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Von Peking bis Barcelona

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
PoV: Yuuri, Yurio, Yuuri. Komplett anzeigen

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4 - Intermezzo: Rostelecom Cup, Kür

Ich bin nicht der Einzige, dem die Verwirrung ins Gesicht geschrieben steht. Yurios Ausdruck spiegelt meinen ziemlich genau wieder, nur dass meine Mundwinkel nicht so nervös zucken wie seine. Yakov Feltsman fängt sich als Erster wieder, aber seine verengten Augen verraten mir, dass er auf eine Erklärung dessen, was Viktor von ihm verlangt, sehr gespannt ist. Bevor er aber danach fragen kann, erhebt jemand anders ihre Stimme:

Ist das dein Ernst?

Die Exfrau von Yakov Feltsman ist aus dem Hintergrund getreten und ihr Ton ist ebenso angewidert wie ihr Gesichtsausdruck. Als wäre Viktors Bitte ein Sakrileg.

Yakov soll sich für dich um den da kümmern? Und wo willst du hin? Du solltest nirgendwo anders sein, als hier!

Und wenn, dann ist es Yakovs Entscheidung“, erwidert Viktor, aber mir wird beim Klang seiner Stimme sofort unwohl. Viktor zu provozieren gelingt nicht jedem, aber diese Frau hat es offenbar mit nur wenigen Sätzen geschafft. Es wäre das erste Mal, dass ich erlebe, dass er auf Konfrontation geht.

Vitya, unter vier Augen“, gebietet Herr Feltsman, der von der Aussicht auf eine verbale Auseinandersetzung zwischen Viktor und seiner Exfrau ähnlich beunruhigt scheint. „Lilia, halt dich da raus.

Lilia... Ich bin so angespannt, dass mein Gehirn nur sehr langsam arbeitet, aber ich habe den Namen irgendwann schon einmal gehört, nur wann? Es war nicht Yuko, die diesen Namen erwähnte...

Zunehmend nervös beobachte ich, wie Viktor und sein Trainer abseits beginnen zu diskutieren. Sie reden mit unterdrückten Stimmen und meine Augen wandern immer wieder unbeabsichtigt zu dieser Frau mit dem Vornamen Lilia. Auch ohne ihre unheilvolle Präsenz ist die Sache schon nervenaufreibend genug, aber mit ihr noch viel mehr. Ich bete einfach, dass Viktor keinen Rückzieher macht; ich will nicht, dass er sich die gleichen Vorwürfe machen müsste... Er muss zurück nach Japan. Er muss einfach.

„Oi, Katsudon, was ist los?“ Yurio hat sich angeschlichen.

„Makkachin...“, antworte ich, aber bereue es sogleich.

„Haa?! Der Hund?!“

Es entfährt ihm viel lauter als er es wahrscheinlich beabsichtigt hat und sofort sehen alle Anwesenden entgeistert in unsere Richtung, auch Yakov Feltsmans Exfrau, und sofort umspielt ein undefiniertbares Lächeln die dünnen Lippen.

Yakov,“ ruft sie in einem Ton, der mir fast überheblich vorkommt, „wenn ihm der Köter wichtiger ist, lass‘ ihn. Er soll sehen, was er davon hat.

Lilia?!

Sie wendet sich an Viktor: „Zehn Jahre ist es her, dass du schon mal für einen Köter alles stehen und liegen gelassen hast. Hat dir die Lektion noch nicht gereicht? Hast du immer noch nicht verstanden, wo dein Platz ist?

Lilia, es reicht!“, geht Yakov Feltsman aufgebracht dazwischen. „Ich will kein Wort darüber hören!

Wenn ich einen Köter für vertrauenswürdig gehalten habe, dann ist das alleine dein Verdienst“, schmettert Viktor zurück, völlig unbeirrt von seinem Trainer.

Vitya, das gilt auch für dich!

Für die nächsten Sekunden starren sich beide nur völlig regungslos an, als wären sie nur in tiefstem Hass miteinander verbunden. Viktors Blick ist dabei nicht weniger eiskalt, wie ihrer giftig ist und mir wird schlecht, wenn das noch länger so weiter geht. Ich habe keine Ahnung, worum es geht, aber die Uhr für Makkachin tickt weiter und es ist immer noch keine neue Nachricht von meiner Schwester angekommen.

