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Stolen Dreams Ⅻ

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bitte beachtet, dass man die Hauptstory vollständig gelesen haben sollte, bevor man mit dieser Geschichte anfängt. Komplett anzeigen

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1. Kapitel

„Valentin, kannst du mir einen Gefallen tun?“

Angesprochener sah von seinem Tablet auf, das er zum Lesen von Nachrichten benutzte, und schaute zu Anastasia, die im Türrahmen zur Küche stand und sich nervös auf die Unterlippe biss.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte er, obwohl er bereits wusste, dass er keine Lust hatte, auf die Bedürfnisse seiner Tochter einzugehen.

„Ich... habe einen Stiefbruder. Er heißt Yuri und lebt bei seinem Vater, mit dem meine Erzeugerin einige Jahre lang eine Ehe geführt hat.“

„Uh-hm“, machte Valentin desinteressiert und richtete sein Augenmerk wieder auf den Artikel, in dem der Verfasser Dinge thematisierte, die er lieber nicht hätte erwähnen sollen.

„Yuri, ihm... ihm geht es sehr schlecht. Sein Vater schlägt ihn, in der Schule wird er gemobbt und--“

„Und was hat das mit mir zu tun?“, unterbrach Valentin sie und griff nach seinem Glas, das mit Rotwein gefüllt war und vor ihm auf den Tisch stand.

„Ich möchte“, sagte Anastasia und holte tief Luft, „dass er bei uns wohnen kann.“
 

Die Antwort auf diese Frage war so eindeutig, dass Valentin sie sich sparte, aber das schien Anastasia erwartet zu haben.

„Ich weiß, dass ich ihn damit möglicherweise in Gefahr bringe und dass er ein Risiko für dich darstellen könnte, aber--“

„Warum fragst du überhaupt, wenn du meine Antwort und Begründung schon kennst?“

„Aber überall ist es besser als da, wo er gerade ist. Er braucht meine Hilfe.“

Valentin seufzte, schaltete das Tablet aus und legte es auf dem Tisch ab. Es war kurz vor Mitternacht und alles, was er gewollt hatte, war etwas Ruhe, die er sich seiner Meinung nach auch verdient hatte, wenn man bedachte, dass er und der Rest seiner Familie vor wenigen Tagen einen Krieg gewonnen hatten. Dort draußen war immer noch die Hölle los und das Letzte, was Valentin jetzt gebrauchen konnte, war eine weitere Person, um dessen Sicherheit er sich kümmern musste.

„Dann sag ihm, dass er ausziehen soll. Zu uns kommt er jedenfalls nicht.“

„Aber--“

„Anna, kannst du dich noch an Sascha erinnern? Du weißt schon, der Junge, mit dem Andrej sich abgibt?“
 

„Ja, du meinst Alex.“

„Mir egal, wie du ihn nennst – das wird nichts daran ändern, dass er momentan im Krankenhaus liegt.“

„Was ist passiert?“

„Unsere Feinde haben ihn entführt und Dinge mit ihm getan, die ich dir nicht näher erläutern werde, weil du dann wahrscheinlich Albträume kriegst. Ich werde dir nur sagen, dass die meisten Menschen, die das Gleiche oder Ähnliches erleben mussten, sich umbringen, weil sie die Folgen nicht aushalten. Willst du, dass dein Bruder genauso endet?“

„Nein, aber--“

„Na also.“

Für Valentin war das Gespräch damit beendet, aber Anastasia ließ nicht locker. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, holte ihr Handy hervor und zeigte es ihrem Vater, der es keines Blickes würdigte.

„Siehst du das hier? Yuri ist verzweifelt! Er braucht meine Hilfe!“
 

„Nur fürs Protokoll: Das Helfersyndrom hast du nicht von mir geerbt.“

„Das ist nicht lustig! Siehst du das hier?“ Sie deutete auf eine bestimmte Stelle in dem Chatverlauf. „Er hat mir danach nicht mehr geantwortet. Irgendetwas muss passiert sein!“

„Vermutlich ist er ins Bett gegangen“, erwiderte Valentin ruhig und sah in das Gesicht seiner Tochter. Zwei Augen, deren Farbe seiner stark ähnelte, sahen zurück. „Du solltest froh sein, dass ich dir erlaube, Kontakt zu ihm zu haben, weißt du das?“

„Yuri befindet sich psychisch in einem schlechten Zustand. Wenn ich ihm nicht helfe, wird es niemand tun. Ich habe Angst, dass ihm etwas zustößt oder er sich sogar umbringt.“

„Das ist bloß ein weiterer Grund, ihn dort zu lassen, wo er ist. Ich habe keinen Bock, mich um einen Psycho zu kümmern.“

„Schön!“ Sie erhob sich mit einer schnellen Bewegung, was den Stuhl zum Umfallen brachte. „Wenn du mich nicht unterstützen willst, dann mache ich es halt alleine!“

„Viel Glück“, rief er ihr hinterher, während sie aus der Küche stampfte.
 

Valentin hatte gehofft, dass Anastasia wieder zur Vernunft kommen würde, doch eine knappe Viertelstunde später erwischte er sie dabei, wie sie angezogen und mit gepacktem Rucksack das Haus verlassen wollte.

„Was soll das werden? Du weißt nicht mal, wie man ein Auto fährt.“

„Macht nichts; ich wollte eh gehen.“

„Aus reinem Interesse: Wie lang ist der Weg?“

„Wenn ich mich beeile, sollte ich“, sie schaute auf ihre Armbanduhr, die ihr verriet, dass es kurz nach Mitternacht war, „noch heute ankommen.“

„Das ist bescheuert. Lass den Mist.“

Sie wollte ihn ignorieren und die Haustür öffnen, aber Valentin lehnte sich dagegen und verschränkte genervt die Arme vor der Brust. Seine Tochter würde absolut nirgendwo hingehen und erst recht nicht alleine.

„Anna, selbst wenn du es aus dem Haus schaffen solltest – meine Männer werden dich innerhalb weniger Sekunden finden und zu mir zurückbringen. Erspare uns beiden unnötigen Ärger und--“
 

Sie ließ den Rucksack fallen und zog sich Jacke, Pullover und Schuhe aus, ehe sie sich von ihrem Vater abwandte und in den Garten ging, wo sie sich auf die mit Schnee bedeckte Terrasse setzte.

„Was zur Hölle“, fragte Valentin, der ihr gefolgt war, „soll das werden?“

„Ich komme erst wieder rein, wenn du mir versprichst, dass du mich zu Yuri bringst.“

„Alles klar.“ Er schüttelte den Kopf und bezweifelte, dass wirklich die Hälfte seiner Gene in diesem Mädchen steckten. „Sag Bescheid, wenn du deinen Verstand wiedergefunden hast.“

Er setzte sich vor den Fernseher, zappte sich durch das Programm und wartete darauf, dass Anastasia wieder reinkommen würde, damit er mit dem Thema abschließen und ins Bett gehen konnte, aber selbst eine halbe Stunde später machte das Mädchen immer noch keine Anstalten, ins Haus zurückzukehren.

Hätte ich gewusst, dass Kinder so anstrengend sein können, wäre Anna nicht hier.

Er stöhnte genervt und ging nach draußen, wo Anastasia sich nicht von der Stelle gerührt hatte. In T-Shirt und Jeans saß sie in der Kälte und zitterte wie Espenlaub. Ihre Nasenspitze und Ohren hatten sich gerötet, während der Rest ihres Gesichtes eher blass wirkte.
 

„Anna, es ist spät. Kommst du bitte wieder rein?“

„Fährst du mich zu Yuri?“

„Vergiss es.“

„Dann bleibe ich.“

Ich hätte damals ein Kondom benutzen sollen.

„Ich bin mir sicher, dass Kälte nicht gut für deine Haare ist“, wechselte er seine Taktik, in der Hoffnung, dass Anastasia ihre Meinung ändern würde, doch das machte es nur noch schlimmer.

„Und ich bin mir sicher, dass meine Haare das Letzte sind, das mich gerade interessiert“, erwiderte sie schnippisch. „Ich mache das hier nicht, weil es spaßig ist, in der verdammten Kälte zu sitzen oder mich mit dir zu streiten, sondern weil es keine andere Möglichkeit gibt, gegen dich anzukommen. Verstehst du es nicht? Ich muss Yuri helfen. Außer mir hat er niemanden.“

Valentin verdrehte die Augen und spielte kurz mit dem Gedanken, die Tür von innen abzuschließen und Anna erfrieren zu lassen. „Schön. Wie weit ist dein dummer Bruder etwa von uns entfernt?“
 

„Ein bisschen mehr als hundert Kilometer.“

„Okay, was hältst du von einer Abmachung? Du kommst jetzt rein und hörst mit diesem Theater auf, wenn ich dich dafür morgen zu... wie war noch mal sein Name?“

„Yu--“

„Auch egal. Ich fahre dich zu ihm, aber ich werde ihn nicht mitnehmen. Wir schauen, wie es ihm geht, und dann verschwinden wir wieder, verstanden?“

„Und was ist, wenn es ihm schlecht geht?“

„Dann werde ich ihm sagen, dass das nicht mein Problem ist.“

Könnten Blicke töten, wäre Valentin jetzt tot umgefallen.

„Nein, Anna. Ich werde ihn nur mitnehmen, wenn er sterbend auf dem Boden liegt und seine letzten Worte spricht.“

„Gut.“

Ohne ihn anzusehen, stand sie auf, ging an ihm vorbei, sammelte im Flur ihre Sachen auf und verschwand in ihrem Zimmer. Valentin machte die Tür zu und war heilfroh, dass er den Mist endlich hinter sich hatte.
 

Etwa acht Stunden später, als es draußen gerade hell wurde, platzte Anna angezogen und bereit zur Abreise in die Küche, wo Valentin mehr schlecht als recht gegen eine der Theken lehnte und ungeduldig darauf wartete, dass sein dampfender Kaffee kalt genug wurde, um ihn trinken zu können.

„Wann geht's los?“

Er antwortete vorerst nicht, sondern drehte sich zu ihr um. Seine kinnlangen dunkelbraunen Haare sahen aus, als hätte er sie in einen Mixer gehalten, dunkle Ringe lagen unter seinen müden Augen und alles, was er momentan am Leib trug, war eine Boxershorts und ein lockeres T-Shirt.

„Wenn ich nicht mehr so aussehe, als hätte ich die letzten Tage in der Wildnis verbracht, okay?“

Valentin wollte sich Zeit lassen, aber Annas Gedränge wurde irgendwann so nervig, dass er seine Tasse zügig leerte, unter die Dusche sprang – selbst hier hörte Anna nicht auf, gegen die abgeschlossene Tür zu trommeln und ihrem Vater zu sagen, dass er sich gefälligst beeilen soll – sich anzog und eine kurze Weile später im Auto saß.

„Nur damit du es weißt: Ich bin so müde, dass ich hier und jetzt einschlafen könnte. Wundere dich also nicht, falls ich einen Unfall baue.“
 

Anna schien das nicht zu interessieren. Während der Fahrt sah sie ständig auf ihr Handy und murmelte gelegentlich, dass Yuri ihr immer noch nicht geantwortet hatte und sie hoffte, dass es ihm gut ging. Valentin wäre es am liebsten, wenn dieser verdammte Junge einfach sterben würde, aber weil er keine Lust auf Streit hatte, behielt er seine Meinung für sich. Er verstand, dass Anna sich Sorgen machte, aber er war jetzt schon mit der Verantwortung überfordert, die ein Teenager mit sich brachte, und konnte wirklich getrost darauf verzichten, sich noch mehr Last auf die Schultern zu packen. Außerdem gefiel ihm der Gedanke, eine fremde Person in sein Haus zu lassen, überhaupt nicht.

„Mein Gedächtnis ist nicht das beste. Warum willst du dem Typen noch mal helfen?“

„Weil es ihm schlecht geht. Seine Mitschüler und sein Vater machen ihm das Leben zur Hölle.“

„Kann er sich nicht ans Jugendamt wenden?“

„Auf das Jugendamt kannst du dich nicht verlassen; erst recht nicht in Russland.“

„Und deswegen müssen wir uns jetzt darum kümmern oder was?“
 

„Er ist der einzige richtige Freund, den ich habe, okay? Sowohl im Internat als auch in den Schulen, in denen ich schon war, gab es niemanden, der mir auch nur annähernd sympathisch vorkam. Alle Jungs sind Arschlöcher, die entweder nur an sich selbst oder an Sex denken, und die Mädchen – die sind noch schlimmer! Haben nur Jungs, Make-up und Kleider, die sie wie Nutten aussehen lassen, im Kopf und verbringen ihre Zeit lieber auf Partys als vor dem Schreibtisch. Dann wundern sie sich, dass sie die Prüfungen nicht bestehen, und--“ Anastasia verschränkte die Arme vor der Brust und kochte vor Wut. Valentin lehnte sich unauffällig nach links, um möglichst viel Abstand zu ihr zu gewinnen. Er hätte schwören können, gerade ihren Kopf rauchen zu sehen.

