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Crystal Eyes

reloaded
von

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Es war bereits Abend, als Adam aufwachte. Er fühlte sich komplett zerschlagen und in keinster Weise ausgeruht, doch er hatte wohl langsam aber sicher sein Schlafpensum ausgeschöpft. Müde warf er einen Blick auf sein Handy, das neben ihm auf einem Nachttischchen lag. Kurz vor Acht. Am nächsten Tag, wohlgemerkt. Nachdem er bei Leon angekommen war, hatte dieser ihm sein Zimmer gezeigt, ihm einen Tee gemacht und ihn dann ins Bett verfrachtet. Adam hatte seinen Tee noch nicht mal ganz ausgetrunken, da war er schon innerhalb kürzester Zeit eingeschlafen und, ja, jetzt erst wieder aufgewacht. Zumindest schien er ein bisschen gesünder zu sein. Sein Hals schmerzte nicht mehr so sehr, und das Fieber war, nach der ersten Bestandaufnahme zu urteilen, komplett verschwunden.
 

Gemächlich drehte er sich auf die Seite und sah sich im Zimmer um. Wie ihm Leon erklärt hatte, gehörte es zu den Gästezimmern und war dementsprechend auch nicht so edel eingerichtet wie Leons Schlafzimmer. Hatte er zumindest behauptet. Die feinen, dunkelblauen Vorhänge, der hellgraue Teppich und die eleganten, cremefarbenen Möbel widersprachen dem jedoch. Genauso wie die Kristallfigurinen, die auf den Regalen standen, der im Gegensatz zur Wohnzimmerausgabe kleine Flachbildfernseher und die Minibar mit der gläsernen Front, die sich in einer Ecke befand und zum Knabbern einlud. Den Gästen würde es hier jedenfalls an nichts fehlen. Von wegen, nicht luxuriös. Es wirkte wie ein Fünf-Sterne-Hotelzimmer.
 

Fast in Zeitlupe drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke. So langsam tat ihm sein ganzer Körper von dem langen Liegen weh. Ein bisschen Bewegung würde nicht schaden. Aber dafür musste er erst mal aufstehen. Und das benötigte wirklich seine gesamte Überwindung.
 

Einen Fuß nach dem anderen stellte er auf den warmen, weichen Teppich und richtete sich in Frankenstein-Manier auf. Er trug immer noch die Klamotten von gestern, zusätzlich noch eine Kompresse um den Hals, die scheinbar mit Alkohol getränkt war und von Leon stammen musste. Leicht angewidert schnüffelte er. Interessante Heilungsmaßnahmen, die der Herr da hatte. Ein wenig schwankend verließ er den Raum. Irgendwo hörte er Musik, und da es vermutlich der Ort war, wo sein heißgeliebter Gastgeber sich aufhielt, tapste er dort hin. Es war das Wohnzimmer.
 

Leon saß auf der Couch, hatte die Beine auf einen kleinen Hocker abgestützt und ein wenig angewinkelt, und auf seine Knie ein Buch gelegt, in dem er müßig las. Neben ihm stand eine kleine Schale mit Chips, von denen er immer wieder ein paar nahm. Seine feuchten Haare fielen ihm wie ein Wasserfall über eine Schulter, und das dünne Hemd, das er trug, war komplett aufgeknöpft.
 

Adam schluckte kurz, als er die nackte, braungebrannte Brust und den flachen Bauch sah. Seine Fantasie ging mit ihm durch, eindeutig. Und das schon kurz nach dem Aufstehen.
 

„Moin!“, meinte er lapidar und lehnte sich gegen den Türstock, immer noch ein bisschen schwächlich auf den Beinen.
 

