Zum Inhalt der Seite

Die Kinder des Windes

Der König von Kalaß
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Anklage

Ganz so wie von Fuathel angeordnet, findet noch am selben Abend die Willkommensfeier statt. Bänke und Tische wurden auf den Vorplatz des Rathauses gestellt und eilig ein paar Papiergirlanden verteilt. Atane eröffnet die Veranstaltung mit einer Ansprache, in der sie betont wie sehr sie sich über den besonderen Zuwachs ihrer Siedlung freut. Bei dieser Gelegenheit stellt sie auch gleich Ramons und Sivas Pläne zur Erweiterung der Lebensmittelvielfalt vor, die auf offene Ohren stoßen. Weder von Madlene, noch von einem ihrer Söhne ist auf der Feier etwas zu sehen. Trotz der Vorfälle am Morgen herrscht eine ausgelassene Stimmung. Anscheinend hat sich die allgemeine Meinung über das Paar bereits ein wenig verbessert. Ramons Entschuldigung bei seinem Erstgeborenen mag dazu beigetragen haben oder aber es ist die reichliche Menge an Reiswein, die an diesem Abend ausgeschenkt wird. Zur Stunde der Dämmerung werden Fackeln angezündet und die Gesellschaft beginnt gemeinsam Lieder anzustimmen, die Siva noch nie in ihrem Leben gehört hat. Sie klingen wunderbar und erzählen zumeist vom Ersten König und seinen Heldentaten.

Das Paar vom Festland sitzt alleine mit Atane am prächtigsten aller Tische, denn keiner der anderen traut sich bei ihnen Platz zu nehmen. Atane hat unter dem Volk der Gotteskinder keine engeren vertrauten, weshalb man ihr Leben als einsam bezeichnen könnte, doch es stört sie nicht, denn sie hat die wahrhaftige Einsamkeit kennen gelernt. Sie lebt seit viereinhalb tausend Jahren auf dieser Insel und hatte immer schon Perioden vollkommener Isolation dazwischen. Es ist ein Mythos, dass Ialana für das Volk der Rae, zu dem sie streng genommen selbst zählt, nicht betretbar sei. Immer mal wieder hat sie Schiffbrüchige aufgenommen, die bis auf einen die Insel bis zu ihrem Lebensende nicht verließen. Doch solche Geschichten vertraut sie niemandem an und schon gar nicht dem suspekten Letzten König, der mit ihr am Tisch sitzt.

Etwas später am Abend traut sich Rinao, das jüngste Mitglied der kleinen Gesellschaft, das die Neulinge in das Gästezimmer begleitete, dem Tisch dieser drei beeindruckenden Persönlichkeiten zu nähern. Das Mädchen hat Schwierigkeiten Anschluss in der Siedlung zu finden, da sie in ihrem jungen Alter noch etwas unternehmungslustiger ist als die meisten hier. Sie verspricht sich noch immer eine Freundschaft mit Siva, die nur drei Jahre älter ist. Um sich an sie heran zutrauen, musste sie sich allerdings ein wenig Mut antrinken, was man ihr auch anmerkt.

Als Atane bemerkt wie sich das Mädchen scheu nähert, beschließt sie sich selbst zurückzuziehen. Kaum ist sie aufgestanden, nutzt Rinao die Gelegenheit, um sich zu dem für sie so interessanten Pärchen zu setzen.

„Darf ich?“

fragt sie etwas scheu, jedoch mit einem bezaubernden Lächeln, welches die beiden nicht ablehnen wollen.

„Prinzessin Siva, ich finde Ihr seid wunderschön. Das wollte ich Euch gestern schon sagen.“

schmeichelt das Mädchen mit einem bewundernden Funkeln in den Augen.

„Es gibt so vieles, das ich Euch fragen möchte. So vieles, das ich über Euch…und auch ihn … wissen möchte.“

fügt sie mit einem scheuen Blick in Ramons Richtung hinzu. Siva antwortet ihr begeistert:

„Dankeschön. Du bist auch sehr hübsch, Rinao. Du hast Fragen und das ist kein Problem. Wir beantworten sie dir gern. Du kannst mich übrigens ruhig duzen, wir sind schließlich fast gleich alt. Oh, ich freue mich hier so ein liebes Mädchen wie dich zu treffen. Ich kenne hier ja noch niemanden und es wäre toll dich zur Freundin zu haben.“

Rinao kann es kaum fassen, dass es so einfach war mit der Prinzessin ins Gespräch zu kommen und sie ist so lieb und herzlich zu ihr. Das Angebot einer Freundschaft ist mehr als sie sich zu träumen wagte. Sie weiß ja nicht wie wichtig Siva der Austausch mit gleichaltrigen Mädchen ist. Nach einem kurzen Gespräch, in dem Ramon keine Rolle spielte, ruft die nun nicht mehr so schüchterne Rinao ungefragt einen jungen Mann zu sich, was Siva nicht allzu sehr erfreut.

