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Mord-Semester

Magister Magicae 3
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Triggerwarnung: Mord, Tod Komplett anzeigen

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Zusammenbruch

Zwei Tage später stattete Victor dem Lager D einen Besuch ab. Seit Vladislav ihm die Leitung des Lagers wieder weggenommen hatte, hatte er in der Blockhütte im Wald eigentlich nicht mehr viel zu suchen. Aber da er seine Rotkappe hier zwischenstationiert hatte, bis der Käufer sie endlich übernahm, behielt er das lieber mal im Auge. Mit Verwunderung bemerkte er den LKW, der vor der Holzhütte stand, als er ankam. Was hatte der hier noch zu suchen? Es war Freitagmorgen. Der LKW sollte gerade an der Grenze zu Weißrussland stehen und Iwan und Petr sollten mit der wöchentlichen Lieferung auf dem Weg nach Polen sein. Hatten sie mal wieder entschieden, daß sich die Fuhre nicht lohnte, ohne irgendwem irgendwas zu sagen?

Mit dem festen Vorsatz, die beiden gehörig zusammen zu stauchen, zog er die Tür auf. Was er drinnen vorfand, ließ sein klares Denken aber für einen Moment aussetzen. Petr lag mitten auf dem Boden in einer riesigen Lache aus Blut. Die Frage, ob der noch lebte, erübrigte sich von selbst. Hinter ein paar Kisten schauten zwei Füße hervor, die seinem Schützling Iwan gehörten. Auch tot. Victors Blick wanderte unwillkürlich weiter zu der Käfigbox, in der er seine Rotkappe aus England eingesperrt hatte. Sie stand offen und war leer. Die Rotkappe war weg. Victor musste aufpassen, nicht vor Fassungslosigkeit zu hyperventilieren. Wie hatte sie sich befreien können? Selbst wenn sie die Bann-Marke auf ihrem Rücken wirklich ein weiteres Mal gesprengt haben sollte, es würde doch wohl keiner so dumm gewesen sein, sie vorsätzlich aus diesem Käfig raus zu lassen!? Der Vize gab sich Mühe, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen, schloss die Augen und konzentrierte sich. Er konnte Bann-Magie spüren, und seine eigene ganz besonders. Die Bann-Marke auf dem Rücken der Rotkappen-Frau, selbst wenn sie nur noch fragmentarisch vorhanden gewesen wäre, hätte sie markiert wie ein Peilsender. Aber hier war nichts mehr. Rose Guilderoy war weg.

Victor überprüfte zuerst Petrs Leiche. Sie waren schon kalt und das Blut schon getrocknet. Die Jungs lagen schon länger hier. Dann zückte er das Handy, um Vladislav anzurufen, den Tod des LKW-Fahrers und seines Schutzgeistes zu melden und einen Aufspürer auf die Rotkappe ansetzen zu lassen. Er musste dieses kreuzgefährliche Vieh umgehend wiederfinden. Natürlich hatte er hier draußen keinen Empfang. War ja klar gewesen. Also entschied er, es unterwegs nochmal zu versuchen und stieg wieder in sein Auto. Victor fuhr einfach auf gut Glück los, auf den Weg zur nächstgelegenen Ruine, die ihm einfiel. Rotkappen nisteten sich immer in verfallenen, leerstehenden Gemäuern ein. Wenn er raten müsste, würde er die Rotkappen-Frau am ehesten dort suchen müssen. Verfluchter Mist, das alles.
 

Mitten auf dem Waldweg musste Victor plötzlich auf die Bremse steigen, weil ihm jemand den Weg verstellte. Ein Mann mit sehr klischeehafter Kapuze. Sascha. Victor kannte ihn. Er war ein Reaper und stand im Dienst der Motus. Er gehörte zu den Aufspürern und arbeitete eng mit den Jägern zusammen. Als Reaper wusste er ja schon vorher, wann und wo die Opfer sterben würden, also konnte er den Killern genau sagen, wo sie ihre Opfer finden würden, wenn die mit dem Bearbeiten ihrer schwarzen Liste erfolgreich waren. Den Kerl zu sehen, bereitete Victor immer wieder Unbehagen.

Sascha kam in aller Ruhe um das Auto herum gelaufen, zog die Beifahrertür auf und stieg mit ein. „Hi“, machte er nur und lächelte leicht.

