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Der Schatten in mir

von

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Keine Wahl

Chandra hatte gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem ihr altes Leben sie einholte, aber als es dann so weit war, war sie dennoch nicht darauf vorbereitet.

Dabei hatte der Morgen so harmlos angefangen.

Nach dem Aufwachen hatte sie, wie fast jedes Mal, Zayns Zimmer verlassen, als er noch geschlafen hatte. Sie verbrachten mittlerweile eigentlich jede Nacht miteinander, aber morgens wollte sie immer schnellstmöglich gehen. Meist glückte das auch, denn Zayn schlief so gut wie immer länger als sie und sowieso wie ein Stein. Er hatte ihr frühmorgendliches Verschwinden noch nie angesprochen, aber sie hatte ihm schon ansehen können, dass es ihm missfiel, zwar zusammen einzuschlafen, jedoch nur selten gemeinsam aufzuwachen. Aber sie konnte das nicht, etwas in ihr sträubte sich dagegen. Sie waren kein Paar, und er sollte nicht anfangen, das zu glauben, wenn er morgens aufwachte und sie eng an sich gekuschelt vorfand.

Doch nach einer Dusche und einem schnellen Frühstück hatte sie zurückkommen müssen, um erneut Make-up auf sein Gesicht zu zaubern. Immerhin hatte er ihr versprochen, mit seiner Mutter zu sprechen, und es erleichterte sie, dass er das so schnell im Angriff nehmen wollte. Am Vorabend war er so bedrückt gewesen wegen ihres Streits. Es war ihr zwar gelungen, ihn wieder aufzumuntern, aber sie sah ihn ungern niedergeschlagen. Er hatte es nicht verdient, sich schlecht zu fühlen – nicht bei allem, was er für sie tat. Aber die Situation, in der sie sich befanden, gestattete es ihnen nicht unbedingt, frei über ihre Gefühle zu entscheiden.

Danach hatten sie sich wieder getrennt. Chandra hatte anschließend ihre Pokémon versorgt, wonach sie sich diesmal entschieden hatte, Sunny und Lunel draußen zu lassen. Ihr Plan war, in den Garten hinter dem Labor zu gehen und ihren Pokémon ein wenig Auslauf zu ermöglichen und vielleicht auch etwas Training. Nachdem sie den gestrigen Tag größtenteils nur im Bett verbracht hatte, erschien es ihr falsch, sich erneut ihrer Angst hinzugeben. Nicht dass die plötzlich verschwunden war – ganz im Gegenteil –, aber vom Nichtstun wurde es schließlich auch nicht besser.

Wenn sie doch nur gewusst hätte, dass es dafür längst zu spät war.

Gemeinsam mit ihren beiden Pokémon trat sie durch einen der unzähligen gemütlich eingerichteten Aufenthaltsräume des Labors hinaus auf die große Terrasse, an die der Garten anschloss. Sie legte die noch verschlossenen Pokébälle von Wablu und Flunkifer auf einen Tisch und überlegte.

Die Frage, welches der beiden sie in ein Training mit Sunny oder Lunel schicken sollte, war keine leichte. Seit Wablu dem Stahlpokémon einmal einen Pirsifriegel gestohlen hatte, waren die beiden auf Kriegsfuß, und wenn sie mit Wablu trainieren würde, bestand die Gefahr, sollte sie Flunkifer ebenfalls aus seinem Ball lassen, dass es Wablu abzulenken oder zu sabotieren versuchte. Andererseits wollte sie Flunkifer aber auch nicht in seinem Pokéball lassen – es war einfach zu oft dort drinnen, auch wenn es sich das meist selbst zuzuschreiben hatte.

Wenn sie jedoch mit Flunkifer trainierte, wäre dieses zu abgelenkt, um Wablu zu ärgern, und das Vogelpokémon wiederum war zu vernarrt in Chandra, als dass es riskieren würde, sie abermals zu verärgern. Also lief es wohl auf Flunkifer hinaus. Vielleicht würde es sich Chandra etwas mehr annähern, wenn es bemerkte, dass diese es, trotz all seiner Schwierigkeiten, nicht links liegen ließ. Entschlossen ergriff sie dessen Pokéball.

