Der Goldene Ring
Sie streifte gewandt wie eine Katze durch den kleinen Wald, welcher an die Menschenstadt grenzte: ihr Revier. Jeder Strauch, jedes Tier, selbst jeder Grashalm war ihr bekannt, lebte sie doch schon seit Hunderten von Jahren hier – allein. Sie hatte nie einen anderen Vampir als ihren Schöpfer gekannt, welcher sie verlassen hatte, nachdem es nichts mehr zu Lernen für sie gab. Nur eines besaß sie, was sie an ihn erinnerte: Einen kleinen Goldring mit blauem Stein. Es war kein gewöhnlicher Ring, er war verzaubert: Er erlaubte ihr am Tage im Licht der Sonne in die Menschenstadt zu gehen, sich wie ein Teil der Gesellschaft zu fühlen. Doch durfte sie sich nicht zu häufig zeigen, ihr Ruheplatz musste unentdeckt bleiben und sie durfte niemanden verleiten, Fragen zu stellen: Wer war sie? Wo kam sie her? Wie lebte sie? Verbotene Fragen, die ihr das Sein rauben konnten. Doch noch wichtiger war es, keinem Menschen zu nahe zu kommen, sich mit niemandem anzufreunden, sich an niemandem zu halten; denn egal wie lange es dauern würde, eines Tages würde sie ihn töten und wenn sie es nicht tat, dann trüge die Zeit ihn davon – die Zeit, welche für Lucienne stehen geblieben war.
Doch an diesem Abend würde ihr eine Begegnung mit einem Menschen nicht erspart bleiben. Seit sie von einem ihrer seltenen Ausflüge in die Stadt zurückgekehrt war, spürte sie eine Anwesenheit. Wer immer es gewagt hatte, ihr Revier zu betreten, er gehörte nicht hier her.
Endlich entdeckte sie den Fremden, er rastete an eine der alten Eichen gelehnt. Kaum da sie ihm nahe kam, wurde sie Eins mit der Nacht, für das menschliche Auge unsichtbar, wie ein Albtraum, der die Menschen im Schlaf überfällt.
Aus der Nähe betrachtet, konnte Lucienne mit fast völliger Sicherheit sagen, dass es sich um einen Magier handelte: Der junge Mann mit dem kurzen Blondhaar trug einen beigen Umhang, welcher weiße Magie symbolisierte.
Sie konnte ihn töten, sich dem süßen Geruch seines Blutes hingeben, sie hätte einen zweifachen Nutzen daraus gezogen: Ihr Hunger wäre für einige Wochen gestillt gewesen und sie hätte den Eindringling aus dem Weg geräumt. Doch sie tat es nicht, entgegen ihres Instinktes, entgegen ihres Verstandes.
Da sie noch näher an den Jüngling herantrat, schreckte dieser auf. Er überraschte die Vampirin, nie zuvor hatte ein Mensch ihre Tarnung durchschaut.
„Wer ist da?“, erklang nun die Stimme des Magiers. Sie klang jung und lebendig, in keiner Silbe ängstlich.
Lucienne ließ ihre Tarnung fallen, den Schatten um sich herum sinken, trat aus der Nacht. Ihre scharfen Augen ruhten auf dem Gesicht des Fremden.
„Guten Abend“, drang ihre Stimme aus ihrer Kehle, gediegen, alt wie die Welt und von einem leisen Knurren begleitet.
Zu ihrer Überraschung zeigte der Magier immer noch kein Anzeichen von Angst. Sie vermutete schon, er habe nicht einmal erkannt, was sie war, doch dann: „Ich ahnte nicht, dass dieser Wald Gebiet eines Vampirs ist.“
„Wieso fürchtet Ihr mich nicht? Denkt Ihr nicht, ich könnte euch zerreißen? Glaubt mir, das könnte ich. Auch ein Magier kann nicht gegen ein Wesen der Nacht bestehen“, entschied sie sich schließlich zu sagen.
„Oh, ich zweifele nicht an Eurer stärke. Doch ich kann in Euren Augen lesen: Heute Nacht werdet Ihr niemanden töten.“
Der Jüngling überraschte Lucienne, schien er doch zu wissen, was sich tief in ihrem Herzen rührte, zu verstehen, was selbst sie nicht zu begreifen vermochte.
Langsam, sehr langsam näherte sie sich dem Magier weiterhin und als dieser immer noch keine Regung der Abneigung zeigte, ließ sie sich neben ihm im Gras nieder.
„Ihr seid ein komischer Vogel“, knurrte sie, ohne ihn anzublicken.
„Und Ihr seid wunderschön.“
„Das ist keine Antwort!“, zischte sie zornig. Natürlich wusste sie, dass ihr Anblick die Menschen betörte, es musste so sein, wie sollte sie sonst ihre Beute locken?
„Ich sah Euch heute Nachmittag in der Stadt“, sagte der weiße Magier schließlich, ebenfalls ohne dem Vampir anzublicken. Sie verstanden einander und doch schien keiner der beiden mit dem jeweils anderen zu sprechen, ihre Aufmerksamkeit lag auf den Bäumen, die sie umgaben.
Lucienne nickte als Antwort auf den Ausspruch des jungen Mannes und obwohl er sie immer noch nicht ansah, bemerkte er es.
„Wie ist das möglich?“, fragte er völlig unbefangen.
Diese menschliche Neugierde faszinierte Lucienne, hatte sie doch nie mit einem Menschen gesprochen, seit sie zu dem geworden war, was sie war. Vampire pflegten einen völlig anderen Umgang, behandelten einander anders und das war es, was Lucienne nun so völlig fremd erschien.
Sie wandte den Blick auf ihre linke Hand, an der ihr Goldring prangte und ihre Augen verengten sich kaum merklich: „Diesen Ring erhielt ich von meinem Schöpfer, er erlaubt mir in der Sonne zu wandeln.“
Nach einer kurzen Pause, in der sie sich fragte, wieso sie diesem Menschen das alles erzählte, sagte sie: „Doch er ist nicht nur Geschenk. Er bannt viele meiner magischen Kräfte.“
Nun endlich wandte der weiße Magier der Vampirin den Kopf zu, musterte erst ihr makelloses Gesicht, dann den Ring an ihrem Finger.
Eine kurze Stille senkte sich über die beiden ungleichen Gesprächspartner, in der Lucienne das erste Mal darüber nachsann, wieso sie sich mit diesem Menschen unterhielt, es gab keinen erkennbaren Grund dafür. War sie so tief gesunken, dass sie sich mit niederen Menschen abgeben musste?
Es war der Ring, das musste es sein. Er bannte einige ihrer Kräfte, schwächte sie, machte sie zu etwas Zerbrechlichem, einem Menschen gleich.
Sie spürte seinen Blick, stand auf und sprach: „Ich will ihn nicht mehr, du kannst ihn behalten.“
Damit zog sie sich den Ring vom Finger und warf ihn vor den Magier in das niedergefallene Laub. Dann, ohne ein weiteres Wort, wandelte sich ihre Gestalt zu der eines großen Hundes, in der sie in die Nacht davonrannte.
Der Magier blieb allein zurück und las den Ring auf. Sie hatte ihn geduzt, bevor sie verschwunden war, wieso nur?
Nachdenklich drehte er den kleinen Goldring zwischen Daumen und Zeigefinger, er funkelte und glitzerte im Schein der gerade hinter dem Horizont auftauchenden Sonne, doch kein Funken Magie lag in ihm.