Victor starrte ihn aus großen Augen an. „Was tust du hier?“

„Ich habe auf dich gewartet.“

„Werde ich jetzt sterben?“

Sascha lachte. „Nein. Wieso fragst du mich das jedes Mal?“

„Du bist ein Reaper! Du holst die Seelen ab, die gerade sterben, und begleitest sie auf die andere Seite. Jedes Mal, wenn du plötzlich vor mir stehst, denke ich, jetzt hätte mein letztes Stündchen geschlagen.“

„Hast du Angst vor dem Tod? Glaub mir, der wird überbewertet. Nur eine Zwischenstation auf dem langen Weg. Komm schon, fahr!“

„Mir ist trotzdem daran gelegen, noch ein wenig auf Erden zu weilen. Ich habe noch viel vor, weißt du?“, kommentierte Victor und legte einen Gang ein, um sein Auto wieder in Bewegung zu setzen.

„Du bist auch noch nicht fällig“, winkte Sascha beruhigend ab. „Aber du suchst eine Rotkappe. Ich bring dich zu ihr.“

„Du weißt, wo sie ist? ... Wird die Rotkappe jetzt sterben?“, wollte der Vize nicht gerade euphorisch wissen. Das hätte bedeutet, er müsste im Zweifelsfall eine neue fangen.

„Nein“, seufzte der Reaper schwer und tragisch. „Aber es wird noch ein Opfer geben, bevor du sie wieder einfängst.“

„Und ich nehme nicht an, daß ich das noch verhindern kann.“

„Nein, kannst du nicht. Sonst wäre ich nicht hier.“

Victor nickte nur langsam, ohne den Blick vom Waldweg vor sich zu nehmen. Saschas Tonfall klang nach dem Schlimmsten. So bedauernd, fast wie eine Entschuldigung. Er fragte lieber nicht nach, was das zu bedeuten hatte. Er würde es sicher noch früh genug erfahren.
 

Victor hatte gelangweilt eine Wange auf die Faust gestützt und schaute den treibenden Wolken zu. Langsam wurde es dunkel und der Park leerer. „Bist du sicher, daß sie noch kommen wird?“

„Ganz sicher“, versprach Sascha.

„Wir sitzen seit über 2 Stunden hier.“

„Bist du so scharf auf das Blutvergießen, das hier stattfinden wird?“

„Nein ...“

„Dann nur Geduld.“

„Müssen wir uns unbedingt in einem Gebüsch verstecken?“

„Willst du zum Opfer der Rotkappe werden, indem du ihr wie auf dem Präsentierteller vor der Nase rumläufst?“

„Das würde die Sache vielleicht beschleunigen.“

Der Reaper sagte nicht dazu.

Mit einem unterdrückten Seufzen schaute Victor auf die Armbanduhr. Dann merkte er auf, als ein junger Mann durch den Park geschlendert kam. Den kannte er. Das war Anatolij, sein langjähriger Freund und Mitbewohner. Wie lange war das her, daß er den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte? Anatolij hatte sich gar nicht verändert. Er kam wohl gerade von der Arbeit. Offenbar hatte er immer noch den gleichen Job. Er war schon früher immer auf dem Heimweg um diese Uhrzeit durch den Park gekommen. Victor biss sich auf die Unterlippe, während er an die schöne Zeit dachte, und an alles, was er seinem Freund verdankte. Seine Schuljahre und die ersten Semester seiner Studienzeit, als er noch Nikolai gewesen war, da war das Leben noch richtiggehend unbeschwert gewesen. Was war seit damals nur aus ihm geworden?

Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Aus einer Baumkrone kam ein Wurfmesser gesegelt, pinnte sich in Anatolijs Schulter, ein graubraunes, gnomenhaftes Wesen sprang aus dem Baum hinterher und riss Anatolij rückwärts zu Boden.

„Anatol-...“, hauchte Victor in seinem Versteck, unfähig sich zu bewegen. Er war das Opfer, das der Reaper angekündigt hatte?

Die Rotkappe riss derweile das Messer aus Anatolijs Schulter und schnitt ihm gnadenlos die Kehle durch. Dann zog sie sich die Zipfelmütze von ihrem entstellten Koboldkopf und wischte damit das herausquellende Blut auf. Wie es Rotkappen ihrem Namen nach eben taten. Sie färbten ihre Mützen mit dem Blut von Menschen rot.