Leon sah überrascht auf. Ein sanftes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Wohl eher, guten Abend. Hast du es auch endlich mal aus den Federn geschafft? Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.“ Mit einer graziösen Bewegung stand er auf, legte das Buch auf den Wohnzimmertisch und trat zu Adam, um ihm eine Hand auf die Stirn zu legen. „Nun, heiß bist du zumindest nicht mehr. Wie geht es deinem Hals?“
 

„Besser.“ Er deutete auf die Kompresse. „Was ist das für ein nettes Hausmittelchen?“
 

„Eine Wodkakompresse. Hilft gut bei Halsschmerzen und Husten. Hat Maria immer bei mir angewendet, wenn ich krank war, und es hilft auch ziemlich gut.“
 

Adam zog die Augenbrauen hoch. „Maria?“
 

„Die kennst du doch? Die Frau, die in dieser Kneipe arbeitet, in der wir nach dem Kino damals waren.“
 

„Ah, die. Ja, ja. Bin wohl noch nicht ganz wach.“ Er runzelte die Stirn. „Wieso hat sie sich um deine Krankheiten gekümmert?“
 

„Weil sie mein Kindermädchen war.“ Leon sah Adam skeptisch an. „Wie wär es, wenn du erst mal unter die Dusche steigst und ein bisschen wacher wirst? Du schläfst ja noch halb.“
 

Mit einem Nicken rieb sich Adam über die Augen. Er war doch noch nicht so fit, wie er eigentlich angenommen hatte. Und eine Dusche klang sehr verführerisch.
 

Vorsichtig nahm Leon ihm am Oberarm und führte ihn in das große Badezimmer, in dem Adam auch schon bei seinem allerersten Besuch gewesen war. Während Adam leicht neben sich stehend dort wie bestellt und nicht abgeholt wartete, wuselte Leon geschäftig um ihn herum, legte einige Handtücher raus, daneben einige warme Klamotten, Duschgel, Shampoo, Zahnbürste und -paste, drehte die Heizung noch ein wenig höher und wendete sich dann Adam zu.
 

„Sperr nicht ab. Nicht, dass du umkippst und ich dann nicht mehr reinkomme. Hilfe wirst du ja nicht brauchen, oder?“
 

Adam schüttelte nur leicht schockiert den Kopf. Leon, der ihm beim Duschen half? Bloß nicht!
 

„Gut, ich bin dann unten in der Küche. Du bist bestimmt hungrig. Was willst du essen?“
 

„Nichts, was man großartig kauen muss.“ Er räusperte sich kurz, um seinen belegten Hals freizubekommen. „Suppe vielleicht?“
 

„Okay, dann kriegst du Suppe. Komm runter, wenn du fertig bist.“
 

Mit einem leicht erstaunten Blick sah Adam Leon nach, als er den Raum verließ. In der Rolle als Krankenschwester schien sein arroganter Künstler voll und ganz aufzugehen, was ihn mehr als nur ein bisschen wunderte. Irgendwie hatte er es nie für möglich gehalten, dass er so fürsorglich sein konnte. Aber, wie er bereits öfter hatte feststellen müssen, die Facetten von Leons Charakter und Vorlieben waren äußert farbenprächtig und vielschichtig. Adam zweifelte jedoch daran, ob er jede einzelne von ihnen kennen lernen wollte. Da gab es bestimmt einige, die ihm nicht gefielen, wie er auch schon gestern in der Auseinandersetzung mit Muse festgestellt hatte. Er atmete kurz aus und lehnte sich zurück, sich auf den Händen abstützend und den Kopf nach hinten gelegt. Aber auch das waren Züge von Leon, die er liebte. Einfach, weil es zu ihm dazu gehörte, weil es ein Teil seines Farbenspektrums war. Es gab gute wie auch schlechte Seiten. Wie auch bei ihm selber. Er wusste nur noch nicht, was überwog.
 

Vorsichtig trat er unter die Dusche, um auf den warmen Fließen nicht aus Versehen auszurutschen, und stellte das Wasser an. Warm umhüllte es ihn, spülte den ganzen Schweiß und Dreck von seinem Körper runter, der sich seit gestern angesammelt hatte, genauso wie die elende Müdigkeit und Erschöpfung, die noch in seinen Knochen übrig geblieben war. Er hätte ewig einfach dran stehen und sich berieseln lassen können. Jetzt ein kuscheliges Bett, eine heiße Schokolade und er wäre glücklich.
 

