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Verlorene Sonne

von

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8

Kapitel 8

Vor Tom stand nicht, wen er erwartet hatte. Kein halbwegs attraktiver Mann, dem Geld aus jeder Körperöffnung quoll, sondern eine Frau Anfang fünfzig. Hochgewachsen, rothaarig, mit ebenmäßigen Zügen und kristallblauen Augen, wäre sie bildschön gewesen, wenn sich nicht etwas an ihr so schrecklich falsch angefühlt hätte.

Sie hob eine ihrer perfekt gezupften Brauen bis knapp unter den Haaransatz. „Ja, bitte?“

„Wir, äh …“

„Guten Tag“, sprang Julius Tom zur Seite. „Darf ich mich vorstellen? Julius Magick“, er deutete eine Verbeugung an, „mit meinem Assistenten Thomas. Wie Sie sicher wissen, hat mich meine Freundin und Kollegin Louise Batiste kürzlich um die Einschätzung Ihres Falls gebeten.“

Die Frau senkte ihre Braue keinen Millimeter. „Ihre Einschätzung wozu genau?“

„Wie wir Ihnen noch besser behilflich sein können, natürlich.“ Tom hatte Julius noch nie so breit Lächeln sehen. Gruselig. „Louise möchte Ihnen den bestmöglichen Service bieten. Oh, aber sie hat Ihnen doch sicher gesagt, dass ich vorbeikomme?“

„Hat sie nicht.“

„Das tut mir leid. Ich war davon ausgegangen, mein Besuch wäre mit Ihnen abgesprochen und erwünscht.“

„Ist er nicht.“

Julius neigte den Kopf, sagte jedoch nichts mehr.

Das war auch nicht nötig – nach einigen Sekunden misstrauischen Beäugens gab die Frau den Weg ins Haus frei. „Na schön, wir können uns ja mal anhören, was Sie zu sagen haben. Neue Ideen sind immer willkommen.“ Sie führte Tom und Julius in ein prunkvolles Vorzimmer. Über ihre Schulter hinweg erklärte sie: „Wir waren mit Batistes letzter Lieferung übrigens sehr zufrieden, aber es wäre schön, beim nächsten Mal noch mehr Abwechslung zu haben. Irgendetwas neues, aufregendes.“

Lieferung? Unwillkürlich blitzte vor Toms innerem Auge das Bild aufgereihter Männerkörper in einem Lagerraum auf.

„Wir werden sehen, was wir tun können“, erwiderte Julius aalglatt. Falls er zum selben Schluss wie Tom gekommen war, ließ er sich davon nichts anmerken. „Haben Sie an etwas Spezielles gedacht?“

„Wie wäre es zum Beispiel mit einem Piercing? Untenrum, meine ich. Dass der Tätowierte von neulich so blank war, fand ich dann doch enttäuschend. Grübchen würde ich ebenfalls begrüßen. Und Brusthaar. Nicht übertrieben viel, es muss kein Pelz sein, aber etwas mehr als nackte Haut wäre wünschenswert.“

Diese Frau sprach von den entführten Männern als wären sie Ware auf dem Fleischmarkt. Dass Tom jeden Punkt ihrer Wunschliste erfüllte, half nicht unbedingt, seine Nerven zu beruhigen.

Leider blieb Julius blind für seine Versuche, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Stattdessen rieb er über sein Ohr, als wollte er ein unangenehmes Geräusch verscheuchen. „Da werden wir sicher ein paar Kandidaten finden.“

„Das hoffe ich doch sehr.“ Sie blieben vor einer Marmortreppe stehen, die einen wesentlichen Teil des Raums eingenommen hätte, hätte dieser nicht über die Ausmaße eines Konzertsaals verfügt. „Mein Mann ruht sich aus. Bitte warten Sie hier, bis ich Sie rufe.“

Julius‘ Schultern sackten nach unten, sobald Frau Pfahlhammer aus ihrem Blickfeld verschwunden war. „Ich höre Echos.“

„Sunny?“

„Vielleicht. Ich weiß nicht. Definitiv mehr als eins.“ Wieder rieb er sich über die Ohren. „Das ist als … als …“ Es dauerte einen Moment, bis er einen passenden Vergleich fand. „Als säßen wir in einem Kino, in dem alle miteinander tuscheln. Zu leise, um einzelne Unterhaltungen zu verstehen, aber zusammengenommen ist es trotzdem erschreckend laut.“ Die charmante Röte verließ seine Wangen und enthülle den erschöpften Mann darunter. „Ich kann nicht glauben, dass sich Lou mit diesen Leuten eingelassen hat. Dass sie …“