Mit einem „Nein!“ sprang Victor endlich aus seiner Deckung und schleuderte einen Paralyse-Fluch nach der Rotkappe, um sie außer Gefecht zu setzen. Sie blieb auch bewegungslos liegen. Dann schob er seine Hand unter den Kopf seines gurgelnden, blutspuckenden Freundes und drückte ihn verzweifelt an sich. „Stirb nicht! Anatolij! Du darfst nicht sterben!“

Sascha trat von hinten an ihn heran. „Es tut mir leid. Ich werde ihn jetzt mitnehmen. Verabschiede dich von ihm und behalte ihn so in Erinnerung, wie er war.“

„Lass ihn hier! Lass ihn leben! Wir können ihn noch retten!“, jammerte Victor hysterisch, obwohl er wusste, wie sinnlos es war. Mit durchgeschnittener Kehle war einfach mal game over, da biss die Maus keinen Faden ab. Und es hatte noch nie irgendein Reaper mit sich verhandeln lassen.

„Es steht nicht in meiner Macht, ihn leben zu lassen. Ich entscheide nicht über Leben und Tod, Victor. Ich begleite nur die Seele hinüber.“

„Nein! Sascha! Anatolij!“

Aber die Augen seines Freundes waren zugefallen. Und Sascha spurlos verschwunden. Mit Wasserrändern in den Augen schaute Victor zu der erstarrt herumliegenden Rotkappe hinüber. Einen Moment lang dachte er ernsthaft darüber nach, die Pistole zu ziehen und sie umzulegen. Aber damit hätte er sich nur selber unnötig Arbeit gemacht, weil er dann eine neue hätte finden müssen.
 

Die Rotkappe saß wieder mit einer funktionierenden Bann-Marke in ihrem Käfig, wo sie hingehörte. Und Anatolij war von einem Krankenwagen abgeholt worden. Victor hatte die Leiche nicht einfach verschwinden lassen wollen, wie andere zuvor. Er wollte, daß Anatolij anständig beerdigt wurde. Natürlich würden dadurch auch Ermittlungen wegen Mordes eingeleitet werden. Aber das nahm er ebenso in Kauf wie den Umstand, daß die Rotkappe als Täterin nicht gefunden wurde, denn die hatte er ja mitgenommen. Und bei Gott, er würde dafür sorgen, daß sie die Rotkappe auch niemals wieder finden würden. Die würde bis an ihr armseeliges Lebensende versklavt bleiben. Er hatte sich dafür extra einen dreifach gesicherten Bann angelesen. Den würde nichtmal eine verdammte Rotkappe wieder abschütteln können. Victor zog ein überraschtes Gesicht, als er Vladislavs unverkennbaren Sportauspuff draußen vor der Tür hörte und kurz darauf auch die Tür aufging und wie erwartet der blonde Kerl mit dem tätowierten rechten Arm herein kam. Trotz der zunehmenden Kälte lief er immer noch ärmellos herum. „Hi. Was tust du denn hier im Lager?“, grüßte Victor ihn trübsinnig.

„Ich wollte bloß mal nach dem Rechten schauen. Wie ich sehe, hast du die Rotkappe bereits wieder! Sehr ordentlich.“

„Hattest du da etwa Bedenken?“, wollte Victor müde wissen. Die Sache mit seinem Freund Anatolij nahm ihn immer noch heftig mit. Daher war er gerade nicht übertrieben euphorisch am Werk.

„Und selber?“, hakte Vladislav nach.

„Ich wollte nach Iwan und Petr sehen. Jemand sollte sich ja um die Leichen kümmern, nicht wahr?“

Der Boss nickte zufrieden. Sein Vize dachte echt mit. „Ach ja, ich wollte dir sagen, daß dein Freund Gontscharow dieser Tage einem Herzinfarkt erlegen ist“, fiel ihm dann ein.

Victor behielt seine Mimik im Griff. „Wie bedauerlich.“

„Wieso bedauerlich?“

„Weil der Mistkerl mir zuvor gekommen ist. Ich hatte so gehofft, ihn eines Tages selber erledigen zu dürfen.“

Vladislav zog ein verstehendes Gesicht. „Du hattest also wirklich eine offene Rechnung mit dem Mann.“

„Nagut, sagen wir, 'bedauerlich' war vielleicht die falsche Wortwahl meinerseits“, meinte der Gestaltwandler finster und lehnte sich mit verschränkten Armen an einen leeren Käfig, da ihm aufging, daß das Gespräch länger dauern würde.