„Das ist Ferick. Er ist etwa so alt wie du und er ist mein Verlobter. Seit gestern spricht er nur noch von dir. Er hat sich nur nicht getraut dich anzusprechen. Aber du bist so lieb. Er braucht keine Angst vor dir zu haben.“

erklärt das Mädchen glücklich über ihren Erfolg, während Siva das Lächeln vergeht. Ihre Abscheu gegenüber jungen Männern hat sie trotz ihrer Verbindung zu Aiven, nicht überwunden.

Ohne den Hauch einer Chance auf einen warmen Empfang, grüßt er sie alle etwas peinlich berührt. Ramon, der genau weiß was sich in Sivas Kopf abspielen muss, grüßt schelmisch grinsend zurück, während seine Liebste stumm bleibt. Rinao, die einen kurzen Blick auf den Letzen König wirft errötet plötzlich, was aber nur er bemerkt. Bei seiner letzten Begegnung mit ihr flehte sie ihn an, nicht in ihre Gedanken zu schauen und nun fällt es ihm ungeheuer schwer ihrem Wunsch nachzukommen. Sie würde es schließlich nicht einmal bemerken. Bevor er es in die Tat umsetzen kann, folgt Sivas verzögerte Reaktion:

„Ferick, wie erkläre ich dir das jetzt am besten? Ich sag es einfach mal so: Ich möchte nur mit Rinao befreundet sein, aber nicht mit dir. Sie konnte das nicht wissen und es ist nichts persönliches gegen dich. Bitte geh wieder.“

Nur wenige Dinge bringen Ramon zum Lachen, doch Sivas Gesicht in dieser unangenehmen Situation gefällt ihm einfach zu gut. Sie wird sauer sein wenn sie es bemerkt, deshalb dreht er sich ein wenig von der witzigen Szene weg. Was er stattdessen auf sich zukommen sieht, verhagelt ihm seine Freude jedoch sofort wieder.

Als würde eine dunkle Gewitterfront auf das neueste Pärchen der Siedlung zurollen, schreiten die finster schauende Madlene mit all ihren Söhnen hinter sich auf die ausgelassene Gruppe zu. Noch bevor sie das Wort erhebt, verstummt der Gesang der fröhlichen Gesellschaft. Die drückende Anspannung, die sich plötzlich über ihnen allen ausbreitet, lässt Atane auf den Festplatz zurückkehren.

Der dramatische Auftritt ist Madlene geglückt, denn nun ist alle Aufmerksamkeit auf das gerichtet, was sie zu sagen hat. Ramon und Siva haben sich bereits von ihren Plätzen erhoben und stehen aufrecht einige Meter entfernt von der früheren Königin und ihren Söhnen. Madlenes düstere, harte Stimme durchschneidet die Stille.

„Kronprinzessin Siva, Tochter des reinkarnierten Ersten Königs, ich klage Euch hiermit an gegen folgende geltende Gesetze der Gotteskinder verstoßen zu haben:

Verstoß gegen das Gesetz der nicht einvernehmlichen mentalen Vision

Verstoß gegen das Gesetz der mental forcierten Aktion,

Verstoß gegen das Gesetz zur Einflößung von Mana,

Verstoß gegen das Gesetz zur Resurrektion eines Mana-i.

Außerdem besteht der Verdacht auf Verstoß gegen das Gesetz zur Einnahme von Mana.

Meine Söhne und ich fordern eine Bestrafung, die der Schwere ihrer Vergehen gerecht wird.“

Dem kann Siva im ersten Moment nichts entgegen setzen, denn wie sie eben erst erfahren hat, muss sie wohl tatsächlich gegen diverse Gesetze verstoßen haben. Ramon stellt sich schützend vor seine Geliebte und verteidigt sie aufgebracht, wobei er versucht seinen Tonfall zu kontrollieren:

„Es ist nicht ihre Schuld, sondern meine. Bevor Ihr sie bestraft, müsst Ihr erst an mir vorbei.“

Doch Siva tritt aus seinen schützenden Schatten hervor, flüstert ihm zu:

„Ich brauche niemanden der mich beschützt, Ramon. Ich kann für mich selbst sprechen.“

und richtet ihr Wort ungebrochen laut an die Menge, nicht an Madlene:

