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Through Space and Time

God's Fallen Angel / Satoru X Yashiro
von

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Mittwoch

„Guten Morgen…“ Wieder einmal war Satoru an diesem Morgen alleine aufgewacht. Wieder einmal war er schweißgebadet gewesen und hatte einen Ständer in der Hose. Heute kamen aber auch noch immense Kopfschmerzen dazu. Außerdem hatte er einen Filmriss und konnte sich an nichts mehr erinnern was gestern Abend nach der Bar passiert und wie er überhaupt nach Hause gekommen war.
 

„Guten Morgen, Satoru. Du kannst gerne duschen gehen. Ich brauche sowieso noch etwas mit dem Frühstück.“ Hatte Yashiro gestern diesen Satz nicht auch ganz genau so gesagt? Stand er gestern nicht ganz genau so an der Küchenzeile und bereitete das gerollte Omelette vor? Wüsste er es nicht besser, hätte er schwören können, dass er sich in einer Rerun-Schleife befand, doch dafür waren die Kopfschmerzen und der Filmriss zu realistisch.
 

Der Schwarzhaarige schlich sich also abermals mit seiner Wechselkleidung bedeckt ins Badezimmer und ließ das eiskalte Wasser schmerzhaft über sich fließen. Sollte Yashiro weiterhin bei ihm Wohnen fragte er sich ernsthaft, ob das nicht zu einer neuen Morgenroutine werden würde. Andererseits musste er zugeben, dass er die letzten zwei Tage früher als sonst aus dem Bett gekommen war. Und um ehrlich zu sein, hatte er sich auch gefreut, dass da jemand in der Küche stand und ein Frühstück zubereitete.
 

Fertig geduscht und angezogen setzte er sich an den Frühstückstisch und besah sich das heutige Festmahl: gebratene Würstchen, ein Spiegelei, knuspriger Toast, Marmelade und dazu ein Glas Orangensaft und eine Tasse Kaffee. Wie sollte er das nur alles aufessen?

„Ich hoffe, du hast heute etwas mehr Zeit für das Frühstück.“, sagte Yashiro, der den überraschten Blick des Jüngeren erhascht hatte und sich zu ihm an den Tisch setzte.
 

„Sensei, also,…“, begann Satoru verlegen, „…danke, dass du…Sie…also, danke für das Frühstück. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen. Und auch für gestern Abend, dass ich mich aussprechen konnte.“ So, jetzt war es endlich raus. Eigentlich wollte er sich gestern Abend schon bedanken, hatte aber nicht die richtigen Worte gefunden. Außerdem war er nach dem langen Tag und dem vielen Alkohol wirklich zu erschöpft gewesen.
 

Doch je mehr er darüber nachdachte, desto mehr realisierte er, dass sich Einiges verändert hatte, seitdem sein ehemaliger Klassenlehrer bei ihm aufgetaucht war. Seit er in diese Stadt gekommen war, hatte er weder Freundschaften geschlossen, noch sonst irgendwelche sozialen Kontakte geknüpft. Auch den Leuten bei der Arbeit wich er häufig aus und verbrachte nicht mehr Zeit mit ihnen als nötig. Einerseits war er einsam gewesen, andererseits war er auch sehr wählerisch was sein soziales Umfeld anbelangt. Yashiro war der Erste den er seit vielen vielen Jahren so nahe an sich heran kommen hat lassen - und sein Vertrauen war bisher noch nicht enttäuscht worden. Das Problem zwischen dem „du“ und dem „Sie“ bestand aber nach wie vor.
 

Auch, wenn Yashiro sich geschmeichelt fühlte, störte ihn das „Sensei“ und das „Sie“ ihn ganz gewaltig und er zuckte unwillkürlich zusammen. Dabei waren Sie gestern Nacht schon viel weiter gewesen. Aber natürlich konnte er es Satoru nicht verübeln, wenn er alles vergessen hatte. Immerhin war er nicht mal bei vollem Bewusstsein gewesen. Deshalb wollte er dem Jüngeren etwas auf die Sprünge helfen und dabei die Atmosphäre etwas auflockern.
 

„Übrigens Satoru, du hast mich gestern beim Vornamen genannt. Wir können also gerne dabei bleiben.“, erklärte er und zwinkerte seinem Gegenüber charmant zu.
 

