Zugfahrt
Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es war, als ich das letzte Mal hier gesessen haben.
Genau hier, dritter Wagon, viertes Abteil, links am Fenster.
Es war mein elfter Geburtstag, ist also genau sieben Jahre her - und dennoch weiß ich alles noch detailgetreu.
Ich erinnere mich wirklich daran, als ob es gestern gewesen wäre, erinnere mich an den süßlichen, lilienartigen Duft, den Joanne, meine Schwester, verströmte, an die trockene Luft, die aus der Klimaanlage direkt in mein Gesicht blies, an das Geschenk meines besten Freundes, das ich schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte und an den salzigen Geschmack der Tränen, die meine Lippen benetzten und doch nicht von mir waren.
Es kommt mir fast unwirklich, falsch vor, wie ich nun hier sitze, ruhig, den Blick starr nach draußen in den Regen gerichtet und den Discman, aus dem Musik von Evanescene plätschert, auf den Ohren.
Bei der Pianoversion dieses einen, bestimmten Liedes kann ich immer am besten nachdenken, versinken in dem, was gewesen ist.
Ziellos starrt mein Blick nach draußen, nimmt weder die Bäume, noch die Häuser, die an dem Fenster vorüberrauschen, wahr, und irgendwie hoffe ich, dass der Zug nie zum Stillstand kommt, einfach für immer weiterfährt.
Es ist sinnlos, sich so etwas zu wünschen, genauso sinnlos wie die Hoffnung, die alten Zeiten könnten wieder kommen, wenn man nur stark genug daran glaubt...
Heute werde ich volljährig, und wie an jedem Geburtstag denke ich über meinen Vater nach.
Mein Vater, der immer alles kaputt gemacht hat.
Immer.
Bei der Premiere meines ersten Theaterstücks, als ich sieben war, dem Theaterstück, von dem ich ihm schon Wochen vorher berichtet hatte, war er 'verhindert'.
Er ist nie zu einem meiner Stücke gekommen und das, obwohl wir jedes Jahr eines probten.
Als ich mit acht einen Preis für mein Bioprojekt bekam, hatte er eine wichtige Sitzung in Japan.
Er hat oft Sitzungen außerhalb des Landes, das scheint zu seinem Beruf zu gehören.
Bei meinem großen Fußballsieg, der auch noch mit meinem zehnten Geburtstag zusammenfiel, hatte er wichtige Kunden, die er bedienen musste.
Mir schien es schon damals so, als wären alle Kunden wichtiger als wir.
Und als ich elf wurde, genau an meinem Geburtstag, starb er.
Einfach so.
Natürlich sind wir sofort nach England gefahren, und weil Mama sich nicht von der schönen Gegend und Vaters Grab trennen konnte, sind wir gleich da geblieben - ich habe mich nie richtig von meinem besten Freund verabschiedet.
Die Bremsen quietschen, als die Bahn hält, und eine schrille Frauenstimme kündigt die Endstation an.
Mein Vater hat sich wirklich nie damit beschäftigt, wie es anderen mit dem geht, was er macht.
Ein rücksichtsloser Mensch.