„Auch wenn ich nicht wusste, dass ich Gesetze übertrete, ändert das nichts an dessen Tatsache. Ich bin es leid, dass Ramon versucht alles auf sich zu nehmen. Ich habe ihn zurück geholt, obwohl mir klar war, dass das ein unnatürlicher und wahrscheinlich unreiner Prozess ist. Ich habe alles notwendige getan, um ihn am Leben zu erhalten, das gebe ich zu. Damals stand ich noch außerhalb der Gesellschaft der Gotteskinder, doch da ich nun mitten unter euch lebe, fühle ich mich an eure Regeln gebunden. Doch bevor ihr mich verurteilt, denkt daran, dass erst er mich zu euch führte und dafür bin ich sehr dankbar. Ich fühlte mich verloren doch nun bin ich unter meinesgleichen. Bei euch bin endlich zu Hause. Vergebt einer einsamen Prinzessin ohne bösen Absichten, denn ich suchte nur nach Antworten und ihr habt sie mir gegeben. Das wahre Verbrechten steht jedoch trotzdem vor euch, doch bin nicht ich es, sondern Prias, den ihr für versuchten Vatermord anklagen solltet!“

Nun fixiert sie Ramons ältesten Sohn Prias, der gerade noch von seinen beiden Brüdern zurück gehalten wird, als er versucht auf Siva los zu gehen. Die Rede der Prinzessin hat großen Eindruck bei den Menschen hinterlassen, die gewillt wären sich hinter sie zu stellen, würden ihr die Vorbehalte gegen Ramon nicht entgegen stehen.

Madlene versucht Prias‘ Ausbruch zu verbergen und Klatscht laut applaudierend in die Hände .

„Charmant formuliert, Prinzessin. Bei Euch muss man wirklich aufpassen, dass Ihr nicht in die Köpfe der Menschen eindringt und sie nach Eurer Pfeife tanzen lasst, so wie Ihr es bei meinem Sohn getan habt, nicht wahr? Sagt, habt Ihr denn überhaupt eine Ahnung welche Strafen auf Eure Sünden stehen? Alles in allem bleibt bei Machtmissbrauch diesen Ausmaßes nur eine Exekution.“

„Nicht, solange ich Herrscherin über diese Gemeinschaft bin.“

schreitet nun endlich Atane ein, deren Aura auch die stärksten unter ihren Kindern erzittern lässt.

„Niemand bestraft oder tötet meine Enkelin für Vergehen, die keinerlei Schaden angerichtet haben. Es kümmert mich nicht welche privaten Fehden Ihr und Eure Söhne mit ihr auszufechten gedenkt, Madlene, doch versucht Ihr Hand an sie zu legen, verbanne ich Euch von meiner Zufluchtsstätte und nun geht alle in eure Häuser! Das Fest ist vorüber. Ich will keinen von euch mehr sehen oder hören.“

Dass dies keine leere Drohung war, sieht man der weiß glimmenden Aura Atanes an. Noch niemals, seit Gründung der Siedlung, haben ihre Bewohner ihre Göttin in solch einer Rage erlebt. Es dauert kaum eine Minute, bis alle, auch Madlene, Prias, Meran und Tandol in ihren Häusern verschwunden sind.

Ramon, der die wutgeladene Siva in das Rathaus begleitet, bedankt sich bei Atane für ihre Hilfe, doch sie entgegnet kalt:

„Hätten sie Euch gefordert, wäre ich vielleicht nicht eingeschritten, also spart Euch das.“

„Warum sagst du so etwas Atane?“

haucht Siva immer noch in hasserfüllten Gedanken verharrend. Die Göttin kann ihre Vorbehalte nicht weiter für sich behalten und erklärt emotionslos:

„Spürst du es denn nicht, Siva? Er ist kein Lebender mehr. Es ist totes Fleisch, das du mit deiner Lebenskraft erhältst. Ich glaube kaum jemand anderer als du wäre dazu überhaupt in der Lage. Eine Wiederbelebung so wie er sie sich vorgestellt haben muss, ist so unwahrscheinlich, dass ich nicht verstehe wie er daran glauben konnte.“

Er lächelt, denn er wusste schon von ihrer Abscheu vor ihm.

„Und doch stehe ich hier, verehrte Atane“

kontert er und sie schließt:

„Ja, und doch steht Ihr hier…“
 

Sie wendet sich ihrer Enkeltochter zu, die mit dieser Information nichts anzufangen weiß. Erst die Anklage vor aller Augen, die ihr Ansehen innerhalb dieser kleinen Gesellschaft nachhaltig beschädigen könnte und dann Atanes Kommentar zu Ramons Zustand, den er nicht einmal abstritt. Tausend Gedanken gehen ihr durch den Kopf, die ihr das Stellen einer konkreten Frage unmöglich machen.