Mit einem selbstironischen Lächeln trat er schließlich wieder nach draußen, zog sich an, kuschelte sich noch in den dicken Pullover, der anscheinend Leons war und den er ihm extra hingelegt hatte, und tappte nach unten in die Küche. Eine heiße Schokolade und ein kuscheliges Bett würde er bestimmt noch kriegen, aber da er gerade erst aufgestanden war, sollte er vielleicht zumindest so tun, als ob er auch vor hatte, etwas länger auf den Beinen zu bleiben. Immerhin würde er jetzt vorerst hier wohnen, da konnte er doch unmöglich die ganze Zeit verpennen.
 

Er blieb kurz in der Küchentür stehen. Leon deckte gerade leise summend den Tisch, passend zur Musik, die im Hintergrund lief. Er wirkte fast wie eine Hausfrau, die auf ihren Ehemann wartete, der bald von der Arbeit kommen würde. Anscheinend hatte er eine stark ausgeprägte Ader der Fürsorglichkeit und Familiarität. Adam musste lächeln. Es steckten tatsächlich noch zahlreiche Facetten in seinem geliebten Künstler.
 

„Bin fertig.“ Den Pullover enger um sich ziehend trat er zum Tisch. „Soll ich dir helfen?“
 

Leon sah kurz auf und schüttelte den Kopf. „Nein, setz sich lieber. Nicht, dass du mir noch umkippst.“
 

„So schwächlich bin ich auch nicht.“, meinte Adam leicht empört, tat aber trotzdem wie ihm geheißen.
 

„Das sagen sie alle und kippen einige Augenblicke mir nichts, dir nichts um.“ Er nahm sich zwei Teller, trat zum Herd und füllte eine Suppe ein. „Hier. Damit du auch mal was in den Magen kriegst. Ist nur ordinäre Nudelsuppe.“
 

Adam starrte auf den Teller. „Irgendwie hab ich gar keinen Hunger.“
 

„Das ist nicht mein Problem. Du brauchst was im Magen, du hast seit gestern nichts gegessen. So wirst du sonst ja nie gesund.“
 

„Du bist schlimmer als meine Großmutter!“
 

Mit einem sanften Lächeln setzte sich Leon ihm gegenüber hin. „Das hab ich mir von Maria abgeschaut. Sie ist die reinste Glucke und erbarmungslos, wenn es ums Essen geht.“
 

„Hätt' ich ihr nicht wirklich zugetraut.“
 

„Hm, man sieht es ihr nicht an, aber sie hat eine sehr mütterliche Seite. Und jetzt iss, sonst wird alles kalt.“
 

Es herrschte einvernehmliches Schweigen, während im Hintergrund weiterhin die Musik lief. Irgendwie war es richtig idyllisch, wie sie zu zweit am Tisch saßen, ohne großartig reden zu müssen, sondern in aller Ruhe ihre Suppe löffelten. Es wirkte wie Familie.
 

Adam verschluckte sich fast bei diesem Gedanken. Seine Fantasie schien gerade mächtig mit ihm durchzugehen. Er schielte von unten herab zu Leon, der gar nicht auf ihn zu achten schien und ungestört weiteraß. Es war ein mächtig angenehmes Gefühl, hier zu sitzen, mit ihm, dem Mann, den er liebte, zu wissen, dass er sich Sorgen um ihn machte, von ihm gehegt und gepflegt zu werden und gleichzeitig eine angenehme friedliche Zeit mit ihm zu verbringen. Er ließ seine Gedanken ein wenig schweifen. Wie würde es wohl aussehen, wenn sie tatsächlich mal zusammen wohnen würden? Rein realistisch gesehen, würde er sein Leben mit diesem Mann verbringen wollen und können? Sie würden sich häufig streiten, da war er sich sicher. Sie würden sich vielleicht sogar anschreien, zumindest er Leon, da ja Leon selbst im wütenden Zustand nicht dazu neigte, laut zu werden. Vielleicht würden sie sich aus Wut Tage lang anschweigen, aber letztenendes, einer von beiden würde dann den ersten Schritt machen und sich beim anderen entschuldigen. Sie würden miteinander reden, sich wieder versöhnen, bis zum nächsten Streit. Seltsamerweise war er sich sicher, dass sogar Leon ab und an den ersten Schritt machen würde, denn wie kalt und arrogant er auch nach außen hin teilweise wirkte, so hatte er unheimlich liebevolle Seiten an sich, die zeigten, dass er nicht nur auf sich bedacht war und durchaus verletzlich sein konnte. Verletzlich und sensibel.
 