Los, verschwinde dahin, wo du hergekommen bist“, schließt sie, dann sieht sie mit erhobener Nase genauso starr zu mir herüber. Ich versuche mit aller Kraft ihrem vernichtenden Blick standzuhalten, aber ich scheitere. „Du hast die falsche Wahl getroffen, Nikiforov. Komm‘, Yuri. Der Teufel spielt sein eigenes Spiel.“

Mit einem erneuten Ausdruck von Irritation sieht Yurio von mir zu Viktor und Yakov hinüber, trollt sich dann aber ohne ein Wort zu sagen mit seiner Trainerin. Just in dem Moment vibriert mein Handy und ich fahre erschrocken zusammen, aber es nur eine Nachricht von Minako-sensei, um mir zu meiner neuen Personal Best zu gratulieren. Ich will schon aufatmen, als es mir wie Schuppen von den Augen fällt, wer diese Frau ist: Sie ist Lilia Baranovskaya, die Primadonna des Bolshoi-Balletts! Das Idol von Minako-sensei und Viktors frühere Balletttrainerin!

...Damit habe ich nicht gerechnet. Nicht im Geringsten. Viktor selbst hatte den Namen erwähnt, als Minako-sensei ihn danach fragte, wer seine Trainerin war, während er den Tanz der Zuckerfee in ihrem Ballettstudio vorführte. Ich weiß noch gut, wie sehr Viktor sich geziert hatte und dass es eine Ewigkeit gedauert hat, bis er mit der Sprache rausrückte und er gestand, dass er aufgrund des Zwist mit seiner Trainerin seit zehn Jahren kein Ballett mehr gemacht hatte und auch nicht mehr machen wollte. Viktor hatte es knapp mit „Differenzen über die Art des Trainings“ begründet, aber das, was ich gerade erlebt habe, scheint keinesfalls dadurch gerechtfertigt zu sein, dass man sich wegen der Art des Trainings nicht einigen konnte... Das ist gerade zu viel auf einmal.

„Katsuki!“

Vor Schreck lasse ich fast das Handy fallen. Dass Yakov Feltsman mich so laut beim Namen rufen würde, habe ich ebenso wenig erwartet, wie die Erkenntnis um die Identität seiner Exfrau. Der Schock darüber steckt mir mindestens genauso tief in den Gliedern wie der Gedanke daran, dass Makkachin in diesen Minuten tot sein könnte.

„Vitya. Kommt mit, alle beide.“

Als wir uns in Bewegung setzen, bricht in der Halle ohrenbetäubender Jubel aus. Wahrscheinlich zur offiziellen Bekanntgabe des Endergebnis im Kurzprogramms und die Berichterstatter rücken in die Halle, aber ob ich nun noch auf dem ersten Platz bin oder nicht, scheint mir unendlich weit entfernt. Meine Gedanken drehen mir beinah den Magen um und was Herr Feltsman von mir will, kann ich beim besten Willen auch nicht abschätzen. Wir entfernen uns von den neugierigen Gesichtern des Hallenpersonals und schließlich befinden wir uns in einem leeren Gang.

„Du verlangst viel, Vitya“, brummt Yakov Feltsman mit verschränkten Armen, diesmal auf Englisch.

„Ich weiß.“

„Schafft er das morgen ohne dich?“ Er deutet mit dem Daumen auf mich.

„N-natürlich!“, sage ich, auch wenn ich nicht direkt gefragt wurde und keine Ahnung habe, ob dem wirklich so ist. Vielleicht mache ich gerade nicht den stabilsten Eindruck, aber Viktor muss zurück, also steht außer Frage, dass ich es versuchen werde! Wenn ich selbst zu feige dafür war, dann will ich wenigstens daraus gelernt haben und nicht noch andere behindern.

„Wenn Yuuri das sagt, glaube ich ihm.“

Yakov Feltsman wechselt wieder auf Russisch: „Warum willst du fliegen? Du wirst nichts ändern können.

Ich weiß. Darum geht es nicht“, antwortet Viktor, „aber wenn es so ist, kann ich niemandem zumuten, auf mich zu warten. Das kann ich von Yuuris Familie nicht verlangen.“ Er macht eine Pause, seine Hände zittern, dann spricht er weiter: „Ich möchte mich verabschieden. Ich will nicht wieder vor vollendeten Tatsachen stehen, nur weil die Not es erfordert hat. Nicht, wenn es um meinen Hund geht. Bitte, Yakov.

Für einen Moment sagt niemand etwas, dann: „Katsuki!“

Schon wieder habe ich einen halben Herzinfarkt.