„Was?! Wann?!“
 

„Ich Halbschlaf.“
 

„Und was ist dann noch passiert?“
 

„Och nichts…“
 

„Sie…Du lügst doch!“
 

„Überhaupt nicht.“
 

Satoru war absolut sprachlos. Hatte er das tatsächlich oder nahm der Ältere ihn da gerade auf den Arm? Wahrheit oder Lüge? Seiner Erinnerungslücke wegen konnte er den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung also überhaupt nicht einschätzen. Trotzdem war es ihm unangenehm den Älteren beim Vornamen zu nennen. Beim Vornamen nannten sich nur Kinder, Paare oder Ehepartner. Sie gehörten doch zu keiner dieser Personengruppen und dennoch bestand Yashiro so sehr darauf.
 

Andererseits verstand er auch, dass er bei dem „Sensei“ auch nicht mehr bleiben konnte. Gestern in der Bar wurden sie schon seltsam angestarrt und wenn sie zusammen in den Supermarkt gingen war es nicht anders. Wäre es wirklich in Ordnung ihn beim Vornamen zu nennen? Gaku-san. Das klang irgendwie total vertraut, als würden sie sich schon eine Ewigkeit kennen und sich nahe stehen, obwohl sie sich erst vorgestern getroffen hatten.
 

Plötzlich wurde er aus seinen sich im Kreis drehenden Gedanken durch das schellende Telefon heraus gerissen. Wer konnte das nur zu dieser frühen Uhrzeit sein? Er warf einen kurzen Blick auf die Anzeige, auf der „Mutter“ stand und fuhr kurz zusammen. Unter keinen Umständen wollte er diesen Anruf beantworten, wer weiß, was diese Frau wieder im Schilde führte.
 

„Willst du nicht rangehen?“, fragte Yashiro erstaunt, da Satoru das Telefon weiter klingeln ließ.
 

„Es ist nur meine Mutter. Ich werde sie später zurück rufen.“, erklärte Satoru, doch da war der Lehrer schon aufgesprungen und mit einem „Ach, deine Mutter. Dann lass mich doch rangehen. Ich habe sie lange nicht mehr gesprochen.“ zum Telefon gegangen.
 

„Nein, auf gar keinen Fall!“, schrie der Schwarzhaarige panisch und schnellte mit einem „Ja, hallo?“ zum Hörer, während er Yashiro mit Händen und Füßen von sich fern hielt. Dieser versuchte ihm nämlich mit einem geflüsterten „Lass mich doch auch mal…“ ihm den Hörer abzunehmen. So entbrannte zwischen ihnen ein kleiner Kampf um das Telefon, während Satoru versuchte so normal wie möglich zu klingen.
 

„Hallo Satoru, na wie geht’s dir? Stör ich gerade?“
 

„Nein, Mutter, alles in Ordnung.“ Diese Hexe, sie ahnte bestimmt schon wieder etwas.
 

„Hör mal, ich mache mir etwas Sorgen, dass du nicht ordentlich isst und dachte mir, ich könnte dich ja besuchen kommen.“
 

„Das wäre aktuell sehr ungünstig, Mutter.“, versuchte er sie loszuwerden, doch gerade jetzt war es im Hintergrund so laut, dass sie Verdacht schöpfte.


„Ist jemand bei dir?“
 

„Nein, wie kommst du denn darauf? Das ist nur der Fernseher. Warte einen Moment, ich mache ihn schnell leiser.“ Vor ihr konnte man aber auch nichts verbergen. Und wenn er nicht wollte, dass sein Geheimnis jeden Moment aufflog, dann musste er Yashiro zum Schweigen bringen. Er zerrte den Braunhaarigen zum Frühstückstisch zurück, platzierte ihn auf seinem Stuhl und gab ihm mit einem sehr bösen und eindringlichen Blick zu verstehen, dass er still zu sein hatte.
 

Seine Mutter durfte auf gar keinen Fall nach Chiba kommen und - schlimmer noch - diese Wohnung betreten! Dass sie auch noch erfuhr, dass er hier mit seinem ehemaligen Klassenlehrer zusammen lebte - wie peinlich wäre das denn? Das war jetzt das Letzte, das er brauchen konnte. Außerdem würden dann noch mehr unangenehme Fragen aufkommen. Das würde in einer Katastrophe enden.
 