Adam lächelte in sich hinein, immer noch über seinen Suppenteller gebeugt, so dass Leon es nicht sehen konnte. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er sehr gut daran getan, sich in diesen Mann zu verlieben. So viele Schmerzen und Zweifel er auch bei ihm hervorrief, so viele schöne Momente und wertvolle Erinnerungen hatte er ihm geschenkt. Egal, was noch passieren würde, er wollte diesen Mann haben, wollte ihn lieben und von ihm geliebt werden. Und selbst wenn es nicht leicht und am Ende vielleicht auch umsonst sein würde, er wollte es zumindest versucht haben.
 

„Was ist?“ Leon hob ein wenig den Kopf, eine Augenbraue leicht in die Höhe gezogen.
 

“Was soll sein?“, meinte Adam unschuldig und sehr erleichtert darüber, dass Leon noch keine Gedanken lesen konnte.
 

„Du schaust mich schon die ganze Zeit an. Hab ich was im Gesicht?“
 

„Mhm, nein. Ich hab mich nur gefragt, ob du nie krank wirst, wenn du schon mitten im Winter mit einem offenen Hemd rumläufst.“
 

Leon sah überrascht an sich hinunter. „Es ist warm im Haus. Stört es dich etwa?“
 

„Nein, es ist mir nur aufgefallen.“ Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte er sich zurück und schob den Teller von sich. „So, ich bin satt. Vielen Dank, hat gut geschmeckt.“
 

“Na, das freut mich aber.“
 

Der Künstler wirkte immer noch ein bisschen skeptisch. Anscheinend hatte ihn Adams Erklärung nicht wirklich zufriedengestellt, aber Adam würde sich eher in den Hintern beißen als ihm seine tatsächlichen Gedanken offen zu legen. Er wollte ihn zwar erobern, aber bestimmt nicht, indem er ihm seine Liebe quasi auf dem silbernen Tablett servierte.
 

„Hm... hast du Lust, einen Film anzuschauen?“ Leon stand auf und räumte den Tisch ab, während er Adam mit einem Blick bedeutete, ja sitzen zu bleiben. „Oder willst du wieder ins Bett?“
 

„Ich bin gerade erst aufgestanden. Wenn ich gleich wieder schlafen gehe, werde ich verlernen, wie es ist, wach zu sein.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Aber ja, gern. Was gibt’s zur Auswahl?“
 

„Geh hoch ins Wohnzimmer und such dir was aus. Ich mach noch schnell den Abwasch und komm gleich nach.“
 

Adam musste leicht grinsen. Er wäre ja zu gerne geblieben und hätte zugesehen, wie Leon sich als Hausfrau betätigte, aber der Film musste auch noch ausgesucht werden, weswegen er auch gleich nach oben ins Wohnzimmer tapste. Die DVDs waren fein säuberlich auf einem der Regale aufgereiht, und, wie er beim ersten Überfliegen feststellte, befanden sich dort Exemplare aus so ziemlich jedem Genre darunter. Leon schien ein ziemlicher Filmliebhaber zu sein, wenn man diese Sammlung betrachtete. Eine weitere Sache, die er bis jetzt nicht gewusst hatte.
 

Er wählte eine seichte Liebeskomödie aus, um seine noch kranken, grauen Zellen nicht allzu sehr zu strapazieren, schaltete den Fernseher an und schob die DVD ein. Kaum hatte er es sich auf der Couch bequem gemacht, kam auch schon Leon mit einem Tablett, auf dem sich ein Tee, eine heiße Schokolade und süßes Konfekt befand. Der perfekte Gastgeber, er dachte aber auch an alles.
 