„Ich hoffe, dir ist klar, was es heißt, ihn gehen zu lassen. Er sollte nichts anderes sein, als dein Trainer.“

„Er ist Viktor“, plappere ich erneut drauf los und hoffe, dass es auch nur im Entferntesten dabei hilft, dass Yakov Feltsman endlich einwilligt. „E-er ist als mein Trainer hier, da haben Sie Recht. Aber ich würde es mir nicht verzeihen können, ihn aus meinem Egoismus heraus davon abzuhalten, seinem Hund die letzte Ehre zu erweisen. Das steht mir nicht zu...“

„Du hast doch mehr Anstand als ich erwartet habe. Jetzt nimm‘ ihn mit und ich seh‘ dich morgen Punkt 8 Uhr beim freien Training.“

Es dauert einen Moment, bis wir realisieren, dass Yakov Feltsman zugestimmt hat. Viktor will gerade einen Schritt auf seinen Trainer zugehen, als dieser sofort lautstark zetert: „Ihr zwei habt keine Zeit für Kaffeekränzchen! Macht, dass ihr wegkommt!“
 


 

Rostelecom Cup, 20. November 2016, 7:15 Uhr. Star Hotel.
 

„Hey, Yuri. Du siehst ja aus, als sei dir ne Laus über die Leber gelaufen, was ist?“

„Das geht dich 'n Scheiß an, Mila.“

Er ist wirklich geflogen. Katsudon hockt alleine ein paar Tische weiter beim Frühstück und glotzt dumm ausm Fenster. Dafür hat er bestimmt schon zehnmal so oft aufs Handy geguckt. Vor sich hat er Haferbrei stehen, aber grad mal drei Löffel gegessen.

„Hm? Der japanische Yuuri? Wo ist Viktor?“

Auch schon gemerkt, Sherlock... Ich check das nicht. Es geht um den Hund, das hat Katsudon gesagt. Aber warum veranstalten die so ein Theater deswegen? Soll Viktor doch fliegen. Hat er ja auch gemacht, aber seit gestern ist der Name tabu. Lilia hat mir bloß wieder den Spruch gedrückt, mich fernzuhalten. Yakov hat mich angeschnauzt, es sei alles geklärt und ich solle mich unterstehen, irgendwas davon der Presse zu stecken. Als ob ich die Absicht dazu hätte. Jetzt wo Viktor weg ist, geht’s endlich um mich und ich werde beweisen, dass ich gewinnen kann!

„Hi, Mila!“

„Morgen, Sara. Ohne deinen Bruder?“

Mann, hab ich das volle Laberprogramm heute morgen gebucht? Können die sich nicht woanders hinsetzen?

„Er und Emile kommen gleich nach. Hm? Ist Yuuri alleine?“

„Ja, sieht so aus, nicht?“

„Sie haben gestern Abend ziemlich heftig diskutiert, direkt nach den Interviews“, sagt die Italo-Schwester, dann guckt sie zu mir. „Du hast das doch auch mitbekommen, oder? Ich hab dich bei Yuuri stehen sehen.“

„Er hat Viktor selbst weggeschickt, er soll aufhören, rumzuheulen.“ Jetzt hat sie die Info, die sie will. Sie soll sich verziehen.

„Weggeschickt?! Warum?“ fragt Mila irritiert.

„Ist doch scheißegal, er wollte es so“, motze ich. Dass Weiber immer so nervtötend sozial sein müssen. Und Katsudon guckt schon wieder aufs Handy. Waschlappen.

„Ich dachte, sie wären so dicke miteinander“, stellt Mila weiter Vermutungen an und ignoriert immer noch, dass Viktor verdammt nochmal nicht mehr in Moskau ist. Wie viel deutlicher muss ich werden?

„Er hat Viktor weggeschickt, weil der Hund abgekratzt ist.“

„Nein?!“ Mila sieht aus, als wäre die Milch in ihrem Müsli plötzlich sauer. „Viktors Pudel ist tot?“

„Er hat ja wohl bloß den einen.“ Ich lege den Kopf auf den anderen Arm, dass ich wegschauen kann. „Katsudon hat gesagt, Viktor soll fliegen und er macht das hier allein. Depp.“

„...Depp? Entschuldige mal,“ beginnt die Italo-Schwester zu motzen, „Yuuri versucht hier die Last von zwei Leuten alleine zu stemmen.“

Na und? Gibt's dafür 'n Preis oder was? Katsudon soll sich wieder fangen und gefälligst auf den Wettkampf konzentrieren! Ich hab noch ne Rechnung offen, da brauch ich keinen, der den Helden spielen will!

