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Verlorene Sonne

von

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7

Kapitel 7

„Das ist so eine unglaublich dumme Idee.“ Nichtsdestotrotz schnallte sich Tom an. „Wir sollten uns zumindest einen Plan überlegen.“

„Dafür haben wir die Fahrt.“ Marlene lenkte ihren Wagen auf die Straße.

Schon jetzt kämpfte Tom mit Übelkeit und der Sitz vor ihm ließ gefühlt zwanzig Zentimeter zu wenig Platz für seine langen Beine, doch der Beifahrerplatz schien dauerhaft für Marlenes überdimensionierte Handtasche reserviert zu sein – eine Macke, die ihn schmerzlich an Sunny erinnerte – also teilte er sich die Rückbank mit Julius.

Die Spannung im Wagen stieg rapide, als das Navi mit kühler Stimme den Weg zu der Adresse beschrieb, die die Ladenbesitzerin in ihrem Kalender notiert hatte. Pfahlhammers Adresse. Was bis eben als unausgegorene Idee in ihren Köpfen herumgespukt hatte, wurde damit erschreckend real.

„Bevor noch mehr unangenehme Überraschungen auf uns warten, willst du uns vielleicht erzählen, woher du Pfahlhammer kennst.“ Abwechselnd blickte Marlene von der Straße zu Julius‘ Gesicht in ihrem Rückspiegel. „Du bist sofort auf den Namen angesprungen.“

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Zum Glück sind wir eine Weile unterwegs. Also los.“

Julius‘ Mimik verriet nicht den Hauch einer Emotion, aber Tom bemerkte die roten Halbmonde, die seine Fingernägel in seinen Handflächen hinterließen. „Vor ein paar Monaten kamen zwei neue Klienten zu mir. Ein Bekannter hatte ihnen erzählt, dass ich gut darin bin, Verschwundenes aufzuspüren.“

„Wonach haben sie gesucht?“, fragte Tom.

„Nach ihrer Tochter. Sie ist eines Tages nicht von der Schule nach Hause gekommen.“

„Oh.“ Obwohl er fürchtete, die Antwort bereits zu kennen, fragte Tom: „Hast du sie gefunden?“

„Habe ich. Etwa drei Wochen zu spät.“

„Shit.“

„Emma.“

Einen Moment lang konnte Tom nichts mit Marlenes Einwurf anfangen, doch dann erinnerte er sich an ihre Geschichte über die Kinderleiche im Wald, die man mit Pfahlhammer in Verbindung brachte. „Hat er sie umgebracht?“

„Ich weiß es nicht. Echos sind oft nur schwer zu entschlüsseln, die von Kindern ganz besonders und Emmas Fall war nochmal spezieller. Egal, wie stark die Verbindung zu ihrem Echo ausfiel, ich habe immer nur Bruchstücke empfangen. Wortfetzen, fremd und verzerrt, wie durch einen Filter. So etwas hatte ich bis dahin noch nie erlebt und ich dachte … ich dachte, vielleicht lebt sie noch, vielleicht empfange ich das Echo eines lebendigen Kindes, nicht nur die Erinnerung an ihren Tod.“

An dieser Stelle pausierte Julius einen Moment. Als er fortfuhr, klang seine Stimme noch gleichgültiger als gewöhnlich. „Unabhängig davon, dass ich offensichtlich falsch lag, gab es einzelne Wortfetzen, die immer wieder vorkamen. ‚Kalt‘ zum Beispiel.  Und ‚hübsch‘. Außerdem ‚Pfahl‘ und ‚Hammer“. Selbst nachdem wir Emmas Leiche gefunden hatten, konnte ich mir lange keinen Reim darauf machen – die Todesursache war Dehydrierung, sie ist also weder erfroren, noch hatte sie irgendwelche sichtbaren Verletzungen. Dann habe ich über einen Kontakt bei der Polizei erfahren, wie der Besitzer des Waldstücks hieß, in dem sie lag.“