„Okay, okay, komm wieder runter. Ich hab's verstanden, dein Bruder ist dein einziger Kumpel.“

„Sein Name lautet Yuri. Merk dir das“, zischte Anastasia gereizt, ehe sie knurrend hinzufügte: „Ich könnte diesen Mädchen ihre leeren Köpfe abreißen; bezeichnen mich als Streberin, weil ich es wage, Wert auf Bildung zu legen.“

Während sie mit ihrer Tirade fortfuhr, konzentrierte sich Valentin auf den Verkehr und wich geschickt einem anderen Auto aus, dessen Fahrer seinen Führerschein offensichtlich nicht auf legale Weise erhalten hatte.
 

Als Valentin das Ziel der Fahrt erreichte, war es später Vormittag. Das Haus, vor dem er parkte, war ein Reihenhaus, das exakt wie seine Nachbarn aussah und sich nur durch die Hausnummer von den anderen unterschied.

„Du weißt, was du tust, oder?“, fragte er Anastasia, die zielstrebig an ihm vorbeiging und auf die Klingel drückte.

Valentin stellte sich einen knappen Meter hinter sie und schaute sich um. Von rechts kam das nervige Geschrei eines Babys und im linken Haus konnte man einen Fernseher hören.

„Scheint nicht da zu sein“, sagte er, als nach einer Minute immer noch keine Reaktion kam.

Anastasia ignorierte ihn und klingelte Sturm. Als auch das nichts brachte, schlug sie mit der Faust gegen die Tür und rief: „Ich weiß, dass du da bist, Oleg! Mach die scheiß Tür auf!“

Valentin wollte ihr sagen, dass es sinnlos war, aber genau in diesem Moment wurde die Tür geöffnet und ein Mann Mitte fünfzig erschien. Er wirkte äußerst mürrisch und sein Bart – falls man dieses Schlachtfeld überhaupt so bezeichnen konnte – sah ziemlich unordentlich aus.
 

„Was willste?“, fauchte er Anna an, die sich davon nicht beeindrucken ließ.

„Ich will zu Yuri.“

„Kannste vergessen. Er ist in der Schule.“

„Es ist Samstag.“

„Er ist trotzdem nicht da.“

Mit diesen Worten griff Oleg nach der Türklinke, doch bevor es dazu kam, hatte Anastasia ihm bereits mit voller Wucht zwischen die Beine getreten. Er keuchte vor Schmerz, krümmte sich zusammen und fiel auf die Knie. Seine schmutzige Hand streckte sich nach dem Mädchen aus, das eilig an ihm vorbeiging. Fast berührte er es, als sich plötzlich ein schwerer Fuß samt Schuh auf seinen Handrücken stellte und ihn auf den Boden presste.

Valentin musste ihm nicht sagen, dass er die Finger von seiner Tochter lassen sollte; das hatte er sicherlich soeben verstanden. Mit einem kräftigen Tritt beförderte er Oleg, der wütend fluchte und sich die gequetschte Hand hielt, in den Flur, ehe er die Tür hinter sich zumachte und zu Anastasia sah, die neben einer Treppe stand und jemanden betrachtete.
 

Alles, was er von hier aus sehen konnte, war der Körper eines Jugendlichen. Er schien sich nicht zu bewegen, aber Valentin wusste nicht, ob das gut oder schlecht für ihn war. Sollte der Junge tot sein, wären sie den ganzen Weg umsonst gefahren, und sollte er leben, würde Anna sicherlich verlangen, dass Valentin ihn unter seine Fittiche nahm.

„Raus aus meinem Haus!“, brüllte Oleg. „Oder ich rufe die Poli--!“

Valentin trat ihm so heftig in den Magen, dass der Ältere wie eine Puppe in sich zusammensackte und qualvoll stöhnend am Boden lag. Er wandte sich von ihm ab und ging zu Anna, die mit Tränen in den Augen auf Yuri oder dessen Leichnam starrte. Sie schien Angst davor zu haben, ihn anzufassen.

Valentin legte vorsichtig zwei Finger auf den blassen Hals. Da war ein Puls, wenn auch nur ein schwacher.

„Er lebt. Was machen wir jetzt?“

„Was wohl“, knurrte Anastasia, in deren Stimme sowohl Trauer als auch Wut zu hören waren. „Wir nehmen ihn mit.“

Bitte alles nur das nicht. Ich bin kein Babysitter.
 

Valentin suchte nach einer freundlich formulierten Verneinung, als der Junge sich plötzlich regte. Er stützte sich mit seinen Händen am Boden ab, als würde er Liegestützen machen wollen, und setzte sich langsam aufrecht hin. Mit leicht unkoordinierten Bewegungen strich er sich das schwarze Haar hinters Ohr und sah benebelt auf einen unsichtbaren Punkt.

„Hallo, ist hier die Polizei?“, war plötzlich Olegs Stimme im Hintergrund zu vernehmen. „Ein fremder Mann ist in mein Haus eingebrochen und hat meinen Sohn angegriffen. Ich brauche Hilfe – sofort!“

„Du verlogener Wichser!“, fauchte Anastasia aufgebracht. „Du bist derjenige, der Yuri zusammengeschlagen hat, und das wird er der Polizei auch sagen!“

Hätte Valentin die Situation nicht unter Kontrolle, wäre er jetzt sicherlich nervös geworden, aber momentan war alles bestens. Oleg sprach aufgeregt in den Hörer, nannte der Polizei seine Adresse und bemerkte gar nicht, dass das Kabel durchtrennt worden war. Valentin hatte es im Vorbeigehen unauffällig vom Hörer gerissen.

„Die Polizei ist nicht sonderlich gesprächig, oder?“, fragte er schmunzelnd, woraufhin Oleg kreidebleich wurde.
 

„Nein, sie sagt, sie ist in fünf Minuten hier“, bluffte er. „Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind, aber--“ Sein Blick fiel auf das abgetrennte Kabel, das von der Wand hing. Verwundert nahm Oleg es in die Hand. Als er realisierte, warum ihm noch keiner geantwortet hatte, stand Valentin auf einmal hinter ihm und schlug mit so einer Kraft zu, dass Oleg das Bewusstsein verlor und mit halb geöffnetem Mund zu Boden fiel.

„Okay, Anna. Sag Yuri, was du ihm sagen wolltest, und dann gehen wir.“

„Wie du meinst“, erwiderte Anna ohne den kleinsten Funken Aggression. Sie schien nicht verstanden zu haben, dass mit ''wir'' nur zwei Personen gemeint waren.

„Wir beide. Nicht wir drei.“

„Kommt nicht infrage. Du hast keine Ahnung, zu was Yuris Dad fähig ist. Sobald er wieder zu sich kommt, wird er Yuri den Hals umdrehen.“

„Das ist nicht mein Pro--“

„Wir gehen jetzt nach oben und werden seine Sachen packen. Du wartest hier, okay? Wir sind in fünf Minuten wieder da.“
 

Mit diesen Worten legte sie sich Yuris Arm um die Schultern und verschwand mit dem Jungen im oberen Stockwerk.

Valentin hätte am liebsten etwas nach ihr geworfen. Wie konnte diese verzogene Göre es wagen, ihn so respektlos zu behandeln und seine Meinung vollkommen zu ignorieren? Wäre sie ein gewöhnliches Mädchen, hätte Valentin sie schon längst vor die Tür gesetzt und sich selbst überlassen, aber das konnte er bei ihr nicht. Sie war seine Tochter, sein eigen Fleisch und Blut. Wenn er sie ansah, erkannte er sich selbst in ihr, was ihr einen Schutzschild verschaffte, dem Valentin nichts anhaben konnte. Das mochte kitschig klingen, entsprach aber der Wahrheit. Er konnte ihr kein einziges ihrer eh schon gelockten Haare krümmen.

Wenige Minuten später kam Anna wieder. Den einen Arm hatte sie um Yuris Taille geschlungen, den anderen nutzte sie, um eine große Gepäcktasche zu tragen.

„Es tut mir leid“, sagte sie, als sie ihren Vater erreichte, der alles andere als erfreut aussah. „Ich kann ihn nicht hier lassen.“

Valentin sah seufzend zu dem Jungen, der entweder nicht wusste, in welcher Situation er sich befand, oder sich nicht dafür interessierte. „Das ist das erste und letzte Mal, dass ich das zulassen werde.“

2. Kapitel

Valentin krallte wütend seine Fingernägel in das Lenkrad. Er konnte nicht fassen, dass er das wirklich zugelassen hatte. Er hatte ausdrücklich gesagt, dass er Yuri nicht mitnehmen würde, und jetzt saß dieser Junge auf der Rückbank und schaute verträumt aus dem Fenster.

„Dafür, dass du angeblich die Treppe hinunter gestoßen wurdest, scheint es dir aber ziemlich gut zu gehen“, knurrte der Ältere und ignorierte den wütenden Blick, den er dafür von Anastasia erhielt.

Yuri wandte sich vom Fenster ab und sah in den Rückspiegel. Seine blauen Augen hatten etwas, das Valentin nicht benennen konnte.

„Ich mag es nicht, fremden Menschen zu zeigen, dass ich Schmerzen habe. Aber wenn Sie möchten, kann ich gerne anfangen, wie am Spieß zu schreien. Wäre Ihnen das lieber?“

Seine Stimme klang nicht provozierend, sondern neutral, aber Valentin fühlte sich trotzdem angegriffen. Er hatte bereits eine bissige Antwort parat, doch Annas warnender Blick brachte ihn zum Schweigen. Fürs Erste würde er den netten Vater spielen, und dann, sobald Anna außer Hörweite war, würde er Yuri am Kragen packen und ihm die Meinung sagen. Dieser Junge könnte ruhig mal ein bisschen Dankbarkeit zeigen.
 

„Tut mir leid. Ich... das klang unhöflich“, murmelte Yuri schüchtern. Er wandte den Blick ab, ehe er wieder in den Rückspiegel sah. „Danke dass Sie mir geholfen haben.“

Valentin erwiderte nichts, sondern rang sich ein Lächeln ab. Er hätte Konsequenz zeigen und den Jungen sich selbst überlassen sollen.

Yuri griff in seine Tasche, holte ein Notizbuch hervor und kritzelte etwas. Was auch immer er da schrieb, es schien eine Menge zu sein, denn als Valentin wenige Minuten später eine rote Ampel erreichte, war der Stift noch nicht zur Ruhe gekommen.

Valentin nutzte die Zeit, um den Jungen ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen. Davon abgesehen, dass er nicht besonders groß war – sogar Anna überragte ihn – und ein paar Kilo abnehmen könnte, wirkte sein Körper recht normal. Bei seinem Kopf war es jedoch anders; das zierliche Gesicht und das schwarze, fluffig aussehende Haar ließen darauf schließen, dass er asiatische Wurzeln besaß. Das Einzige, das an dieser Annahme kratzte, waren seine großen, strahlend blauen Augen. Eigentlich sah er gar nicht mal so schlecht aus, aber Valentin besaß trotzdem kein Interesse an ihm. Das Übergewicht störte ihn, auch wenn es nicht sonderlich stark war.
 

„Warum hast du plötzlich nicht mehr auf meine Nachrichten geantwortet?“, beendete Anastasia die Stille, während die Ampel auf grün umschaltete. „Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Ich habe mich mit Dad gestritten und... er hat mich geschlagen und die Treppe runtergeschubst. V-vermutlich habe ich dann das Bewusstsein verloren und bin danach eingeschlafen... ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“ Yuri kratzte sich unruhig am Kinn und verstaute das Notizbuch in seiner Tasche, ehe er sich an Valentin richtete. „Wie war nochmal Ihr Name?“

Angesprochener seufzte. „Valentin.“

„Darf ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu Anna stehen?“

Er geht mir jetzt schon auf die Nerven.

