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Mord-Semester

Magister Magicae 3
von

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Deprimiert klappte Victor das Buch wieder zu, fuhr nochmal mit der Hand über den Einband und ließ den Blick über die Bücherregale schweifen. Diese Bibliothek war echt streng darauf bedacht, daß man hier bloß nichts Illegales lernte. Er hatte noch keinen Bann-Zauber gefunden, der eine ganz konkrete Erinnerung so nachhaltig gelöscht hätte, daß sie nicht mit einem Gegen-Bann wieder hergestellt werden könnte. So richtig unumkehrbare Gedächtnis-Zauber waren wohl derart radikal, daß sie das komplette Gehirn in Matsche verwandelten. Soviel hatte er den Büchern noch entnehmen können. Der Betreffende vergaß nicht nur das, was er vergessen sollte, sondern das Gedächtnis wurde zu großen Teilen resettet. Mit etwas Pech und dilletantischer Vorgehensweise wusste man danach nicht mal mehr, wer man war, oder konnte vielleicht kein einziges Wort mehr sprechen, weil man seine Muttersprache spontan wieder verlernt hatte. Entsprechend verboten war solche Magie auch. Aber Victor war zuversichtlich, daß er noch einen Zauber finden würde, der funktionierte und ungefährlich war. Der Gestaltwandler beschloss, für heute Schluss zu machen und sich erstmal anderen Aufgaben zu widmen. Immerhin hatte er Arbeit zu erledigen. Er sah auf die Uhr. Ob das 'Pussy Deluxe' jetzt schon geöffnet hatte?
 

Ein knapp bekleidetes Mädchen setzte sich zu Victor an den Tisch. Er lächelte sie freundlich an und stellte sein Bier zur Seite. „So alleine hier?“, schnurrte sie in diesem typisch versauten Tonfall, den nur Prostituierte drauf hatten, die gerade einen Mann rumkriegen wollten.

„Ich halte eigentlich Ausschau nach Galina“, gestand Victor.

„Oh, ich kann dich sicher auch glücklich machen.“

„Das glaube ich dir. Aber ich brauche trotzdem Galina.“

Das Mädchen sah ihn etwas sauertöpfisch an. „Du bist aber wählerisch.“

„Ich bin nicht auf der Suche nach Glücklichmachern. Ich muss mit ihr reden. Wenn du mir eine Freude machen willst, dann sag dir doch, ob sie da ist.“

„Informationen kosten.“

Victor verdrehte die Augen, griff dann aber doch gehorsam in seine Jackentasche, um einen Geldschein heraus zu holen, den er ihr über den Tisch schob. Er hatte keine Lust, mit ihr zu diskutieren. Einfach unglaublich, wie die einem hier das Geld aus der Tasche zogen.

„Ich schick dir Galina rüber“, versprach das Mädchen und schob sich die Kohle theatralisch in den BH. Dann verschwand sie.

Kopfschüttelnd nahm Victor wieder sein Bier zur Hand und schaute weiter der Tänzerin zu, die auf dem Nachbartisch einen table dance hinlegte.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Galina sich endlich zu ihm gesellte. Aber sie lächelte ihn erkennend an, als sie sich zu ihm setzte. „Hey, da ist ja mein schöner Mann mit den tollen, langen Haaren wieder“, grüßte sie. „Musstest du lange warten? Ich hatte gerade einen Kunden.“

„Ist schon okay, ich habe es nicht eilig“, versicherte er.

„Du warst lange nicht hier. Ich dachte schon, ich hätte dir nicht gefallen.“

Victor musste kichern. „Ich musste erst auf den Besuch hier sparen. Du bist zu teuer.“

„Wer hat, der kann“, alberte sie zwanglos mit und richtete sich demonstrativ das Dekolleté in der aufreizenden, engen Kleidung. Ihre südländischen Gesichtszüge mit den langen, schwarzen Spirallocken drum herum waren nicht minder verführerisch. „Du hast mir letztes Mal deinen Namen gar nicht verraten, mein Schatz.“

Nein, zum Glück nicht, sonst wüsste ihn inzwischen die halbe Szene, dachte Victor erleichtert. Als er diesem Schuppen das letzte Mal einen Besuch abgestattet hatte, war er immerhin noch Nikolai Grigorijewitsch Medwedew gewesen. Wenn das hier wirklich so ein Umschlagplatz für Informationen war, wie Galina letztes Mal behauptet hatte, dann war sie sicher recht geschwätzig. Und allein die Tatsache, daß sie ihn direkt nach seinem Namen fragte, sagte Victor, daß sich bei ihr bereits Leute nach ihm erkundigt hatten. Denn normalerweise fragten Freudenmädchen nie nach Namen. Das war eine Sache der Diskretion. „Nenn mich Victor.“