„Erzähl mir davon.“

„Warum? Er ist tot, ich bin zufrieden, alles ist gut.“

„Du bist mein verdammter Vize, Victor!“, herrschte der Boss ihn so böse an, daß der erschrocken riesengroße Augen bekam. „Du siehst alles und weißt alles! Du hast mehr Macht in deinen Händen, als mir lieb sein kann! Aber ich bin gezwungen, dir mehr zu vertrauen als jedem anderen, egal ob ich das will oder nicht! Ich will wissen, was du treibst oder nicht treibst! Was ich absolut nicht brauchen kann, ist ein unberechenbarer Stellvertreter! Und ich werde dir wohl nicht sagen müssen, was ich mit dir machen müsste, wenn du dich verdächtig benimmst!“

Victor sah ihn missmutig an und schnaubte. Er war gerade nicht in der mentalen Verfassung für einen gesalzenen Anpfiff. „Wieso hast du mich denn zum Vize ernannt, wenn du mir nicht über den Weg traust?“

„Ich trau dir über den Weg.“

„Wieso drohst du mir dann, wenn du mir traust?“

Vladislav verengte sauer die Augen, als er darauf keine schlagfertige Antwort mehr wusste und ein böser Blick ihm als letzte Waffe blieb. Dieser kleingeratene Kerl war wirklich nicht zu unterschätzen. Da musste man sich schon was mehr Mühe geben, wenn man ihm gewachsen sein wollte. „Du hältst dich für ein findiges Schlaumeierchen, was? Gut, du hast Recht. Es war nicht mein Anliegen, dir zu drohen oder dich in Zweifel zu ziehen. Aber ich hasse deine hartnäckigen Widerworte. Gewöhn dir das ab!“

„Und ich hasse es, rein prophylaktisch bedroht zu werden. Daran solltest du auch mal was ändern, wenn unsere Zusammenarbeit funktionieren soll! Wenn ich dein Vize bin, dann erwarte ich, nicht behandelt zu werden wie deine kleinen Bauernopfer da draußen, die du wie ein Marionetten-Spieler durch die Gegend schickst. Und als Berater ist es ja wohl meine Aufgabe, mit dir zu diskutieren.“

„Du bist nicht mein Berater. Du bist nur ausführendes Organ“, würgte Vladislav die Streiterei wütend ab. „Und jetzt spuck´s aus! Was war mit Gontscharow?“

„Eine persönliche Meinungsverschiedenheit. Er hätte mir an der Universität fast den Magister-Abschluss vermasselt.“

„Hör zu, ich bin alles andere als glücklich mit Gontscharows Tod. Er war unser Gegner, ja, aber ich kannte ihn gut und konnte ihn einschätzen. Jetzt, wo er tot ist, wird ein anderer seinen Platz einnehmen. Jemand, den ich nicht kenne und den ich nicht einschätzen kann. Das Spiel ist unberechenbarer geworden. Die Karten wurden neu gemischt. Und das gefällt mir gar nicht“, erklärte Vladislav düster, stellte die Ellenbogen auf ein paar hochgestapelte Kisten wie auf einen Stehparty-Tisch und faltete die Hände unter dem Kinn. „Ich weiß nicht, ob du mit Gontscharows Tod was zu schaffen hattest oder nicht. Nachweisen kann ich es dir nicht. Aber FALLS du was damit zu tun hattest, kann ich dir nur raten, sowas in Zukunft zu unterlassen.“

„Erinnerst du dich, was ich dir gerade über prophylaktische Drohungen gesagt habe?“

Der Boss schmunzelte böse. „Erinnerst DU dich, was ich dir gerade über ständige Widerworte gesagt habe, mein Freund?“

„Pflichten gehen auch immer mit Rechten einher, Vladislav. Du kannst mich nicht zu deinem offiziellen Vize ernennen und mir keinerlei Handhabe lassen. Wie soll ich arbeiten, wenn du mich nicht lässt? Und wie soll ich einem Vertrauen gerecht werden, das du mir gar nicht entgegen bringst? Du solltest nochmal nachdenken, was du dir unter einem Vize-Chef überhaupt vorstellst. Ein Stellvertreter ist mehr als nur ein Henker. Und ich habe keine Lust, nur dein Henker zu sein.“