Doch obwohl seine Mutter für gewöhnlich einen äußerst guten Riecher hatte, schien er sie zunächst abwimmeln zu können. Er erklärte, dass er gerade bis über den Kopf in Arbeit stünde, der nächste Abgabetermin immer näher rückte und er gerade absolut keine Zeit für einen Gast hätte. Die Arbeit ging nun mal vor und diesen Grund sah sie auch durchaus ein.
 

„…Naja, wie auch immer, anscheinend wäre es ein schlechter Zeitpunkt vorbei zu kommen. Dann schaue ich ein anderes Mal vorbei.“ Geschafft! Er hatte sie tatsächlich überzeugt! Sie würde vorerst nicht kommen und sein Geheimnis würde weiterhin ein solches bleiben. Da fiel ihm wirklich ein Stein vom Herzen.
 

Er wollte gerade auflegen, da sagte seine Mutter noch zum Schluss: „Ach und noch etwas, Satoru…Benutz bitte ein Kondom, okay?“ Tuuut. Tuuut. Tuuut. Satoru starrte ungläubig das Telefon an. Oh. Mein. Gott. Was zum Teufel sollte das denn? Wusste sie es oder wusste sie es nicht? Sie wusste es definitiv. Auch, wenn sie unmöglich wissen konnte, dass genau Yashiro bei ihm war - dann wäre sich wirklich eine Art Hellseherin - hatte sie ihn doch durchschaut. Diese Hexe, sie sollte wirklich für den Geheimdienst arbeiten.
 

Aber Kondom?! Hallo?! Was für Unterstellungen machte sie ihm da eigentlich?! Und überhaupt, wieso musste sie das auch laut aussprechen! Das ging ja mal gar nicht. Es war schon schlimm genug, dass sie diese Vorstellung in ihrem Kopf entwickelt hatte, aber dass sie ihn auch noch darauf ansprach und ihm einen Ratschlag gab - das war wirklich die Höhe. Wer wollte denn schon von seiner Mutter darauf angesprochen werden - niemand! Er konnte es nur immer und immer wieder denken: diese Hexe!
 

Nachdem er einige Mal tief ein- und ausgeatmet und sich beruhigt hatte, ging er wieder zurück an den Esstisch wo der Braunhaarige mit Dackelblick und imaginär wedelnden Hundeschwanz brav auf ihn gewartet hatte - zumindest machte sein Blick nun den Anschein, dass er dafür nun auch gelobt werden wollte.
 

„Und, geht es deiner Mutter gut? Was hat sie erzählt?“, fragte er naiv und sah ihn neugierig an. Natürlich - wie konnte es auch anders sein - hörte er ihre Stimme gedanklich wieder - „Kondom“. Als sich ihre Blicke dann noch trafen, musste er unweigerlich erröten und hustete nervös um sich erst einmal zu beruhigen. Vor ein paar Minuten war er noch ein unschuldiger Mensch ohne Hintergedanken gewesen, bis ihm diese Hexe diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte.
 

„Ja, es geht ihr gut…“, antwortete er in einem Hustenanfall, wollte das Gespräch logischerweise aber auch nicht vertiefen und war Yashiro dankbar, dass er seine Körpersprache richtig deutete und nicht weiter nachfragte, auch wenn er über seinem Kopf ganz viele Fragezeichen standen und er vor Neugierde platzte.
 

Still wurde es zwischen ihnen, während sie weiter ihr Frühstück zu sich nahmen und dabei kein Wort miteinander wechselten. So still, dass das Knuspern des Toastes, das Klirren des Metallbestecks auf den Porzellantellern unangenehm widerhallte. Satoru musste einfach ein anderes Gesprächsthema anschneiden, sonst würde er das nicht lange aushalten. Doch anscheinend hatte Yashiro die gleiche Idee gehabt und so begannen beide synchron mit einem „Hör mal…“ um dann wieder mitten im Satz aufzuhören.
 

„Du zuerst.“, gab Yashiro seinem Gastgeber den Vortritt.
 

