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Von Peking bis Barcelona

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
PoV: Yuuri, Viktor, Yuuri Komplett anzeigen

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9 - Der König und der Eiskunstläufer

Als ich wach werde, ist es bereits hell. Die Sonne scheint, das Licht drängt durch die Vorhänge in unser Zimmer und ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es 11:27 Uhr ist, Phichit schon zweimal versucht hat, anzurufen und Chris ebenfalls eine Nachricht hinterlassen hat.

Das freie Training haben wir wohl verschlafen. Wen wundert es, bis Viktor schließlich eingeschlafen war, war es weit nach zwei Uhr in der Nacht. Dann ist er gegen sechs Uhr früh wach geworden, war auf Toilette und hat sich in sein Bett gelegt. Das hat mich wiederum aufgewühlt, weil ich mir nicht sicher war, warum er nicht wieder zu mir kommt, aber nach einer Weile hat er kurz geschnarcht und die Decke von sich getreten, sodass ich annehmen konnte, dass ihm einfach zu warm war. Dann wäre zumindest das wieder wie immer.

Ich schließe die Augen wieder. Der gestrige Abend und die Nacht waren ein Schock in vielerlei Hinsicht und mir fehlen die Worte, auch nur einen klaren Gedanken darüber ausformulieren zu können. Dass der Scherbenhaufen hinter der Fassade so groß ist, hätte ich niemals vermutet. Ich bin mir nicht sicher, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll, wenn er wach wird, aber eigentlich tut es nichts zur Sache. Er ist Viktor und ich liebe ihn, so wie er ist. Auch als Genie oder wie auch immer man es noch nennen kann. Er redet davon, als sei es ein Markel, aber wenn ich mir überlege, wie viele Menschen er begeistert, dann kann es unmöglich etwas Schlechtes sein? Und trotzdem...

„Bist du einsam, Viktor?“

„Jetzt nicht mehr. Jetzt bist du da, Yuuri.“

Als er es damals im Auto zu mir sagte, konnte ich die Abgrund hinter seinen Worten nicht abschätzen. Deswegen hatte mein Video ihn angelockt. Es war keine verlorene Wette, keine Inspiration oder sonst irgendwas. Er fühlte sich durch mein Eislaufen angezogen, weil es dem seinen ähnelt. Er konnte das in mir sehen, was er glaubte, verloren zu haben: Sich selbst. Darum war er gestern Abend auch so aufgebracht. Er hatte Angst. Angst davor, sich und seine Welt wieder zu verlieren, die er meint, in mir wieder gefunden zu haben...

Aber das ist nicht richtig. Sie ist in ihm. Sie ist da, sie war immer da, er muss sie nur wieder finden wollen. Die Poster und der Schneeflockentanz waren ein Anfang, aber nicht genug. Wenn er sich selbst auf dem Eis sehen könnte, in der Gestalt eines anderen, würde er dann begreifen?

Ich schaue hinüber zu ihm und er sieht mich mit halb geöffneten Augen an.

„Yuuri...“

„Ja?“

„Ich möchte bei dir sein...“

„Dann komm her“, fordere ich ihn auf und hebe die Decke an.

„Komm du zu mir.“

Ich seufze. Na dann.... Ich stehe auf, gehe rüber zu ihm.

„Geht es dir besser?“, frage ich, als ich neben ihn gelegt habe und wir uns anschauen können.

„Hm“, höre ich nur, ehe er mich vorsichtig küsst. Unsere Blicke treffen sich und mir ist, als würde ich in den blauen Augen ertrinken. Er küsst mich noch einmal. Seine Finger spielen mit meinen Haaren, ich greife um seine Hüften.

„Viktor...“, beginne ich zögerlich, aber sofort spüre ich seine Lippen erneut auf meinen und er zieht mich auf sich.

Im Moment ist wohl nicht mit ihm zu reden... Es ist mir klar, dass es keine Lösung ist, aber ich ehrlich gesagt froh, dass er mich bei sich haben will. Meine Gefühle für ihn haben sich nicht geändert und das lässt mich hoffen, dass sich an seinen Gefühlen auch nichts geändert hat.