„Hast du Gontscharow getötet oder nicht?“

Victor sah ihn lange mürrisch an. Denn seufzte er augenrollend. „Ja, okay, hab ich! Zufrieden?“

Vladislav nickte ernst. „Wenigstens ehrlich bist du. Aber mach sowas nie wieder! ... Mit wem hast du noch so alles offene Rechnungen?“

„Jetzt keine mehr.“

„Dann verzieh dich jetzt. Um Iwan und Petr kümmere ich mich selber. Schönen Tag noch.“

Victor stemmte sich wortlos vom Käfig weg und verließ das Lager. Ausnahmsweise mal ohne Widerworte. Wenn Vladislav ihn von der Arbeit freistellte, war er da gerade nicht böse drüber.

Vladislav schüttelte den Kopf, während er ihm hinterher sah. Schließlich wurde ein Lächeln daraus. Auch wenn der Gestaltwandler eine größere Klappe hatte, als gesund für ihn war, war er doch genau das, was Vladislav brauchte. Er war sehr zufrieden mit seiner Entscheidung, ihn zum Stellvertreter geschlagen zu haben, und hatte eine hohe Meinung von ihm. Victor machte seine Sache verdammt gut. Um so besser, wenn man es ihm nichtmal nachweisen konnte. Das zeigte die Qualität seiner Arbeit. Und Vladislav vertraute ihm. Aber das gab er nicht offen zu. Er durfte Victor nicht zu sehr loben, sonst würde er diesen lebhaften Kameraden vielleicht nicht mehr lange unter Kontrolle haben.
 

Victor betrat seine Wohnung, ließ die Tür hinter sich ins Schloss scheppern und stapfte steif wie ein Zombie auf sein Sofa zu. Er setzte sich nicht, er brach eher halb zusammen. Und dann schossen die Tränen in seine Augen, die er jetzt schon viel zu lange zurückgehalten hatte. Anatolijs Tod hatte ihm endgültig den Rest gegeben. Wenn seine skrupellose Karriere bei der Motus, inclusive seiner Mordaufträge, ihn bisher nicht klein gekriegt hatte, Anatolijs Tod hatte es geschafft. Er bereute alles. Sein ganzes Leben. Er bereute es, Anatolijs jemals begegnet zu sein. Er bereute es, das Angebot der Geheimpolizei angenommen zu haben. Und darüber tröstete ihn auch seine Rache an Gontscharow nicht im Mindesten hinweg.

Verzweifelt holte er mit der einen Hand seine Pistole und mit der anderen sein Handy heraus und wägte zwischen beidem ab. Sollte er sich erschießen? Es wäre ganz einfach. Ein kurzer Druck auf den Abzug und er hatte keine Probleme mehr. Keine Gewissensbisse mehr. Keine mörderischen Pflichten mehr. Oder sollte er mit jemandem reden und weiter leiden? Aber mit wem? Mit wem? Ein Gedankenblitz ließ ihn zu seinem kleinen Hosentaschen-Telefonbuch greifen, denn eingespeichert hatte er zur Sicherheit keine einzige Nummer. Und er wählte. Er würde es erstmal mit Reden versuchen.

„Good Afternoon?“, meldete sich eine männliche Stimme, die Victor zunächst nicht einordnen konnte. Klang man am Telefon denn so anders?

„Ruppert?“, fragte er nach.

„No, it´s not Ruppert. He´s busy at the moment. Can I help? Or shall he call back later?“

„Who are you?“, wollte Victor vollauf verwirrt wissen.

„Urnue.“

Victor ging auf, daß er hier offenbar gerade den Genius Intimus von Ruppert am Telefon hatte. Aber zu einer längeren Plauderei mit ihm kam er nicht mehr, denn da ging auch schon jemand wütend dazwischen, meckerte herum und riss das Telefon hörbar an sich, um selber ranzugehen.

„Who is it?“, meldete sich Ruppert endlich selbst.

„H-Hey ... it´s Akomowarov calling“, erwiderte der Gestaltwandler vorsichtig. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er hier gerade das Richtige tat. Aber dann kam er zu dem Schluss, daß ihm ja immer noch die Option eines Kopfschusses übrig blieb, wenn es doch nicht mehr anders ging.