„Nein, du zuerst.“, erwiderte nun auch Satoru was dem ganzen eine gewisse Situationskomik gab.
 

Der Ältere musste feststellen, dass sie wohl beide etwas nervös waren, auch, wenn es Satoru, der gerade zwei Mücken-Probleme zu Elefanten gemacht hatte, nicht aufgefallen war. Tatsächlich hatte sich der Jüngere so sehr reingesteigert, dass ihm Yashiros eigene Nervosität vollkommen entgangen war, denn auch er hielt schon die ganze Zeit hinter dem Busch und machte er sich, seit er so urplötzlich vor Satoru aus dem Nichts aufgetaucht war, darüber Gedanken.
 

Doch letztendlich musste auch er sich seinen Problemen stellen: „Ich würde dir gerne heute Abend ein paar Dinge erzählen. Also…“ Natürlich war das Frühstück, der Beginn des Tages, kein geeigneter Zeitpunkt, also verlegte er das Gespräch auf den Abend. Außerdem empfand er es als das beste, wenn Satoru sich schon einmal gedanklich darauf einstellen konnte. Der Sensible war mit nicht gerade ein Meister darin mit spontanen Aktionen umzugehen.
 

„Klar, kein Problem.“, antwortete sein Gegenüber überraschend sorglos und erklärte seinen heutigen Zeitplan, „Ich muss heute nur noch ein paar Seiten fertig zeichnen und treffe mich dann mit meinem Redakteur zur Übergabe am Nachmittag in einem Café. Das geht ganz schnell. Danach komme ich gleich wieder.“ Irgendwie schien Satoru seltsam vergnügt zu sein. Lag es an Yashiros Präsenz? Freute er sich einfach nach Hause zu kommen nach einem langen Arbeitstag?
 

Nachdem er mit dem Frühstück fertig war, schwang der Schwarzhaarige sich seine regenfeste Tasche über die Schulter und verließ das Haus. Viele Mangaka hatten ihren Arbeitsbereich zwar zu Hause, er allerdings hatte sich ein kleines Einzimmerbüro mit einem Schreibtisch gemietet, das er fast täglich aufsuchte, wenn er an seinem Manga oder anderen Projekten arbeitete, denn auch unsoziale Menschen hatten den Drang danach Arbeit und Leben getrennt zu halten. Da sein „Büro“ auch in fußläufiger Nähe war, musste er auch keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und der Spaziergang an der frischen Luft tat einem wie ihm, der sonst keiner Sportart nachging, auch ganz gut.
 

Doch kaum hatte er die Wohnung verlassen und die Tür hinter sich geschlossen überkam ihn ein seltsames Gefühl. Traurigkeit, Melancholie, Sehnsucht und das Gefühl etwas sehr Wichtiges vergessen zu haben. War es ein Traum, an den er sich nicht erinnern konnte? Nein, denn dann würde es ihm ja nicht schon seit dem Tag so gehen, an dem sich Yashiro bei ihm eingenistet hatte. Wenn er genauer darüber nach dachte wurde dieses Gefühl, diese Stimme in ihm lauter, wenn er in seiner Anwesenheit war.
 

Wenn sein ehemaliger Lehrer ihn mit seinen brauen Rehaugen sanft ansah und ihn mit diesen Lippen anlächelte, dann war es als würde er sagen „Ich hab dich vermisst“ und „Erinnerst du dich denn nicht?“ Ja, an was sollte er sich erinnern? Was hatte er vergessen? Es war nicht nur eine Erinnerungslücke in seinem Kopf. Nein, sein ganzer Körper, jede Faser in ihm versuchte sich so sehnlich an dieses verlorene Stück zu erinnern. Was war es nur? Egal, wie sehr er es versuchte, es gelang ihm nicht.
 

Seit dem Rerun waren viele seiner Erinnerungen durcheinander geraten und die Zeiten hatten eine Verzerrung erlebt. Die Welt der Vergangenheit, die der Zukunft und die Welt seiner jetzigen Gegenwart hatten sich vermischt. Kein Wunder, immerhin hatte er den Lauf der Geschichte geändert. Ehrlich gesagt hatte er seit seinem Zeitsprung vergessen, wieso er überhaupt in die Vergangenheit gereist war. Was war der eigentliche Grund gewesen? Sicher, er wollte Kayos, Ayas und Hiromis Schicksal ändern, doch es gab noch etwas anderes? Hatte er nicht noch irgendetwas, irgendjemanden dort gesucht? Wieso hatte er es vergessen?
 