„Geh bitte schon nach oben Siva, ich möchte mich kurz mit Ramon allein unterhalten.“

bittet Atane die offensichtlich tief in Gedanken versunkene junge Frau, die darauf eingeht. Sie muss sich ohnehin ordnen, um Ramon später die Informationen entlocken zu können, die für ihr Verständnis dringend nötig wären.

Als sie weg ist, schlägt Atane einen anderen Ton an.

„Es muss jetzt etwa vierhundert Jahre her sein, als Fuathel zu mir kam und mir erklärte er habe nach all den Jahrtausenden unter unseren Kindeskindern eines gefunden, das so sei wie unser erster Sohn. Er war außer sich vor Freude und meinte er habe großes mit ihm vor. Dann verschwand er und kehrte hundertfünfzig Jahre später mit den Resten unseres Volkes wieder zurück. Ihr wisst, dass ich von Euch spreche, Inarus. Fuathel hatte sich in Euch geirrt. Ihr seid nicht wie unser Sohn Tora, nicht einmal ein Schatten von ihm.“

„Das möchte ich auch gar nicht.“

entgegnet der Angegriffene ruhig, was Atane nicht zusagt. Ihre Provokation soll sein wahres Wesen hervorholen. Statt dessen zieht er es vor sie zu belehren, wo sie doch mehr als zehnmal so alt ist wie er. Ihre Stimme noch bedrohlicher als zuvor, als sie es erneut versucht.

„Ich mag es nicht wie Ihr mit Siva umgeht. Sie ist nicht Eure kleine Puppe. Nehmt Euch jede andere Frau aus der Siedlung, aber nicht sie!“

Ramon lächelt zärtlich, als die Sprache auf die Prinzessin fällt, was ihm seine Angreiferin anders auslegt. Sie glaubt nicht an die Aufrichtigkeit seiner Liebe und hat gelernt sprunghafte Männer wie ihn, denn dafür hält sie den Letzen König, zu verabscheuen. Dummerweise strahlt gerade das einen gewissen Reiz auf sie aus, was er an ihrem musternden Blick erkennt.

Diesen Trumph spielt er nun aus. Ramon geht einen Schritt auf die bedrohlich wirkende Frau zu, welche alle anderen als gottähnlich beschreiben, doch er fühlt sich inzwischen sicher, was ihn tiefenentspannt mit dunkler Stimmlage antworten lässt, die ihr schon beim letzen Mal imponierte:

„Schließt Ihr Euch mit ein, werte Atane? Was wenn ich daran interessiert wäre? Ich kann nur versuchen mir vorzustellen wie einsam Ihr gewesen sein müsst.“

„Wagt es nicht mir zu nahe zu kommen. Ich bin immer noch die Herrin dieser Zufluchtsstätte. Wenn Ihr mich berührt oder meiner Enkelin etwas antut, dann verbanne ich Euch von Ialana.“

faucht sie ertappt und eine weiß glimmende Aura umschließt sie, was Ramon inzwischen nicht mehr beeindruckt. Spätestens jetzt hat er festgestellt, dass sie überhaupt keine Fähigkeiten einsetzt, die ihm schaden könnten, deshalb macht er sich nicht mehr die Mühe sich ihr beugen. Sie scheint nicht weiter zu sein als ein unsterblicher Mensch. Sollte sie widererwarten doch eine Angriffstechnik beherrschen, wird er dieser schon ausweichen können. Er hält sich mindestens für ebenbürtig.

„Nur zu, verbannt mich! Eure Drohung bedeutet mir nichts, denn die Prinzessin würde mir überall hin folgen. Sie hat sich schon einmal gegen ihre Familie und für mich entschieden und sie würde es wieder tun.“

„Ihr seid so von Euch überzeugt, Ramon. Ihr solltet auf der Hut sein!“ droht sie erneut, was ihn wenig beeindruckt.

„Wovor sollte ich mich noch fürchten? Fuathel sieht einen Sohn in mir. Solange ich Euch nicht angreife, wird er nicht tätig und Ihr könnt mir nichts anhaben außer einer Verbannung, die mich kaum berührt. Doch trotz allem bitte ich Euch nur um eine Sache- Urteilt nicht so hart über mich. Ich wünsche ich mir einfach nur ein ruhiges Leben mit der Frau, die ich liebe. Das ist alles. Ich möchte mich nun empfehlen. Die Prinzessin hat meine Gesellschaft gerade nötiger als Ihr.“
 

