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André und das Leben

von

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Kapitel eins - Suche
 

Ich weiß nicht so recht, ob ich in der richtigen Straße bin.

Früher hätte ich den Weg im Schlaf und mit verbundenen Augen gefunden, ich habe dort schließlich fast gewohnt, doch heute bin ich unsicher, weil alles so fremd, so seltsam erscheint.

Noch einmal blicke ich auf den zerknitterten, alt gewordenen Brief, den mein bester Freund mit geschickt hat, auf die klare Schrift, mit der er die Adresse draufgeschrieben hat.

Wiesengrund zweihunderzwei- und ich wusele noch bei dreizehn herum.

Seufzend mache ich mich auf den Weg, nicht sicher, ob ich überhaupt jemals ankommen will...

Manchmal soll man Vergangenes einfach vergangen sein lassen.

Doch ich weiß, dass es längst zu spät ist - in dem Moment, in dem ich deinen Brief geöffnet habe, war ich bereit, hierher zurück zu kommen.

Ich muss es einfach wissen, muss erfahren, ob das der Grund ist...

Ob er der Grund ist, das alles schief läuft.

Es ist seltsam - ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern, egal, wie sehr ich es versuche, es bleibt mir fremd, egal wie oft ich versuche, mich an das Äußere, die Figur, das Haar zu erinnern, es gelingt mir nicht, doch ohne dass ich nachdenken muss, sehe ich die warmen, dunkelgrauen Augen vor mir, die immer viel zu intelligent gewirkt haben.

Ich glaube, diese Augen sind es auch, die mich wieder zurück in diese Stadt getrieben haben - seit sieben Jahren kommunizieren wir nur noch über Briefe, Briefe am Geburtstag, Weihnachten und Ostern, haben uns kein einziges Mal gesehen und das, obwohl wir einst ein Herz und eine Seele waren...

Aber ich muss es herausfinden.

Wieder fällt mein Blick auf den grau gewordenen Brief, der schon vor einem Jahr in meinem Postkasten gelegen hat.

Wir haben damals kein Wort darüber verloren, nie darüber geschrieben, warum ich nicht gekommen bin - wir haben uns einfach gar nicht mehr geschrieben...

Ich glaube, ich habe Angst.

Angst davor, zurück zu kommen und zu sehen, dass sich nichts geändert hat und doch alles anders ist, Angst davor, einem völlig anderem Menschen zu begegnen - ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn mein bester Freund jemand anderes geworden ist.

Ich weiß, dass nicht alle das verstehen können, doch all die Jahre zuvor waren wir immer zusammen, haben Blutsbrüderschaft geschlossen und sind wie Geschwister gewesen - bis mein Vater alles kaputt gemacht hat.

Ohne es zu merken bin ich angekommen, stehe vor dem großen Hochhaus, das erst vor kurzem renoviert wurde und schaue hinauf, so, als hoffte ich, jemand zu sehen.

Doch natürlich schaut keiner heraus, und so lasse ich meinen Blick fahrig über die Klingeln schweifen.

Maurer, Müller, Jablonowski, Thät, Wilden, Jörissen - alles leere Namen ohne Bedeutung, einfach ausdruckslose Gesichter ohne Seele.

Auch die nächsten Schilder bergen nichts, was es sich zu merken lohnt, nichts, was auffällt, und je weiter ich lese, desto klarer wird es mir:

Er steht nicht da.

Er wohnt nicht hier.

Mir ist bewusst, wie absurd es ist, doch gleichzeitig würde es alles erklären - es braucht nur ein Brief abhanden gekommen zu sein und schon wird mir klar, warum er mich nicht abgeholt hat, warum er mir nicht geantwortet hat - die Briefe gingen ins Leere...

Na Klasse.

Seufzend lasse ich mich auf die kleine Treppe fallen, die in das Gebäude führt und blinzele in die Sonne.

Was zum Teufel soll jetzt nur aus mir werden?

Ich kann doch Nirgendwo anders hin...

Resigniert schließe ich die Augen und versuche, an nichts zu denken, was jämmerlich scheitert - mein Kopf ist voller Gedanken, die wirr herum schwirren, und erst ein Schatten der auf mein Gesicht fällt, lässt mich aufschrecken.

Ein großer, kräftiger Junge mit blondem Haar und einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase beugt sich zu mir herunter und schnüffelt, wohl um zu sehen, ob ich betrunken bin.

"Hey, was machst du hier? Kann ich dir vielleicht weiterhelfen?"

Ich blicke ihn ein wenig verwirrt an, doch dann schaltet mein Gehirn und ich beschließe, ihn einfach zu fragen.

"Ich suche André Neustädter, eigentlich sollte er hier wohnen..."

Der fremde Junge legt den Kopf schief und scheint zu überlegen.

"Ungefähr so groß wie ich, blonde Haare, dunkelgraue Augen, sportlich...?"

Obwohl ich mir nur bei den Augen sicher bin, nicke ich einfach, was ihm ein Kichern entlockt.

"Klar kenne ich den...

Wäre ja verwunderlich, wenn nicht.

Er hat vor uns in der Wohnung gewohnt, zusammen mit seinen Eltern.