Galina überlegte. „Victor, ja? Ich werde dich Vitja nennen.“

„Meinetwegen auch das.“

„Und was kann ich für Vitja tun?“

„Vitja würde gern in Ruhe irgendwo mit dir reden.“

„Reden?“

„Ja, ich brauche Infos. Du sagtest, du hättest welche und ich könne dich jederzeit fragen kommen, wenn was ist.“

Die Prostituierte runzelte die Stirn, als könne sie das nicht glauben. „Magst du lieber blau oder grün?“

„Äh ... grün. ... Wieso?“, gab er irritiert zurück.

„Dann lass uns ins grüne Zimmer gehen und dort reden“, entschied sie, griff im Aufstehen seine Hand und zog ihn von seinem Stuhl hoch. Sein halbvolles Bierglas musste er notgedrungen stehen lassen.
 

Das 'grüne Zimmer' war wirklich penetrant grün. Die Wände waren grün gestrichen, die Bettwäsche war grün, die zugezogenen Vorhänge waren grün, der Teppich auch. Selbst die Kerzen, die auf dem Nachttisch brannten, waren aus grünem Wachs. Das war echt zuviel des Guten. Aber wenigstens roch dieses Zimmer nicht so durchdringend und luftraubend nach Weihrauch wie letztes Mal. Hier war eher ein dezenter Vanille-Pudding-Duft vorzufinden. Sehr kitschig, aber immer noch besser.

Galina griff ganz ungeniert nach seinem Hosenbund und versuchte ihm den Reißverschluss aufzuziehen.

„Nicht, lass mal!“, ging Victor dazwischen und wehrte ihre Hände ab. „Ich hab heute keine Lust. Ich will wirklich nur quatschen.“

Die Prostituierte sah ihm prüfend in die Augen, ob das sein Ernst war. Solche Kunden hatte sie offenbar nicht oft. Nach einem Moment zuckte sie aber hinnehmend mit den Schultern und tigerte zum Bett hinüber, um sich lasziv hinein zu fläzen. „Wie du willst. Aber bezahlen musst du mich trotzdem. Ich hoffe, das ist dir klar.“

„Ihr macht auch aus allem Geld“, seufzte Victor, während er sich zu ihr auf die Bettkante setzte. „Ich hoffe, du bist das wert.“

„Ich gebe mir Mühe“, schmunzelte sie. „Und jetzt sag schon, was du wissen willst. Du bezahlst mich nach Zeit, nicht nach der Anzahl der Informationen.“

„Gut. Ich suche eine Rotkappe. Kannst du mir da helfen?“

Galina ließ nachdenklich den Blick abschweifen. „Eine bestimmte? Sag mir den Namen.“

„Nein, keine bestimmte. Einfach nur irgendeine.“

„Rotkappen gibt es hier bei uns nicht. Da hast du in England mehr Glück.“

„Ja, ich weiß. Schade. Ich hatte gehofft, du wüsstest da einen Rat.“

„Nein. Ich kenne auch niemanden, der dir da helfen könnte. Ich kann dir nur raten, nach Großbritannien zu gehen und dort zu suchen. Die Motus ist doch in England aktiv. Es sollte dir nicht schwer fallen, in deiner Organisation jemanden zu finden, der für dich in die Spur geht.“

Victor nickte verstehend.

Galina schnappte ihn am Revers und zog ihn neben sich in eine liegende Position. Sie hatte den Ehrgeiz, ihn doch noch irgendwie rumzukriegen. Ein Mann, der nichts von ihr wollte, wo gab´s denn sowas!?

„Und dann brauche ich noch zwei Zauber. Kennst du talentierte Bann-Magier?“

„Was genau suchst du?“, schnurrte die Kleine, fuhr mit der Hand der Länge nach über Victors Oberkörper und drückte ihre Lippen auf seine Halsseite. Damit hielt sie ihn regelrecht unter sich fest. Sie stand auf allen Vieren über ihm. Der junge Gestaltwandler ließ es auch zu. Er gab seinen Widerstand auf.