Auch Yashiro schien etwas Wichtiges auf dem Herzen zu liegen. Worüber er nur mit ihm sprechen wollte? Vielleicht würde der heutige Abend Klarheit bringen. Vielleicht hatte er die Antwort auf seine Frage und beide Stücke würden perfekt zueinander passen - wie zwei Puzzleteile. Er konnte es kaum erwarten, wieder nach Hause zu gehen.
 

Währenddessen hatte der Braunhaarige zu Hause ganz andere Sorgen. Heute Abend würde er ihm also die Wahrheit sagen. Es war auch schon längst überfällig, denn er musste Satoru so schnell wie möglich auf ihrer beider Fähigkeiten aufmerksam machen. Wer weiß, wie viel Zeit ihm noch vergönnt war. Es war das erste Mal, dass er so lange in der gleichen Zeit wie sein Geliebter verharren konnte. In seinen vorherigen Leben war es nie länger als ein Tag gewesen. Dann hatte ihn der Rerun wieder in seine ursprüngliche Zeit zurück katapultiert und das Fenster war für immer geschlossen. Deshalb durfte er keine Zeit verlieren - bevor es zu spät war.
 

Der Tag ging schneller vorbei als angenommen. Satoru brachte die Übergabe in Lichtgeschwindigkeit hinter sich und eilte nach Hause, wo er von einem wohligen Duft erwartet wurde. Da es draußen immer noch bitter kalt war, bereitet Yashiro heute Abend ein Oden - einen Eintopf mit viel Gemüse - zu. Als letztes Topping gab er dann noch ein hartgekochtes Ei, Winterrettich, Tofu und kleine Hackfleischbällchen aus Hühnchen in die beiden halb vollen Schüsseln. Der angenehme Geruch der Dashibrühe aus Konbu und Bonito-Flocken erfüllte die ganze Wohnung und hüllte sie in eine angenehme Wärme.
 

„Willkommen zurück, Satoru. Zieh dich schon mal um, ich bin gleich fertig.“, begrüßte ihn der Ältere, während er noch am Herd stand und alle Hände voll zu tun hatte. Der Jüngere widerstand der Versuchung zur Küchenzeile zu gehen und ihm über die Schulter zu schauen und warf sich zunächst einmal in seinen gemütlichen, warmen Hausanzug. Auch, wenn der Winter sie noch fest im Griff hatte, war er darüber nicht ganz unglücklich, denn auch diese Jahreszeit hatte ihre Vorteile. Man konnte kuschelige Pullis und Jogginghosen tragen, sich unter dem Kotatsu aufwärmen und den ganzen Tag in den eigenen vier Wänden verbringen, weil es zu kalt war rauszugehen. Er liebte diese Jahreszeit und mit Yashiro war es irgendwie noch schöner.
 

Am Esstisch stellte ihm der Braunhaarige eine der zwei großen Schüssels voll mit heißem Eintopf direkt vor die Nase. Solche aufwändigen Gerichte hatte er nicht mehr gegessen seit er von zu Hause ausgezogen war, denn so etwas gab es nicht einmal im Konbini. Nun wurde er doppelt aufgewärmt - von außen und von innen. Er spürte förmlich wie die Wärme ihn durchdrang, fast so als würde er von dem Älteren umarmt werden.
 

Nun war jedoch der Moment der Wahrheit gekommen und während Yashiro beide Teller wieder abräumte, positionierte sich Satoru aufrecht auf seinem Stuhl und war für alles bereit: „Du wolltest doch mit mir reden.“

„Ja, in der Tat.“, antwortete Yashiro, der sich ebenfalls wieder dazu gesetzt hatte und nicht wusste, wo er anfangen sollte.
 