Darum glaub an mich, Viktor. Ich werde in diesem Finale tun, was ich kann, um dich zu beschützen.
 

Grand Prix Finale Barcelona, 10. Dezember 2016
 

„Ist alles in Ordnung?“

Chris hat sich neben mich gesellt, nachdem er mit seiner Routine im Probedurchlauf vor der Kür fertig geworden ist. Gerade läuft Phichit und ich wundere mich, dass Chris mich anspricht, denn Viktor sieht man es viel deutlicher an, dass etwas nicht stimmt. Ich dagegen fühle mich ungewöhnlich gefasst. Vielleicht deswegen, weil ich selten von der Richtigkeit dessen, was ich tue, so sehr überzeugt war.

„Es geht den Umständen entsprechend“, antworte ich Chris. Er hat vorgestern gesagt, der Rest sei unsere Sache, also bleibt es unsere Sache. Auf seine Nachfrage gestern morgen hin, ob Viktor zurück sei, hat er sich nicht mehr gemeldet; weder bei mir, noch bei Viktor. Er muss jetzt nicht im Nachhinein angeschlichen kommen.

„Umständen? Klingt nach 'ner handfesten Ehekrise vor der Hochzeit“, sagt er und wirft einen argwöhnischen Blick in Viktors Richtung, der als Einziger der anwesenden Trainer mit verschränkten Armen abseits auf einem Stuhl sitzt und vielmehr auf den Boden starrt, statt sich anzusehen, was auf dem Eis passiert. „Ich würd' mich ja anbieten, mit ihm zu reden, aber er hat diesen Blick, Yuuri, da geh ich nicht an ihn ran.“

Ich schaue wieder zu Viktor. Mir ist klar, was Chris meint. Jeder kennt Viktor nur als den strahlenden Sieger, aber gerade sieht man einen Menschen, der sich vollkommen aus der Realität zurückgezogen hat. Die blauen Augen sind trotz aller gedanklichen Abwesenheit wachsam, und es fröstelt einen, wenn man nur eine Sekunde zu lange hineinschaut.

„Der Blick gilt nicht dir, Chris,“ versuche ich beschwichtigen.

„Huh? Dir etwa?“

„Der Blick gilt niemandem hier. Er braucht Zeit für sich. Das ist alles.“

Chris rümpft die Nase und ich spüre, dass sich Eifersucht in seine Stimme mischt: „Seit wann entscheidest du für ihn? Sollte er nicht dein Trainer sein?“

„Er ist Viktor und das Einzige, was ich entschieden habe, ist für den da zu sein, den ich liebe.“

„Er macht jetzt nicht den Eindruck, als sei alles bestens zwischen euch.“

„Wir hatten Sex.“

„Oh... wie schön für euch.“

„War’s das jetzt?“

„Ich hab mir nur Sorgen gemacht.“

„Danke, aber das ist nicht nötig.“

Chris wendet sich mürrisch ab, ich atme auf und verlasse ebenfalls das Eis. Aus dem Augenwinkel erhasche ich einen Blick auf JJ, der soeben in vollkommener Stille die Halle betreten hat. Nach dem Desaster im Kurzprogramm hat ihn keiner mehr gesehen und ob er gestern beim offenen Training war, weiß ich auch nicht.

Seine Verlobte und seine beiden Trainer begleiten ihn, aber man sieht allen Beteiligten an, wie bestürzt und besorgt sie über das sind, was passiert ist. Scheinbar haben sie auch fast 48 Stunden später nicht verarbeitet, warum das passiert konnte und JJ sieht aus, als würde er in Tränen ausbrechen, wenn er auch nur einen Fuß auf das Eis setzen muss. Ein Totalausfall ist niederschmetternd, aber es muss noch niederschmetternder sein, wenn die Personen um einen herum damit noch weniger klar kommen, als man selbst. Vor einem Jahr habe ich den Unterschied nicht sehen können, heute kann ich es.