Julius starrte auf seine Hände. „Für eine Weile war ich wie besessen, habe alles über Pfahlhammer gesammelt, was mir zwischen die Finger gekommen ist und jeden Vermisstenfall genau unter die Lupe genommen. Kaum geschlafen und zu wenig gegessen. Vermutlich hätte ich mich selbst völlig aufgerieben, wenn Lou nicht irgendwann ein Machtwort gesprochen und mich gezwungen hätte, andere Fälle anzunehmen. Sie hat mir einige ihrer Kunden zugeschustert. Triviale Kleinigkeiten, gerade genug, um mich auf andere Gedanken zu bringen, aber–“ Er stockte. Seine Lippen bewegten sich stumm, doch es dauerte, bis sie Worte formten. „Sie hat damals schon für ihn gearbeitet. Deshalb wollte sie mich auf andere Gedanken bringen. Sie hat sich keine Sorgen um mich gemacht, sondern darum, dass ich ihm auf die Schliche komme.“ Julius blinzelte mehrmals, machte jedoch keine Anstalten, weiterzusprechen. Niemand sonst ergriff das Wort.

Stumm setzten sie ihre Fahrt fort, die Bäume um sie herum wurden dichter, der Anblick anderer Autos seltener. Um sich von seiner wachsenden Panik abzulenken, beobachtete Tom Julius aus dem Augenwinkel. Mit jeder Minute, in der sich dieser unbeobachtet fühlte, wich sein gleichgültiger Gesichtsausdruck Kummer und Erschöpfung.

Julius mochte Fehler gemacht haben, doch auch er hatte ein paar richtig beschissene Stunden hinter sich. Ein paar richtig beschissene Monate, genaugenommen, wenn man seiner Geschichte Glauben schenkte. So etwas Ähnliches wie Mitleid regte ich in Toms Brust und wollte nicht mehr verschwinden, egal, wie sehr er das Gefühl zu ignorieren versuchte. Kurzerhand entschied er, dass schweigend nebeneinander zu hocken niemandem half. „Haben dich deine Eltern ernsthaft Julius Magick genannt, oder ist das ein Künstlername?“

Julius brauchte einen Augenblick, um auf die Ansprache zu reagieren, doch dann huschte der Ansatz eines Lächelns über seine Lippen. „Sowas ähnliches. Eine Freundin von mir arbeitet im Marketing und meinte, wenn ich meinen Namen schon ändere, soll ich dabei auch gleich an meinen Job denken.“

„Und Julius Magick ist das Beste, was euch eingefallen ist?“

„Lach so viel du willst, aber im ersten Monat nach der Änderung hatte ich mehr Kundschaft als in dem halben Jahr davor.“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht lag das aber auch daran, dass viele Menschen einem männlichen Namen noch immer mehr Kompetenz zuschreiben als einem weiblichen.“

„Ah, sexistische Kackscheiße. Gut möglich.“ Tom realisierte, dass nun er kritisch gemustert wurde. „Wie lange kanntest du …“, er suchte nach dem korrekten Namen, „Lea?“

Das Lächeln verschwand. „Lou. Louise Batiste. Wir kannten uns unser halbes Leben. Sie war immer“, Julius‘ Lippen bewegten sich stumm, als er verschiedene Worte durchprobierte, „exzentrisch. Aber sie hat mir nie einen Grund gegeben, an ihr zu zweifeln. Sie stand mir näher als jeder andere.“

„Wart ihr …“ Tom schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Geht mich nichts an.“ Abgesehen davon, dass er nicht wissen wollte, ob jemals mehr zwischen Julius und Batiste gelaufen war, produzierte sein Gehirn schon jetzt ausreichend fantasievolle Bilder.

Vielleicht sehnte sich Julius ebenso nach einem Themenwechsel, anders ließ sich sein nächster Satz jedenfalls nur schwer erklären. „Der Revolver war nicht echt.“

„Ist das nur eine Ahnung, oder hast du das wirklich überprüft?“, fragte Marlene scharf.