„Für Yuuri stand offenbar keine Sekunde zur Diskussion, dass Viktor bleiben soll. Obwohl die Kür heute so wichtig für ihn ist. Auch wenn er dein Konkurrent ist, dein Verhalten ihm gegenüber ist äußert unsportlich.“

„Mann, Alte,“ pampe ich sie an, „ich bin nicht die Seelsorge für den Idioten. Der kann ohne Viktor nicht geradeaus laufen und probiert's trotzdem. Und später hockt er doch wieder irgendwo aufm Klo und flennt.“

„Dann wäre es diesmal vielleicht nicht schlecht, wenn du etwas netter zu ihm wärst?“, provoziert sie mit erhobenem Zeigefinger. „Die letzte Aktion ist ja wohl auch nur auf deinem Mist gewachsen.“

„Mann, lass' mich in Ruhe mit dem Scheiß!“

„Was für ein ungezogenes Katerchen!“, schnippt sie, ich zeige ihr den Stinkefinger, während sie aufsteht und sich zu ihrem Inzestbruder und dem Fusselgesicht trollt. Ich muss mir von der überhaupt nix sagen lassen, die hat doch letztes Jahr selbst mit Mila inner ersten Reihe gestanden und sich den Arsch abgelacht! Der Einzige, der wie'n Vollpfosten bei der Aktion dastand, war ich! Und ich hab Katsudon gesagt, er soll sich die Birne wegsaufen? Nein. Der weiß doch eh nix mehr davon, also interessiert's auch nimmer. Dem Schweizer ist sowieso alles Latte und Viktor hat ja wohl mit gar nix ein Problem gehabt, egal wie widerlich es war... Er knutscht dem Schwein ja auch öffentlich die Fresse und den Schuh!

„Mir tut Yuuri leid, ihn alleine da sitzen zu sehen“, sagt Mila und ich schaue wieder zu Katsudon, der sich keinen Millimeter bewegt hat und immer noch wie hypnotisiert aufs Handy starrt.

„...Sag' mal, Mila,“ beginne ich, weil ich mich unwillkürlich an etwas erinnere, „kann ich dich was fragen?“

„Uh? Du mich?“

„Ja, aber denk bloß keinen Scheiß von mir, verstanden?!“
 

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Immer noch keine Nachricht. Viktor wollte sich melden, sobald er in Seoul zwischengelandet ist. Einen direkten Flug von Moskau nach Fukuoka gab es nicht und die einzige Maschine, die noch zu bekommen war, war eine von Aeroflot nach Seoul und von dort aus weiter nach Kyuushuu. Vielleicht hatte das Flugzeug Verspätung und er musste sich beeilen, denn viel Zeit zum Umsteigen war im Flugplan nicht angegeben gewesen... Ich schaue wieder auf die Anzeige auf dem Handydisplay. 7:23 Uhr. Er müsste eigentlich schon bald in Japan landen...

Es ging alles viel zu schnell gestern Abend. Nach dem Gespräch mit Herr Feltsman haben wir direkt ein Taxi gerufen und sind zurück zum Hotel gefahren. Viktor hat die nötigsten Sachen zurück in seinen Koffer gepackt und bevor ich überhaupt realisieren konnte, dass er fliegen würde, war er auch schon wieder in das gleiche Taxi gestiegen und auf dem Weg zum Flughafen. Seine letzte Umarmung war viel zu kurz, um mich darauf vorbereiten zu können, dass er nicht mehr da wäre und auch wenn es ein Notfall ist, kann ich dieses Gefühl in mir nicht abstellen. Ich könnte es nicht mal beschreiben. Meine Gedanken kreisen ständig um Viktor und Makkachin, vermischen sich mit Erinnerungen an Vicchan und mir ist, als hätte man mir ein zweites Mal berichtet, mein Hund sei gestorben.

Nur, dass es sich noch schlimmer anfühlt als damals. Ich kann nichts essen. Vor einem Jahr hatte ich noch am selben Abend eine Pizza vom Zimmerservice bestellt und diese komplett aufgegessen, dazu noch mindestens einen halben Liter Cola getrunken und Unmengen Schokolade in mich gestopft. Jetzt steht nur eine Schüssel Haferbrei vor mir, von der ich nichts essen kann, ohne das Gefühl zu bekommen, mich sofort übergeben zu müssen.

