mit etwas Magie, während seine Freunde mit ihren Körpern die Sicht auf ihn verdeckten. Sie schlichen sich schnell ins Innere, als gerade niemand hinsah.
Hier hatten Soach und Kuro den großen Vorteil, dass sie im Dunkeln gut sehen konnten. Yugi erschuf eine schwache Lichtkugel, als sie sich etwas vom Eingang entfernt hatten. Ungefähr in der Mitte blieben sie stehen und ließen Gandora ausreichend Abstand zwischen sich und die Gruppe bringen, ehe er sich zu seiner wahren Größe zurückverwandelte.
„Besucht uns mal wieder,“ sagte Sugoroku mit seltsam emotionaler Stimme. „Ihr wisst ja, dass Lord Genesis ein Weltentor hat, es muss also nicht immer so ein Zauberding sein.“
„Bestimmt können wir es mal einrichten,“ versprach Kuro. „Viel Erfolg morgen, Sugoroku.“
„Ach du liebe Zeit!“ rief der Alte. „Ich habe ja ganz vergessen, mein Deck zu überarbeiten! Dabei hat Yugi mir ja morgen einen Duelltag eingebrockt! Ach herrje, ach herrjeeee!“
Die Gruppe lachte, schließlich wussten sie alle, dass jeder wahre Duellant stets ein einsatzbereites Deck hatte.
Gandora senkte seinen Kopf zu ihnen und stieß jeden der Zurückbleibenden noch einmal gurrend an. Für Soach und Kuro gab es noch eine Runde sentimentale Umarmungen. Dann aber kletterten sie auf den Rücken des Drachen und riefen noch ein paar Worte des Abschieds, bevor Gandora sich abstieß und mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft schraubte.
Es waren ein paar Wolken am Himmel, aber sie stiegen problemlos höher und starrten ins Firmament. Unten leuchteten die Lichter der Stadt wie ein zweiter Sternenhimmel.
„Ist schon klasse, was?“ murmelte Kuro. „Und was haben wir jetzt erreicht?“
„Du meinst, welches Ziel der Notfallzauber verfolgt hat? Ich glaube, es waren mehrere Dinge...“ Soach schwieg einen Moment, in dem er wahrscheinlich die Punkte in Gedanken zusammenstellte. „Erstmal haben wir etwas Abwechslung in den Alltag einiger Leute gebracht. Sugorokus Geschäft wurde angekurbelt. Du hast erkannt, dass du aufhören kannst, dir aufwendigere Zauber zu verkneifen, weil niemand mehr in deinem Hirn ist, der dich zu Gewalttaten verleitet. Crimson konnte mit Arcana sprechen. Und natürlich Joey. Durch seine Verwandlung hat er erfahren, dass Marik auf ihn steht.“
Kuro hob überrascht die Augenbrauen. „Ach ja, hat er dir das gesagt?“
„Ja. Als ich mit meiner Geschichte fertig war, erzählte er mir seine. Mai hat ihn nicht gewollt, und er hat Jahre darauf verwendet, bei ihr zu punkten. Also probiert er es jetzt mit Marik, denn der will ihn. Damit sind beide im Moment zufrieden. Joey wird jetzt übrigens eine Lehre als Händler anfangen... ich hab den genauen Begriff vergessen. Jedenfalls kann er dann für Leute, die ein Geschäft haben, den Papierkram erledigen. Das ist in dieser Welt ganz wichtig.“
„Verstehe. Und was hast du für dich erreicht?“
Wieder schwieg Soach einen Moment. Sein Gesicht war noch immer den Sternen zugewandt. „Ich wollte noch einmal die Sterne dieser Welt sehen und mit einem Drachen zu ihnen hinauf fliegen,“ antwortete er dann. Er streckte eine Hand aus, wie um einen zu greifen. „Sie haben mir geholfen, eine Entscheidung zu treffen. Jetzt werde ich daran arbeiten.“
Ja, Kuro hatte bemerkt, dass Soach wieder etwas mehr sein altes Selbst war, nachdem er die Sterne betrachtet hatte. Von dem seltsamen Gewitter mal ganz zu schweigen. Er fragte nicht nach, was das für eine Entscheidung war. Eins war ohnehin klar: Wenn ein Mann nach den Sternen griff, dann hatte er höhere Ziele, als mit seinem Schicksal ins Reine zu kommen.
Gandora flog schneller, und die beiden Männer legten sich flacher auf seinen Rücken.
„Es geht los – halt dich fest!“ rief Soach.
Kuro klammerte sich an seinem Vordermann fest und hoffte, dass dieser diesmal seine Hände an Gandoras Hals ließ, schließlich bestand ja kein Grund mehr, irgendwie herumzufuchteln, oder? Diesmal wussten sie, was mit ihnen passierte und waren darauf vorbereitet. Allerdings wurden sie dann trotzdem ziemlich durchgerüttelt, als das Weltentor sich auftat und sie schluckte, und Kuro hatte so eine Ahnung, dass er wieder Kopfschmerzen haben würde.
Sie landeten direkt in einem Regenschauer und waren Sekunden später durchgeweicht, aber die Situation war so banal, dass sie lachen mussten. Gandora brüllte langezogen, um seine Ankunft anzukündigen. Unter ihnen befand sich Schloss Lotusblüte. In vielen Fenstern brannte noch Licht.
Kuro spürte, wie seine mentale Verbindung zu seinem Schlossherz wieder sicher einrastete. Er würde Onyxenia schnellstmöglich besuchen müssen. Sie schien beleidigt zu sein, denn sie hielt sich im Moment noch mit Schimpftiraden zurück. Zweifellos sparte sie diese für später auf, wenn er persönlich anwesend war.
Aber noch eine andere Präsenz teilte sich ihm wieder telepathisch mit, während sie einen der Landetürme anflogen.
[Soach?]
[Ja. Ich bin wieder zu Hause.]