„Irgendwas, was bei Pistolen Ladehemmung verursacht.“

„Gibt es nicht. Davon wüsste ich.“

„Auch nicht im Bereich der Flüche und Verwünschungen?“

„Nein. Da musst du selber einen erfinden, wenn du das willst. Ich würde dir irgendwas aus der Kategorie Feuer-Magie empfehlen, denn alle Schusswaffen arbeiten mit einem Funken, der das Schießpulver entzündet. Es ist sicher am einfachsten, das Zünden des Pulvers zu verhindern.“

„Du bist mir aber auch gar keine Hilfe“, maulte Victor. Derweile wanderten auch seine Hände schon auf ihrem Rücken herum.

„Und der zweite Zauber?“

„Uhm ... ein Gedächtnis-Löschzauber. Ich brauche irgendwas, was punktuell konkrete Informationen aus dem Gedächtnis löscht, ohne gleich den ganzen Prozessor da oben lahm zu legen“, erzählte er und tippte sich dabei gegen den Schädel.

„Oh! DAMIT kann ich dir helfen!“, freute sich Galina.

„Kennst du so einen Zauber?“

„Nein. Aber ich kenn einen Bann-Magier, der sowas kann. Ich stell dich dem Mann vor und sag ihm, daß er´s dir beibringen soll“, entschied sie und sprang enthusiastisch aus dem Bett hoch. „Komm mit!“

„Wie ... jetzt gleich?“, wollte Victor wissen, enttäuscht, daß nun doch nichts aus der heißen Liaison wurde, nachdem Galina schon so hartnäckig an ihm gebaggert hatte, um ihn endlich dazu zu kriegen.

„Ja, komm mit! Es ist einer unserer Security-Typen!“

„Ihr habt Security?“, hakte der Vize erstaunt nach, dann quälte er sich schwerfällig ebenfalls aus dem Bett heraus.

„Na klar. Hier werden immer mal wieder Kunden gewaltsam entfernt, die uns Mädels misshandeln wollen. Manche sind echt perverse, sadistische Schweine.“

„Verstehe ...“
 

Eine halbe Stunde und etliche tausend Rubel später kam Victor wieder in die Club-Bar hinunter, um sich ein neues Bier zu bestellen. Er hatte noch nie so viel Kohle auf einmal gelassen. In einem Land, in dem 12'000 Rubel [ca. 200 Euro] fast ein Monatsgehalt waren, waren 20'000 Rubel eine Menge Schmott. Und die hatte er dem Security-Typen gerade gezahlt, damit der ihm diesen Gedächtnis-Löschzauber zeigte. Auch wenn der Gebrauch dieses Zaubers – logischerweise – für Normalbürger illegal und sein Nutzen nicht ganz von der Hand zu weisen war, so fand Victor den Betrag doch unverschämt. Normalerweise durften nur ein paar wenige, speziell dafür ausgebildete und registrierte Ärzte solche Zauber zur psychologischen Behandlung einsetzen. Entsprechend schwer war es, jemanden zu finden, der einem sowas beibringen konnte. 'Wer hat, der kann!', um es mit Galinas Worten auszudrücken.

Ein lautes „Scheiße!“ und ein hektisches Gefuchtel, als er an einem Tisch vorbeiging, lenkten Victors Aufmerksamkeit auf dessen Besetzer. Da saßen Iwan und Petr, sichtlich geschockt davon, hier auf ihren Boss zu treffen. Iwan, der LKW-Fahrer von Lager D versuchte schnell, das Mädchen, das er auf dem Schoß sitzen hatte, wieder los zu werden. Petr, sein grobschlächtiger Genius Intimus, hustete noch, weil er sich vor Schreck an seinem Getränk verschluckt hatte.

Mit einem überlegenen Lächeln setzte sich Victor zu den beiden an den Tisch. „Iwan. Das ist ja eine Überraschung.“

„Boss, ich hatte hier gar nicht mit dir gerechnet.“

„Ich auch nicht mit dir. Es ist Donnerstag. Solltet ihr zwei nicht gerade auf dem Weg nach Polen sein und die neue Lieferung fahren?“

„Jaaa~“, druckste Iwan gedehnt herum.

„Nimmst du deine Arbeit neuerdings nicht mehr ernst, oder wie seh ich das?“

„Weißt du ... Wir haben doch diese Woche nur 2 Genii im Lager D. Ich dachte, dafür lohnt sich der ganze Weg nicht. Die können wir doch auch einfach nächste Woche ... also ... als Sammeltransport ... Verstehst du, was ich meine?“

Victor deutete ein unwilliges Kopfschütteln an. „Habt ihr der Armee von Weißrussland Bescheid gegeben, daß ihr diese Woche nicht kommt?“

„Nein.“

„Dann tu das bitte noch. Sonst kriegen wir Probleme mit denen. Wir sind auf ihre Kooperation angewiesen.“

Iwan nickte verängstigt und starrte Victor immer noch mit großen Augen an.