Vicchan war vor unserem Hoftor von einem Radfahrer, der ohne Licht gefahren ist, erfasst worden und kurz darauf beim Tierarzt gestorben. Ich weiß noch, dass ich nach dem Kurzprogramm in Sochi in der Umkleide meine Schlittschuhe betrachtet und überlegt hatte, ob ich sie vor der Kür noch einmal schleifen lassen soll, als der Anruf von zuhause kam. Es war das bisher tiefste Loch, in das ich gefallen bin. Dabei war ich zuvor noch relativ zuversichtlich gewesen und das, obwohl ich unglaubliches Herzklopfen hatte, weil ich zum ersten Mal mit Viktor in der gleichen Halle auf dem gleichen Eis stand. Celestino hatte mich noch gelobt, dass ich deswegen nicht komplett weiche Knie bekommen hatte und dass ich in der Kür ruhig etwas selbstbewusster laufen könnte...

Nach dem Anruf war davon nichts mehr übrig. Die ganze Nacht durch hatte ich geweint, mich für meine Fressattacke geschämt; dafür, dass ich Vicchan solange nicht besucht hatte, dass ich alles meiner Familie aufgebürdet hatte und dass ich mich kein bisschen dazu in der Lage fühlte, weder Vicchan noch meine Familie stolz zu machen. Ich hatte aufgegeben, bevor es wirklich zu Ende war.

„Für Goldmedaillen muss man nach vorne schauen, nicht nach hinten, Yuuri.“

Viktors Worte aus Okayama hallen in meinem Kopf wider, als ich mich vor ihm für mein Versagen beim Grand Prix und mein mangelndes Selbstvertrauen zu rechtfertigen versuchte. Ich weiß, wie sehr er damit recht hat, aber es ist nicht die Erinnerung an Vicchan, die es diesmal schlimmer macht. Es ist schlimmer, weil es nicht um mich geht. Der Abgrund scheint unendlich tief, wenn ich mir vorstelle, dass Viktor in diesem Moment den gleichen Schmerz wie ich ertragen müsste... Allein. Ich wäre nicht bei ihm, könnte ihn nicht halten und mit ihm trauern... Lieber Gott, bitte, wenn es in deiner Macht steht, dann rette Makkachin und beschütze Viktor. Mir war noch nie in meinem Leben jemand so wichtig und noch nie tat es so weh, von ihm getrennt zu sein...

„Außerdem ist ihre Liebe besonders, weil sie stark ist. Sie übersteht Jahr für Jahr, auch wenn sie getrennt sind.“

„Yuuri, das sagst du nur so leichtfertig daher, weil du noch nie von jemand getrennt warst, den du an deiner Seite haben wolltest.“

Ich habe das wirklich leichtfertig daher gesagt. Gerade wüsste ich nicht mal, wie man eine starke Liebe definieren kann. Meine Finger verschränken sich fester und ich lege meine Stirn auf meine gefalteten Hände. Viktor ist nur eine Nacht nicht bei mir gewesen und ich fühle mich schon unendlich schwach deswegen...

„Yuuri, auch wenn ich fliege, im Herzen bin ich immer an deiner Seite.“

Ich bin auch an deiner Seite, Viktor... Auch wenn wir uns gerade nicht sehen können...

Brrrzzz. Brrrzzz. Brrrzzz. Brrrzzz.

Sofort schnappe ich nach meinem Handy, aber die Hoffnung stirbt sofort. Es ist nur der Wecker. 7:35 Uhr. Ich muss in die Lobby gehen und mit Herr Feltsman zum freien Training abfahren.
 

Etwa zehn Minuten später stehe ich mit Rucksack und Schlittschuhen am vereinbarten Treffpunkt und obwohl ich trotz aller Hektik viel zu früh bin, warten er und Lilia Baranovskaya schon. Von Yurio und Mila Babicheva ist nichts zu sehen, dafür gibt sich JJ mit seinen Trainern bereits die Ehre. In den meisten Gesichtern, die sich mir nach und nach zuwenden, sehe ich Irritation darüber, dass Viktor nicht anwesend ist und die unnötigste Info, die es für alle zu erfahren gibt, ist die, dass JJs Freundin die „beauty of the universe“ ist, mit der er lautstark telefoniert, damit ja niemand ein Detail verpasst.