„Du hast den noch nicht gesehen?“, fragte er, während er das Tablett auf dem Tisch abstellte und sich neben Adam niederließ.
 

„Nope. Wir können aber auch was anderes schauen, wenn er dir schon über ist.“
 

„Nein, schon in Ordnung. Es gibt keinen Film in meiner Sammlung, den ich nicht schon zig mal gesehen habe, von dem her ist es egal.“
 

„Du bist ein Filmfreak.“, meinte Adam neckisch und nahm sich ein wenig von dem Konfekt. Es war eine Praline, gefüllt mit Marzipan. Bestimmt verdammt teuer, aber auch verdammt lecker.
 

„Ich gebe es zu.“ Leon lachte kurz auf und drückte auf „Film starten“. „Ich kann ja nicht nur mit Malen beschäftigt sein.“
 

Adam lächelte nur und schwieg. Die Füße an sich gezogen, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf den Film, doch immer wieder schweiften seine Gedanken zu der Person ab, die direkt neben ihm saß. So nah, dass sie sich fast berührten. So nah. Er brauchte sich nur ein bisschen zur Seite fallen lassen und sein Kopf würde auf Leons Schulter landen. Normalerweise, wenn er mit seinen Eltern im Wohnzimmer saß, krank war und einen Film anschaute, nutzte er sie immer liebend gern als Kissenersatz und lehnte sich an sie. Aber das konnte er bei Leon wohl kaum bringen. Oder?
 

Er starrte mehrere Minuten lang einfach auf den Fernsehbildschirm, ohne die Handlung richtig zu verfolgen. Die Beine hatte er nah an seinen Körper gezogen und die Finger über den Füßen verschränkt. Sein Herz schlug ihm fast bis zum Hals. Aber gut, es brachte nichts, wenn er vor Nervosität halb umkam, Taten zählten. Also nahm er kurzerhand ein Kissen, legte es Leon auf den Schoß, was dieser mit einem überraschten Laut quittierte, und ließ sich mit dem Kopf darauf nieder. Die Beine an sich gezogen, fixierte er das Geschehen des Filmes und wartete ab, wie Leon reagieren würde.
 

Zuerst kam nichts. Er spürte nur die Wärme von Leons Körper, den typischen Geruch, den er verströmte. Eine angenehme, herbe Mischung aus Zigarettenrauch und Aftershave.
 

Dann, nahezu schon ein wenig zögerlich, spürte er seine Hand auf seinem Scheitel. Vorsichtig strich er durch die Haare, zupfte einige Strähnen zurecht und kraulte seine Kopfhaut. Adam war nach Schnurren zumute. Er fühlte sich auch fast wie eine Katze, die es sich auf dem Schoß ihres Besitzers bequem gemacht hatte. Genießerisch schloss er die Augen und drückte sich noch ein wenig näher an Leon. Es war ihm egal, was dieser vielleicht denken konnte. Anscheinend störte es ihn nicht, und deswegen würde Adam es auch ausnutzen, so gut es ging.
 

Langsam driftete er ab, ohne es zu merken. Die Müdigkeit nahm wieder von ihm Besitz, lullte ihn ein, zusammen mit der Hintergrundkulisse des Fernsehers und den Streicheleinheiten, die er bekam. Schließlich schlief er vollends ein, umhüllt von der Wärme des Zimmers und den Zärtlichkeiten Leons.
 

Erst am nächsten Tag wachte er wieder auf, mit dem Kissen unter dem Kopf und einer warmen Kuscheldecke über seinem Körper. Er lag immer noch auf der weichen, bequemen Couch. Anscheinend hatte Leon ihn einfach da liegen gelassen, um ihn nicht zu wecken. Durch die Fenster fiel das Tageslicht herein, es musste also Mittag oder früher Nachmittag sein. Immer noch ein bisschen schläfrig richtete er sich auf und sah sich um. Irgendwas hatte ihn geweckt, und erst, als er sich darauf konzentrierte, registrierte er das Geräusch eines Staubsaugers, das vom Erdgeschoss kam. Überrascht stand er auf und tappte nach unten. Sag bloß, Leon räumte auf? Irgendwie konnte er sich das so gar nicht vorstellen.
 