„Chandra!“

Sie schreckte auf und ließ die Kapsel gleich darauf wieder fallen. Schwungvoll drehte sie sich um. „Mensch, du hast mich total –“

Erschreckt. Das Wort blieb ihr im Hals stecken, als sie den entgeisterten Blick auf Vince‘ Gesicht sah. Das allein hätte im Grunde schon genügt, um ihr klar zu machen, dass etwas nicht stimmte, aber als sie sah, wer hinter ihm im Türrahmen stand, wurde ihr endgültig eiskalt. Jill stand neben Vince‘ Hundemon, in den Augen und auf den geröteten Wangen glänzten Tränen.

„Es ist …“ Vince rang sichtbar nach den passenden Worten, schloss den Mund, öffnete ihn wieder und fügte schließlich „… etwas passiert“ hinzu.

Chandra wurde aus ihrer Starre gerissen, als sie ein Fauchen neben sich wahrnahm. Sunny und Lunel kauerten mit gesträubtem Fell an ihrer Seite. Es war ein ungewohntes Bild, da sie es schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, aber kein fremdes: Sunnys Perle leuchtete in einem hellen Rubinrot und Lunels gelbe Streifen und Ringe hatten sich in eine deutlich grellere Farbnuance verwandelt.

Ihr war bereits, nachdem sie die beiden aus ihren Pokébällen geholt hatte, aufgefallen, dass sie heute nervöser schienen als sonst. Sie hatten keinen sonderlich großen Appetit gehabt. Aber Chandra hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Ihre Pokémon waren nun einmal sehr empathisch, daher war es nicht ungewöhnlich, dass sich Chandras allgemein eher angespannte Stimmung auf sie hätte übertragen können.

Sie war naiv geworden – und unvorsichtig, gerade weil es seit Wochen keinen Anlass mehr gegeben hatte, die Fähigkeiten ihrer Pokémon zu benutzen. Sunny und Lunel hatten ebenfalls keinen Grund gehabt, Misstrauen zu verspüren. Sie waren hier nur von netten Menschen umgeben gewesen.

Aber jetzt versetzte eine für Chandra noch unsichtbare Bedrohung ihre Körper in Nervosität und Rage. Und es gab nur eine Person, bei der ihre Reaktion so extrem ausfiel …

Derjenige musste gar nicht unmittelbar vor Ort sein. Vince‘ Blick sprach Bände, und vielleicht konnten Sunny und Lunel auch einfach Gedanken lesen – wer wusste das schon? Chandra würde es nicht ausschließen.

Sie presste Luft in ihre enger gewordene Brust und brachte ein einziges Wort hervor, kaum mehr als ein Hauch. „Ray?“

Es genügte. Vince nickte und fügte hinzu: „Du solltest lieber mitkommen.“

Mit ihm mitkommen – nicht mitgehen mit Ray. Aber es machte keinen Unterschied.

Er hatte sie gefunden. Es war egal, wie. Ihr Albtraum hatte sich bewahrheitet.

Sie kannte Ray. Er würde um nichts in der Welt ohne sie gehen, würde sie notfalls auch von hier fortschleifen.

Der Fluchtinstinkt kochte in ihr hoch. Sie wollte sich verstecken, so, wie sie das auch immer hatte tun wollen, wenn er sie zu Hause besucht hatte. Aber das war ihr jetzt genauso wenig vergönnt wie damals. Er würde sie überall finden.

Und schlimmer noch – sie hatte ihn direkt hierhergeführt, hatte alle in Gefahr gebracht. Wenn jemandem etwas zustoßen würde, war das ihre Schuld.

Das war gewiss keine neue Erkenntnis, doch sie war nun mal feige gewesen. Es war einfach gewesen, für ein paar Wochen so zu tun, als könnte sie ein anderes Leben führen – als hätte sie diese Freiheit verdient.

Nun hatte ihr altes Leben sie wieder eingeholt. In diesem Leben gab es nur die Freiheit, die Ray ihr zugestand. Ab sofort vermutlich keine mehr.

Sie zwängte die nächsten Worte an dem Schmerz in ihrer Kehle vorbei und unterdrückte mit aller Macht den Tränenreiz, als sie Vince ansah. Wenn er hier war, dann … „Wo ist Zayn?“

„Ich weiß es nicht.“

Kurz stand die Zeit still, dann schob sie sich durch die Tür und lief los. Sie hörte Vince hinter sich.

Als sie durch das Labor nach vorne eilten – wobei Chandras Bauch vor Angst schmerzte –, setzte er sie über die kürzlichen Geschehnisse in Kenntnis.