Nervös wandern meine Augen zu Herr Feltsman. Die letzten zwei Tage war ich noch beschäftigt darüber zu grübeln, wie ich ihm gegenüber verhalten soll, weil es mir unangenehm war, dass er um das Verhältnis von Viktor und mir weiß; heute muss ich dafür dankbar sein, dass er es weiß. Viktor hat nie schlecht über ihn geredet, also sollte ich vielleicht endlich aufhören, Angst vor ihm zu haben, auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass er auch nur die kleinste Bewegung von mir auf die Waagschale legt.

Er fängt meinen verunsicherten Blick und kommt zu mir herrüber.

„Hat Vitya irgendwas zu dir gesagt? Worauf du dich heute fokussieren sollst? Was du üben sollst?“

„D-dazu hatten wir keine Zeit mehr...“, antworte ich ehrlich. „Er ist sofort zum Flughafen.“

Herr Feltsman schweigt eine Weile, dann fragt er: „Hat er sich gemeldet?“

„Noch nicht...“ Ich schaue reflexartig wieder auf mein Handy. 7:47 Uhr.

„Katsuki!“, ruft Herr Feltsman und ich werfe schon wieder fast das Handy weg. „Vitya kommt allein zurecht! Deine Konzentration gehört einzig und allein hierher! Hast du verstanden?“

„V-verstanden!“, sagt ich und stehe kerzengerade zum Abmarsch bereit.

„Eine ganze Nation schaut auf dich, also reiß' dich zusammen! Du bist nicht der Einzige, der sich Sorgen um Vitya macht.“
 

----------------[EPISODE 9: Rostelecom Cup: Kür]----------------
 

Nach dem Wettkampf stehe ich nachdenklich an einer Kreuzung nahe des Hotels und lehne mich auf das Geländer vor mir. Ich will alleine sein, um den Tag sacken zu lassen.

Die Finalisten des Grand Prix stehen fest. Abgesehen von den Drei, die generell schon entschieden waren – Christophe Giacometti, Otabek Altin und Phichit Chulanont – haben sich auch JJ und Yurio qualifiziert. Den letzten Finalplatz habe ich zugeteilt bekommen, obwohl ich ihn kaum verdient habe.

Ich hätte mir das niemals so vorgestellt. Dass Viktor nicht mehr beim Wettkampf war, hat bereits am Morgen für Unmut bei den Journalisten vor Ort gesorgt und schwappte infolge dessen bis zum Abend hin auch auf das ganze russische Publikum über. Weil ich derjenige war, der Viktor zum Gehen aufgefordert hat, war in mir schnell der passenden Sündenbock gefunden, der dafür verantwortlich ist, dass Viktor Russland verlassen hat. Stattdessen haben sich alle Yurio als dem neuen Retter der russischen Ehre zu gewandt, während mir mit jedem Blick und jeder Geste zu verstehen gegeben wurde, wie sehr man mich dafür verurteilte, ihnen Viktor genommen zu haben.

Er sollte nichts anderes sein, als dein Trainer.

Das Problem ist, dass Viktor das nie wirklich gewesen ist. Zumindest rückblickend nicht. Wir haben zwar zusammen trainiert, uns auf meine Grand Prix-Teilnahme vorbereitet und die Programme erstellt, aber wir haben uns auch gleichzeitig verliebt und sind ein Paar geworden. Ich habe, als ich ihn zum Gehen aufgeforderte, nicht als sein Schüler, sondern als sein Geliebter gehandelt. Und dafür muss ich jetzt die Konsequenzen tragen.

Seit Viktor mir am Mittag schrieb, dass er Makkachin von Tierarzt abgeholt habe und dass alles in Ordnung sei, er mich liebte und an mich glaubte, hat sich schon dieser Gedanke in mir geregt, aber nach diesem katastrophalen Tag bin ich mir dessen sicher. Davon abgesehen bin ich auch so ziemlich am Zenit meiner Leistungsfähigkeit angekommen. Das wird womöglich meine letzte Chance... Ich will diesmal wirklich gewinnen, aber wenn der Grand Prix zu Ende ist, werde ich Viktor bitten, als Trainer zurückzutreten, egal ob es Gold wird oder nicht.

In Gedanken versunken bemerke ich, dass es begonnen hat zu schneien. Nur ganz leicht, sanft... Wie an dem Tag, als Viktor zu uns ins Onsen kam. Als hätte er die Flocken mit sich gebracht, die ihn jetzt wieder nach Hause rufen. Ich beobachte einige davon, wie sie vom Himmel fallen, auf meinen Händen landen und vor meinem inneren Auge sehe ich seinen Schneeflockentanz. Nur der Zauber der Einen kann alle anderen tanzen lassen... Er gehört wieder zurück aufs Eis. Tief in seinem Herzen sehnt er sich auch danach... Und ich...