Unten traf er jedoch nicht auf Leon, sondern auf Maria, die gerade die Eingangshalle saugte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, drehte sich dann irgendwann um, um zu einer anderen Ecke des Raumes zu gehen, und zuckte zu Tode erschrocken zusammen. Für einige Augenblicke starrte sie ihn an, als ob er ein Zombie aus einer Gruft wäre, schaltete dann das Gerät ab und wackelte drohend mit dem Zeigefinger.
 

„Du aber auch! Wie kannst du eine alte Frau wie mich nur so erschrecken? Mein Herz wäre beinah stehen geblieben!“ Mit einem Lächeln trat sie zu ihm und wuschelte ihm durch die Haare. „Na ja, wenigstens bist du endlich aufgewacht, jetzt kann ich mir auch das Wohnzimmer vornehmen. Leon meinte ja, du solltest ausschlafen, aber ich hätte nicht gedacht, dass das so lange dauern würde.“
 

„Was... was machen Sie hier?“ Adam blinzelte verwirrt. Hausputz? Ne, oder?
 

„Na, nach was sieht’s denn aus? Aufräumen natürlich. Weißt du das denn nicht? Leon und ich räumen jeden Mittwoch das Haus auf. Irgendwer muss ja die Bude sauber kriegen, die Heinzelmännchen machen das definitiv nicht.“
 

„Sie und... Leon?“ Leon? Aufräumen???
 

„Ja, ich und Leon. Wer denn sonst? Der würd noch nie ne Putzfrau anstellen, tses. Und ich hab ihn schließlich auch dazu erzogen, seinen Kram selber in Ordnung zu halten.“ Sie tätschelte seinen Kopf. „Übrigens, du brauchst mich nicht Siezen. Da komm ich mir nur elendig alt vor. Ach, und Leon ist im Atelier, räumt gerade dort auf. Falls du ihn suchst.“
 

„Ich geh.. mich erst mal waschen.“
 

Immer noch ein bisschen neben sich stehend tappte er zu dem Gästezimmer, das Leon ihm zugewiesen hatte, nahm sich ein paar frische Klamotten, schlurfte dann ins Bad zurück und brachte sich in einen vernünftigen, ansehnlichen Zustand. Inzwischen hatte sich seine Müdigkeit komplett verabschiedet, er fühlte sich wieder gesund und tatkräftig. Einzig sein Hals schmerzte noch ein wenig, aber das würde im Laufe des Tages vermutlich auch vergehen. Der entspannende Schlaf und die stetig vorhandene Wärme hatten jedenfalls Wirkung gezeigt.
 

Etwas enthusiastischer gestimmt begab er sich zum Atelier. Einen Leon, der aufräumte, sah man bestimmt nicht alle Tage und sollte man deswegen wohl auch ausnutzen, wenn man die Gelegenheit dazu bekam, so ein Phänomen zu beobachten. Zwar hatte Maria gesagt, sie hatten jeden Mittwoch ihren Hausputz, aber Adam war schließlich auch nicht jeden Mittwoch anwesend.
 

Vorsichtig öffnete er die Tür und trat hinein. Leon wrang gerade einen Lappen über einem Eimer aus, wischte über einen der Tische, schien einen hartnäckigen Fleck entdeckt zu haben und rubbelte mit konzentrierter Miene etwas fester drüber. Seine Haare hatte er zu einem Zopf geflochten und am Hinterkopf zusammen gerollt, und darum ein altes, geblümtes Tuch geschlungen. Einige der Strähnen hatten sich jedoch trotzdem gelöst und fielen ihm immer wieder ins Gesicht. Er trug alte, zerrissene, dunkelblaue Jeans, die mehrere kunterbunte Farbflecken aufwiesen und ein rotgrünes Baumfällerhemd, das wohl noch aus der Zeit seines Urgroßvaters stammt. Den Schmuck hatte er ausgezogen, wohl, damit er beim Arbeiten nicht störte.
 