„Überprüft. Lou hat Schusswaffen gehasst. Sie fand sie primitiv. Warum sollte sie also eine besitzen? Ich schätze, sie wollte euch damit lange genug unter Kontrolle halten, um euch anschließend anderweitig aus dem Weg räumen.“

„Oh, dann ist ja alles gut“, murrte Tom. „Das bedeutet, wir wären nicht sofort gestorben.“

„Das bedeutet, ich hätte sie nicht niederschlagen müssen.“ Wieder diese kühle Neutralität, doch inzwischen wirkte sie so künstlich wie ein Plastikweihnachtsbaum. „Ich hätte sie ansprechen können. Mit ihr reden. Sie überzeugen, dass sie einen Fehler macht.“ Julius seufzte. „Aber sie stand vor euch, die Waffe in der Hand und ich habe deine Angst gefühlt und ihre … ihre Mordlust. Ich habe nicht nachgedacht.“ Er war dazu übergegangen, abwechselnd auf seine Hände und aus dem Fenster zu starren. Daher bemerkte er auch den kurzen Blick, den Marlene und Tom über den Rückspiegel wechselten, nicht.

„Wir haben uns noch nicht bei dir bedankt“, sagte sie leise. „Ich gebe das nur ungern zu, aber letztendlich hast du uns das Leben gerettet.“

Jene Röte, die ihm diesen charmanten Hauch Farbe verlieh, kehrte auf Julius‘ Wangen zurück. „Ohne mich wärt ihr gar nicht erst in diese Situation geraten.“

Tom brummte zustimmend. „Ohne dich hätten wir aber auch Sam und die anderen nicht gefunden. Ich würde mal sagen, du hast heute mehr als zwei Leben gerettet.“

Julius öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Marlene kam ihm zuvor. „Wir sind da.“

Vor ihnen ragte eine Villa in die Höhe. Weniger opulent als Tom erwartet hatte, aber weit luxuriöser als er sich in drei Leben zusammen würde leisten können. Fichten, Tannen und Buchen umrahmten das weitläufige Grundstück, im Hintergrund der Villa thronten die Alpen, der Blick auf sie lediglich durch die alles umgebenden Wälder eingeschränkt. Das Haus selbst glich einer Mischung aus moderner Architektur und Schloss Neuschwanstein, die erschreckend gut zusammenpasste. Verflucht, Sunny hatte es verdient in so einem Haus zu leben, nicht, dort zu sterben.

Marlene stellte den Motor ab. „Okay. Wir gehen rein, suchen nach Beweisen, die selbst die Polizei nicht mehr ignorieren kann und dann sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden.“

„Und, äh, wie genau sollen wir das anstellen?“ Allmählich realisierte Tom, wie wenig sie ihre nächsten Schritte durchdacht hatten. Um nicht zu sagen: Gar nicht.

„Wir benutzen Julius.“

„Wir … was?“

„Das könnte funktionieren“, stimmte dieser zu und nahm Tom damit die Chance auf weiteren Protest. „Pfahlhammer und Lou haben zusammengearbeitet. Es sollte relativ einfach sein, mich glaubhaft als Kollegen und“, er schluckte, „Freund auszugeben. Bestenfalls lässt er uns ins Haus und wir sehen uns um, schlimmstenfalls lenken wir ihn ab, während Marlene nach Sunny sucht.“

„Warte, was?“ Warum schien jeder den Plan zu begreifen, außer Tom? „Wer ist wir? Warum macht Marlene ihr eigenes Ding?“

„Ich bin Sunnys Zwillingsschwester.“ Marlene gab sich keine Mühe, ihren Unmut über Toms Verständnislosigkeit zu verbergeben. „Wäre ein wenig auffällig, wenn ich plötzlich vor Pfahlhammers Tür stünde, oder? Also müsst ihr beide das übernehmen.“

„Oh. Okay. Klingt logisch. Dann, äh, fangen wir an?“ Kristallklare Bergluft begrüßte Tom, als er aus dem Auto ausstieg.

„Sieht ziemlich verlassen aus.“ Marlene deutete auf die geschlossenen Fensterläden.