Ramon hat nicht den Hauch einer Vorstellung davon welche Fähigkeiten neben dem Erkennen des Lebensflusses noch in der Urmutter Atane schlummern könnten und hat es darauf ankommen lassen. In den letzten beiden Tagen hat er jedoch schon herausfinden können, was sie nicht beherrscht. Sie ist weder fähig in seine, noch die Gedanken irgendeines anderen der Gotteskinder zu blicken oder sie zu manipulieren, auch wenn ihr spiritueller Einfluss auf sie sehr groß sein mag. Dazu kommt, dass sie sich nicht mit Welt außerhalb der Insel auskennt und eine miserabel organisierte Anführerin ist, die ihr Volk verkommen lässt. Als Letzter König, der fast vierhundert Jahre herrschte, hat er deutlich mehr Erfahrung mit dem Volk ebendieser Herrschaftsperiode, denn er führte es länger als Atane, die ihre Kinder des Windes erst seit 225 Jahren beherbergt.

Vor dem Windgott fürchtet Ramon sich schon eher, denn von ihm weiß er, dass er fähig ist den Geist jedes seiner Kinder augenblicklich zu zerreißen, wenn es ihm unangenehm wird, es zum Beispiel seine Frau Atane angreifen würde. Doch nun wo Ramon weiß, dass Fuathel ihn als eine Art leiblichen Sohn betrachtet, fürchtet er ihn deutlich weniger. Vielleicht sollte der frühere König seiner Urmutter dafür danken, dass sie ihm dies verraten hat.

Zufrieden mit sich geht er hinauf zu seiner geliebten Prinzessin, der wilden Schönheit, die seinem bisher so düsteren Leben einen neuen Sinn verleiht.
 

Ramon findet Siva im Dunkeln stehend vor dem kleinen Fenster vor, das sie geöffnet hat, um auf die kleine Siedlung hinaus zu sehen. Die Fackeln wurden alle gelöscht und sie betrachtet die wenigen schemenhaften Häuser im Licht des Halbmondes. Das ist alles was vom einst so mächtigen Volk der Mana-i übrig geblieben ist, denkt sie. Langsam dreht sie sich zum Verursacher dieser Katastrophe um, der wohl zurecht als König des Untergangs bezeichnet wird. Sein um sie besorgtes Gesicht bemerkt sie aufgrund der Dunkelheit nicht.

„Warum…,“

fragt sie,

„Warum habt Ihr mir eigentlich von der weißen Mondlilie erzählt, wenn Ihr der Überzeugung seid, ich würde Euch sowieso nicht verstehen können?“

Lächelnd geht Ramon auf die junge verunsicherte Frau zu, stellt sich hinter sie, wie er es gern tut und schaut mit ihr gemeinsam ins Dunkel der Nacht.

„Um sie unvergessen zu machen, Prinzessin. Ich wusste heute Morgen nicht, ob ich den Tag überstehe, aber die Erinnerung an Quinya soll überdauern.“

„Wieso habt Ihr mir dann keine Bilder von ihr gezeigt? Sicher würde ich Euch dann besser verstehen.“

wundert sich Siva. Ramon streicht ihr sanft durch ihr seidenes, welliges Haar, als er ihr völlig vorwurfsfrei antwortet:

„Das hätte ich, doch Euer Geist blieb mir verschlossen. Ein weiteres Zeichen dafür, dass Ihr mir noch immer nicht vertraut.“

„Was meinte Atane damit, als sie sagte Ihr wärt kein Lebender mehr? Ihr atmet, Ihr esst, Ihr schlaft wie ein normaler Mensch.“

bestätigt Siva seine Vermutung. So genau weiß er das alles auch nicht, denn er ist der erste und einzige, bei dem die Prozedur jemals geglückt ist.

„Meine eigene Regenerations- und wahrscheinlich auch Reproduktionsfähigkeit sind nicht wieder zurück gekehrt. Ich benötige Kraft aus anderen Quellen. Eurem reinen Blut und der Macht der Siegel habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt hier bei Euch stehe. Amrea führte verbotene Forschungen an der Resurrektion von Mana-i durch. Von ihr erhielt ich dieses unvollständige Wissen. Nach meinem Tod fand sie anscheinend einen besseren Weg uns zurück zu holen und wendete ihn bei Eurem Vater an. Siva, ich möchte Euch die ganze Geschichte erzählen und nicht nur Abschnitte daraus, doch zuvor wünsche ich mir noch eine Antwort auf meine Frage zu erhalten, die ich Euch heute Morgen stellte.“

„Eure Frage…“ stammelt Siva nachdenklich.