„Ich bin ihr biologischer Vater. Sie wohnt seit einiger Zeit bei mir.“

Yuri nickte nachdenklich, ehe er sich mit Anna zu unterhalten begann. Während die beiden über Themen sprachen, die ziemlich irrelevant waren, konzentrierte sich Valentin auf den Verkehr und verspürte den penetranten Wunsch, Yuri aus dem Wagen zu stoßen.
 

„Ähm... ich glaube, du hättest hier links abbiegen müssen“, sagte Anna, als das Auto nur noch wenige Straßen von Valentins Haus entfernt war.

„Wir fahren zuerst zu Ellen; sie ist Ärztin und sollte mal einen Blick auf Yuri werfen.“

Anna biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte ihrem Vater dafür danken, dass er Yuris Aufnahme zugelassen hatte und ihn nun sogar zu einer Ärztin brachte, aber sie wusste nicht, wie sie das tun könnte, weshalb sie schwieg.

Valentin parkte vor Ellens Villa, ignorierte Annas Äußerung, dass dieses Gebäude nicht wie eine Klinik aussah, und ging zur Tür, an der er klingelte. Ein paar Augenblicke später erschien Ellen; sie wirkte gestresst und erschöpft.

„Oh, hallo“, begrüßte sie Valentin und rieb sich müde über das Gesicht. „Was ist passiert? Etwas Ernstes?“

Valentin antwortete nicht, sondern deutete über seine Schulter, wo sich die beiden Jugendlichen befanden. Yuri war so geschwächt, dass Anna einen Arm um seinen Rumpf legen und ihn zur Tür führen musste.
 

„Es ist nicht das, was du denkst“, kommentierte Valentin den irritierten Blick von Ellen. „Ich weiß nicht, was mit dem Jungen passiert ist, aber er scheint verletzt zu sein. Kannst du dich um ihn kümmern?“

Ellen erweckte den Eindruck, eine Menge Fragen zu haben, doch sie stellte keine von ihnen und verschwand mit Yuri und Anna, deren Anwesenheit sich der Junge wünschte, in einem ihrer Behandlungszimmer. Valentin ließ sich gelangweilt auf einem Sofa in der Eingangshalle nieder und holte sein Handy hervor, mit dem er ein bisschen im Internet surfte, um sich die Zeit zu vertreiben.

Es verging mehr als eine ganze Stunde, bis Ellen endlich wiederkam. Während sie ratlos die Stirn runzelte und Anna so bleich war, als hätte sie ein Gespenst gesehen, schien Yuri bester Laune zu sein. Er starrte aufgeregt auf seinen Verband am linken Handgelenk und wischte sich die Salzrückstände kürzlich vergossener Tränen aus dem Gesicht.

„Und? Was hat er?“, fragte Valentin, als die drei Personen die Couch erreichten, auf der er es sich bequem gemacht hatte.
 

Als Antwort hielt Ellen ihm ein Taschentuch entgegen, auf dem etwa ein Dutzend kleiner Glasscherben lagen, die mit Blut überzogen waren.

„Die hier habe ich aus seinem Rücken geholt. Um auf deine Frage zurückzukommen – frag lieber, was er nicht hat.“ Sie legte das Taschentuch auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa ab und sah besorgt zu Yuri, der Anna gerade fragte, wie sie die blaue Farbe seines Verbandes fand. „Stark geprelltes Knie, noch stärker geprellter Fußknöchel, eine Platzwunde an der Schläfe, Gehirnerschütterung, eine distale Radiusfraktur und eine Unmenge von Hämatomen. Was in Gottes Namen hast du mit ihm angestellt?“

„Ich hätte orange schöner gefunden“, sagte Yuri, der entweder nicht mitbekam, dass es hier um ihn ging, oder sich einfach nicht dafür interessierte.

„Gar nichts habe ich mit ihm gemacht“, antwortete Valentin mit einem besorgten Seitenblick zum Jungen. „Das war schon so.“

Ellen hob zweifelnd die linke Augenbraue. „Gut, wenn du das sagst... Ich habe ihm ein paar Schmerzmittel mitgegeben. In etwa einem Monat sollte es ihm besser gehen. Wenn sein Zustand sich verschlechtert oder etwas passiert, bring ihn zu mir.“
 

„Okay, mach ich“, erwiderte Valentin desinteressiert, ehe er sich von dem Sofa erhob und die beiden Jugendlichen zurück ins Auto scheuchte, mit dem er schließlich nach Hause fuhr. Dort angekommen wollte er seine Ruhe haben und den vier Stunden nachtrauern, die er mit dem Abholen von Annas Stiefbruder verschwendet hatte – aber das war natürlich zu viel verlangt.

„Du kannst das Zimmer hier haben“, sagte er, nachdem er Yuri in eines der zwei Gästezimmer geführt hatte. Das andere wurde momentan von Anna in Anspruch genommen.

„Danke“, murmelte Yuri, der sich dafür, dass er angeblich so sehr litt, ziemlich ruhig verhielt. „Du hast ein echt schönes Haus.“

Valentin wandte das Gesicht ab und rümpfte missbilligend die Nase. Er hatte kein Problem damit, von der halben Portion geduzt zu werden, aber der Junge hätte ruhig vorher um Erlaubnis fragen können.

„Ich lass dich dann mal in Ruhe auspacken“, sagte er, ehe er das Zimmer verließ, im Vorbeigehen Anna am Arm packte und sie nach draußen in den Flur zerrte.
 

„Wenn du weißt, was gut für dich und deinen Kumpel ist, wirst du ihm von dem, was in den letzten Wochen passiert ist, nichts erzählen, verstanden?“

„Ja.“

„Das war keine Frage, sondern ein Befehl. Kein Wort zu meiner Familie, kein Wort zu meiner Arbeit und erst recht kein Wort zu allem, das verdächtig klingen könnte. Wir sind eine normale 08/15-Familie, ich bin ein selbstständiger Architekt und du gehst nicht mehr zur Schule, weil... keine Ahnung; denk dir was aus.“

„Okay, okay, komm wieder runter“, erwiderte Anna mit einer beschwichtigenden Geste, während im Hintergrund zu hören war, wie Yuri die Schubladen eines Schrankes öffnete. „Aber was machen wir wegen Oleg? Er wird die Polizei rufen.“

„Und dann? Er weiß weder, wer ich bin noch wo ich wohne. Und selbst wenn – sich die Polizei vom Leib zu halten, ist nicht allzu schwierig. Wir werden eh bald umziehen.“ Mit diesen Worten wollte Valentin sich zum Gehen abwenden, aber dann fiel ihm noch etwas ein. „Übrigens, Anna, dieser Junge befindet sich jetzt in deiner Verantwortung. Ein einziger Fehltritt – und ich werfe ihn raus.“
 

Den Rest des Tages verbrachte Valentin mit sinnvolleren Sachen. Er saß in seinem Büro, führte Telefonate, schrieb Emails und manchmal, wenn es ansonsten ganz still war, hörte er, wie Anna und Yuri sich miteinander unterhielten.

Warum habe ich mich bloß darauf eingelassen? Schon seit Stunden denke ich darüber nach, wie ich das dumme Kind loswerden könnte, aber mir ist noch nichts eingefallen. Verdammt... warum hätte er nicht einfach sterben können?

Valentin raufte sich das dunkelbraune Haar und klappte seinen Laptop zu. Er ging in die Küche, wo er Yuri traf und holte eine Tasse aus dem Schrank, um sich einen Kaffee zu machen.

„Anna ist schon ins Bett gegangen, falls Sie das wissen wollen“, sagte Yuri, der am Tisch saß und an ein paar Keksen knabberte.

Erst ''du'' und jetzt ''Sie''? Kann er sich nicht entscheiden?

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Bin neulich 16 geworden.“
 

So jung und schon so fett? Mein Gott.

„Was deinen Vater angeht – ist der immer so... impulsiv drauf?“

„Er ist ein aggressives Arschloch, ja.“

„Und was ist mit deiner Mutter?“

„Keine Ahnung. Sie war eines Tages weg. Wahrscheinlich ist sie zu ihrer Familie in Japan zurückgekehrt.“

Valentin drehte sich zu dem Jungen um und vernahm hinter sich das Brodeln der Kaffeemaschine. Er wusste nicht, was genau es war, aber irgendetwas an Yuri wirkte... anders. Anstatt dem sorglosen Lächeln von vorhin hing nun eine betrübte Miene auf seinem Gesicht und man konnte ihm ansehen, dass er Schmerzen hatte, was vorher ebenfalls nicht der Fall gewesen war.

„Noch mal danke, dass Sie mich aufgenommen haben. Mein Erzeuger hätte mich dort verrecken lassen.“
 

„Kein Ding. Verhalt dich möglichst unauffällig und geh mir nicht auf die Nerven – dann müssten wir bestens miteinander klarkommen.“

Valentin griff nach seiner Kaffeetasse und verschwand mit ihr im Büro. Er wollte heute noch etwas schaffen, aber seine Müdigkeit, die sich auch von dem stärksten Kaffee nicht verscheuchen lassen wollte, zwang ihn dazu, ins Bett zu gehen. Also ließ er sich nach einer zügigen Routine im Badezimmer auf die Matratze fallen und wünschte sich, dass er beim Aufwachen feststellen konnte, dass Yuri sich in Luft aufgelöst oder auf die Socken gemacht hatte. Eigentlich war es egal – Hauptsache, der Junge kam weg. Valentin konnte ihn nicht ausstehen.

Wenn er wenigstens attraktiv wäre... aber nein, natürlich ist er ein kleines-- was heißt hier ''klein''? Er ist ein großer Haufen Wackelpudding, den man in eine menschliche Form gepresst hat.
 

Valentin seufzte. Seitdem Anna bei ihm wohnte, hatte er darauf verzichten müssen, junge Männer vom Schwarzmarkt zu ergattern und sie hier als seine Sklaven zu halten. Anna sollte davon nichts mitbekommen. Wahrscheinlich hatte dieser verdammte Sascha ihr schon einiges erzählt, aber Valentin wollte es nicht noch schlimmer machen, indem er jene abscheuliche Taten quasi direkt vor ihrer Nase ausführte.

Er wusste, dass es falsch war, einer Person ihre Freiheit zu nehmen und gegen ihren Willen mit ihr Sex zu haben, aber das störte ihn nicht. Er kannte es nicht anders. Geschlechtsverkehr bedeutete für ihn, dass eine Person Spaß hatte, während die andere litt. So war er aufgewachsen, was Anna aber nicht sehen sollte. Außerdem hätte sie die Tatsache, dass die Sklaven ihres Vaters meistens in ihrem Alter waren, verstörend gefunden, womit Valentin ihr recht geben musste. Es war falsch. Es war mehr als nur falsch. Es war so falsch, dass man es nicht in Worte fassen konnte.
 

Valentin wälzte sich auf die andere Seite. Er befand sich schon im Halbschlaf, als plötzlich sein Handy klingelte.

„Du hast besser einen guten Grund, um diese Uhrzeit anzurufen.“

„Es ist wegen dem Mann, Oleg, den wir im Auge behalten sollten“, antwortete einer von Valentins Männern. „Er hat die Polizei gerufen.“

„Scheiße.“

„Aber das nicht alles. Die Beamten halten die Aussage, dass zwei gewisse Personen bei ihm eingebrochen sind und seinen Sohn entführt haben, für eine ausgedachte Geschichte.“

„Das heißt, es gibt nichts, um das wir uns kümmern müssen?“

„Das schon, aber... da ist etwas, dass du wissen solltest, Boss.“

„Und das wäre?“

„Die Polizisten haben ihn festgenommen... weil sie eine Leiche in seinem Haus gefunden haben.“

3. Kapitel

Es war Freitag und drei Minuten vor sieben Uhr, ziemlich genau vierzig Stunden vor dem Zeitpunkt, an dem Valentin herausfand, dass er sich mit Yuri nicht nur ein weiteres Kind, sondern auch eine Menge Probleme ins Haus geholt hatte. Aber jetzt – Freitag, mittlerweile nur noch zwei Minuten vor sieben Uhr – wussten nicht Valentin, nicht Yuri und erst recht nicht Charles davon.

Charles saß an seinem Schreibtisch und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Es war kalt draußen. Frischer Schnee hatte sich über Nacht auf die Straßen gelegt und viele Nachbarn hatten ihre Häuser für Silvester geschmückt, das nur noch wenige Tage entfernt war. Heute war der letzte Schultag in diesem Jahr.