„Und dann … sind sie einfach fortgeflogen?“, hakte sie nach.

„Ich hätte versucht, ihn aufzuhalten, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber du kennst ja Zayn. Er macht immer, was er will, und ich konnte Jill nicht aus den Augen lassen“, erwiderte Vince.

„Schon gut.“ Sie machte ihm keinen Vorwurf – das konnte sie auch gar nicht. „Was hatten sie vor? Konntest du das hören?“

„Nicht alles, aber er … wollte einen Pokémonkampf. Wenn er verliert, würde er gehen. Hat er zumindest behauptet.“

Diese Worte lösten unwillkürlich ein Prusten in Chandra aus. Na klar, Ray und gehen, um nicht zu sagen: verzichten. Als ob! Er hatte doch nicht den weiten Weg bis hierher auf sich genommen, um sich dann so leicht wieder vertreiben zu lassen. Zayn musste das mit Sicherheit klar gewesen sein. Allerdings unterschätzte er Ray, hatte es von Anfang an getan und tat es noch immer. Nach heute vielleicht nicht mehr. Womöglich niemals mehr.

„So tickt Ray nicht. Wenn ihm etwas im Weg ist, beseitigt er es. Oder denjenigen.“

Sie spürte Vince‘ Unbehagen, als sie gemeinsam draußen ankamen. Eine nahezu unheimliche Stille bedeckte den leeren Vorplatz, und in Verbindung mit dem azurblauen Himmel schien es, als könnte nichts diesen Tag trüben. Doch es war zu ruhig, zu schön.

Was sollte sie tun? Zayn war irgendwo da draußen und riskierte sein Leben für sie. Sie konnte nicht tatenlos hier herumstehen. Aber sie besaß kein Pokémon, auf dem sie die Verfolgung hätte aufnehmen können. Blindlings in den Wald zu rennen war ebenfalls keine gute Idee. Sie würde sich verlaufen oder Ray direkt in die Arme. Womöglich würde es ohnehin darauf hinauslaufen. Zwar zweifelte sie nicht an Zayns Fähigkeiten als Trainer, auch nicht an seinem Talent und seiner Hingabe, und in einem anderen Moment hätte es ihr sicher einmal mehr geschmeichelt, was er für sie tat, aber noch weniger Zweifel empfand sie bezüglich der Skrupellosigkeit ihres Bruders. Die Liste seiner Schandtaten war gefühlt unendlich und Zayn kannte vielleicht gerade mal eine Handvoll davon.

„Was ist hier los? Hey, alles in Ordnung?“

Chandra schreckte auf aus ihrem Gedankenkarussell. Hinter ihnen war Alyssa aus dem Labor gekommen. Ihre Worten waren an Jill gerichtet gewesen, doch die biss sich nur auf die Unterlippe und unterdrückte erneute Tränen. Wie viel sie auch mitbekommen hatte, sie wusste zumindest, dass hier etwas absolut nicht in Ordnung war.

Alyssas Blick fiel auf Vince. „Was geht hier vor sich?“, fragte sie argwöhnisch.

Doch statt ihr zu antworten, wandte er das Gesicht nur gen Himmel, Sorge erfüllte das tiefe Braun seiner Augen.

„Mein Bruder ist hier“, antwortete Chandra. Sie hatte einfach gesprochen, ohne groß darüber nachzudenken. Nun war es ohnehin egal. Er war hier – und mit diesen Worten wurde sie sich dieses Umstandes erst so richtig bewusst, das Grauen dessen sickerte tief in ihr Bewusstsein. Sie starrte ohne bestimmtes Ziel vor sich hin.

„Dein Bruder? Zayn meinte mal, du hättest ein schlechtes Verhältnis zu deiner Familie.“

„Da hat er aber gut untertrieben.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen. Mit verschwommenen Blick sah sie hinab zu ihren Pokémon, die ihr gefolgt waren und sich nun nervös an ihre Beine pressten. Ray war nicht in unmittelbarer Nähe und dennoch spürten sie den Sturm, bevor sie ihn sah.

Psiana und Nachtara würden sich für sie in den Kampf stürzen, aber es käme einem Selbstmordkommando gleich, die beiden zwischen Chandra und Rays Cryptopokémon zu schicken, also griff sie wie ferngesteuert nach ihren Pokébällen. Sie schenkte den überraschten Reaktionen der beiden keine Beachtung und rief sie zurück. Es mochte ein Eingeständnis ihrer Niederlage sein, aber manchmal war es einfach sinnlos, zu kämpfen.