Ich setze mich auf den Stuhl neben Viktor.

„Gibst du mir die Kufenschützer?“

„Ja.“ Er reicht mir ohne aufzusehen erst den linken, dann rechten.

Seit der Wecker heute morgen geklingelt hat, ist er mit den Gedanken noch nicht im Hier und Jetzt angekommen. Wir haben uns fertig gemacht wie immer, aber Viktor hat einige Dinge vergessen und war orientierungslos, dass ich allen Grund gehabt hätte, auf ihn einzureden, dass sein Verhalten keinesfalls dem eines Trainer angemessen wäre – nur, dass er nicht mehr mein Trainer ist. Er ist es nie wirklich gewesen und deswegen muss es jetzt ein Ende finden.

Ich richte den Blick wieder auf das Eis, als ich die Schlittschuhe ausziehe. Phichit ist fertig und macht JJ Platz, damit dann auch der letzte Finalteilnehmer seinen Probelauf beendet hat. Yurio und Otabek sind schon seit einer Weile verschwunden und ab jetzt würde es nur noch wenige Stunden dauern, bis es in die entscheidende Phase geht. Gerade als Viktor und ich aufstehen und die Halle erst einmal wieder verlassen wollen, sehen wir, wie JJ beim Versuch, einen vierfachen Rittberger zu springen, stürzt. Ich stutze. Ein Rittberger war hypothetischer JJ-Style. Er versucht es direkt noch einmal, setzt aber mit einer Hand auf dem Eis auf.

Alle Achtung, JJ. Er kann offensichtlich doch mehr, als nur seine große Klappe aufzureißen. Wenn der Letztplatzierte noch so verbissen kämpft, dann gibt es für alle anderen erst recht keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.
 

Am Abend um kurz vor zehn Uhr ist es dann soweit. Das Centre de Convencions de Barcelona hat sich innerhalb von nur wenigen Stunden in eine Arena der Superlative verwandelt. Die Ränge sind bis auf den letzten Platz voll besetzt und überall sieht man die Länderflaggen aller Finalisten, das Aufgebot der Medien erschlägt einen nahezu und die Zuschauer fiebern den Läufen ihrer Helden entgegen.

Und trotzdem kommt es mir im Vergleich zu Sochi merkwürdig leise vor. Der König auf dem Eis weilt nicht unter den Finalisten und die Stille, die daraus erwächst, ist allgegenwärtig. Dieses Finale wird wie keines zuvor. Egal wie es ausgeht, der Sieger wird heute seit fünf Jahren nicht Viktor Nikiforov heißen.

Doch auch ohne Viktor stehen auf russischer Seite alle Zeichen auf Sieg. Der Erwartungsdruck auf Yurio muss insbesondere durch den Weltrekord noch weiter angestiegen sein, denn er steht mit nur fünfzehn Jahren kurz davor, der jüngste Sieger in der Geschichte des Grand Prix bei den Seniors zu werden. Ich kann also nur verstehen, dass seine beiden Trainer ihn seit heute morgen äußerst genau im Auge behalten und nicht mehr Wettkampfgeschehen als maximal nötig zu ihm durchdringen lassen wollen. Yurio ist schon seit den Morgenstunden weitgehend abgeschirmt und auf Anweisung seiner Trainerin hin verlässt er das Eis noch vor allen anderen, um sich die letzten Minuten bis zu seiner Kür im Backstagebereich unbeeinflusst weiter vorzubereiten.

Die thailändischen Fans hingegen schmeißen schon von Beginn an eine „Dabei-sein-ist-alles“-Party, denn Phichit wird um den Sieg nicht mehr mitlaufen können, aber das heißt nicht, dass die erste Finalteilnahme eines Thailänders nicht trotzdem gefeiert werden könnte.