Charles öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und holte ein Buch hervor, das einen sehr schönen Einband mit blauen, roten, weißen und schwarzen Streifen hatte. Was Charles daran so faszinierend fand, waren aber nicht die strahlenden Farben, sondern dass alle Streifen gleich groß waren und sich nirgendwo überschnitten. Er mochte es, wenn Dinge geordnet und makellos waren, und hätte Stunden damit verbringen können, dieses Buch zu betrachten.
 

»Bist du dir sicher, dass du das tun willst? Die anderen werden dich mobben. Sie werden dich beleidigen und eventuell auch körperlich angreifen. Das ist eine furchtbare Idee.«

Charles las den kurzen Eintrag aufmerksam durch, ehe er nach einem Kugelschreiber griff und eine Antwort formulierte.

»Mach dir keine Sorgen um mich. Es ist der letzte Tag vor den Ferien – sie werden Besseres zu tun haben, als sich mit mir abzugeben.«

Er verstaute das Buch in der Schublade, ehe er seine Sachen packte und sich auf dem Weg zur Schule machte. Dad lag im Wohnzimmer auf der Couch und schlief. Sein Schnarchen war so stark, dass es seinen Bart leicht zum Flattern brachte. Um ihm herum lagen mehrere Bierflaschen und -dosen und alles roch nach Alkohol.

Charles würdigte seinen Vater keines Blickes, zog sich warm an und verließ das Haus. Seine Schule lag nur wenige Straßen entfernt; der Weg dauerte bloß eine knappe Viertelstunde.
 

Er war mit Absicht zu früh gekommen, um ein wenig Zeit in der Bibliothek verbringen zu können, doch leider erreichte er nicht einmal ihre Eingangstür. Charles hatte das Schulgelände gerade erst betreten, als plötzlich ein paar Jugendliche vor ihm erschienen. Sie waren in seinem Alter, aber einen halben bis ganzen Kopf größer als er.

„Respekt, Wichser. Dass du dich nach der Aktion von gestern noch zur Schule traust... entweder bist du unglaublich mutig oder unglaublich dämlich.“

„Ich bin weder mutig noch dämlich“, antwortete Charles in einem neutralen Ton. Für ihn war das eine ernst gemeinte Antwort auf eine ernst gemeinte Frage, aber die Schüler um ihn herum begannen zu lachen, als hätte er einen lustigen Witz gerissen, was aber nicht der Fall sein konnte. Charles war nicht in der Lage, Witze zu verstehen, geschweige denn selbst welche zu erzählen.

„Behindert oder so?“, kicherte ein Mädchen mit langen blonden Haaren.

Charles verstand nicht, was sie meinte. Dass ihre Mundwinkel sich nach außen und oben zogen und dass man ihre Zähne sehen konnte, musste bedeuten, dass sie glücklich war.
 

Freude war neben Trauer die einzige Emotion, die Charles bei anderen Menschen erkennen konnte. Alles andere war ihm ein Rätsel. Zum Beispiel weinen: Menschen weinten, wenn sie traurig waren, aber manche weinten auch vor Freude oder vor Wut. Woher also sollte Charles wissen, ob eine weinende Person traurig, glücklich oder wütend war?

Charles hatte keine Lust mehr auf das Gespräch. Er wollte an den Jugendlichen vorbeigehen, doch das blonde Mädchen packte ihn am Arm, um ihn zurückzu--

Charles zögerte nicht, sondern schlug zu. So reagierte er immer, wenn ihn jemand anfasste, seien es seine Mitschüler, seine Eltern oder wildfremde Personen.

Das blonde Mädchen taumelte zurück und hielt sich die rechte Wange. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund formte ein O. War das... Überraschung? Schock? Angst?

„H-hast du gerade Sonja geschlagen?“, fragte einer der männlichen Schüler geschockt.
 

„Ja, das habe ich“, antwortete Charles ruhig. „Ich mag es nicht, angefasst zu werden.“

Während Sonja anscheinend vergessen hatte, wie man seinen Mund schloss, sahen sich die anderen Jugendlichen gegenseitig an und fragten sich, ob das ein Scherz war und wie sie darauf reagieren sollten. Andere Schüler, die eigentlich nichts mit Charles zu tun hatten, waren wegen des Schlags auf die Gruppe aufmerksam geworden und gesellten sich zu ihr.

Charles wurde nervös. Ansammlungen von Menschen waren für ihn ein Problem. Nicht weil er um sich oder seinen Ruf Angst hatte, sondern weil die Informationen zu all den Leuten, ihren Gesichtern, Emotionen, Äußerungen, Kleidung, Gesten und Handlung wie steinharte Hagelkörner auf ihn einprasselten. Er fühlte sich wie ein Computer, der zweitausend Befehle gleichzeitig ausführen sollte und damit so überlastet war, dass er abstürzte.

„Du blödes Arschloch!“, rief Sonja, welche die Kontrolle über sich zurückerlangt hatte, und schlug zu. Charles sah nur noch, wie ihre Faust auf sein Gesicht zusteuerte, dann wurde alles schwarz.
 

~*~
 

Yuri saß in seinem Klassenzimmer und starrte gedankenverloren auf die Tafel, um wenigstens so zu tun, als würde er aufpassen. Nur noch heute, sagte er sich selbst. Nur noch heute und dann sind endlich Ferien. Er holte unauffällig sein Handy hervor und schaute, ob Anna ihm eine neue Nachricht geschickt hatte. Sie war die einzige Person, mit der er freiwillig Kontakt hatte. Seine Klassenkameraden konnten ihn nicht ausstehen, was auf Gegenseitigkeit beruhte, und seinen Vater Oleg konnte man ebenfalls in die Tonne treten.

Nicht selten fragte sich Yuri, ob es an ihm lag, dass er mit niemandem klarkam. Er tat sein Bestes, freundlich und respektvoll mit seinen Mitmenschen umzugehen, aber das schien nicht zu funktionieren. Wenn er seine Meinung für sich behielt, galt er als langweilig, und wenn er sie aussprach, wurde er als zurückgeblieben, dumm und behindert bezeichnet. Besonders schlimm war es gewesen, als Yuri mal geäußert hatte, dass er Homosexuelle nicht als Abschaum, sondern als vollwertige Menschen ansah. Seine Klassenkameraden hatten sofort gedacht, dass Yuri selbst auch schwul sei, und sich über ihn lustig gemacht, aber keiner von ihnen wusste, dass sie damit richtig lagen. Außerdem--
 

„Hallo? Yuri? Ich rede mit dir!“

Angesprochener zuckte erschrocken zusammen, hob den Blick und sah direkt in das verzerrte Gesicht seiner Lehrerin, die sich vor seinem Tisch aufgebaut hatte.

„Was soll das? Bin ich es nicht wert, dass du mir zuhörst?“

„N-nein, ich...“, stammelte er überfordert und ließ sein Handy hastig in seiner Tasche verschwinden. „Es t-tut mir leid. Ich war... gedanklich woanders.“

Yuri spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Seine Mitschüler lachten und einer von ihnen äffte sein Stottern nach.

„Ruhe!“, blaffte die Lehrerin wie eine aggressive Bulldogge, der sie dank ihres hervorstehenden Unterkiefers und ihren hängenden Wangen zum Verwechseln ähnlich sah. „Yuri, ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir machen soll. Wie willst du deinen Abschluss schaffen, wenn du dich nicht einmal fünf Minuten lang konzentrieren kannst?“

„Ich--“
 

„Langsam, aber sicher bekomme ich den Verdacht, dass das hier die falsche Schule für dich ist. Auf einer Sonderschule wärst du bestimmt besser aufgehoben.“

Yuri senkte den Kopf und schwieg. Ein Teil in ihm wollte der Lehrerin ins faltige Gesicht schlagen, während ein anderer weinend zusammenbrechen wollte.

„Ich meine das ernst“, fuhr die alte Schachtel gehässig fort. „Kannst du mir diese einfache Frage beantworten?“

Sie fragte Yuri den Stoff ab, den sie in dieser Stunde bereits durchgenommen hatte, aber weil der Junge nicht ganz bei sich gewesen war, konnte er selbst die einfachsten Aufgaben nicht lösen und kam sich wie der letzte Vollidiot vor. Die anderen Schüler lachten, als hätten sie einen Clown gesehen, und die Lehrerin hielt ihm eine weitere Predigt, die ihn fast zum Weinen brachte.

„Warum lassen Sie ihn nicht nachsitzen?“, meldete sich Sonja zu Wort, eine hübsche blonde Schülerin, die Gerüchten zufolge heute Morgen eine Auseinandersetzung mit einem Jungen gehabt hatte.
 

„Weil ich dieses Nachsitzen dann leiten müsste“, knurrte die Lehrerin mit einem missbilligen Blick zu Yuri. „Und ich würde mich lieber vom Dach schmeißen als zwei Stunden lang mit jemandem zu reden, der den IQ einer Erdnuss besitzt.“

Das war zu viel. Yuri warf der Lehrerin eine Beleidigung an den Kopf, ehe er aufstand und den Klassenraum verließ. Niemand hielt ihn zurück, alle lachten nur.

Yuri sperrte sich auf der Jungentoilette ein und kam erst wieder heraus, als es zur Pause läutete. Er ging ins Klassenzimmer zurück, wo er feststellen musste, dass irgendwelche Scherzkekse auf die Idee gekommen waren, seine Sachen zu plündern und sie im ganzen Raum zu verteilen. Genervt seufzend sammelte er sie wieder ein und verstaute sie in seiner Schultasche, als ihm plötzlich auffiel, dass das Wichtigste fehlte.

„Suchst du zufälligerweise das hier?“, vernahm er auf einmal eine höhnende Stimme hinter sich. Er drehte sich um und erblickte Sonja, welche die verkohlten Überreste eines Schlüsselanhängers aus Stoff in den Händen hielt. Er war ein Geschenk von Anna gewesen und Yuri hatte ihn über alles geliebt.
 

~*~
 

Vanya wusste nicht, ob der Brief, den er gefunden hatte, für ihn bestimmt war, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, ihn zu lesen.

»WICHTIGE NOTIZ: Halte dich unter allen Umständen von Sonja fern. Aber wenn du die Gelegenheit bekommst, alleine mit ihr zu sein, dann schlag ihr so feste wie du nur kannst ins Gesicht. Danke.«

Vanya wusste, von wem die Rede war. Er kannte Sonja. Sie war eine laute, arrogante, selbstsüchtige Schülerin, die – wenn überhaupt – erst nachdachte, nachdem sie bereits gehandelt oder gesprochen hatte. Offensichtlich nicht in der Lage, selbst nachzudenken, vertrat sie immer die Meinung, die gerade am populärsten war, auch wenn sie nicht einmal wusste, um was es überhaupt ging. Ihren Freund wechselte sie so häufig wie ihr Outfit und es gab Gerüchte, dass sie bereits mit der halben Schule geschlafen hatte.

Das alles störte Vanya nicht. Wenn Sonja unbedingt als billige, hirnlose Nutte abgestempelt werden wollte, sollte sie das ruhig machen, schließlich war es ihre Entscheidung. Das, was Vanya jedoch störte, war, dass Sonja es sich zum Hobby gemacht hatte, andere Schüler zu mobben.
 

Wahrscheinlich tat sie das in der Hoffnung, selbst höher zu stehen, wenn sie andere runtermachte. Anders konnte sich Vanya dieses Verhalten nicht erklären. Er war noch nie auf die Idee gekommen, einer wildfremden Person ''zum Spaß'' Beleidigungen an den Kopf zu werfen oder sich über Dinge lustig zu machen, für die sie nichts konnte.

Eigentlich war es kein Wunder, dass Sonja verachtet wurde. Wer auch immer den Brief verfasst hatte, den Vanya gerade an seinen ursprünglichen Platz neben einem verbrannten Stück Stoff zurücklegte, schien eine enorme Wut gegen Sonja zu verspüren, und Vanya würde ihm den Gefallen, um den er gebeten hatte, gerne tun. Besser noch – er würde Sonja einen Schlag verpassen, den sie nie vergessen könnte.