Plötzlich rempelt mich etwas heftig von rechts an und ich falle unsanft auf den Gehweg.

„Hier gammelst du rum, Katsudon. Ich hab ewig nach dir gesucht.“

Ich schaue auf, aber eigentlich erkenne ich einen Tritt dieser Qualität schon.

„Yurio?“

„Was zur Hölle war vorhin mit dir los?! Das war ätzend, Mann, mich schüttelt's jetzt noch!“, beginnt er auf mich einzureden. „Und was sollte das während deiner Kür?!“

Ich weiß gar nicht, was ich ihm antworten soll oder was er von mir will. Zu meiner Überraschung redet Yurio einfach weiter: „Klar kannst du sagen, dass Viktor nicht da war und du deswegen nicht gut laufen konntest, aber ich war in Bestform, hab mir den Arsch aufgerissen, meine Bestleistung überboten und trotzdem wieder gegen JJ verloren! Du hast kein Recht, mehr Trübsal zu blasen als ich!“

Ich stutze. Versucht er mich etwa gerade aufzumuntern? Plötzlich landet eine Papiertüre in meinem Schoß. Ich sehe zu ihm auf, aber er weicht meinem Blick aus und sagt: „Für dich. Du hast ja bald Geburtstag.“

„Eh?“ Woher weiß er, wann ich Geburtstag habe? Und seit wann interessiert ihn das? Ich krempele die Papiertüte auf. „Piroszki?“

„Los, iss“, fordert er mich auf, den Blick immer noch auf irgendein Luftloch gerichtet.

„Eh, hier?“

„Iss' verdammt!“, wiederholt Yurio gereizt.

G-gut. Ich stehe auf, greife nach einer der Teigtaschen, aber schon beim Abbeißen stelle ich fest, dass die Füllung keine normale Füllung ist.

„Da ist Reis drin... Schnitzel und Ei...“, zähle ich auf, „Katsudon!“

Erstaunt betrachte ich das Innere des Piroszki.

„Genau!“, grinst Yurio mich jetzt mit leuchtenden Augen an. „Die hat Opa selbst gemacht! Geil, oder?“

Sein Opa? Ok... Ich fühle mich geehrt. Und mit einem Mal sehr viel besser als zuvor.

„Ja, vkusno“, sage ich und muss mitgrinsen. Irgendwie habe ich das gebraucht... Nicht weil es Katsudon ist, sondern weil es von Yurio kommt, der wirklich versucht, mich aufzuheitern. Er ist eben doch nicht so übel, denke ich. Ein bisschen laut, ein bisschen aggressiv, aber im Grunde doch nur ein Junge, der sich nach Anerkennung sehnt.

„Du sprichst Russisch?“, fragt er neugierig.

„Viktor hat mir ein bisschen was beigebracht“, antworte ich.

„Geht's besser?“

„Was meinst du?“, frage ich verwundert. Sofort stampft Yurio einen Schritt auf mich zu und sein Gesicht fällt zurück in seinen bissigen Ausdruck.

„Wovon habe ich denn gerade geredet? Du hast bald Geburtstag und dein Freu - ...Viktor ist nicht da.“

Er hält inne, wendet den Kopf betreten ab, um zu verbergen, dass er beinah etwas gesagt hätte, was er nicht hätte sagen sollen. Ich warte einen Moment und beiße noch ein Stück von dem Piroszki ab.

„...Dein Freund ist nicht da“, murmelt er in die andere Richtung und ich vergesse für einen kurzen Moment zu kauen. Yurio weiß es...? „Es ist ein offenes Geheimnis bei uns in St. Petersburg. Jeder weiß es, keiner redet drüber. Viktor steht auf Kerle. Im Grunde interessiert’s auch keinen, aber die ganzen Werbemacher fürchten um ihre Kohle. Er hat direkt 'nen Maulkorb verpasst bekommen, nachdem er das erste Mal 'nen Typen hatte.“

Ich schlucke krampfhaft unter, der Brocken bleibt im Hals stecken und sinkt nur unter widerlichem Schmerz tiefer.