Adam starrte ihn mehrere Augenblicke lang fassungslos an. Vor seinem inneren Auge tauchte der Leon auf, den er normalerweise kannte. Elegant gekleidet, mit geschmackvollerer, teurer und gepflegter Kleidung, die Haare immer ordentlich frisiert. Mit einem Mal musste er laut loslachen. Dieser Anblick war so köstlich ungewöhnlich, so verdammt ordinär und so verdammt, verdammt menschlich, dass er einfach nicht anders konnte.
 

„Wie ich höre, du bist auch mal aufgestanden?“ Leon sah von seiner Tätigkeit auf und musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue. „Und anscheinend hast du gleich mal eine Dosis Lachgas zu dir genommen. Dürfte ich wissen, was so lustig ist?“
 

Der Junge schnappte erst mal paar Mal nach Luft, bevor er zu einer Antwort ansetze.
 

„Tut mir leid, das sieht nur so verdammt ungewohnt aus. So... keine Ahnung, nicht Leon.“
 

„Was?“
 

„Das.“ Er deutete auf sein Outfit. „Du bist normalerweise immer so stilvoll und alles gekleidet, und jetzt trägst du solche, solche... eh....“
 

„Lumpen?“
 

„So wollt ich das nun auch wieder nicht ausdrücken.“ Er versuchte mühsam, sein Grinsen zu unterdrücken, was jedoch nicht so wirklich klappen wollte.
 

„Ich werde mein Haus ja wohl auch nicht in meinen besten Sachen aufräumen. Weißt du eigentlich, wie staubig einige Stellen sind?“
 

„Mich wundert’s ja überhaupt, dass du dein Haus selber aufräumst. Ich dachte, du stellst eine Putzfrau ein oder sowas.“
 

„Nun, ich mag es nicht, wenn jemand Fremdes sich einfach so hier aufhält, ohne das ich ein Auge drauf habe.“ Er widmete sich wieder seinem Fleck. „Deswegen mach ich es lieber selber. Und Maria hilft mir ja auch.“
 

„Na ja,“, Adam zog sich einen Stuhl heran und setze sich im Schneidersitz drauf, „ich war ja auch zwei Wochen lang hier, ohne dass du ein Auge auf mich haben konntest.“
 

Leon warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. „Du bist ja auch niemand Fremdes. Ich nehm mal an, du hast nicht in meinen Privatsachen gekramt?“
 

„Natürlich nicht!“, meinte Adam gespielt empört. Dass er die Kassette gefunden hatte, war ja purer Zufall gewesen und hatte nichts mit Leons Privatsachen zu tun.
 

„Siehst du.“ Er nahm einen anderen Lappen aus dem Eimer, wrang ihn aus und warf ihm Adam zu. „Nichts da, hier wird nicht gefaulenzt. Dir scheint es ja schon sehr viel besser zu gehen, also kannst du auch mithelfen. Mach mal die Tische dort drüben sauber.“
 

“Aye, aye, Chef.“
 

Er ließ sich ausnahmsweise mal mit Freuden herumkommandieren. Irgendwann nahmen sie zu dritt einen kurzen Imbiss ein und machten sich dann voller Tatendrang weiter an die Arbeit. Adam staunte nicht schlecht, als er merkte, wie viel Mühe darin steckte, das gesamte Haus auf Vordermann zu bringen, und noch mehr, als er daran dachte, dass Leon das Woche für Woche machte. Zu dritt brauchten sie schon bis zum späten Nachmittag, zu zweit wurden die zwei wohl erst immer gegen Abend fertig. Eine weitere Facette, die ihn an seinem Künstler zum Staunen brachte. Und wodurch er noch liebenswerter wurde. Ein Riss in seiner nahezu perfekten Fassade des unnahbaren, arroganten Künstlers. Adam musste innerlich lächeln. Diese Fassade bröckelte immer mehr, je länger er ihn kannte. Und heraus kam ein unperfekter, zärtlicher Mann zum Vorschein, der gleichermaßen gute wie auch schlechte Eigenschaften in sich vereinte und dadurch nur noch wertvoller, wichtiger für Adam wurde.
 