Vanya wusste, dass Sonjas Klasse heute Abend eine Party schmiss, um den Beginn der Ferien zu feiern, und er würde seine linke Hand darauf verwetten, dass Sonja auf dieser Party anzutreffen war. Also machte er sich fertig, trottete im Stockdunklen durch den Schnee und kam nach einer Viertelstunde an dem Haus an, wo die Party stattfand. Dieses Haus zu finden, war nicht schwierig gewesen; die Musik dröhnte auch drei Straßen weiter noch unangenehm in den Ohren. Es grenzte an einem Wunder, dass die Polizei diesem Krach noch kein Ende gesetzt hatte.
 

Vanya brauchte nicht lange, um Sonja zu finden. Sie saß in einem viel zu kurzen Kleid – fror sie nicht? – im Schnee bedeckten Garten neben einer umgekippten Mülltonne und schluchzte hysterisch. In der rechten Hand hielt sie eine Wodkaflasche, in der linken eine Zigarette, an der sie gelegentlich zog, während eine Mischung aus Tränen und schwarzem Make-up über ihr Gesicht floss.

Vanya hätte am liebsten den Abstand zwischen sich und ihr überwunden und seinen Fuß auf ihrem Kopf platziert, aber da waren viel zu viele Schüler in der Nähe, die ihn sofort bemerkt hätten. Das machte aber nichts; er wusste sich zu helfen, indem er sein Handy zückte, bei der Polizei anrief, sich als Nachbar ausgab und über den Lärm beschwerte.

Etwa zwanzig Minuten später erschien ein Polizeiauto auf der Straße und parkte vor dem Haus, dessen Wände von der Musik zum Wackeln gebracht wurden. Jeder, der sich in diesem Gebäude aufhielt, würde es sicherlich mit einem Hörschaden verlassen.

Während die Beamten das Haus betraten und die Regulierung der Lautstärke oder sogar den Abbruch der Party verlangten, ging Vanya unauffällig in den Garten, legte Sonjas Arm um seinen Hals und machte sich aus dem Staub.
 

Es war fast schon lächerlich, wie einfach er es hatte. Sonja schien es nicht zu stören, dass ein Fremder sie entführte. Ihre Flasche und ihre Zigarette, die im Schnee sofort erlosch, rutschten ihr aus den Händen und sie nuschelte etwas Unverständliches, aber Vanya ignorierte ihr Lallen und zerrte sie zielstrebig zu einem kleinen Park, der nicht weit entfernt war.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte er, nachdem er sie auf einer Bank abgesetzt hatte.

Sonja antwortete nicht, sondern beugte sich nach vorne und trennte sich von all dem Alkohol, den sie in den letzten Stunden konsumiert hatte, und das war wahrlich nicht wenig. Mit dieser Menge könnte man jemanden, der an Alkohol nicht gewöhnt war, sicherlich ins Koma befördern.

„Weißt du, wer ich bin?“, wiederholte er, aber Sonja reagierte immer noch nicht. Sie und Vanya waren die einzigen Menschen im Park; es war unheimlich ruhig und alles, was man hören konnte, war sein ungeduldiges Atmen, ihr röchelndes Würgen und die Musik im Hintergrund, die jetzt so leise und so weit entfernt war, dass man sie nur vernehmen konnte, wenn man sich konzentrierte.
 

„Schorry, Offescha, isch... isch weisch nisch, wovon Schie reden“, lallte Sonja und wollte einen Schluck aus ihrer Flasche nehmen, als ihr plötzlich auffiel, dass sie gar keine Flasche in der Hand hielt. Sichtlicht irritiert starrte sie auf ihre lackierten Fingernägel, ehe ihr Blick zu Vanya wanderte.

„B-bischt du...?“

„Nüchtern, genervt und momentan ziemlich wütend? Ja, das bin ich“, erwiderte er trocken und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es gibt da etwas, das ich dir ausrichten möchte.“

Während sie noch zu verstehen versuchte, was er ihr sagte, holte Vanya aus und schlug Sonja mit voller Wucht ins Gesicht. Sie fiel von der Bank und landete unbeholfen im Schnee.

Damit war Vanyas Arbeit getan. Er wandte sich von ihr ab und hoffte, dass sie zu betrunken war, um sich später an ihn erinnern zu können, doch gerade, als er nur wenige Schritte hinter sich gebracht hatte, nuschelte Sonja: „Warte. Du bischt doch... diesche Schwuchtel.“

Vanya blieb stehen, drehte sich zu ihr um und hob irritiert die dunklen Augenbrauen. Für junge Männer wie ihn gab es so viele Schimpfwörter – warum hatte sie ausgerechnet dieses gewählt?
 

„Y-yuri... du kran... kranke Schwuchtel.“

Er brauchte ein paar Sekunden, um zu überlegen, von wem sie sprach. An ihrer Schule gab es mehrere Schüler mit diesem Namen, aber nur einer von ihnen wurde gemobbt, weil er angeblich schwul war. Wenn Vanya sich nicht irrte, handelte es sich bei Yuri um einen unbeliebten, eher kleinen, leicht pummeligen Jungen, dessen Eltern nie auftauchten, wenn ein Lehrer mit ihnen sprechen wollte. Es gab sogar Gerüchte, Yuri hätte gar keine Eltern und würde sich als Obdachloser durchschlagen.

„Ich bin nicht Yuri“, sagte Vanya deutlich. „Und du solltest wirklich aufhören, ihn zu beleidigen. Er hat es hart genug.“

„Nisch meine Schuld“, nuschelte Sonja und richtete sich langsam auf. „Er isch 'ne Schwuchtel. Und 'n Verschager.“

„Selbst wenn das stimmen würde – das ist kein Grund--“

„Scheine Mutta hat ihn verlaschen, weil Schie ihn nischt wollte... weil er 'ne Mischgeburt ischt.“

„Halt dein Maul.“
 

Sonja stellte sich aufrecht hin und torkelte wie ein Zombie auf Vanya zu, dessen Blick sich allmählich verfinsterte.

„Und?“, lallte sie. „Wo ischt deine Mutta jeschzt?“

Ihren nach Alkohol und Kotze stinkenden Mundgeruch ignorierend ging Vanya einen Schritt nach vorne. Dass er mit Yuri verwechselt wurde, lag vermutlich daran, dass sie beide schwarze Haare besaßen.

„Meine Mutter ist tot“, antwortete er knurrend, woraufhin Sonja zu lachen begann, als hätte sie einen lustigen Witz gehört.

„Gaaar nischt!“, rief sie albern kichernd. „Schie hat disch verlaschen, weil Schie disch nischt auschtehen kann!“

„Noch ein einziges Wort und ich bring dich um.“

Vanya meinte das todernst, aber Sonja war zu betrunken, um ihn zu verstehen.

„Elendesch Muttaschönchen“, brabbelte sie und fiel hin. „Hascht esch verdie--“
 

Das Nächste, was zu hören war, waren zwei hastige Schritte, Vanyas Luftholen und das Brechen von Sonjas Jochbein, dicht gefolgt von einem spitzen Schmerzensschrei, den er erstickte, indem er auf ihren Hinterkopf trat und ihr Gesicht in den Schnee drückte.

Er setzte sich auf ihren Rücken und hielt mit einer Hand ihren Kopf unten, während er mit der anderen auf ihre Schultern einschlug und jedem Hieb ein Schimpfwort folgen ließ. Ganze fünf Minuten lang ließ er seine Wut an ihr aus, ehe er schwer keuchend von ihr herunterstieg und langsam nach hinten ging. Er erwartete, dass sie sich aufrichten, fluchen oder irgendetwas tun würde, aber sie blieb reglos liegen. Fast so, als wäre sie--

Vanya griff nach Sonjas blonden Haaren und hob ihren Kopf an. Schnee und verwischtes Make-up hafteten an ihrem Gesicht, ihrem geöffneten Mund und an ihren Augen, die leer nach vorne starrten. Ihre Haut war noch warm, aber sie atmete nicht.

Vanya ließ sie los und sah sich um. Niemand war hier und konnte den Totschlag bezeugen. So etwas nannte man wohl Glück im Unglück.
 

Scheiße... das musste ja passieren.

Er wischte Sonja die Mischung aus Schnee und Schminke aus dem Gesicht, schloss ihre Augen, damit es so aussah, als würde sie schlafen, ehe er sie auf seinen Rücken verfrachtete und den Park verließ.

Eigentlich hätte er sich denken können, dass das geschehen würde. Dem Mädchen auf den Rücken zu steigen und ihren Mund und ihre Nase in den Schnee zu drücken, war keine gute Idee gewesen. Wie hätte sie denn so atmen sollen?

Zum Glück hatte Vanya bereits eine Idee, wie er die Leiche loswerden konnte. Er zog sich die Kapuze über den schwarzen Haarschopf und bahnte sich seinen Weg entlang selten benutzten Straßen und dunklen Gassen durch die Stadt, bis er bei einem bestimmten Haus ankam, von dem er wusste, dass es von Yuri und dessen Vater bewohnt wurde.

Die Nachbarschaft war ruhig. Die einzigen Häuser, in denen noch ein Licht brannte, waren das am rechten Ende der Reihe und das, an dessen Tür Vanya gerade klingelte.
 

Er hatte keine Angst, dass er auffliegen könnte. Sein Plan war es, sich als Yuri auszugeben und Sonja unauffällig in dem Haus zu verstecken, und sollte das nicht funktionieren, würde er einfach behaupten, dass er sich mit der Hausnummer geirrt hatte, sich entschuldigen und woanders sein Glück versuchen.

Die Tür wurde geöffnet und ein Mann erschien vor Vanya. Wie er aussah, konnte der Jüngere nicht erkennen, weil er zu Boden blickte und sich hinter seiner Kapuze versteckte.

„Wer ist das?“

„Ich bin's, Yu--“

„Ich meinte das Mädel, du Idiot.“

„Oh, das ist Sonja, eine Freundin von mir. Sie ist ziemlich hinüber.“

Jeder andere Mensch hätte schon längst erkannt, dass nicht Yuri, sondern eine ganz andere Person dort stand, aber Yuris Vater war dazu anscheinend nicht in der Lage. Vanya hob zögernd den Blick und sah, dass der Alte nicht nur betrunken, sondern auch schläfrig war. Er kniff die Augen zusammen und stank nach Alkohol.
 

Vanya betrat das Haus, legte Sonja auf der Couch ab und ging nach oben, wo er Yuris Zimmer vermutete, weil sich im Erdgeschoss nur Wohnzimmer, Küche und Gästebad befanden. Seine Vermutung stimmte – ein Raum, dessen Einrichtung nach zu urteilen einem männlichen Teenager gehörte, lag hinter der ersten Tür auf der linken Seite des Flurs.

Mittlerweile war es Freitag und kurz vor elf Uhr abends. In 24 Stunden würde Valentin erfahren, dass man eine Leiche in dem Haus gefunden hatte, in dem sich nicht Yuri, sondern eine andere Person aufhielt. Eine Person, die verdächtig viel über den 16-Jährigen wusste.

Vanya beschloss, dass Yuri damit nichts zu tun haben sollte. Der Arme litt bereits genug.

Er ergriff Yuris Handy, entsperrte es – woher er die PIN kannte, wusste selbst er nicht – und suchte nach Annas Nummer. Sie anzurufen kam nicht infrage; sie würde die fremde Stimme erkennen und sofort verstehen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, weshalb er ihr eine Nachricht schickte.

»Ich brauche deine Hilfe. Dad ist betrunken und aggressiv. Er bedroht mich. Ich habe Angst. Soll ich abhauen? Ich würde lieber auf der Straße schlafen, als bei ihm zu sein.«
 

Klang das nach Yuri? Vielleicht nicht, aber es klang auf jeden Fall nach jemanden, der Panik hatte. Vanya legte das Handy an seinen Platz zurück und ging wieder nach unten, wo er sich um Sonja kümmern wollte. Am besten wäre es, sie im Keller zu verstecken, damit--

Er hatte etwa die Mitte der Treppe erreicht, als er plötzlich zwei regelmäßige Geräusche vernahm, die den gleichen Takt besaßen. Das Stöhnen von Yuris Vater und das Quietschen des Sofas.

„Du geile Schlampe... ja... das kommt davon, wenn du zu viel trinkst... und das in diesem Alter... billige Hure...“

Was für ein krankes Schwein, dachte Vanya angewidert und ging wieder nach oben. Wenigstens nimmt Sonja es nicht wahr.

Er schaute nach, ob Anna schon geantwortet hatte, was in der Tat geschehen war.