„Warum seid ihr wirklich bei mir?“

wiederholt er darauf mit tiefer Stimmlage, was sie noch immer nicht beantworten will. Es nervt sie langsam ständig von ihm bedrängt zu werden. Während sie sich nun endlich zu ihm umdreht, faucht sie statt dessen:

„Ich legte meine Gründe bereits offen, als ich mich von Aiven verabschiedete. Seid Ihr so ein Narzisst, dass ich mich wiederholen muss?“

„Wieder einmal seid Ihr grausam zu mir, meine Liebste.“

trauert er, doch sie funkelt ihn hart an.

„Ihr werdet schon wieder pathetisch und Ihr wisst was ich davon halte. Warum begnügt Ihr Euch nicht mit dem was ich euch gebe, statt immer nur etwas zu wünschen, dass ich Euch sage?“
 

Ramon entfernt sich etwas von seiner Verlobten. Er verliert langsam den Glauben daran den magischen Satz irgendwann einmal von ihr zu hören, den er so begehrt. Vielleicht sagt sie ihn aber auch nicht, weil sie diese Empfindung für ihn ganz schlicht nicht hat. Sollten es wirklich nur körperliches Verlangen und Angst vor der Einsamkeit sein, die sie an ihn binden? Das war es was sie dem Prinzen Aiven gegenüber als Gründe anführte. Seine Gefühle für sie sind so intensiv, dass er den ganzen Tag über nichts anderes reden könnte, doch schon der kleinste Satz darüber, scheint bereits Unbehagen bei Siva auszulösen. Wenn er wirklich so weise wäre, wie er es von sich selbst geglaubt hat, wieso gibt ihm seine eigene Geliebte dann so große Rätsel auf?

Die Prinzessin reißt ihn aus seinen melancholischen Gedanken, als sie leise, kaum hörbar, dafür aber fast vorwurfsvoll, fragt:

„Wer ist Euer Vater, der Uralte, von dem Ihr spracht? Sind wir …sind wir nah verwandt?“

Diese Frage bringt ihn dazu sich Siva wieder anzunähern und seine Arme um sie zu legen. Er hat Hoffnung, dass sie nur noch zu unsicher sein könnte und sich deshalb verbal nicht ausdrücken möchte. Eine Antwort erwartend, drückt sie ihren Oberkörper von ihm weg.

„Sorgt Euch nicht, es liegen viele Generationen zwischen uns.“

antwortet er ernst, bevor er sich für einem Kuss zu ihr beugt, doch kurz bevor sich ihre Lippen berühren, beißt er sich auf die Zunge, weshalb sich die junge Prinzessin nun erneut von ihm wegdrückt und das Gesicht abwendet.

„Ich weiß jetzt, dass das verboten ist, Ramon und ich verstehe auch wieso. Es ist eine bequeme Abkürzung für Euch. Ich bin doch nicht Euer Liebesspielzeug!“

Nun entlässt der Zurückgewiesene die aufmüpfige Prinzessin vollständig aus seinem Griff. Noch nie in seinem Leben hat es ihm eine Frau, die ihn eigentlich mag, so schwer gemacht wie diese. Besiegt setzt er sich aufs Bett, atmet kurz durch, legt sich danach hin und sagt resigniert:

„Nun gut Siva, wenn Ihr schon weder mit mir schlafen, noch mir sonst etwas von Euch verraten wollt, dann erzähle ich eben weiter von mir.“

Leicht verstimmt über sein patriarchisches Verhalten, kommt sie dieser Anweisung nach. Das kommt dem was sie will deutlich näher, obwohl er sie vollständig missversteht. Wer sagt denn, dass sie nicht mit ihm schlafen wolle? Sie will nur keinen Blutkuss von ihm. Ohne den ratlosen Mann aufzuklären setzt sie sich neben ihn und er beginnt die Geschichte fortzusetzen.
 

„Zuletzt erzählte ich Euch vom Tod meiner ersten großen Liebe und davon wie sie mich und Madlene entzweite. Quinya wurde in Aranor in ihrer Familiengruft beigesetzt. Ich besuchte sie jedes Jahr. Damals begann ich übrigens meine Augen im Andenken an sie und als Zeichen meiner Trauer ebenso zu umranden wie sie es tat, aber das nur am Rande.