„Jetzt!“, legte Victor also präzisierend nach.

„Natürlich! Sofort, Boss!“ Der Fahrer schnappte sein offen auf der Tischplatte liegendes Handy, sprang auf und hechtete Richtung Ausgang davon.

Kurz herrschte bedrücktes Schweigen. Victor bedeutete einem Kellner aus der Ferne, daß er ein Bier haben wollte, indem er auf Petrs Glas zeigte.

„Tut uns leid, Boss. Wir hätten vorher mit dir drüber sprechen sollen“, fühlte sich Petr irgendwann doch gedrängt, etwas zu sagen. „Wir müssen uns noch ein bisschen dran gewöhnen, daß du jetzt der Vize bist. Für uns bist du irgendwie immer noch der gewöhnliche Jäger, der im Lager D für den Nachschub sorgt.“

„Schon okay“, meinte Victor mild.

„Hagelt es jetzt Konsequenzen?“

„Nein. Ist schon in Ordnung. Ihr habt Recht, die Fuhre hätte sich wirklich nicht gelohnt. Nur sagt mir in Zukunft Bescheid, wenn ihr Planänderungen ausheckt.“

Der Genius gab ein kleinlautes, zustimmendes Brummen von sich und nippte nervös an seinem Bier. „Vladislav hätte anders reagiert.“

„Ich bin nicht Vladislav.“ Victor bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. „Eigentlich kommt ihr zwei mir gerade ganz gelegen“, entschied er dann themenwechselnd. „Du weißt doch, daß ich Kolja heiße, oder?“

„Als Kurzform für Nikolai, ja.“

„Das wirst du jetzt bitte wieder vergessen!“ Mal sehen, ob der Gedächtnis-Löschzauber, den er gerade gelernt hatte, wirklich so gut war, wie erhofft ...
 

Am nächsten Morgen stattete Victor der Scheinfirma einen Besuch ab, wo der Boss sein Büro hatte. Hier war er eigentlich immer zu finden. Hier liefen alle Fäden zusammen. Er hing gerade am Telefon, als Victor kam, und sein Genius Intimus war mit dem Taschenrechner zugange und rechnete konzentriert irgendwas zusammen. Der stand also auch nicht für smalltalk zur Verfügung. Daher setzte sich Victor einfach irgendwo hin und wartete, bis irgendwer Zeit für ihn hatte.

Vladislav ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er telefonierte noch eine ganze Weile weiter, bevor er endlich auflegte und sich um seinen Vize kümmerte. „Victor, schön, daß du kommst“, grüßte er dann auch übergangslos. „Hör zu, ich nehm dir das Lager D wieder weg“, erzählte er in geradezu beiläufigem Plauderton.

Victor zog ein betrübtes Gesicht. „Ich weiß, die Gewinne sind in letzter Zeit wieder ziemlich zurück gegangen. Das tut mir leid. Ich gebe mir wirklich Mühe.“

„Das ist ganz normal. Du bist mein Vize und hast jetzt genug anderen Kram zu bewältigen. Du hast einfach nicht mehr die Zeit, ein Lager zu leiten“, gab Vladislav beschwichtigend zurück. „Ich bin nicht unzufrieden mit deiner Arbeit. Im Gegenteil. Du hast das Lager verdammt gut geführt. Aber jetzt hab ich einfach wichtigere Aufgaben für dich, das ist alles.“

„Gut“, meinte Victor mit einem beruhigten Nicken.

„Ich hab schon einen Nachfolger im Sinn.“

Wieder nickte der Vize einverstanden.

„Hast du die bestellte Rotkappe schon gefangen?“

„Nein, deshalb bin ich hier. In Russland lässt sich keine auftreiben. Ich wollte dir sagen, daß ich nach England gehe.“

„Meinetwegen. Aber stell den Flug unserem Kunden in Rechnung.“

„Tu ich. Ich werde mir von Artjom einen falschen Reisepass für die Rotkappe ausstellen lassen, mit dem ich sie hier her schleusen kann. Aber ich könnte in England eine neue Waffe brauchen. Meine kann ich schlecht mit durch die Flughafenkontrollen nehmen.“

Vladislav winkte geringschätzig ab. Wenn das Victors einzige Sorge war ... „Frag Ruppert, wenn du dort bist. Er kümmert sich drum. Und bestell ihm Grüße von mir.“

„Liebe oder böse Grüße?“, wollte Victor näckisch wissen.