Bei allen anderen Teilnehmern, die noch eine realistische Chance auf das Eingreifen in den Wettkampf haben - Chris, Otabek und mir – herrscht dagegen während dem Aufwärmen äußerste Konzentration. Jeder von uns weiß, dass jetzt nichts mehr schief gehen darf, wenn es ein Platz auf dem Treppchen werden soll und je näher es der Kür entgegengeht, desto mehr Adrenalin sammelt sich in meinem Körper. Trotzdem aber bringt es diesmal meine Mentalität nicht zum Wanken. Mein gefasster Zustand von heute morgen steht nach wie vor wie ein Fels in der Brandung, fest entschlossen, diesmal nicht aufzugeben. Natürlich hätte ich immer noch die Möglichkeit, „Nein“ zu alledem zu sagen, meinem Egoismus die Hand zu reichen, Viktor als Trainer zu behalten und zuzusehen, wie die lebende Legende abseits der Eisfläche langsam in Vergessenheit gerät und stirbt. Aber soweit muss es hoffentlich nicht kommen. Der Einzige, der in der Lage ist, Viktor sein Spiegelbild zu zeigen, bin ich.

Von den Platzierungen im Kurzprogramm ausgehend werde ich als Letzter der ersten Gruppe dran sein. Den Anfang macht JJ, der gerade von seiner Hilflosigkeit über ein weiteres Mal überrollt wird. Die Wasserflasche trifft mit voller Wucht auf das Eis, er wirft sich seiner Mutter um den Hals und für einen Moment scheint es, als würde jeder einzelne kanadische Fan in dieser Halle von seinem Platz aufspringen und hinunterrennen wollen, um JJ doch noch einmal auf die Schulter zu klopfen und beizupflichten, dass er das schafft. Solange man aktiv ist, sind das Herzblut der Fans und die Liebe von Familie und Freunden die wertvollste Unterstützung, die man sich als Sportler nur wünschen kann. Wenn man dazu in der Lage ist, sie zu begreifen.

JJ muss sich deswegen keine Sorgen machen, denke ich, als ich mich auf eine Bank setze, um meine Schlittschuhe noch einmal neu zu binden. Er ist noch jung und hat noch viele Wettkämpfe vor sich, die er gewinnen kann. Nächstes Jahr um diese Zeit steht er womöglich wieder im Finale und kämpft erneut mit fünf anderen Läufern um den Sieg. Manchmal braucht es dazu einen neuen Anfang, eine neue Erfahrung oder zweite Sichtweise. Dieser Grand Prix geht heute zu Ende, aber die Wettkämpfe mit den anderen Läufern werden noch viele Jahre so weitergehen. Keine Geschichte könnte faszinierender sein als eine, die kein Ende hat.

Zum Ende von JJs Kür toben die Kanadier über einen fast gelungenen, vierfachen Rittberger und unerwartete 213 Punkte, sodass JJ zurück im Rennen ist und nicht einmal schlechte Chancen hat, tatsächlich auf dem Podest zu stehen.

Nur wenige Minuten später erklingen aus der Halle die Gesänge zu Phichits „Terra Icognita“ und ich mache mich auf zu Viktor, der zum letzten Mal die Makkachinbox, meine Isoflasche und meinen Ausweis aus unserer Tasche nimmt und diese im Spind einschließt. Ich gebe ihm noch meine Brille, dass er sie in die Jackentasche seines Trenchcoats tun kann und während das Publikum weiterhin gute Laune auf dem Eis feiert, beginne ich mit meinen Dehnübungen hinter den Tribünen. Viktor steht still mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtet mich. Sein Blick hat sich im Vergleich zu heute früh lediglich dahingehend verändert, dass er nicht mehr in sich gekehrt aussieht, sondern gereizt. Seine Nerven müssen blank liegen, aber das tun meine auch. Vor einem Jahr hätte ich nicht geträumt, noch einmal an diesem Punkt zu stehen und doch tue ich es, stelle mich dem Wettkampf; aber noch mehr stelle ich mich der Verantwortung, die ich auf mich geladen habe, als ihn darum bat, als Trainer an meiner Seite zu bleiben.

Bitte, darf ich um deine Hand anhalten, bis ich zurücktrete?