„Es tut mir leid. Meine Anwesenheit hier hat euch alle in Gefahr gebracht“, brachte sie hervor. „Das wollte ich nicht. Wenn Zayn etwas zustößt, ist das meine Schuld …“

Bevor Vince etwas sagen konnte, kam Alyssa ihm zuvor. „Was ist mit Zayn? Wo ist er überhaupt?“, verlangte sie zu wissen.

„Ich weiß es nicht.“

„Was heißt das – du weißt es nicht? Bei Arceus, was ist passiert, während ich gelernt habe? Und warum sieht Jill aus, als hätte sie einen Geist gesehen?“ Leichte Hysterie unterwanderte Alyssas Stimme, und sie trat dichter an Chandra. „Wo ist er?“

„Wir wissen es nicht, okay?“ Vince schob Alyssa auf Abstand, als er den betroffenen Ausdruck in Chandras Gesicht sah. Das Letzte, was sie nun gebrauchen konnte, war eine aufgebrachte Alyssa, die sie noch darin bestätigte, dass sie an allem schuld war. Auch wenn es die Wahrheit war. „Zayn mag es dir nicht erzählt haben, aber Chandras Bruder ist nicht gerade jemand von der umgänglichen Sorte. Die beiden sind über den Wald geflogen und seitdem weiß ich genauso viel wie ihr.“

Alyssa legte bestürzt die Hände auf die Brust. „Oh mein Gott. Und …“ Sie sah zu Chandra. „Und ist dein Bruder wirklich so schlimm?“

„Sagen wir einfach, er ist sehr von sich überzeugt und nicht gerade zimperlich.“ Mehr brachte Chandra nicht heraus, zu stark wog die Angst vor dem Kommenden.

„Himmel, hoffentlich ist ihm nichts passiert. Wieso muss er auch immer den Helden spielen …“ Alyssa sprach mehr zu sich selbst und sah betroffen auf den Boden.

Dass sie anderen die Sorge um Zayn aufbürdete, Menschen, die ihn viel länger und besser kannten und für die sein Verlust vermutlich tausendmal schlimmer wäre, verstärkte das Gefühl der Schuld in Chandra. Er wäre egoistisch, ihre eigenen Ängste um ihn in den Mittelpunkt zu stellen, immerhin war sie es doch, die das alles zu verantworten hatte!

„Hey, gib dir nicht die Schuld daran“, sprach Vince, als hätte er ihre Gedanken gelesen, während es in Wahrheit wohl nur ihr Gesichtsausdruck gewesen war. Er legte ihr die Hände auf die Schultern, sein eigener Blick so ernst wie nur selten. „Du kannst nichts dafür, klar? Du kannst nichts für den kranken Scheiß, den dein kranker Bruder verzapft, und Zayn kann man sowieso nicht aufhalten, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Außerdem ist er ein verdammt guter Trainer, vielleicht kommt er gleich zurück und gibt mal wieder damit an, wie gut er ist.“

„Ja, vielleicht.“ Mehr brachte Chandra nicht an dem Klos in ihrem Hals vorbei. Sie konnte es nun nicht gebrauchen, sich an Vince‘ Schulter auszuheulen.

Dessen Worte hatten immerhin einen winzigen Funken Hoffnung in ihr entfacht. Eventuell bestand ja doch die Möglichkeit, dass Zayn gleich unversehrt vor ihr stehen und ihr versichern würde, dass der Albtraum vorbei war.

Also taten sie das einzig Mögliche für den Moment. Sie warteten. Alyssa tröstete Jill oder versuchte es zumindest. Jill selbst sagte überhaupt nichts, aber ihre Augen sprachen Bände. Sie schien mehr in Sorge zu sein als die anderen drei zusammen, und dabei kannte sie zum Glück nicht einmal das Ausmaß des Problems. Vince‘ Hundemon hatte sich die ganze Zeit über an ihrer Seite gehalten, ruhig, aber bereit, sich auf jeden zu stürzen, der Böses im Sinn hatte.

Chandras zartes Pflänzchen der Hoffnung erstarb bald daraufhin. Sie vermochte nicht auszumachen, wie lange sie dort gestanden hatten, aber alle ihre Muskeln spannten sich plötzlich an, als sie ein feines Sirren hörte, das durch die Luft zu ihren getragen und immer lauter wurde.