Als Julius‘ Stimme brach, ergriff Tom instinktiv seine Hand. Er hatte Trost spenden wollen, stattdessen jagte ein Blitzschlag durch seinen Körper. Alles war zu grell und zu laut. Stimmen flüsterten, lachten, beteten und schrien. Farben und Formen und Klänge prasselten auf ihn ein. Sie durchdrangen seine Haut, seinen Geist, sein Ich. Man hatte ihn verraten. Ihm das Herz rausgerissen. Wie sollte er jemals wieder vertrauen? Wie–

„Tom!“ Der Ansturm ebbte ab, zurück blieb Julius‘ besorgtes Gesicht. „Durchatmen. Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit. Immer weiter atmen. So ist’s gut.“

Wann hatte sich Tom auf den Boden gesetzt? Der Marmor fühlte sich kalt an seinem Hintern an, dennoch fand er nicht die Kraft, aufzustehen. „Was ist passiert?“

„Entschuldige.“ Die Sorge blieb in Julius‘ Zügen, doch nun mischte sich Scham darunter. „Ich fürchte, das war ich.“

„Du?“

Julius seufzte. „Ich habe meine inneren Barrieren ziemlich runtergefahren, weil ich gehofft hatte, so die Echos hier besser wahrzunehmen. Normalerweise ist das kein Problem, zumindest nicht für andere, aber die Verbindung zwischen uns scheint stärker zu sein als ich dachte. Als du mich berührt hast, muss ein Teil meines eigenen Echos zu dir übergeschwappt sein.“

Tom verstand nur Bahnhof. Das passierte nicht zum ersten Mal – er war weiß Gott nicht die hellste Kerze auf der Torte – wirklich gewöhnt hatte er sich das Gefühl allerdings nie. „Heißt das, was ich gerade wahrgenommen habe … warst du?“

„Teile von mir, nehme ich an. Erinnerungen. Gefühle. Etwas in dieser Art.“

„Oh.“ Tom bekämpfte sein aufwallendes Mitleid – niemand wollte bemitleidet werden – scheiterte allerdings recht schnell. „Sorry.“

Ein schwaches Lächeln huschte über Julius‘ Lippen. „Dich trifft dabei wirklich keine Schuld. Ich hätte wissen sollen, dass Hautkontakt so etwas auslösen kann. Entschuldige.“

„Schon gut.“ Tom akzeptierte Julius‘ mit einem Jackenärmel bedeckte Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. „Ist es das, was du spürst, wenn du sagst, dass hier Echos sind?“

„Ohne genau zu wissen, was du gespürt hast, bezweifle ich das. Die Echos von Verstorbenen sind viel schwächer und oft auf den Moment ihres Todes konzentriert. Zumindest ihre erste Schicht. Manchmal–“

Schritte auf der Treppe unterbrachen seine Erklärung. Frau Pfahlhammer blieb auf der vorletzten Stufe stehen. „Mein Mann ist nun bereit Sie zu empfangen. Bitte folgen Sie mir.“

Die Treppe mündete in eine mit Ölgemälden und verschlossenen Türen gespickte Galerie. Kein Teppich dämpfte ihre Schritte, doch schwere Samtvorhänge schluckten den Hall. Ohne jemals in einem Mausoleum gewesen zu sein, vermutete Tom, dass es kaum anders als dieser Ort sein konnte.

Frau Pfahlhammer klopfte an die vorletzte Tür. „Liebster, ich bringe unsere Gäste.“

„Wundervoll.“ Eine Stimme porös wie Kalkstein. „Bitte kommt herein.“

Die Luft im Raum war stickig, oder vielleicht bildete sich Tom das auch nur ein, weil die Luft eines mit Prunk überladenen Krankenzimmers einfach stickig sein musste. Ein Rollstuhl stand verwaist in einem Eck, halb verborgen im Schatten der gleichen Samtvorhänge, die auch die Fenster der Galerie zierten. Medizinische Gerätschaften, die Tom sicher schonmal in irgendeiner Krankenhausserie gesehen hatte, aber im Leben nicht würde benennen können, umringten das Bett im Zentrum, unter dessen gebleichten Laken der gebrechliche Körper eines alten Mannes lag.