Ich wünschte, du würdest niemals zurücktreten.

Wir gewinnen zusammen Gold beim Finale, ja...?

Wir wissen beide, dass es das nicht sein kann. Wir sind nicht Trainer und Schüler. Nach dieser Kür ist es vorbei und was dann auf uns wartet, entscheidet jeder für sich. Aber wenn Viktor dieses Programm so geschrieben hat, dass es gewinnen kann, dann will ich es durch meine Liebe mit Leben füllen und höher tragen, als er es sich je vorgestellt hat.

Die Kür von Phichit ist zu Ende und ich gehe voran, Viktor folgt mir. Wir betreten die Halle, Phichit wird von Celestino und seiner Trainerin in Empfang genommen und ich setze den ersten Fuß aufs Eis, gleite einige Meter. Es fühlt sich anders an, aber es trägt mich. Als hörte ich es rufen, dass er nach Hause kommen soll.

Ich fahre zurück an die Bande. Den Kopf lasse ich gesenkt, mein Blick ruht auf der Kälte unter mir. Flüchtig nehme ich noch die verschränkten Arme von Viktor vor seiner Brust wahr, dann schließe ich die Augen, um ein Gefühl für das Eis zu bekommen. Bin ich auf dem Eis, ist er bei mir, was auch immer ich tue.

„Keine Sorge,“ sagt Viktor und ich höre, wie schwer er sich tut, etwas der Situation angemessenes zu sagen, „du kannst immer noch Gold gewinnen.“

Dann nimmt er meine Hand. „Wenn du an dich glaubst.“

„Ne, Viktor,“ entgegne ich ihm direkt, „am Anfang habe ich gesagt, dass ich möchte, dass du einfach nur Viktor bist. Du musst mir jetzt nicht mit Trainer-Floskeln zureden, ja?“

Das Eis und ich sind uns einig. Ich ziehe meine Hand unter seiner weg und halte sie stattdessen.

„Ich möchte, dass du lachen kannst, wenn es vorbei ist.“

The score for Pitchit Chulanont is 289,56 points.

Viktor beugt sich zu mir herunter, ich spüre seinen Atem an meinem Ohr und öffne die Augen, ohne ihn direkt anzusehen.

„Yuuri, hör' mir gut zu,“ setzt er an und klingt dabei jetzt völlig anders, „ich habe lange mit mir gerungen, ob ich dir das jetzt sagen soll. Ich, fünfmaliger Weltmeister in Folge, bin so weit gegangen, eine Pause zu machen, um dich zu trainieren. Dass du bis jetzt noch keine einzige Goldmedaille gewinnen konntest, heißt was?“

Was das heißt...? Mit einem Mal bin ich komplett hellhörig. Heißt das etwa, dass es für ihn nie darum ging...?

Viktors Ausdruck wird sanfter, er lächelt mir liebevoll zu.

„Wie lange hast du noch vor, so weiterzumachen wie im Training?“, sagt er und umarmt mich liebevoll.

„Ich möchte diesmal schon Gold küssen...“ antworte ich etwas trotzig, aber ich glaube, ich habe verstanden. Es ging nie darum. Er hat auf dem Eis einen Partner gesucht. Erfüllt sich mein Wunsch, erfüllt sich seiner.

Als wir uns voneinander lösen, schaffe ich es nur für einen kurzen Moment in seine blauen Augen zu schauen, die mir zu verstehen geben, dass er nicht mein Trainer sein will, sondern mein Partner. Dass er einfach nur will, dass ich bei ihm bleibe, egal was passiert.

Gott, Viktor...!, denke ich und falle zurück in seine Umarmung, halte ihn fest und verliere jeglichen Widerstand gegen meine Tränen, genauso wie er auch. Du bist so ein Depp!

Now on the ice, representing Japan... Yuuri Katsuki!

Wir sind uns ebenfalls einig. Das Ziel steht fest. Ich halte noch einmal seine Hand, dann fahre ich auf das Eis.
 

Mein Name ist Katsuki Yuuri.