„Was glaubt ihr, wie viele Angestellte hier arbeiten?“, fragte Tom. „Selbst, wenn wir Pfahlhammer ablenken, könnte dich immer noch eine Haushälterin oder ein Gärtner oder so entdecken. Wie willst du denen erklären, was du hier zu suchen hast?“

Anstelle einer Antwort musterte Marlene Julius. „Kannst du nicht, keine Ahnung, spüren ob jemand da ist?“

Julius schüttelte den Kopf. „So funktioniert das nicht. Ich bin kein Radar, das alle möglichen Auren und Echos empfängt.“

„Also nutzlos.“

„Marlene!“

Doch Julius blinzelte nur träge und wandte sich der Villa zu. „Tom und ich gehen vor und kundschaften die Gegend aus. Wenn wir beim Schnüffeln erwischt werden, können wir uns besser rausreden als du. Sobald wir uns überzeugt haben, dass die Luft rein ist, holen wir dich dazu.“

„Und ich soll hier solange untätig rumsitzen?“

„Ja.“ Demonstrativ hielt Tom ihr die Autotür auf. „Rein mit dir, bevor dich jemand sieht.“

Marlene warf erst Julius dann ihm einen Blick zu, der unter schlechteren Umständen getötet hätte, akzeptierte den Plan jedoch klaglos. „Wehe, ihr beiden versaut das.“ Okay, fast klaglos.

„Werden wir nicht. Versprochen. Ich will doch auch wissen, was mit Sunny passiert ist.“

Marlenes Züge glätteten sich und das zornige Funkeln in ihren Augen wurde durch etwas anderes ersetzt. „Ich weiß. Viel Glück. Pass auf dich auf.“

„Machen wir.“ Gemeinsam mit Julius steuerte Tom zielstrebig die Vordertür der Villa an. Kein Tor, das ihren Weg versperrte, keine Kamera, die ihre Schritte begleitete. Das Fehlen jeder Sicherheitsmaßnahme erschreckte Tom mehr, als es ein Rudel auf sie zustürmende Wachhunde getan hätte.

Die Hand bereits zum Klingeln erhoben, pausierte Julius.

„Was ist los?“ Und wieso zur Hölle flüsterte Tom?

„Siehst du die Symbole dort?“ Julius deutete auf eine Reihe von Schnitzereien, die den Türrahmen zierten.

„Mhm.“ Bei näherem Hinsehen erinnerten sie Tom an die Symbole, die er in Julius‘ Büro gesehen hatte. „Was bedeuten sie?“

„Sie sind eine Art … Gefängnis für Energien.“ Julius begegnete Toms verständnislosem Blick mit einem Blinzeln. „Ich habe euch doch im Café von den Echos erzählt, ja? Meine Erklärung ist ein bisschen kurz ausgefallen. Sie werden nicht nur von verstorbenen oder lebenden Menschen hervorgerufen, sondern zum Beispiel auch von Tieren, Emotionen, Gegenständen oder auch Ereignissen. Sind diese Echos stark genug, höre ich sie. Dazu muss ich aber entweder selbst am Ort ihres Entstehens sein, oder die Echos mit Hilfe eines Trägers zu mir rufen.“

„Hast du deshalb Marlene gebraucht? Weil sie ein, äh, Träger für Sunnys Echos ist?“

„Blutsverwandtschaft funktioniert meistens recht gut. Je enger, umso besser sind die Ergebnisse. Mit Sunnys Zwillingsschwester als Träger, hätte ich überhaupt keine Schwierigkeiten haben sollen. Aber diese Symbole hier“, Julius‘ Fingerspitzen schwebten über den Schnitzereien, nicht bereit, sie wirklich zu berühren, „halten Echos am Ort ihrer Entstehung gefangen, bis sie verblassen. Das ist Lous Werk, ich erkenne ihre Handschrift, wenn ich sie sehe. Deshalb konnte ich Sunnys Echo nicht zu mir rufen.“

„Du glaubst wirklich nicht, dass Sunny noch lebt, oder?“

„Tut mir leid.“

Das Mitgefühl in Julius‘ Stimme war nur schwer zu ertragen. Tom zwang sich, seine Fäuste zu lockern, bevor seine Fingernägel noch tiefer in seine Handflächen schnitten. „Lass uns dafür sorgen, dass ihr Mörder nicht noch mehr Schaden anrichtet.“ Entschlossen drückte er die Klingel.



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