„Schau' mich nicht so an, klar?“, blafft Yurio, ob wohl er mein Gesicht nicht sehen kann. „Ich hab' keine Ahnung von Viktors Techtelmechteln. Seit ich ihn kenne, hat er nie wen erwähnt. Ehrlich gesagt glaubt keiner bei uns, dass er in den letzten Jahren überhaupt irgendwem hatte. Privatleben war'n Fremdwort für ihn. An seinem letzten Geburtstag wollten wir ihm 'nen Stripper nach Hause schicken und haben es aus Gründen dann gelassen...“

„W-was für Gründe?“, nuschele ich in meinen Schal hinein, um zu verbergen, dass ich mich fühle, als käme mir alles gleich wieder hoch.

Yurio schaut mich eine Weile uneinsichtig an, dann fragt er: „Ist der Hund über’n Berg?“

„Was, ja, Viktor hat geschrieben. Makkachin geht es gut“, antworte ich und wundere mich noch, was das mit meiner Frage zu tun hat. Wechselt Yurio das Thema jetzt absichtlich?

„Krieg‘ das nicht in den falschen Hals, der Köter ist mir egal,“ erklärt sich Yurio, „aber Viktor geht’s endlich wieder besser, da wär’s ziemlich ätzend, wenn das Vieh über die Wupper geht.“

„Eh?“ Ich verstehe gar nichts mehr. Heillos verwirrt starre ich auf Yurios Gestalt vor mir. Er sitzt halb auf dem Geländer, das eine Bein angewinkelt und den Kopf wieder gesenkt, das Gesicht hinter der Kapuze versteckt.

„Viktor ging’s ziemlich dreckig zu Beginn des Jahres“, erzählt er weiter. „Yakov war ein wandelndes Nervenbündel deswegen. Irgendwann hat's tierisch genervt, ich war ja bei jedem verdammten Termin dabei. Sie haben auf ihn eingeredet, er soll 'ne Pause machen, aber das wollt er nicht hören. Hat immer wieder gesagt, lieber ging er sterben, als dass man ihm das Eis wegnehme.“

Der Schock rauscht durch alle meine Glieder. Warum erzählt er mir das, nachdem ich gegessen habe?

„Was meinst du damit..?“, frage ich in einem Anflug von Panik. Was denkt er sich, mir so etwas zu erzählen und dann nicht weiterzureden!

„Was weiß ich“, sagt Yurio und hat das Gesicht immer noch von mir abgewandt. Als schaffte er es nicht, mir in die Augen zu sehen, weil es ihn genauso aufwühlt wie mich. Dann richtet er sich auf, als wolle er gehen. „Viktor hat eh nicht mehr alle Tassen im Schrank. Was ich sagen will: Er lacht wieder. Dafür sind dir alle dankbar, auch wenn’s jetzt keiner mehr zugibt.“

Er geht einige Schritte zurück in Richtung Hotel.

„Yurio!“, rufe ich ihm nach und er hält inne. „Ich...“

Mein Herz ist schwer wie Blei. Aber wenn es so ist wie Yurio gesagt hat, dann ist meine Entscheidung die Richtige. Er gehört zurück. Zurück in seine Welt.

„I-ich sorge dafür, dass er nicht sterben muss...“

„Nimm‘ dir nicht zu viel vor, Katsudon. Beim Finale in Barcelona gewinne ich, damit das klar ist!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Up Next: 5 - Fukuoka Airport

Liebe Leser,
Omg, omg, omg, ich liebe das Gespräch zwischen Yuuri und Yurio! Gott, wie lange habe ich darauf gewartet, die Beiden miteinander reden lassen können! (*__*) Die Szene gehörte schon im Anime mit zu meinen Lieblingsszenen und ich war so aufgeregt, als es endlich losging! Die Szene schrieb sich so flüssig, ich musste im Nachhinein kaum etwas daran ändern. Deswegen würde ich mich freuen, wenn meine Weiterführung euch genauso gut gefallen hat!
Lasst mir eure Meinung doch in einem Kommi da :)
LG,
Flokati Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
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Von:  --lina--
2018-08-31T11:08:37+00:00 31.08.2018 13:08
Wow! Gefühlsachterbahn! Ich muss immer mit allen mitleiden ;;
Das Gespräch zwischen Yura und Yuuri war so wichtig und ist so schön.
Ich muss unbedingt das nächste Kapitel lesen ;;
Antwort von:  Flokati
31.08.2018 16:19
Danke dir <3
Ich würde gerne noch ein bisschen mehr mit Yurio schreiben. Irgendwann mal xD


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