Vielleicht bin ich ein japanischer Eiskunstläufer wie jeder andere. 24 Jahre.

Aber ich bin hier für den, den ich liebe.
 

-----[Free Skate: Yuri on Ice]-----
 

Als ich zum stehen komme, bin ich völlig außer Atem. Ich sehe meinen ausgestreckten Arm und Viktor am Rand der Eisfläche stehen. Die Erkenntnis kriecht nur langsam in meine Bewusstsein. Ich hab's geschafft... Ich hab es wirklich geschafft. Ich bin die Kür fehlerfrei gelaufen. Und auch den Flip...! Ich kann mich nicht mehr halten.

„JAAAAAAAAA!“

Ich schreie die Erleichterung heraus, beide Fäuste in die Luft erhoben. Meine Knie zittern, ich kann es einfach nicht glauben! Ich habe es wirklich geschafft! Die Tränen stehen mir in den Augen, von dem Geschrei um mich herum bekomme ich überhaupt nichts mehr mit. Ich habe es wirklich durchgezogen…!

Irgendwie gelingt es mir, mich vor dem Publikum zu verbeugen, zu winken. Aber mit jedem Mal, dem ich mein Gesicht dem Eis zubewege, überkommt mich mehr und mehr die Gewissheit, dass meine Aufgabe damit erfüllt ist und ich gehen muss.

Viktor wartet freudestrahlend auf mich, streckt schon die Arme nach mir aus, als ich mich zu ihm umdrehe. Ich dachte, ich wäre mental darauf vorbereitet, aber gerade will ich nicht zurück. Wenn ich zurückgehe, ist es vorbei. Und ich will nicht, dass es vorbei ist.

Mit einer letzten Verbeugung richte ich meinen Dank an das Eis, dass es mich getragen hat und gleite mit gesenktem Kopf zu Viktor. Er schließt mich sofort in die Arme, als ich meine Füße wieder auf festen Boden setze. Mir ist zum Heulen zumute, ich greife unter seinen Trenchcoat und drücke ihn an mich. Er ist so warm und ich liebe seine Wärme, seinen Geruch, seine Nähe...

„Yuuri,“ beschwört er mich und beginnt meinen Kopf zu streicheln, „Schhh, alles ist gut. Alles ist gut...“

Nichts ist gut. Nichts ist gut, Viktor. Ich will mit dir zusammen bleiben und selbst wenn die ganze Welt gegen uns ist... Ich will nicht, dass irgendwas vorbei ist!

Er beginnt mich sanft hin- und herzuwiegen.

„Ich liebe dich, Yuuri...“, flüstert er ganz leise. „Eine schönere Liebeserklärung als diese könnte ich niemals mehr bekommen...“

Ich lasse ihn nicht gerne los, aber ich muss.... Die Schritte zum Kiss & Cry sind die Schwersten meines Lebens und mir wird schlecht, wenn ich auch nur eine Sekunde darüber nachdenke, was gleich auf der Anzeigetafel erscheint. Wir setzen uns, aber ich kann nicht mal gerade sitzen bleiben vor Anspannung. Meine Ellbogen stützen auf meine Knie, meine Stirn lehnt an meinen Händen... Viktor fährt mit seiner Handfläche meinen Rücken auf und ab. Um mich zu beruhigen, um meinen Rücken warm zu halten, ich weiß es nicht. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, aus Angst, dass gleich mehr als nur Luft herauskommt, sollte ich den Mund nur einen Spalt zu weit öffnen. Dabei habe ich keine Fehler gemacht, ich weiß es... Ich weiß es und trotzdem weiß ich nicht, ob es genug war. Es darf nicht umsonst gewesen sein. Es darf alles gewesen sein, nur nicht umsonst...

„Keine Sorge. Die Vorstellung war so perfekt, du bekommst ganz sicher viele Punkte“, ermutigt mich Viktor und just in diesem Moment ertönt die Ansage zur Punktevergabe.
 