„Victor! Bist du gut wieder in Moskau angekommen? Wie geht es dir?“, wechselte Ruppert übergangslos ins Russische. Er hatte schon gemerkt, daß sie beide mit seinem Russisch besser klar kamen als mit Victors Englisch. „Entschuldige, ich war eben auf Toilette. Mein Schutzgeist weiß eigentlich, daß er nicht an mein Handy gehen soll.“

„Schon gut. Ich bin froh, daß er rangegangen ist. Nochmal hätte ich vermutlich nicht angerufen. Urnue heißt er also?“

„Ist alles in Ordnung? Du klingst so niedergeschlagen.“

„Ich habe einen langjährigen Freund verloren.“

„Oh, das tut mir leid“, gab der Finanz-Chef ehrlich betroffen zurück. „Ja, ich fürchte, davor sind auch wir Schwerverbrecher nicht gefeit. Sowas geht selbst uns nahe.“

„Ruppert, ich muss mit dir reden. Hast du Zeit?“

„Sicher.“

Victor hörte, wie Ruppert seinen Genius Intimus wegschickte, damit sie ungestört plaudern konnten. „Hör mal“, begann er dann, als er die Aufmerksamkeit des Bankers wieder hatte. „Ich weiß, du bist kein Fan von Vladislav und der Motus. Darum bist du der einzige, dem ich da auch nur ansatzweise vertrauen kann. Und ich brauche deine Hilfe. Diese Bürde, die ich hier trage, kann ich nicht allein tragen. Ich schaff das nicht mehr. Ich brauche dich.“

„Um Himmels Willen, was ist denn los, Vitja?“ Ruppert war akut vom offiziellen 'Victor' in die Koseform 'Vitja' gewechselt, um vertrauter zu klingen.

„Ich arbeite nicht für den Geheimdienst, okay? Das will ich gleich klarstellen. Ich arbeite nicht für die! Aber ich komme ursprünglich von da. Die haben mich in die Motus geschickt, damit ich sie aufdecke.“ Jetzt sprudelte alles aus ihm heraus. „Und dann haben sie mich fallen lassen und mich in der Motus mich selbst überlassen. Ich werde genauso gesucht wie jeder andere von euch. Aber ich habe nach wie vor den Ehrgeiz, die Motus durch den Schornstein zu jagen. Ich habe es bis zum Vize geschafft und habe jetzt genug Vollmachten und Zugang zu allem möglichen, um die nötigen Beweise zusammen zu tragen. Aber das wird noch seine Zeit dauern. Bis dahin muss ich meine Rolle als Vize weiter spielen.“

„Vitja ...“, murmelte Ruppert überrumpelt. Schon wieder diese Verniedlichung.

„Ich brauche einen Rückenhalt, solange ich meine Rolle noch spielen muss. Einen Freund. Jemanden, der Bescheid weiß und bei dem ich mich ausheulen kann, aber der die Klappe hält und mich schützt.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

„Ruppert ... wirst du mir helfen?“

Immer noch Schweigen. Sie war furchtbar dunkel und bedrückend, diese Stille.

„Ruppert?“, fragte er nochmal. Als die Antwort immer noch auf sich warten ließ, griff Victor wieder nach der Pistole und begann damit herum zu spielen. Sah nicht so aus, als hätte er vom Finanz-Chef der Motus Hilfe zu erwarten. Also doch der Heldentod. „Ich meine, wenn dir das zu riskant ist, dann ... Ich versteh das ... Vladislav ist ein gefährlicher Mann und ... weißt du ...“ Seine Stimme begann zu zittern. „Ich habe nichts mehr zu verlieren, darum bin ich nicht stark. ... Wenn man ... wenn man jemanden hat, der einem wirklich viel bedeutet, und den man unter allen Umständen beschützen will, dann macht einen das unglaublich stark. ... aber so jemanden hab ich nicht. ... Ich hab überhaupt niemanden mehr.“

„Victor!“

„Was?“

„Ich helfe dir, Victor“, versprach der ältere Mann ernst. „Gib nicht auf. Ich helfe dir.“
 

[Ende von 'Mord-Semester' > Fortsetzung in 'Die Motus']


Nachwort zu diesem Kapitel:
Drama ... ^^°
So, ihr Lieben, jetzt hab ich euch auch dieses Kapitel noch draufgedrückt und damit ist Schluss.
Diese Linie endet hier. ^^

Die Fortsetzung 'Die Motus' ist bereits online, lest gern mal rein.
Vielen Dank an alle, die bis hier her fleißig mitgelesen haben. ^_^)/ Komplett anzeigen

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