Er hielt ein paar Sekunden inne, doch je länger er wartete desto unsicherer wurde er. Sollte er das Thema wirklich ansprechen? Würde es nicht alles, was er bisher aufgebaut hatte, zerstören? Satoru bemerkte seine Unsicherheit und legte seine Hand Mut zusprechend auf seine und fragte: „Ist es etwas Schlimmes?“
 

„Nein, ist es eigentlich nicht, aber…“, Yashiro atmete noch einmal tief ein, „…du musst mir versprechen, dass du mich unter allen Umständen zuerst zu Ende erzählen lässt, bevor du Fragen stellst, in Ordnung?“

„Verstanden.“, willigte der Jüngere in den Deal ein. Nun konnte er, Gaku Yashiro, damit beginnen sein Geheimnis Stück für Stück zu offenbaren.
 

„Satoru, ich weiß, dass du die Gabe hast mit dem Rerun in die Vergangenheit zu reisen.“
 

Geschockt riss der Angesprochene weit die Augen auf. Wieder lief ihm so ein eiskalter Schauer über den Rücken. Was? Wieso? Woher? Natürlich schossen ihm jetzt tausend Fragen durch den Kopf. Woher wusste Yashiro davon? Was hatte das alles zu bedeuten? Doch er würde sein Versprechen halten und sich die Geschichte zu Ende anhören.
 

„Die Wahrheit ist, dass ich die gleiche Gabe habe wie du. Auch ich beherrsche ihn - den Rerun. Auch ich kann durch die Zeit reisen, genau wie du. Allerdings gibt es zwischen dir und mir ein paar Unterschiede: Bei dir ist es so, dass nur dein Geist, nicht aber dein Körper, in den Zeitsprung vollbringen kann. Ich hingegen kann im Besitz meines ganzen Körpers in die Zukunft oder in die Vergangenheit reisen ohne meine Erscheinung zu ändern.“
 

Dann kam es ihm also doch nicht anormal vor, dass sich der Ältere physisch nicht verändert hatte. Irgendwie war er jetzt sogar erleichtert. Das würde bedeuten, dass er nur ein paar Jahre älter war als er selbst und nicht - wie er ursprünglich gerechnet hatte - schon über fünfzig.
 

„Tut mir Leid, dass ich dich angelogen habe. Du hattest natürlich recht - obwohl fast zwanzig Jahre vergangen sind und du dich zu einem Erwachsenen entwickelt hast, habe ich mich kein Stückchen verändert. Das liegt daran, dass ich genau der selbe Gaku Yashiro wie aus deiner Kindheit bin. Genau wie du vor einiger Zeit, habe auch ich einen Zeitsprung durchgeführt. Und weißt du woher ich das wusste?“
 

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Dieses teuflische Grinsen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er die Antwort nicht wissen wollte, aber da das eine rhetorische Frage war, würde er die Antwort bekommen, ob er sie wollte oder nicht.
 

„Als ich vor zwei Tagen an der Brücke erschienen bin, war es nicht das erste Mal, dass wir uns trafen. Nein, das erste Mal trafen wir uns nämlich als du wie tanzenden Kirschblüten ins Klassenzimmer gestürmt bist. Nach und nach habe ich an deinen Äußerungen festgestellt, dass diese nicht aus dem Mund eines Kindes stammen können. Nun ja und dann musste ich nur noch eins und eins zusammen zählen.“
 

Satoru musste schwer schlucken. Er erinnerte sich daran. An den Tag in der Vergangenheit als er zu spät war und in das Klassenzimmer reinplatzte. Und daran, dass sein Lehrer oft seine Nähe suchte. Umgekehrt war es genauso. Die vielen Gespräche im Lehrerzimmer und auch das letzte, bei dem er diese komischen Andeutungen machte. Er hatte es also gewusst. Schon die ganze Zeit.
 

„Erlaube mir nur eine Frage:“, hackte der Braunhaarige nach, der seine Reaktion schon die ganze Zeit mit Argusaugen beobachtete, „Wieso bist du in die Vergangenheit gereist? Auch, wenn ich die gleiche Fähigkeit habe wie du, macht mich das noch lange nicht zum Hellseher. Aber vielleicht bist du ja einer?“
 

War er ein Hellseher? Konnte er in die Zukunft sehen? Ja und nein. Als jemand der die Zukunft kannte, war er in die Vergangenheit gereist um sie zu ändern. Nicht um seinetwillen, sondern für andere Menschen, die ihm wichtig waren. Zu einem Hellseher machte ihn das aber nicht. Eher zu einem Menschen, der sich von seiner eigenen Schuld befreien wollte.
 