„Nicht frech werden, ja?“

Der Gestaltwandler lachte leise. „Man wird doch noch fragen dürfen. Bei dir weiß man ja nie.“

„Sieh zu, daß du Land gewinnst!“
 

Zwei Tage später lehnte Victor tatsächlich schon rücklings an einer Hausmauer in London. Er hatte die Füße überkreuzt, die Hände in die Jackentaschen gestopft und war irgendwas zwischen genervt und gelangweilt. Er war um 3 p.m. mit Ruppert verabredet. Das der sich Zeit ließ, musste Victor nicht auf der Armbanduhr nachprüfen. Er hatte genau den Big Ben vor der Nase, welcher bereits 10 Minuten nach 3 zeigte. Pünktlichkeit in Großbritannien war so eine Sache. Im geschäftlichen Bereich galt es als anständig, auf die Minute genau zu erscheinen. Im privaten Umfeld und unter Freunden gab man grundsätzlich noch 10 bis 15 Minuten drauf. Sollte Victor sich geehrt fühlen, daß der Finanz-Chef ihn offenbar schon in letztere Kategorie steckte?

Endlich sah er ein Stück die Straße hinunter die dickbäuchige Erscheinung auf sich zukommen. So grau wie eh und je. Graue Haare, grauer Anzug, graue Krawatte. Er hatte sich seit ihrem letzten Treffen kein bisschen verändert. Victor löste sich von seiner Hauswand und ging ihm entgegen. „Hi, Ruppert.“

„Sdrasdwutje“, grüßte der Bankenbesitzer zurück. Auf Russisch, um Victor einen Gefallen zu tun. Auch wenn sie hier in England waren, und Victor nur zu Gast, würde Ruppert wieder Russisch mit ihm sprechen. Das klappte einfach besser. Abgesehen davon gab er sich zwar freundlich, aber nicht übertrieben fröhlich. Er war eben ganz der seriöse Geschäftsmann. „Du bist schneller wieder hier, als ich erwartet hatte.“

„Ja. Die Arbeit führt mich her. Als Vize muss man sich um viel Mist kümmern. ... Bist du alleine unterwegs?“, wollte Victor wissen und sah sich suchend um.

„Hast du noch jemanden erwartet?“

„Deinen Schutzgeist vielleicht?“

„Keine Sorge, der ist in der Nähe.“

„Du versteckst ihn immer noch vor mir?“, analysierte der Gestaltwandler enttäuscht.

„Gehen wir jetzt was trinken, oder nicht?“, verlangte Ruppert, womit er klarstellte, daß er dieses Thema nicht weiter zu diskutieren gedachte, drückte Victor eine mitgebrachte Plastiktüte in die Hand, und schob die Tür der Kneipe auf, vor der sie sich verabredet und getroffen hatten.

„Was ist das?“

„Du wolltest eine neue Knarre haben, schon vergessen? Es sind 10 Schuss drin, aber kein zweites Magazin. Also geh sparsam mit der Munition um“, erklärte er ganz unverblümt. Da er Russisch sprach, hatte er keine Angst, daß jemand mithörte.

„Ich habe nicht vor, die Waffe zu benutzen. Ich brauche sie nur zur Sicherheit, falls ich bei meinem Auftrag unerwartete Überraschungen erlebe.“

Ruppert ließ sich auf einen Sitzplatz an einem leeren Tisch fallen. „Was hat der Chef dir diesmal auf´s Auge gedrückt?“

Victor senkte seine Stimme, als er sich ebenfalls setzte. Im Gegensatz zu Ruppert vertraute er nicht darauf, daß hier in dieser Kneipe niemand Russisch verstand. „Ich soll eine Rotkappe lebend fangen. Für den Sklavenmarkt.“

Der ältere, graue Mann zeigte sich nachdenklich. „Wenn du meine Meinung hören willst: Lass es. Schieß sie über den Haufen, und gut.“

„Auftrag ist Auftrag.“

„Ja, vermutlich. ... Gut, ich bring dich mit jemandem zusammen. Iwan Pawlowitsch. Auch als 'Rollender Rubel' bekannt. Er jagt hier schon seit einer ganzen Weile Rotkappen. Er kann dir helfen, eine zu finden und so in den Griff zu kriegen, daß sie dich nicht umbringt.“



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