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„The score for Yuuri Katsuki is… 319.41 points! Ladies and Gentlemen, the free skate earned 221.58 points. This is new world record!“

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Yuuris Ergebnis durchfährt mich wie ein Stromschlag. Egal mit was ich gerechnet habe, das war es nicht. Ich hab ihm viele Punkte gewünscht, aber nicht so viele. Ich hätte ihm Gold von Herzen überlassen, aber nicht auch das noch.

Das ist etwas zu viel des Guten... Hab ich mich letzten Endes mit dem Programm selbst aufs Kreuz gelegt...? Mein Blick fällt auf das Eis. Ja, du! Lachst mich aus, nicht? Retourkutsche dafür, dass ich gesagt hab, ich hab keinen Bock mehr? Hast den Limbo unter seinen Kufen getanzt, ja? Na warte.

Ich wende mich Yuuri zu, der wie vom Donner gerührt da sitzt. Aber er sieht schon süß und unschuldig aus, wie mit seinen großen Augen zu mir sieht, dass ich doch anerkennend lächeln muss, als ich ihm die Hand hinhalte. Etwas zögerlich nimmt er sie und sofort ziehe ich ihn zu mir.

„Herzlichen Glückwunsch,“ beginne ich und ich bin mir sicher, irgendwo tief in mir drin meine ich das auch so. „Dass beide Yuris meine Rekorde gebrochen haben, ist für mich als Choreograf die größte Ehre. Aber als Konkurrent bin ich jetzt natürlich ziemlich angepisst.“

Yuuri sieht mich völlig entgeistert an, dann legt sich helle Freude über sein Gesicht: „Als Konku-... Heißt das, du steigst wieder ein?!“

Ich spreche es nicht aus, aber ja, das heißt es. Stehle niemals die Hörner des Teufels, Yuuri, denn er kommt zurück und holt sie sich. Und da wäre noch etwas. Ich werde es unter diesen Umständen nicht zulassen, dass du dich einfach so auf und davon machst. Ein Ass habe ich noch im Ärmel und ich werde es spielen. Denn außer mir gibt es noch jemanden, der deine Entscheidung nicht so einfach hinnehmen wird.

Ich hätte zwar nicht gedacht, dass ich den Kleinen anstiften gehen muss, aber sei’s drum. Ein barmherziger Samariter war ich noch nie und ich zwinge ihn ja nicht. Aber wenn das Programm der Hexe eines ausdrückt, dann das Brennen für perfekte Schönheit auf dem Eis. Darum merk’ dir eins, Yuuri: Wir machen immer das, was ich will, das du willst, was ich will <3
 

Etwa eine Stunde später hält mir Yuuri etwas bedröppelt die Silbermedaille entgegen. Ja, sowas aber auch. Kein Sieg? Wie ist das denn passiert?

„Ist doch kein Gold geworden...“

Ich kann mein Grinsen nicht unterdrücken. Ich bin ein Arsch, ich weiß. Und ich schäm‘ mich kein bisschen dafür. Aber einfach gibt’s bei mir nicht. Das ist eben meine Art zu zeigen, wie sehr ich jemanden liebe.

„Wenn‘s kein Gold ist, hab ich keine Lust es zu küssen,“ sage ich.

„Eh?!“

„Da hab ich als Trainer aber ganz schön versagt. Dabei hätte ich deine Goldmedaille so gerne geküsst“, fahre ich scheinheilig fort und gehe einige Schritte auf Yuuri zu, um mich über ihn lehnen zu können. „Hast du keinen Vorschlag, der das wett machen könnte?“

„Eh, also...“

„Hast du etwa nicht über eine Entschädigung nachgedacht?“, frage ich säuselnd und sehe ihm lasziv in die Augen. „Etwas, dass mich ähnlich in Euphorie versetzen könnte?“
 

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Was meint er...? Etwas, dass ihn ähnlich in Euphorie versetzen könnte...? Er sollte wissen, dass ich ernst mache, wenn er zu lange um irgendwas bettelt!