»Bleib, wo du bist, und geh deinem Erzeuger aus dem Weg. Ich kann dir noch nichts versprechen, aber vielleicht habe ich eine Möglichkeit, dir zu helfen. Sei vorsichtig und pass auf dich auf.<3«
 

»Bitte hol mich aus dieser Hölle. Ich halte es nicht mehr aus!«, schrieb Vanya zurück und schickte noch einen traurigen Smiley hinterher. Danach holte er Yuris Tasche aus dem Schrank und packte seine Sachen. Zwar hatte er keine Ahnung, wie Yuri reagieren würde, wenn er später nach Hause kam und eine gepackte Tasche in seinem Zimmer vorfand, aber... es würde schon hinhauen... irgendwie... hoffentlich.

Nachdem er fertig war, ging er nach unten, wo Yuris Vater seine unaussprechliche Tätigkeit beendet hatte und schnarchend im Sessel hing. Vanya hatte echt große Lust, mit ihm das Gleiche zu tun, das er auch Sonja angetan hatte, aber das würde seinen Plan ruinieren und Yuri in Schwierigkeiten bringen. Er schob seine Mordgedanken zur Seite und trug die Leiche in den Keller, in dem schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr geputzt worden war. Wahrscheinlich würde man sie erst entdecken, wenn sie zu faulen anfing.

Während Vanya ins Erdgeschoss zurückkehrte und die Tür zum Keller hinter sich zumachte, hatte Anna einen Entschluss gefasst. Sie ging zur Küche, in der ihr Vater saß, und fragte vorsichtig: „Valentin, kannst du mir einen Gefallen tun?“

4. Kapitel

Das Erste, das Valentin am nächsten Morgen tat, war seine Männer nach den Ermittlungsfortschritten bezüglich der Leiche in Yuris Haus zu fragen. Er hatte damit gerechnet, dass er seine Kontakte spielen lassen musste, damit die Tatsache, dass er gestern am Tatort gewesen war, unauffällig unter den Tisch gekehrt wurde und man ihn in Ruhe ließ, aber wie sich herausstellte, hatte die Polizei ihr Augenmerk auf ganz andere Fakten gerichtet.

Das Opfer trug den Namen Sonja. Sie war 15 Jahre alt, eine Mitschülerin von Yuri und ziemlich beliebt gewesen. Die Autopsie ergab, dass jemand sie diesen Freitag zwischen zehn und zwölf Uhr abends erstickt hatte. An ihrer Kleidung und ihrem Körper fand man DNA-Spuren von zu vielen Menschen, um daraus brauchbare Ergebnisse gewinnen zu können, aber bei ihrer Unterwäsche hatte es mehr Erfolg gegeben. Dort befand sich Ejakulat von drei verschiedenen Personen; zwei davon waren Schüler aus Sonjas Jahrgang und die dritte war Oleg.
 

„Soll das heißen, sie hat in dieser Nacht mit drei Kerlen geschlafen?“, wiederholte Valentin leicht ungläubig.

„Die Polizei geht davon aus, dass von den drei Akten nur die ersten beiden einvernehmlich waren; der letzte geschah entweder nach, während oder kurz vor dem Mord, beziehungsweise Totschlag – da ist man sich auch noch nicht ganz sicher. Fest steht jedenfalls, dass Oleg mit diesem Mädchen etwas hatte. Der Typ ist übrigens fast viermal so alt wie sie.“

Valentin verzog angewidert das Gesicht. „Also ist er der Hauptverdächtige?“

„Ja. Er behauptet, das Mädchen nicht einmal angefasst zu haben, obwohl die Beweise das eindeutig widerlegen. Außerdem sagt er, dass ein ''fremder Mann Mitte dreißig'' mit seiner ehemaligen Stieftochter ins Haus eingebrochen wäre und seinen Sohn entführt hätte. Die Polizisten glauben ihm kein Wort; sie denken, dass er Yuri umgebracht und die Leiche versteckt hat.“
 

„Aber da waren doch bestimmt Hautschuppen oder Ähnliches von mir und Anna. Hat die Polizei dazu nichts gesagt?“

„Sie haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt und nicht nur DNA-Spuren von euch beiden, sondern auch von zahlreichen anderen Menschen gefunden, sodass ihr nicht auffallt. Es sind wirklich viele, weil das Haus seit einer Ewigkeit nicht mehr geputzt wurde. Die Polizei würde mehrere Wochen brauchen, jede Person einzeln zu befragen.“

„Okay. Ich will, dass du mir eine Liste von allen Leuten schickst, von denen die Polizei Spuren gefunden hat. Und sag Bescheid, wenn irgendetwas Neues herauskommen sollte.“

„Alles klar, Boss.“

Valentin legte auf und seufzte genervt. Den ganzen unnötigen Stress musste er sich nur antun, weil er nachgegeben und diesen verdammten Jungen in sein Haus gelassen hatte. Er hätte Anna ignorieren sollen.
 

Launisch ging er zu seinem Kleiderschrank und zog sich an. Nach einigen Minuten im Badezimmer schlenderte er in die Küche und machte sich einen Kaffee. Das Wort ''mürrisch'' stand ihm auf die Stirn geschrieben, direkt über ''Rede nicht mit mir'', aber Anna schien weder das eine noch das andere lesen zu können.

„Morgen“, flötete sie so fröhlich, dass Valentin erschauerte, und betrat die Küche. „Weißt du, ob Yuri schon aufgestanden ist?“

„...“

„Ich sagte: Weißt du--“

„Sehe ich so aus?!“

Anna hob die Hände, als würde sie erwarten, dass Valentin etwas nach ihr warf, und ging rückwärts wieder aus der Küche heraus. Es war zu hören, wie sie die Treppe nach oben und zu Yuris Zimmer lief. Warum hatte sie dort nicht zuerst nachgesehen, wenn ihr dieser dämliche Junge so wichtig war?
 

Nachdem Valentin gefrühstückt hatte, zog er sich mit einem zweiten Kaffee in sein Büro zurück und bemerkte, dass vor ein paar Augenblicken die Email mit der Liste angekommen war, nach der er verlangt hatte. Gemächlich schaute er sich die Personen an, die sich in den letzten Monaten in Yuris Haus aufgehalten hatten, und erkannte recht zügig, dass es bei diesen Personen Gemeinsamkeiten gab.

Mit nur wenigen Ausnahmen waren alle Leute männlich, zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt, in einem Radius von etwa 15 Kilometern wohnhaft und auf bekannten Partnerbörsen angemeldet. Valentin gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht in dieses Muster passten, aber weil er damit nicht alleine war, fiel das überhaupt nicht auf. Kein Wunder, dass die Polizei kein Interesse an ihm hatte.

Neugierig betrachtete er die Profile, die sich die Männer im Internet angelegt hatten. In Russland war Homosexualität ein Tabu, weshalb hier niemand offen zugab, dass er auf Kerle stand, aber wenn man zwischen den Zeilen las, war schnell zu verstehen, dass diese Typen nicht nach Frauen, sondern nach Gleichgesinnten suchten.
 

Valentin konnte ihnen das nicht verübeln. Wäre er ein gewöhnlicher Mensch ohne Zugang zu Menschenhändlern, wüsste er auch nicht, wie er jemanden finden sollte, den er als attraktiv empfand. Hinzu kam, dass er seine ''Partner'' – falls man das überhaupt so nennen konnte – nicht gerade gut behandelte, was nicht selten zu ihrem Tod führte.

Aber zurück zu den Männern aus dem Internet. Wie es aussah, hatten sie ihre DNA in Yuris Haus hinterlassen, indem sie es betreten oder sich mit einem Bewohner getroffen hatten, der die Spuren dann sozusagen mit nach Hause gebracht hatte. Oleg war also schwul, traf sich heimlich mit Männern und damit war der Fall auch schon abgeschlossen, aber es gab ein Detail, das nicht zum Rest passte. Und das war Sonja.

Warum sollte Oleg, wenn er auf Kerle stand, ein Mädchen umbringen und vergewaltigen? Es hätte sein können, dass sie sein Geheimnis herausgefunden hatte und er sie zum Schweigen hatte bringen müssen, aber dann hätte er sie nur umgebracht, nicht missbraucht. Das Ganze ergab keinen Sinn, es sei denn...
 

Valentin schüttelte den Kopf. Der Gedanke, dass sich nicht Oleg, sondern Yuri mit den fremden Männern getroffen hatte, war zu absurd, um der Wahrheit zu entsprechen. Wie alt war der Junge noch mal? 16? In dem Alter machte man so etwas doch ni--

Erneut unterbrach Sonja seinen Gedankengang. Wenn ein 15-jähriges Mädchen es schaffte, die Dorfmatratze zu sein, dann schaffte ein 16-jähriger Junge das schon lange. Auch wenn Valentin sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie sich das kleine Pummelchen an wildfremde Kerle ranmachte. Obwohl... so schlecht sah er ja nicht aus. Und wenn er zehn bis zwanzig Kilo leichter wäre, hätte Valentin es sicherlich in Erwägung gezogen, ihn--

Anna würde mich umbringen.

Er trank seinen Kaffee aus und beschloss, Yuri später auf das Thema anzusprechen. Natürlich würde es komisch wirken, den Jungen zu fragen, ob er oder sein Vater mit dem halben Ort geschlafen hatte, aber Valentin brauchte dringend Gewissheit über diese Angelegenheit.
 

Gegen Mittag kam der Vorfall mit Sonja zum ersten Mal in den Nachrichten. Es wurde berichtet, wie das Opfer hieß, in welcher Gegend es gefunden wurde und dass bereits ein Verdächtiger festgenommen worden war. Mehr Informationen gab es nicht – wahrscheinlich weil Olegs Leben und Ruf für immer ruiniert wären, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass er die Tat gar nicht begangen hatte – aber das störte Valentin nicht. Er wusste, dass die Nachrichten in einer Stunde erneut auf einem anderen Sender kommen würden, und dann würde er sie Yuri zeigen.

Knappe zwanzig Minuten später war zu hören, wie zwei gewisse Teenager in die Küche kamen und sich Frühstück machten. Sie redeten miteinander und erzählten sich Insiderwitze, die Valentin, der nebenan im Wohnzimmer saß, nicht selten die Stirn runzeln ließen.

„Isst dein Vater nicht mit uns?“

„Nein, er isst meistens alleine. Ich hab's 'n paar Male geschafft, zur gleichen Zeit wie er zu essen, aber selbst dann geht er einfach, sobald er fertig ist.“
 

Valentin verdrehte genervt die Augen. Das, was Anna gerade beschrieb, war genau das, was er an Frauen – und Männern, die die gleiche Angewohnheit besaßen – nicht ausstehen konnte. Sie hatten ein Problem und anstatt darüber zu reden, wie jeder logisch denkende Mensch es tun würde, machten sie Andeutungen, die nicht zu verstehen waren, und dann wunderten sie sich, warum niemand sah, dass sie ein Problem hatten. Wenn Anna unbedingt wollte, dass die Mahlzeiten zusammen eingenommen wurden, dann musste sie das nur sagen... obwohl Valentin zugeben musste, dass er keinen Bock darauf hatte.

Er wartete ungeduldig, bis die beiden fertig waren, ehe er sich zu ihnen in die Küche gesellte und sie gerade noch rechtzeitig davon abhielt, wieder nach oben zu gehen.

„Kann ich dich mal kurz sprechen?“, fragte er Yuri, der für den Bruchteil einer Sekunde hilfeflehend zu Anna sah, ehe er sich Valentin zuwandte.

„Ähm... klar.“
 

Während Anna alleine die Treppe zum oberen Stockwerk erklomm, setzte sich Valentin an den Küchentisch und beobachtete, wie Yuri es ihm gleichtat. Der Junge humpelte und verzog leicht das Gesicht, als hätte er Schmerzen.

„Ich möchte mit dir über deinen Vater reden“, begann Valentin. „Hat er sich diese Woche irgendwie komisch verhalten?“

„Nicht dass ich wüsste. Wieso fragen Sie?“

„Nur so“, zischte Valentin, dem es tierisch auf die Nerven ging, dass Yuri sich anscheinend nicht entscheiden konnte, ob er den Älteren duzen oder siezen sollte. „Als was arbeitet er eigentlich?“

„Momentan ist er arbeitslos, aber er hat über die Jahre hinweg an Tankstellen und in Cafés gearbeitet.“

„Hat er viele Freunde?“
 

„Er hat viele Bekanntschaften, vor allem von seinen Jobs.“

„Lädt er sie zu sich nach Hause ein?“

Anstatt zu antworten, legte Yuri die Stirn in Falten und musterte sein Gegenüber nachdenklich. „Warum wollen Sie das alles wissen?“

Valentin zwang sich zur Ruhe. Am liebsten würde er über den Tisch langen, Yuri eine Ohrfeige verpassen, die ihn vom Stuhl fegen würde, und ihm sagen, dass er gefälligst antworten sollte, aber das stellte momentan leider keine Option dar. Er musste einen auf liebevollen, menschlichen Vater machen.