Pfahlhammer.

„Guten Tag, meine Herren“, begrüßte er sie. „Meine Frau erzählte mir, Sie bringen Vorschläge zur Weiterentwicklung unseres Arrangements mit Mademoiselle Batiste.“

„Zumindest hoffen wir das“, erwiderte Julius. Weder seine Stimme noch Mimik gaben irgendwelche Emotionen preis, doch er hielt den Kopf geneigt und Tom bemerkte das unruhige Zucken seiner Finger, als wollte er sie gegen seine Ohren pressen. „Sie sehnen sich nach etwas mehr Abwechslung?“

„Abwechslung?“ Pfahlhammer stieß ein trockenes Lachen aus, das nahtlos in einen Hustenanfall überging. „Das ist wohl eher der Wunsch meiner Frau“, presste er hervor, nachdem er wich wieder beruhigt hatte. „Mir wäre es schon recht, wenn wir das Verfallsdatum dieser Körper verlängern könnten.“

„Das Verfallsdatum …“, wiederholte Tom und hätte sich im nächsten Augenblick am liebsten auf die Zunge gebissen. Konnte er nicht einfach mal die Klappe halten? „Ja, natürlich. Es muss wirklich, äh … ärgerlich … sein, wenn all diese Körper so schnell … verfallen.“

„Sie sagen es, junger Mann. Da hat man sich gerade daran gewöhnt, wieder laufen zu können und von der Dialyse los zu sein und schon entdeckt man die ersten Falten. Der schöne neue Körper zerfällt, bevor man ihn wirklich genießen konnte. Dieser hier entwickelt gerade ein paar ganz reizende Metastasen in der Lunge. So interessant diese Erfahrung sein mag, ich würde es bevorzugen, bald in einen frischen umzuziehen. Sonst ist die ganze Sache ein wenig nutzlos, nicht wahr?“

„Oh, da würde ich dann doch widersprechen.“ Frau Pfahlhammer stieß ein nicht ansatzweise zu ihr passendes Kichern aus. „Die letzten Körper haben wir durchaus genutzt.“

Das Schmunzeln, das Pfahlhammers rissige Lippen verzerrte, half nicht, Tom zu beruhigen. „In der Tat, das haben wir. Sie sind noch so jung, Sie glauben das vermutlich nicht, aber wenn man die Achtzig mal überschritten hat, vergisst man, was Lust eigentlich ist. Katja dann in diesen frischen Körpern zu bewundern und sogar selbst wieder in den Genuss der Jugend zu kommen …“ Bevor Tom die Gelegenheit hatte sich zu übergeben, fuhr der alte Mann fort. „Ich weiß ja nicht, ob Ihnen diese Information etwas nutzt, aber uns ist aufgefallen, dass Katjas Körper langsamer verfallen als meine. Vielleicht, weil sie knapp zehn Jahre jünger ist als ich. Dieses hübsche Exemplar trägt sie jetzt jedenfalls seit fast zwei Wochen und wie Sie sehen, ist es nicht mehr ganz frisch, aber noch immer ausgesprochen nett anzusehen.“

Julius blinzelte, ohne seine emotionslose Maske zu verlieren. „Ich fasse das mal zusammen, um sicher zu gehen, dass ich alles richtig verstanden habe: Meine Kollegin Louise hat einen Weg gefunden, der Sie die Körper anderer Menschen übernehmen lässt–“

„Nun, es war nicht ihre Idee, aber sie hat sich auf dem Weg dorthin als große Hilfe erwiesen“, unterbrach Pfahlhammer. „Ganz besonders nach dem Debakel mit der kleinen Emma. Der Erfolg ist zeitlich allerdings noch sehr begrenzt.“

„Weil der Alterungseffekt beschleunigt eintritt.“ Julius nickte bestätigend. „Zusätzlich …“

Doch Tom hörte nicht länger zu. Zum ersten Mal seit sie das Haus betreten hatten, nahm er sich Zeit, Frau Pfahlhammer anzusehen. Wirklich anzusehen. Sie mochte älter sein, sich anders stylen und die Nase höher in den Himmel recken als er gewohnt war, doch es gab keinen Zweifel. Feuerrotes Haar, himmelblaue Augen, mit Sommersprossen besprenkelte Wangen und schmerzlich bekannte Gesichtszüge. „Sunny.“



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