...Gut, er will es nicht anders! Ich petzte die Augen zusammen, verbanne meine selbstlosen Vorsätze ins Niemandsland und tue das, was ich eigentlich schon die ganze Zeit über tun wollte: Er ist Viktor und mein Viktor; ich werfe ihn mit einer Umarmung nach hinten um, die Silbermedaille landet auf dem Boden und ich fordere entschlossen: „Viktor! Bitte bleib' noch für ein weiteres Jahr mein Trainer! Ich gewinne ganz sicher Gold, ich versprech‘s!“

Es dauert einen Moment, bis er es begreift, was ich gesagt habe, aber dann gibt es kein Halten mehr: „Sehr gut! Und noch was!“ ( * v * )

„Eh, was denn?“, frage ich ihn.

„Naja,“ beginnt er verschmitzt grinsend und hebt meine Silbermedaille vom Boden auf, „ich habe Zweifel, dass ich wieder auf dasselbe Level wie früher zurückkomme, wenn ich gleichzeitig dein Trainer bleibe. Das heißt, dass du dann für uns fünffacher Weltmeister werden musst, sonst steht mir das nicht.“

Fünffacher... Weltmeister? Nicht sein Ernst...? Oh Viktor... Irgendwie kann ich noch meine Zustimmung zum Ausdruck bringen, aber gleichzeitig steigen mir auch die Tränen in die Augen.

„Yuuri,“ fragt er, „warum weinst du?“

„Weil ich glücklich bin, du Idiot.“

„Wegen?“

„Dir natürlich“, halte ich ihm vor. „Ich hätte nie gewollt, dass irgendetwas zwischen uns aufhört.“

„Dann lauf-?“

„Ja,“ falle ich ihm ins Wort und wische ein paar Tränen mit dem Ärmel meines Kostüms weg. „Hör' auf zu fragen, es steht alles. Ich hab dich vom Eis geholt, also es ist nur recht, wenn ich dich wieder dorthin zurück führe.“

„...Yuuri...,“ flüstert er glücklich und legt die Arme um meine Schultern, „du bist wahrhaftig ein Prinz geworden.“

„Du legst es drauf an, oder? Dass ich dich so nenne?“

Er grinst ertappt. „Dein Jackett ist blau. Mein Jackett ist rosa.“

Darauf kann ich absolut nichts mehr sagen. Er zieht mich zu sich und wir halten uns ganz fest, die Tränen fließen weiter, aber vor Freude, weil wir uns im wichtigsten Punkt doch immer einig geblieben sind: Dass wir nicht mehr voneinander getrennt sein wollen. Nicht in diesem und nicht im nächsten Leben.
 

Alles andere wäre nur noch eine Frage.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Up Next: Welcome to the Madness

Anmerkungen:
Free Skate: Yuri on Ice

Nyaaaaaa, das war das Arschkeks-Kapitel! X///D
It's over 9.000!!! ... *hüstel* Ähm. Ja. Also. Was soll ich dazu noch sagen? <3
"Der Tag dazwischen", den ich hier einfach übersprungen habe, wird als Zusatz nach Kapitel 10 online gestellt. Ich wollte ihn zuerst in dieses Kapitel einfügen und es bei der Kür enden lassen, aber das tat dem Lesefluss und dem Spannungsverlauf überhaupt nicht gut, also habe ich mich entschlossen, ihn nachzureichen :)
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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  --lina--
2018-09-22T13:57:36+00:00 22.09.2018 15:57
Arschkeks-Nikiforov!
Ohja, welch ein Kapitel, obwohl Yuuri Chris auch gut Parole geboten hat 😂 Ich muss an der Stelle immer wieder lachen.
Mensch das geht ja schon dem Ende zu .. Und ich Tröte lese so langsam... verdammt! Guuut~ Ich husch ins nächste Kapitel 😁
Antwort von:  Flokati
22.09.2018 17:43
Ein Hoch auf den Arschkeks-König!
Ich glaube ja, das ist auch die einzige Art und Weise, wie man Chris Paroli geben kann XD"


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