„Oleg fand es nicht okay, dass ich in sein Haus eingebrochen bin und dich mitgenommen habe. Ich brauche ein paar Informationen über ihn, damit ich die Polizei anlügen kann, okay?“
 

„Dafür, dass Sie schlimmstenfalls wegen Freiheitsberaubung ins Gefängnis kommen könnten, sind Sie ziemlich ruhig“, murmelte Yuri leicht nervös und betrachtete gedankenverloren sein gebrochenes Handgelenk, das in einem dicken blauen Verband gewickelt war.

„Es wäre Freiheitsberaubung, wenn es gegen deinen Willen geschehen wäre, und das ist es nicht, oder?“

„Nein, aber... Oleg könnte lügen.“

„Ich kümmere mich schon darum“, versicherte Valentin und kämpfte gegen den Drang an, genervt zu stöhnen und die Augen zu verdrehen. „Also – hatte dein Vater oft Besuch?“

„Ja, ziemlich oft sogar. Meistens Bekannte oder Arbeitskollegen.“

„Kennst du die Namen dieser Leute?“
 

„Nur Vornamen.“

„Okay.“ Valentin holte sein Handy hervor und rief die Liste der Menschen auf, deren DNA-Spuren man in Yuris Haus gefunden hatte. „Heißen diese Leute zufälligerweise Aljoscha, Adam, Nikolai, Lev, Vanya, Michail, Wadim und Andrej?“

Yuri holte Luft, um zu antworten, als plötzlich Anna ihren Kopf in die Küche steckte.

„Was hat Andrej in Yuris Haus verloren?“

„Glaub es oder glaub es nicht, aber es gibt mehr als nur einen Andrej in Russland“, erwiderte Valentin mürrisch. „Wie lange belauschst du uns schon?“

„Seitdem du die Polizei erwä--“

„Geh in dein Zimmer und lass uns in Ruhe. Das hier geht dich nichts an.“
 

Anna hob die linke Augenbraue und verschwand. Yuri sah ihr hinterher, ehe er sich an Valentin wandte.

„Das war aber nicht sehr nett.“

„Ich kann noch ganz anders, wenn man mir auf die Nerven geht.“

„Aber--“

„Zurück zum Thema: Was wolltest du sagen?“

„Ähm... Dass mir diese Namen bekannt vorkommen. Ich weiß auch bei fast allen Männern, wie sie aussehen.“

„Und was hat Oleg dann mit seinen Freunden gemacht?“

„Sich unterhalten, was getrunken, Sport im Fernsehen geschaut... so was halt.“
 

„Er hat sie also nicht gefickt?“

Yuri blinzelte überrascht. „Was?“

„Du hast mich richtig verstanden. Ich will wissen, ob er mit ihnen Sex hatte.“

„Äh... keine Ahnung.“

„Hör zu: Die Männer, die ich dir gerade genannt habe, und auch andere sind erstens auf Partnerbörsen angemeldet, zweitens wahrscheinlich schwul und drittens in deinem Haus gewesen. Alles deutet darauf hin, dass Oleg sich mit ihnen getroffen hat, um mit ihnen zu schlafen. Stimmt das?“

„K-kann sein“, stotterte Yuri und wandte peinlich berührt den Blick ab. Sein Gesicht hatte die Farbe einer Tomate angenommen. „E-er hat behauptet, dass seien nur Arbeitskollegen. Ich habe d-das nie hinterfragt.“
 

„Komm mit“, forderte Valentin den Jungen auf, erhob sich von seinem Stuhl und verließ die Küche. Yuri folgte ihm und brauchte das Doppelte an Zeit, weil sein geprellter Knöchel ihn am Gehen hinderte.

Valentin ließ sich auf die Couch fallen, schaltete den Fernseher an und suchte den Sender heraus, auf dem gleich die Nachrichten laufen würden. Er sah im Augenwinkel, wie Yuri sich in den Sessel setzte und nervös schluckte.

„In deiner Klasse gibt es ein Mädchen namens Sonja. Was denkst du über sie?“

„Ich mag sie nicht“, antwortete Yuri verunsichert, weil ihn das plötzliche Wechseln des Themas irritierte. „Woher kennen Sie sie?“

„Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“

„Am Freitag, in der Schule. Wie kommen Sie jetzt auf sie?“
 

„Wart's ab“, erwiderte Valentin gelassen und verschränkte die Arme vor der Brust, während im Fernsehen die Nachrichten begannen. Eine junge Moderatorin mit unnatürlich roten Lippen begrüßte die Zuschauer und begann sogleich über den Fund einer Leiche zu berichten.

Diesmal schien darauf verzichtet worden zu sein, Olegs Identität geheimzuhalten. Aufnahmen von seinem Haus wurden eingeblendet; Absperrbänder, neugierige Journalisten, Polizeiwagen, Beamte in Uniformen und genervte Anwohner huschten durch das Bild.

„Was ist passiert?“, fragte Yuri alarmiert. „Hat Oleg sich das Leben genommen?“

Valentin überließ der Moderatorin das Sprechen. Sie berichtete, dass Oleg sich in Untersuchungshaft befand und dass er eine grausame Tat begannen hatte, aber von Yuri kam erst eine Reaktion, als die Identität der Leiche bekannt gegeben wurde. Er holte erschrocken Luft, hielt sich die Hände vor den Mund, wurde leichenblass und vergaß, dass er nicht alleine war. Seine Stimme zitterte, als er fassungslos flüsterte: „Oh Gott... was hast du getan, Vanya?“

5. Kapitel

„Du hast genau fünf Minuten Zeit, mir zu erzählen, wer Vanya ist und was du über ihn weißt“, zischte Valentin ungeduldig und verschränkte die Arme vor der Brust. Er und Yuri saßen im Wohnzimmer. Der Fernseher lief noch und zeigte nun die Wettervorschau, aber niemand hörte der Moderatorin zu.

Yuri schien sich in einer Trance zu befinden. Sein Blick haftete an einem unsichtbaren Punkt, der einige Zentimeter über dem Wohnzimmertisch schwebte, seine Hände zitterten und er schluckte so nervös, dass es den Anschein erweckte, er hätte einen Dolch im Rachen stecken.

„Bist du taub? Ich rede mit dir.“

„I-ich... ich möchte nicht darüber sprechen“, hauchte Yuri und erhob sich mit zitternden Knien vom Sessel. Er wollte zur Tür gehen, aber Valentin verhinderte das, indem er seinen Fuß auf der Armlehne des Sessels ablegte und dem Jungen mit seinem Bein den Weg abschnitt. Ein normaler Mensch wäre einfach über das Bein gestiegen, aber für Yuri, der einen geprellten Knöchel besaß und diesen kaum belasten konnte, stellte das keine Option dar.
 

„Du hast noch vier Minuten.“

„Lass mich durch.“

„Setz dich wieder hin und rede mit mir oder ich werde dich dazu bringen.“

„Nein, ich--“

Valentin konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er stand auf und verpasste Yuri einen kräftigen Stoß, der ihm das Gleichgewicht nahm. Der Junge fiel rücklings in den Sessel und verzog das Gesicht. Irgendeine Stelle seines verletzten und geschwächten Körpers bereitete ihm anscheinend Schmerzen, aber das interessierte Valentin nicht. Alles, was er wollte, war eine verdammte Antwort.

„Sag mir, wer Vanya ist. Jetzt.

Er platzierte seinen linken Fuß erneut auf der Lehne, stützte den Ellbogen auf seinem Knie ab und sah genervt auf Yuri nieder, der den Blick abwandte und verzweifelt seufzte.
 

„Vanya ist... ein ehemaliger Kollege meines Erzeugers und einer dieser Männer, die Frauen verachten und sich selbst als nett beschreiben, obwohl sie es nicht sind. Er hat Sonja gefragt, ob sie mit ihm ausgehen möchte, und ziemlich kindisch auf ihre Abweisung reagiert. Er ist aggressiv und kann schnell handgreiflich werden – vor allem, wenn er betrunken ist – und... ich denke, dass er es getan haben könnte.“

„Du denkst? Gerade eben klangst du aber viel sicherer. So, als wüsstest du es.“

„Ich... es ist nur eine Vermutung. Ich will keine falschen Anschuldigungen aussprechen.“

Valentin musterte den Jungen von oben bis unten, ehe er schließlich von ihm abließ und sich in sein Büro zurückzog, um mehr über diesen Vanya herauszufinden. Eigentlich musste er sich nicht um die Angelegenheit kümmern, weil es kinderleicht war, Oleg die Schuld in die Schuhe zu schieben und die Sache damit abzuschließen, aber irgendetwas, das er nicht benennen konnte, verlieh ihm das Gefühl, dass mehr hinter diesem Mord steckte, als er dachte.
 

Ich finde es komisch, dass Yuri seinen Vater nicht für den möglichen Täter hält, obwohl dieser ihn doch von der Treppe gestoßen hat und damit das Risiko eingegangen ist, Yuri versehentlich umzubringen. Außerdem: Warum sollte Oleg die Polizei rufen, wenn er weiß, dass eine Leiche in seinem Keller liegt? Hat er sie vergessen? Nein, so etwas vergisst man nicht.

Moment...

Was ist, wenn Oleg das mit Absicht gemacht hat? Er könnte Yuri dazu benutzt haben, Anna und mich zu seinem Haus zu locken, damit er jemanden hat, dem er den Mord anhängen kann. Es ist nämlich ein ziemlich seltsamer Zufall, dass Yuri ausgerechnet dann abgeholt werden möchte, wenn eine Leiche in seinem Haus liegt.

Gedankenverloren ließ Valentin sich die Informationen durch den Kopf gehen, die er vorhin von einem seiner Männer erhalten hatte. Sonja war am Freitag zwischen zehn und zwölf Uhr abends gestorben... also kurz vor dem Zeitpunkt, an dem Anna verlangt hatte, Yuri hier wohnen zu lassen.
 

Er überlegte, ob er Anna bitten sollte, ihn einen Blick auf ihr Handy werfen zu lassen, als plötzlich sein eigenes Smartphone zu klingeln begann. Es war der gleiche Mann, der Valentin am heutigen Morgen von den Ermittlungsfortschritten berichtet hatte.

„Es gibt Neuigkeiten, Boss“, sagte die leicht verzerrt klingende Stimme. „Die Polizei hat die Anwohner befragt. Angeblich hat Oleg das Haus in der Nacht des Mordes kein einziges Mal verlassen.“

„Und das ist wichtig, weil...?“

„Sonja wurde erstickt, aber anscheinend nicht mit einem Gegenstand, sondern...“ Im Hintergrund war das Rascheln von Papieren zu hören. „Wie hieß die Methode noch mal? Ach ja, Burking. Das Opfer wird auf den Boden gedrückt, während der Täter ihm Mund und Nase zuhält und sich auf den Rücken oder den Bauch des Opfers setzt, um das Atmen zu erschweren. Diese Methode ist schwer nachzuweisen, aber in Sonjas Lungen wurde ein wenig Regenwasser gefunden; vermutlich geschmolzener Schnee.“
 

„Aber selbst wenn sie draußen umgebracht wurde – irgendwie muss sie in diesen Keller geraten sein.“

„Die Polizei weiß auch nicht weiter. Oleg behauptet, Yuri könnte seine Unschuld bezeugen und dass ‘‘der wahre Täter‘‘ ihn deswegen entführt hätte. Er streitet immer noch ab, Sonja vergewaltigt zu haben.“

„Okay... Kannst du dich noch an die Liste mit den Leuten erinnern, die sich in Yuris Haus aufgehalten haben? Einer von den Kerlen heißt Vanya; ich möchte, dass du mir ein paar Informationen zu ihm beschaffst.“

„Wird erledigt, Boss.“

Valentin legte auf und seufzte. Sich das kinnlange Haar raufend, das die Farbe von feuchter Erde besaß, dachte er darüber nach, ob er sich einen weiteren Kaffee machen oder direkt zum Alkohol greifen sollte, als plötzlich jemand an der Tür klopfte. Es war Anna, die nicht auf eine Antwort wartete, sondern direkt reinkam.