Wenn ich mich richtig erinnere, leben sie jetzt weiter in der Stadt, in einem eigenen Haus...

Kann mich aber auch irren."

Er wirft mir einen letzten Blick zu und verschwindet dann durch die Eingangstür.

Und mit ihm meine Hoffnung, Andrés Adresse zu bekommen.
 

Weil ich nicht weiß, was ich machen soll, bleibe ich einfach auf der Treppe sitzen und beobachte die vorbeilaufenden Menschen.

Erstaunlich, wie viele junge, männliche Leute es gibt, wenn man darauf achtet, und irgendwie scheinen sie alle Sonnenbrillen zu tragen oder in eine andere Richtung zu sehen.

Eigentlich ist es sinnlos, hier herumzusitzen, doch ich habe keine Lust, den Hausmeister nach der neuen Adresse zu fragen - außerdem weiß ich nicht, wo der ist.

Die Sonne steht schon tief, und ich freue mich darüber, dass es immer noch nicht regnet - anscheinend hat der Himmel sich heute Mittag ausgeweint.

Es ist ein schönes Gefühl, hier zu sitzen, und plötzlich fällt mir ein, dass wir das früher öfter gemacht haben, wenn André seinen Schlüssel vergessen hat...

"Kevin?"

Die warme, tiefe Stimme reißt mich aus den Erinnerungen, und als ich aufblicke, sehe ich einen jungen Mann mit hübschem Gesicht, der, wie könnte es anders sein, eine Sonnenbrille trägt.

"Wirklich..."

Der Fremde scheint sehr überrascht zu sein, und als er dann auch noch den Augenschutz abnimmt, erkenne ich ihn.

So dunkelgraue Augen gibt es nur einmal.

"Hallo André...

Ihr seid umgezogen?"

Er nickt, fast mechanisch, und in der seltsamen Stille, die eine starke Distanz aufbaut, frage ich mich, ob es klug gewesen ist, herzukommen.

Dann tritt ein warmes Lächeln auf sein wirklich attraktives Gesicht und er reißt mich plötzlich hoch, um mich eine halbe Ewigkeit lang zu umarmen.

"Hey Kleiner, schön dich wiederzusehen...

Mensch, ist das lange her!"

Ja, da hat er recht - es ist lange her.

"Sehr lange...", flüstere ich leise, bevor ich seinen breiten Rücken ebenfalls fest umschlinge.
 

Ich bin angekommen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Drachenwind
2006-04-02T10:05:34+00:00 02.04.2006 12:05
den mein bester Freund mit geschickt hat,

ich glaube statt mit mir

Ich weiß nicht, der 2. Teil klingt für mich ein wenig stockend, aber vielleicht ist das auch beabsichtigt. Ich überlege gerade, wie das kommt...
Vielleicht weil die Eindrücke gleichzeitig so spärlich und abgeschlossen einsickern. Man wird nicht erschlagen von Eindrücken und er scheint immer einzelne Dinge zu betrachten... Zum Teil kommt das auch von den vielen Absätzen. Ich glaube, wäre die Passage ein wenig länger, würde ich anfangen mich so desorientiert wie dieser Kevin fühlen...

Durch die Überschrift ist die Spannung ein wenig genommen, weil man ja schon weiß, dass sie sich wieder sehen werden...
Von: abgemeldet
2005-08-15T11:28:03+00:00 15.08.2005 13:28
Ach na endlich!
Ich hab schon befürchtet er kommt gar nicht mehr zu seinem besten Freund! Ich frag mich ja nur, warum er dann doch plötzlich aufgetaucht ist! Hat der andere ihn angerufen? *gg*
Na egal, ich muss weiterlesen!
Die Story ist echt schön geschrieben!^^
*knuddel*
Von:  Tainja
2005-08-02T08:58:13+00:00 02.08.2005 10:58
ahhhh der arme kevin...de rist ja noch voll durch den wind!!!!^^° aber echt süß das ganze, finde ich zumindestens!
und so schön geschrieben^^
lieb egrüße
das verrückte täubchen tai
Von: abgemeldet
2005-07-31T18:38:27+00:00 31.07.2005 20:38
wie kuuuhhhhlll *___*
weiter!!!^^
Von: abgemeldet
2005-07-31T12:13:53+00:00 31.07.2005 14:13
Huhu! ^^
Da hast du dir ja mal wieder was total schönes ausgedacht *seufs*!! Wie kommst du immer auf so gute ideen?? *g*
Jast du die Geschichte eigentlich, wenn du sie für einen Wettbewerb geschrieben hattest, schon fertig?? Ich freu mich schon total auf das nächste Kapi!! ^.~

Bye bye
*knuffz* Moonlight
Von: abgemeldet
2005-07-27T16:57:26+00:00 27.07.2005 18:57
*Snif* Ist das romantisch *seufz* Das ist so gefühlvoll geschrieben, so herzzereißend schön. *snif*
Das ist wirklich ein schönes wiedersehen. *-*
Ich weiß gar nicht was ich noch schreiben soll, das war so~o schö~ön. *____________________________________*

mfg *knuddel* Inu


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