Ein ihr unbekanntes großes Pokémon tauchte über den Baumkronen auf und flog über den Platz. Sie kannte nicht alle von Rays Pokémon, aber das musste dann wohl das Libelldra aus Vince‘ Erzählung sein. Es wirkte normal, aber Chandra ließ sich nicht täuschen. Mit seinem Auftauchen verspürte sie umgehend einen Hauch von Verzweiflung und Dunkelheit.

„Vince, du musst mir etwas versprechen“, sagte sie, solange sie noch auf Abstand waren.

„Was?“

„Mach keine Dummheiten, ja? Begeh nicht den gleichen Fehler wie Zayn. Mach ihn nicht wütend und versuch nicht, das hier zu verhindern. Es bringt nichts.“

„Aber …“

„Nein, nichts aber. Du musst es mir versprechen. Sei am besten einfach still, bitte. Versprich es mir!“, forderte sie nachdrücklich.

„Okay“, erwiderte er zerknirscht, „ich verspreche es dir.“

Als sie wieder nach vorne sah, verkrampfte sich ihr Magen. Das Libelldra war auf dem Boden aufgesetzt und Ray von seinem Rücken gerutscht.

Er sah aus wie immer, das konnte sie sagen, obwohl sie noch mehrere Meter trennten. Seine Frisur saß perfekt und erweckte nicht den Eindruck, als käme er gerade aus einem Kampf in luftigen Höhen zurück.

Während er seinen Mantel glattstrich, glitt sein Blick zu Chandra. „Schwesterherz“, rief er ihr zu und seine laute Stimme überbrückte die Distanz mühelos.

Und sandte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. So nannte er sie nur, wenn er seine wahren Absichten hinter einen Mantel aus Nettigkeit verschleiern wollte.

Nettigkeit war bei Ray schon immer am schlimmsten gewesen. Man wusste nie, woran man bei ihm war. Ob er einem die Wange tätscheln oder zuschlagen würde – übertragen gesprochen, denn er hatte sie nie angerührt. Allerdings hatte sie es auch stets vermieden, ihn wirklich sauer zu machen.

Bis jetzt.

Es war ihr unmöglich, ihn einzuschätzen. Er hatte nun allen Grund, wütend zu sein …

Ihr war nicht entgangen, dass von Zayn weit und breit nichts zu sehen war. Es verlangte ihr einiges ab, angesichts dieser Tatsache nicht in Panik auszubrechen – doch es würde ihr nicht helfen und Ray womöglich noch mit Genugtuung erfüllen.

Also grub sie bloß die Fingernägel in die Handflächen und verharrte so, als Ray sich ihr langsam näherte. Libelldra blieb auf Abstand, worum sie heilfroh war. Im Moment vernahm sie seine Cryptoenergie nur unterschwellig, zu stark wiegte ihre Furcht, aber das konnte sich schnell ändern.

„Schön, dass du bereits hier bist. Das erspart mir die Mühe, dich erst suchen zu müssen“, sagte Ray und zeigte ein falsches Lächeln.

„Wo ist Zayn?“

„Nicht hier, wie du siehst.“

Eine dunkle Vorahnung beschlich sie. „Was hast du getan …?“

„Er ist nicht tot, falls du das wissen willst.“

Das beruhigte sie, wenngleich ‚nicht tot‘ nicht direkt ‚wohlauf‘ bedeutete. Und woher wusste er das so genau?

„Also, Chandra, wirst du ohne großes Aufsehen mitkommen, oder willst du es uns beiden schwer machen?“, fragte er freiheraus.

Was hatte sie für eine Wahl? Ray hatte Zayn mal eben aus dem Weg geräumt – schon mit ihm als Schutz hatte sie nie daran gezweifelt, dass sie eines Tages wieder zu ihrem Bruder zurückkehren würde, doch nun … Sie war auf sich allein gestellt, und sie konnte niemanden mehr mit hineinziehen. Zum Glück hielt sich Vince an ihrer Seite tatsächlich bedeckt, auch wenn sie seine Anspannung spürte.

„Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Was habe ich dir getan?“, fragte sie.