„Kayo Hinazuki, Hiromi Sugita, Aya Nakanishi - die drei waren in meiner Grundschulzeit verschwunden und nach einiger Zeit tot aufgefunden wurden. Erst Jahre später kam ich darauf, dass ich als kleiner Junge hätte etwas für sie tun können. Ich wollte sie retten und das Verbrechen aufklären. Mit allen Dreien habe ich mich so gut befreundet, dass der Mörder keine Chance hatte, auch, wenn ich seine Identität letztendlich nicht feststellen konnte. Alle Drei leben heute noch auf Hokkaido. Dass ich den Mörder letztendlich nicht ausfindig machen konnte, ist mir aber egal. Wichtig ist nur, dass sie leben.“
 

„Das ist doch toll. Du bist ein wahrer Held!“, lobte ihn der Ältere für seine Tat. Dass es noch jemanden gab, der Reruns beherrschte überraschte ihn. Einerseits dachte er immer, er wäre der Einzige mit dieser Fähigkeit. Dachte, er wäre eine Art Auserwählter. Im Nachhinein waren ihm diese Gedanken peinlich. Andererseits war er auch erleichtert darüber. Endlich gab es jemanden mit dem er sein Geheimnis teilen konnte und der ihn nicht für verrückt erklärte. Yashiro war auch der Erste, der ihn einen „Held“ nannte. Er selbst sah sich nicht so, aber, dass es jemand gab, der ihm diesen Titel verlieh, freute und beschämte ihn zugleich.
 

„Naja, nicht wirklich.“, erklärte Satoru und sah bedrückt auf sein Glas, denn es war nur die halbe Wahrheit, die er hier offenbart hatte. Es gab noch einen Grund, den er nicht wusste. Das verlorene Puzzlestück schien auch Yashiro für ihn nicht bereit zu halten. Und immer noch fühlte er dieses Loch in seinem Herzen.
 

„Ich habe auch eine Frage:“, nun drehte er den Spieß um, „Woher hast du…habe ich…woher haben wir diese Fähigkeit?“ Vielleicht würde er doch noch Antworten erhalten, die ihm der Auflösung seiner Frage näher brachten, denn er stellte sich hier als der heilige Samariter dar, allerdings hatte er das Gefühl, dass er nicht ganz uneigennützig in die Vergangenheit gereist war.
 

„Tja, mein Lieber, diese Gabe hast du von Ihm erhalten. Er mochte dich schon immer am liebsten, deshalb hast du die Fähigkeit bekommen alle zu retten.“ Yashiro hatte sich zurück gelehnt und seinen Gegenüber amüsiert angesehen. Nun war er wieder in seinem Element und Satoru ein Stück voraus, „Lass uns aber für heute erst einmal Schluss machen. Ich glaube, du solltest eine Nacht drüber schlafen und die Informationen verdauen.“
 

Hin- und hergerissen willigte der Schwarzhaarige ein. Wer war „Er“? Von wem sprach Yashiro da? Einerseits wollte er noch mehr in Erfahrung bringen, andererseits hatte der Ältere wahrscheinlich Recht. Trotzdem beschäftigte ihn das ganze Gespräch noch sehr, während er unter der Dusche das warme Wasser über seinen Körper laufen ließ. Wo war er da bloß hineingeraten?
 

Seit Yashiro zu ihm gestoßen war, hatte er das Gefühl sich ihm anvertrauen und sich bei ihm Fallenlassen zu können. Diese Gefühl war nun verschwunden. Stattdessen machte sich Einsamkeit und Traurigkeit in ihm breit und es war, als hätte sich der Braunhaarige von ihm etwas entfernt. Irgendwie war er auch sauer. Was war das für ein Spiel, das er mit ihm spielte? Wahrscheinlich war die Sache mit dem Rerun nur die Spitze des Eisbergs gewesen und es gab noch viel mehr Dinge, die er nicht wusste. All die Informationen, die Yashiro in der Hand hielt und nur nach seinem Gutdünken preisgab und die Willkür, der er ausgesetzt war, ließen in ihm das Gefühl der Unsicherheit aufkommen. Als wäre er in ein Katz-und-Maus-Spiel verwickelt.
 