Meine Frau und ich lebten uns über die Jahre noch weiter auseinander. Wir sahen uns nur einmal im Monat zur Erneuerung - mit ihr ein unsäglicher Akt, doch ich konnte sie nicht sterben lassen. Sie war schließlich meine Gattin. Nach etwa fünfzig Ehejahren überflügelte ich sie mental und begann ihre Gedanken zu lesen, ohne dass sie mich daran hindern konnte. Sie trainierte sich an niemals an zwielichtige Dinge zu denken, wenn wir zusammen waren und sie war gut darin, doch ich merkte dass sie gegen mich intrigierte. Sie begann sich bei amtierenden Königsratsmitgliedern einzuschmeicheln, um ihre Position zu stärken. Trotz fehlendem eigenen Amtes, erreichte sie eine beachtliche Stellung bei König Andarian. Frivol und verschwenderisch lebte sie das dekadente Leben der Gotteskinder, welches sie nur ein paar Jahrzehnte zuvor noch zum Einsturz bringen wollte. Im Gegensatz zu mir, änderte sie also ihre Meinung über das Ziel meiner Regentschaft, weshalb sie versuchte mich umzustimmen. Oft redete sie stundenlang auf mich ein wie erhaben unser Volk doch sei. Wir wären geboren um zu herrschen, sagte sie. Ich fand es widerlich, wenngleich es auch auf mich zutraf. Ihre Meinungsänderung bestärkte mich nur noch mehr darin das Königreich zu revolutionieren.

Wie ihr wisst, Prinzessin, wurde ich im Jahr 4420 tera Nis mit achtundneunzig Jahren zum sechsundzwanzigsten König von Kalaß gekrönt. Anstatt die Königin wie üblich in den Rat zu berufen, löste ich diesen kurzerhand auf. Sie versuchte über andere Wege Einfluss auf meinen Regierungsstil zu nehmen, doch die Fähigkeit ihre und auch alle anderen Gedanken lesen zu können, machte mich über ihre Pläne erhaben. Wie zum Trotz wurde Madlene kurze Zeit darauf schwanger und gebar unseren ersten Sohn Prias. Ich sah ihn kaum und war ihm niemals ein Vater. Ich enthielt ihr die Regierungsgeschäfte vor, sie mir im Gegenzug meinen Sohn. Interessant wurde es allerdings erst, als ich die Verteilung der königlichen Finanzen an die selbsternannten Gottesskinder beschnitt und damit mein eigenes Volk zwang, mit ihrem Geld zu haushalten. Schon damals schimpften sie mich einen Despoten, dabei herrschte ich erst wenige Jahre. Mein hartes Vorgehen gegen das aus meiner Sicht verkommene Volk der Mana-i, löste große Unruhen in den Reihen des Adels aus, doch keiner unter ihnen war mächtig genug es allein mit mir aufzunehmen. Zum meinem Vorteil gelangte zudem, dass sie sich auch untereinander uneins waren wie vorzugehen sei und das hinderte sie an Anschlägen die mir gefährlich werden konnten. Als Kronprinz Prias volljährig wurde, heiratete er die ein Jahr ältere, aber schon für ihre Klugheit bekannte Amrea. Mit ihr vertrug ich mich ausgesprochen gut. Sie hielt mich damals für die Reinkarnation des ersten Königs Torani-Colian, von dem sie auch in jungen Jahre schon besessen war. Ich versicherte mir damals sie hätte lieber mich geheiratet, als meinen Sohn, den sie insgeheim für unwürdig hielt den Thron zu besteigen. Natürlich sagte sie das niemandem, auch mir nicht. Die Jahre verstrichen und der Adel gewöhnte sich an mich. Man glaubte mich ohnehin bald los zu sein, denn meine hundertjährige Herrschaftsperiode sollte bald enden. Ich sah es jedoch als meine Pflicht an zu verhindern, dass mein Sohn Prias als siebenundzwanzigster König von Kalaß eingesetzt werden konnte. Ich reformierte deshalb kurzerhand das vom Ersten König erlassene sogenannte Gesetz der Hektodenkrönung und wurde zum Ewigen König.

Nur wenige Jahre danach bekam Madlene zwei weitere Söhne, um die ich mich versuchte stärker zu bemühen und ich hatte zunächst Erfolg. Meran und Tandol verstanden meine Ideale und wären bereit gewesen sie zu unterstützen, doch Madlene verhinderte eine Heirat beider Söhne, indem sie selbst diffamierende Gerüchte über sie streute und damit ihr eigenes Fleisch und Blut in Verruf brachte. Sie verweigerte es die Erneuerung mit mir durchzuführen, weil sie dachte mir damit schaden zu können. Die dumme Gans wusste damals nicht, dass ich der letzte wahrhaftig Unsterbliche war. Selbst sicherte sie ihr Überleben mit Hilfe unserer Söhne ab. Eine widerliche Tat, die ich weder ihr noch Meran oder Tandol jemals verzeihen können werde. Der Ruf meiner Familie war zerstört und meine Politik traf in eigenen Reihen auf keinerlei Unterstützung. Ich flüchtete mich aus der Einsamkeit und der Missgunst der Mana-i in die Gesellschaft der Rae, denn das gemeine Volk von Kalaß liebte mich als König. Das war auch kein Wunder, denn die vielen freigewordenen Ressourcen verwendete ich zum Auf- und Ausbau des Königreiches, das dadurch immer mächtiger wurde. Der Wohlstand wuchs und mit ihm die Popularität des Ewigen Königs.