Schließlich, ziemlich erschöpft, wurden sie fertig. Sie aßen noch schnell gemeinsam zu Abend, jedoch musste Maria sich noch um ihre Kneipe kümmern und ließ die beiden bald allein, nicht jedoch, ohne sie mit einem herzhaften Schmatzer auf beide Backen zu verabschieden.
 

Adam streckte alle Viere von sich, während er auf dem Stuhl in der Küche saß und an seiner Schokolade nippte.
 

„Ihr seid doch wahnsinnig, dass jede Woche zu machen. Und du bist wahnsinnig, dir überhaupt so ein großes Haus anzuschaffen. Für was brauchst du das?“
 

„Ich hab’s mir in erster Linie wegen dem Atelier besorgt.“ Leon nippte an seinem Tee. „Und weil ich ab und zu Partys gebe, beziehungsweise.. naja, eigentlich gib Sachiko sie, und da viele Gästezimmer nun mal von Vorteil sind, wenn die Gäste mal übernachten wollen. Außerdem mag ich es, wenn es weitläufig ist.“
 

„Respekt, dass ihr das Woche für Woche macht.“ Er seufzte. „Ich könnte das nicht.“
 

„Oh, vergiss nicht, du wirst mir nächste Woche auch noch mal helfen dürfen. So einfach lass ich dich nicht davon kommen.“
 

„Ich dachte, ich bin hier, um zu genesen, und nicht um deinen Sklaven zu mimen?“
 

„Du bist schon genesen, wie ich sehe.“ Leons Lippen verzogen sich zu einem verschmitzen Grinsen. „Und wenn du meinen Sklaven mimen würdest, würde ich dich bestimmt nicht zum Hausputz benutzen.“
 

„Sondern?“ Adam zog fragend die Augenbrauen hoch.
 

Der Künstler musterte ihn einen Augenblick lang, lachte dann nur kurz auf und winkte ab. „Nicht so wichtig. Vergiss es.“ Mit einem Ächzen stand er auf. „Arg, ich werde alt. Na ja, ich geh mal langsam schlafen, ich muss morgen früh auf.“
 

„Was? Wieso denn das?“
 

„Ein paar Sachen machen. Einkaufen zum Beispiel.“ Er runzelte kurz die Stirn. „Du hast ja noch den Schlüssel, nicht wahr? Kannst also problemlos weggehen, dann muss ich auch nicht dauernd da sein. Aber vergiss nicht, dass morgen Donnerstag ist.“
 

„Wenn ich doch eh die nächsten zwei Wochen da bin, können wir die Modellstunden doch auch wann anders machen.“
 

„Liebling,“, Leon lächelte ihn süffisant an, „du bist nicht das einzige Modell, mit dem ich grad zusammen arbeite. Ich mag außerdem die Gewohnheit. Bleiben wir bei Donnerstag, ist am besten so. So, und ich geh jetzt ins Bett, sonst kriegen mich morgen keine zehn Pferde aus den Federn.“ Er trat zu Adam und drückte ihm kurz einen Kuss auf den Scheitel. „Schlaf gut.“
 

Noch bevor Adam reagieren konnte, hatte er bereits die Küche verlassen. Müde seufzte er und strich sich kurz durch die Haare. Er hatte die Anspielung, die Leon gemacht hatte, durchaus verstanden, nur, gerade jetzt, wusste er nicht, wie er darauf richtig reagieren sollte. Wohin hätte es wohl geführt, wenn er darauf eingegangen wäre? Den ganzen Tag über war er sich Leons Anwesenheit durchaus bewusst gewesen, wenn er ihm nahe kam, wenn er ihn zufällig streifte, wenn sich ihre Blicke trafen, wenn sie zufällig nach dem gleichen Gegenstand griffen. Er wusste nur noch nicht, wie weit er bereit war zu gehen.
 

Und was danach kommen würde.



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