Als er in das Schlafzimmer kam, lag Yashiro schon wartend im Futon neben seinem. Mürrisch machte er das Licht aus, legte sich ebenfalls in seinen Futon mit dem Rücken zu seinem Nebenmann und versuchte so schnell wie möglich einzuschlafen.
 

„Schläfst du schon?“
 

„Lass mich, ich bin schlecht gelaunt.“, gab Satoru patzig zu. Kein Wunder. Yashiro hatte eine solche Reaktion erwartet. Allerdings hatte er auch damit gerechnet, dass der Schwarzhaarige ihn rausschmeißen würde - das schlimmste Szenario, das er sich ausgemalt hatte. Sein Geliebter schien überaus launisch zu sein. Glücklicherweise hatte er in den letzten Tagen gelernt mit diesen Launen umzugehen. Und er hatte auch gelernt, dass bei Satoru nichts so heiß gegessen, wie es serviert wurde. Am nächsten Morgen würde er sich beruhigt haben. Und wenn er seine Gefühle richtig deutete, dann war es auch weniger Wut und Hass, sondern vielmehr Trauer, die aus ihm heraus sprach.
 

Doch egal wie lange er Yashiro zu ignorieren versuchte, konnte Satoru einfach nicht einschlafen. Und nun hatte er auch noch seine schlechte Laune an ihm ausgelassen, für die der Ältere gar nichts konnte. Super - jetzt fühlte er sich nicht nur wie ein ausgenutztes Opfer, sondern hatte auch noch ein schlechtes Gewissen. Die perfekte Kombination um in einen erholsamen Schlaf und wohlige Träume überzugehen. Und eigentlich, wollte er das ja alles gar nicht. Ja, eigentlich wollte er sich vertragen.
 

„Du, Gaku-san…“, nuschelte er schüchtern in seinem Bettdecke, „Hast du noch mehr Geheimnisse vor mir?“ Diese Geheimniskrämerei nervte ihn. Er wollte das alles nicht. Er fühlte sich diesem Mann doch so hingezogen, dass es einfach nur wehtat, so hintergangen zu werden. Nach und nach wurde das naive Bild, das er von seinem ehemaligen Klassenlehrer hatte, dem er immer vertrauen und alles sagen konnte, zerstört.

Während Satoru immer noch mehr oder weniger hartnäckig versuchte die beleidigte Leberwurst zu spielen - was ihm aber nicht gelang - eroberte er mal wieder Yashiros Herz mit seiner miserablen Schauspielkunst. Er fand ihn so süß, dass er nicht anders konnte als näher an ihn heranzurücken und ihn von hinten mit einem Arm seitlich zu umarmen.

„Ja, es gibt da noch Einiges. Aber mach dir keine Sorgen, Satoru, ich werde dir alles Schritt für Schritt erklären. Vertrau mir.“
 

„Okay.“, erklärte der Umarmte überglücklich und kuschelte sich in seinen Futon. Ja, jetzt war alles wieder in Ordnung und so konnte er beruhigt einschlafen, denn es war wie der Himmel auf Erden von dem Älteren umarmt zu werden. So warm und liebevoll. Als hätte ein sanfter Engel seine schützenden Flügel um ihn geschlungen.
 

Stattdessen war es nun der Braunhaarige, der sich schlecht fühlte. Dabei war es keine Lüge. Er würde sein Versprechen halten und ihm nach und nach alles erzählen. Allerdings hatte er beschlossen, dass es Dinge gab, die er weiterhin für sich behalten würde. Heute hatte er ihm von ihrer beider Rerun-Gabe erzählt und dass diese sich voneinander unterschieden. Einen Unterschied hatte er ihm bereits genannt, doch es gab noch einen weiteren Unterschied. Einen, den er Satoru bei seiner Offenbarung verschwiegen hatte. Denn genauso wie Gott einige Engel mehr liebte als andere, stattete er sie auch unterschiedlich aus. Sein und Satorus Rerun Fähigkeit unterschieden sich fundamental voneinander - in einem einzigen Punkt.



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