„Hast du dich mit Yuri gestritten? Er hat sich in seinem Zimmer eingesperrt und will nicht rauskommen.“
 

„Nicht mein Problem“, antwortete Valentin und erkannte erst danach, dass eine unwissende Verneinung sinnvoller gewesen wäre. „Okay, bevor du irgendetwas sagst – schau dir das hier an.“

Anna, die ihrem Vater nur einen wütenden Blick zu bieten hatte, wurde am Oberarm gepackt und in den Bürostuhl gedrückt. Valentin schaltete seinen Laptop an, besuchte die Seite des Nachrichtensenders, der über den Mord berichtet hatte, und zeigte Anna die exakte Folge, die auch er und Yuri gesehen hatten.

„Oh mein Gott“, murmelte Anna erschrocken, während ihr Zorn sich in Überraschung und Sorge verwandelte. „Ich wusste, dass Oleg ein Arschloch ist, aber dass er sogar so etwas machen würde...“

„Also glaubst du auch, dass er es war?“
 

Anna sah Valentin an, als hätte er gefragt, ob eins plus eins wirklich zwei ergeben würde. „Bitte?“

„Glaubst du, dass es Oleg war?“

„Wer denn sonst? Der Weihnachtsmann?“ Plötzlich erschien wieder der wütende Ausdruck auf ihrem Gesicht. „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass es Yuri war, oder? Oder?!“

„Es wäre nicht unmöglich.“

„Du hast sie doch nicht mehr alle!“, rief sie gereizt und sprang vom Stuhl auf. „Was fällt dir ein, ihm so etwas zuzutrauen?!“

„Ich--“

„Insbesondere wenn man bedenkt, dass du hier derjenige bist, der Schüler vergewaltigt und umbringt“, fügte sie leiser hinzu. „Du wirst jetzt zu ihm gehen und dich entschuldigen.“
 

„Ich habe ihn bloß gefragt, ob er etwas weiß, dass die Medien nicht wissen“, erwiderte Valentin ruhig, obwohl er gerne die Stimme erhoben hätte. Er ließ sich von einer 16-jährigen Göre nicht sagen, was er zu tun und zu lassen hatte, und dass sie die eine Sache erwähnt hatte, die Valentin am liebsten aus ihrem Gedächtnis löschen würde, trug nicht viel dazu bei, ihn friedlicher zu stimmen. „Yuri denkt, dass es nicht Oleg, sondern ein Typ namens Vanya war, und mir macht das Ganze ein wenig Sorgen. Kennst du diesen Vanya?“

„Nie von ihm gehört. Und du solltest trotzdem mit Yuri reden. Stell dir vor, dein Vater wäre des Mordes beschuldigt worden.“

Valentin wollte sagen, dass er seinen Vater nicht kannte und es ihm scheißegal war, was mit ihm passierte, falls er überhaupt noch lebte, doch stattdessen verdrehte er genervt stöhnend die Augen und machte sich mit Anna zu Yuris Zimmer auf, gegen dessen Tür er klopfte.

„Was soll ich überhaupt zu ihm sagen?“
 

„Keine Ahnung. Sei einfach nett.“

Valentin gab ein weiteres Stöhnen von sich und lehnte seine Stirn gegen die Tür. Warum mussten Kinder so verdammt anstrengend sein?

„Yuri, komm da raus“, rief er und schlug ungeduldig gegen das Holz. „Jetzt.“

Er sah im Augenwinkel, wie Anna die Arme vor der Brust verschränkte und enttäuscht den Kopf schüttelte. Im Zimmer wurden hektisch Sachen weggeräumt, ehe der Schreibtischstuhl leise knarrte und sich humpelnde Schritte der Tür näherten. Kurz daraufhin erschien ein betrübt dreinblickender Yuri vor Valentin.

„Was ist denn?“

„Gar nichts. Du sollst bloß aufhören, dich einzusperren.“

„Ich...“ Unsicher huschten Yuris blaue Augen zwischen Anna und Valentin hin und her. „Ich brauche nur ein bisschen Zeit für mich selbst.“
 

„Mir scheißegal. Ich will, dass ihr beiden mich in Ruhe lasst.“

Mit diesen Worten wandte sich Valentin von den zwei Jugendlichen ab und verschwand in seinem Büro. Yuri sah ihm deprimiert hinterher. Womit hatte er es verdient, von diesem Mann so verachtet zu werden?

„Dein Vater hasst mich, nicht wahr?“

„Nein. Er geht mit jedem so um. Wirklich, Yuri, das ist nichts Persönliches. Würde er dich hassen, hätte er dich schon längst rausgeworfen.“

Der Junge seufzte betrübt. Das mit Valentin konnte doch kein Zufall sein. Er war auch schon in seiner Klasse ein Außenseiter gewesen und von seinen Mitschülern entweder ignoriert oder grundlos gehasst worden. Wenn er wenigstens wüsste, warum man ihn so verabscheuungswürdig fand...

„Valentin hat mir die Nachrichten gezeigt. Fast schon ironisch, nicht wahr? Immerhin haben wir uns immer gewünscht, Sonja würde an ihrer Arroganz ersticken.“
 

Ein schiefes Lächeln erschien auf Yuris Gesicht. Ein kleiner Teil von ihm empfand bei dem Wissen, was mit Sonja passiert war, Genugtuung, aber der Rest von ihm würde das Ganze am liebsten vergessen. Ja, Sonja war nicht nett zu ihm gewesen, aber damit verdiente sie nicht gleich den Tod. Und wie es sich für ihre armen Eltern anfühlen musste, das eigene Kind zu verlieren, wollte er sich gar nicht erst vorstellen.

„Belastet es dich sehr?“, fragte Anna vorsichtig, woraufhin Yuri langsam den Kopf schüttelte. „Was hältst du davon, wenn wir irgendetwas zusammen machen? Wir können uns vor den Fernseher setzen oder...“

„Danke für das Angebot, aber ich brauche jetzt ein bisschen Zeit für mich selbst. Morgen vielleicht, okay?“

Anna nickte leicht verunsichert. „Ich bin unten, falls du es dir anders überlegst“, sagte sie, ehe sie sich umdrehte und am Ende des Flurs die Treppe herunterstieg. Yuri sah ihr hinterher, seufzte und verschwand dann in seinem Zimmer.
 

Valentin hatte die beiden von seinem Büro aus belauscht und auf neue Informationen gehofft, doch nichts Brauchbares erhalten. Frustriert setzte er sich an seinen Laptop und überprüfte, ob er neue Emails erhalten hatte, aber auch hier wurde er enttäuscht. Nicht wissend, was er jetzt tun sollte, surfte er ein wenig im Internet, klickte sich von einer Seite zur anderen und landete schließlich mehr oder weniger absichtlich in der Ecke des Internets, in der Minderjährige nichts zu suchen hatten.

Habe ich die Tür abgeschlossen? Ach, scheiß drauf, dann werde ich halt erwischt; Annas Ansicht von mir ist sowieso schon ruiniert. Und Yuri ist mir auch egal – dann weiß er wenigstens, dass er sich von mir fernhalten sollte.

Gelangweilt wühlte er sich durch die verschiedenen Videos. Es gab einige, die an der Oberfläche von Valentins Geschmack kratzten, aber wirkliches Interesse wecken, konnte keines. Er wollte keine Amateure sehen, die sich gegenseitig ein wenig Schmerz zufügten und danach sofort zur Sache kamen. Vor allem das Wissen, dass man die Szene jederzeit abbrechen könnte, war für ihn, als würde er sich tierisch auf einen guten Film freuen und dann von jemandem gespoilert werden.
 

Was Valentin wollte, war echtes Leid, kein gespieltes. Er wollte sehen, wie sich die jungen Männer in den Pornos vor Schmerzen krümmten. Wie sie gedemütigt wurden und sich die Seele aus dem Leib schrien. Wie sie ächzend und japsend um Gnade winselten und zitternd zu Valentin hochsahen, dessen Silhouette sich in den tränennassen und vor Angst weit aufgerissenen Augen widerspiegelte. Genau das war es, mit dem Valentin sich vergnügen würde… wenn nur diese verdammten Kinder nicht wären.

Valentin schloss den Browser und überlegte, ob er seine beiden Quälgeister für zwei bis drei Stunden alleine lassen konnte, als plötzlich eine Email in seinem Postfach erschien. Sie enthielt die erhofften Informationen zu Vanya, um die Valentin vor etwa einer halben Stunde gebeten hatte.

Das ging schnell. Also, was haben wir denn hier... Mitte dreißig, unverheiratet, blablabla... Hmm, scheint ‘n gewöhnlicher Kerl zu sein. Nur sein Arbeitsplatz sagt mir nichts. Ist das ‘ne Tankstelle?

Valentin schaute nach und fand heraus, dass es sich bei Vanyas Arbeitsplatz tatsächlich um eine Tankstelle handelte. Sie war etwa eine Viertelstunde Fahrt von Olegs Haus entfernt und hatte heute geschlossen. Kein Wunder, es war ja auch Sonntag, aber morgen würde sie aufhaben und dann würde Valentin diesem Vanya mal einen Besuch abstatten.



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Kommentare zu dieser Fanfic (15)
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Von:  Yunaxxx
2019-01-10T11:15:42+00:00 10.01.2019 12:15
Ich mag deine Geschichte. Ich finde die einfach klasse. Ich freue mich jedes mal wenn du ein Stolen Dreams reinstellst. Alle sind total unterschiedlich und total spannend.
Ich bin gespannt wenn Valentin diesen Vanya besucht.
Für mich steht fest das Yuri den Mord begannen hat. Spannend ist ob es jetzt raus kommt oder erst im späteren Verlauf der Story. ich kann mir nicht vorstellen, dass es nie rauskommen wird.
LG Yunaxxx
Von:  Onlyknow3
2019-01-02T10:46:52+00:00 02.01.2019 11:46
Den Mord an Sonja, hat doch Yuri begangen? Das da keiner drauf kommt.
Ob das Überhaupt mal raus kommt das er es war?
Was dann wohl Valentin mit ihm macht?
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.
Ein Gutes neues Jahr wünsche ich dir.

LG
Onlyknow3
Von:  ArmandLorne_
2018-12-18T09:45:03+00:00 18.12.2018 10:45
:-D entweder multiple persönlichkeit oder Mitschüler. Das ist jetzt die Frage. :-D Interessanter Anfang.
Von:  Arya-Gendry
2018-07-04T18:37:51+00:00 04.07.2018 20:37
Das würde ich auch gerne wissen. Ob Vanya die andere Seite von Yuri ist oder ob es doch ein anderer ist, aber so ganz kann ich das nicht glauben. Bin echt gespannt wie es weiter geht.
LG.
Von:  Onlyknow3
2018-07-04T16:37:30+00:00 04.07.2018 18:37
Wer ist Vanya, ist das die andere Seite in Yuri? Oder gibt es einen anderen der so heißt.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Karokitty
2018-06-13T06:55:38+00:00 13.06.2018 08:55
Multiple persönlichkeit... Interessant. Wobei eine Persönlichkeit wohl recht autistisch ist.
Von:  Onlyknow3
2018-06-12T20:46:45+00:00 12.06.2018 22:46
Also ich denke mal, das es schwer werden wird Valentin davon zu überzeugen das noch jemand seine hilfe braucht.
Yuri eine gespaltene Persönlichkeit? Bin neugierig was dabei noch raus kommt.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Arya-Gendry
2018-06-12T18:03:47+00:00 12.06.2018 20:03
Also ich denken ja das Vanya, und Charles Yuri sind und Yuri somit eine gespaltene Persönlichkeit besitzt. Wenn es so ist bin ich mal gespannt wie lange es dauern wird bis es raus kommen wird.
LG.
Von:  -Pharao-Atemu-
2018-05-31T14:12:39+00:00 31.05.2018 16:12
Ja krass, die Mutter?
Von:  Arya-Gendry
2018-05-16T17:35:54+00:00 16.05.2018 19:35
Ob es echt die Mutter ist? Wenn dann dürften von ihr ja nur noch Kochen übrig sein, solang wie sie schon weg sein muss. Nun der Alte von Yuri ist somit aus denn weg. Mal sehen ob Valentin denn kleinen in Ruhe lässt wenn er ihn so fett findet. Ich glaube es ja nicht.
LG.


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