Ray hob die Augenbrauen. „Du bist abgehauen. Aber das meintest du vermutlich nicht. Ehrlich gesagt … gar nichts. Aber wir kleben nun mal aneinander, ob wir wollen oder nicht. Und es würde unserer Beziehung wirklich helfen, wenn du jetzt einfach mitkommen würdest. Ich will dir ungern wehtun müssen, und vielleicht stimmt es mich milde, wenn du mir keine unnötigen Scherereien machst. Nicht mehr als ohnehin schon.“

Es würde sich nie etwas ändern …

„Du tust niemandem hier etwas, wenn ich mit dir gehe, ja? Sie können nichts dafür.“

„Versprochen, Chandra.“ Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen, das Grinsen eines Siegers. „Du hast die Möglichkeit, ohne großes Theater mitzugehen, und niemandem muss etwas passieren. Vorausgesetzt, hier hat nicht noch jemand einen Hang zu selbstzerstörerischem Heldenmut.“ Die letzten Worte waren nicht an sie gerichtet. Rays graue Augen fielen auf Vince. „Wäre doch schade um dieses schöne Labor.“

Geistesgegenwärtig griff sie nach Vince‘ Handgelenk, als er im Begriff war, einen Schritt nach vorne zu tun. Sie konnte es ihm nicht verübeln, aber sie durften nichts riskieren. „Nein, nicht. Lass gut sein“, bat sie, bevor er etwas sagen oder tun konnte, das er hinterher bereuen würde. „Es ist okay.“

Er wandte sich zu ihr. „Das kannst du nicht tun. Zayn wird-“

Sie zog ihn ein Stück von Ray fort und bemerkte dabei, dass Alyssa, Jill und Hundemon wohl ins Innere des Labors verschwunden sein mussten. „Zayn ist nicht hier. Und er konnte das hier ebenso wenig verhindern, wie du es könntest. Es ist okay, ja? Aber du musst Zayn finden und dafür sorgen, dass er nichts Dummes macht.“ Und er sollte ihn besser schnell finden, denn wer wusste schon, in was für einem Zustand er war … „Versprich mir das. Pass auf ihn auf. Und ich … ich komme schon irgendwie klar.“

Vince sah aus, als verlangte sie das Unmögliche von ihm, und vermutlich war es auch so. Sie wussten beide sehr gut, dass Zayn sich nur sehr schwer etwas sagen ließ, aber sie musste jetzt darauf vertrauen, dass Vince sich um ihn kümmerte. Sonst hätte sie ihn nicht zurücklassen können, ohne innerlich verrückt zu werden.

„Na gut.“ Anschließend überrumpelte Vince sie damit, dass er sie in eine schnelle, aber feste Umarmung zog. „Ich kümmere mich um Zayn, und du passt auf dich auf. Halte durch.“

Sie gestattete es sich nur für einen kurzen Moment, die Umarmung zu erwidern, ehe sie sich von ihm löste und ein knappes Nicken zustande brachte. „Danke“, hauchte sie. Mit einem schwachen Lächeln wandte sie sich ab und ging zu Ray.

Als Chandra bei ihm ankam, stählte sie sich innerlich für das Kommende. Er wusste, dass er gewonnen hatte, und darum machte er kein Geheimnis, als er auf sie herabsah. „Scheint wohl doch noch ein bisschen Vernunft in deinem hübschen Köpfchen zu sein“, spottete er, nachdem er sich umgedreht hatte und mit ihr zu Libelldra lief. Er war so nett, es in seinen Ball zurückzurufen, und Chandra merkte erst, wie viel das Pokémon zu ihrer Anspannung beigetragen hatte, als es fort war.

Auf seine Worte sagte sie nichts. Im Moment war er, wie er sagte, milde gestimmt, und sie wollte das nicht ändern. Nicht jetzt.

Ray griff in seinen Mantel und zog sein Handy heraus. Wenig später hielt er es sich ans Ohr und als offensichtlich jemand am anderen Ende etwas sagte, meinte er nur: „Ja. Du kannst kommen.“

Chandra grub die Hände in die Taschen ihrer Jacke und warf einen letzten Blick hinüber zu Vince. Er würde Zayn finden. Zayn würde es gutgehen. Vince würde ihn daran hindern, sich wie ein Narr direkt an ihre Fersen zu heften. Und sie …

Sie würde zurück nach Pyritus gehen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich entschuldige mich vielmals für die lange Wartezeit! Einfach 'ne komische Zeit aktuell. Aber das nächste Kapitel ist schon fertig, also dauert's diesmal nicht ganz so lange. ;) Komplett anzeigen

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