Schon immer war das Volk der Rae meine Stütze im Kampf gegen die Mana-i gewesen. Ich will ehrlich zu Euch sein, Siva. Frauen, die mir nichts bedeuteten kamen und gingen. Sie spendeten mir ein wenig Trost, doch wenn ich das Gefühl hatte eine käme mir zu nah, schickte ich sie fort. Ich wollte nicht noch einmal so etwas durchleben müssen wie bei meiner weißen Mondlilie. Meine Mutter verbot diese Art von Verschwendung menschlicher Gefühle als ich jung war, doch ich konnte nicht anders als dagegen zu verstoßen. Als ein vom Volk geliebter König war nichts leichter als Frauenherzen zu gewinnen und sie zu brechen. Das verschaffte mir mehr als einhundert Jahre lang Befriedigung, doch auch diese Phase endete irgendwann einmal. Ich erinnerte mich an meine Wurzeln und die Worte meiner Mutter verfolgten mich, deshalb versuchte ich meine Taten den Göttern zu beichten. Irgendwann betete ich regelmäßig zu ihnen. Ich glaubte die ausbleibende Antwort sei ihre Strafe, deshalb betete ich weiter, bis ich nach etwa fünfzig Jahren bei einem Gebet zu Ahanani, der Erdgöttin, endlich erhört wurde.

Was dann passierte erzähle ich Euch heute Nacht nicht mehr, Prinzessin. Wir sollten uns ausruhen. Morgen geben wir alle Utensilien in Auftrag, die wir für die Jagt und den Fischfang benötigen.“

Siva hatte sich inzwischen entspannt nach hinten gelehnt, um Ramons Geschichte besser folgen zu können. Den Erlebnissen dieses erfahreneren Mannes zu lauschen, hat sie an den Abenteuerabend mit ihrem Vater erinnert, an dem er ihr die wundersamsten Dinge erzählte. Der plötzliche Abbruch lässt sie wie eine Retourkutsche von ihm, unbefriedigt zurück, weshalb sie sich empört aufsetzt und schimpft:

„Ihr brecht hier einfach ab, wo es doch gerade so interessant wird?“

Wie geplant hat er sie nun wieder in der Hand. Verschmitzt lächelnd kontert er:

„Ihr habt mich ebenfalls absterben lassen, als es für mich interessant wurde.“

Ob er damit den verwehrten Liebesschwur oder die körperliche Zurückweisung meint, lässt er absichtlich offen. Sie rutscht an ihn heran und fährt mit ihrem Zeigefinger über seine linke Brust. Sein Geschmeide schiebt sie dabei sanft bei Seite.

„Ihr sagtet Ihr habt Frauenherzen gebrochen? Seid Ihr sicher, dass nicht jede einzelne von ihnen ein Stück Eures Herzens brach, Ramon? Wie wäre es, wenn ich aus Rache für all diese Frauen Eures in tausend kleine Teile zerspringen lassen würde?“

An sich herab auf ihren schmalen Finger schauend, der bedrohlich kreisende Bahnen um sein Herz herum zieht, antwortet er:

„Ich hätte es wahrscheinlich verdient.“

Danach packt er ihre Hand und lehnt sich zu ihr nach oben, um einen zweiten Versuch zu unternehmen sie zu küssen. Zwar zuckt sie zunächst etwas zurück, doch dann gibt sie seiner Forderung nach. Dies ist der erste Kuss, den sie von ihm erlebt, ohne direkt in einen Rauschzustand zu verfallen. Ein Kribbeln durchfährt ihren Körper, welches sie als sehr angenehm und entspannend empfindet. Der Kuss, Ramons Lippen, alles fühlt sich für sie ganz anders an, wundervoll sogar und unterscheidet sich immens von den wollüstigen Blutküssen, die sie sonst von ihm kennt. Sie spürt etwas neues in ihrer Brust und fragt sich was das sein könnte. Erfüllt von einem Gefühl der Glückseligkeit sinkt sie auf ihm zusammen.

Sie hört sein Herz schlagen und denkt wieder an die Worte Atanes. Er sei kein Lebender, meinte sie. Soll sie erst einmal seine weichen Lippen küssen und dann auf seine warme Brust sinken, unter der sein schneller Herzschlag unaufhörlich pocht. Ein bisschen eifersüchtig würde es die junge Prinzessin zwar schon machen, doch es würde aus ihrer Sicht einer guten Sache dienen und endlich Atanes störende und vollkommen irrationale Vorurteile auflösen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück