Zum Inhalt der Seite

Crystal Eyes

reloaded
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Das sieht absolut scheiße aus!“
 

„Ich hab doch nur... du musst dich nicht gleich so rabiat ausdrücken.“
 

„Ist doch wahr!“
 

Adam nahm den Pullover aus Muse’ Händen und begutachtete ihn noch einmal. Dann schüttelte er mit einem fast angeekelten Gesichtsausdruck den Kopf.
 

„Ne, das geht doch auf keine Kuhhaut, vergiss es. Darin würdest du wie ein 90-jähriger Opa aussehen.“ Mit einem letzten ablehnenden Blick stopfte er den Pullover an seinen Platz zurück und schaute sich kurz um. „Ich glaub nicht, dass wir in dem Laden was finden. Außerdem hab ich Hunger. Gehen wir was essen, dann können wir weiter schauen.“
 

„Okay.“
 

Muse’ Antwort kam ein wenig kleinlaut. Adam warf ihm einem Blick zu. Muse würde zu nahezu allem Ja und Amen sagen, was Adam vorschlug, soviel hatte er inzwischen mitbekommen. Er hatte ja von Anfang an gewusst, dass Muse nicht gerade das Selbstbewusstsein in Person war, aber wie gering es dann tatsächlich ausfiel, dass erstaunte ihn immer wieder aufs Neue.
 

Egal was er sagte, ob es „Gehen wir ins Kino“ oder „Hol Stöckchen“ war, Muse würde es machen, so als ob er Angst hatte, seinen neuen Freund durch eine Weigerung zu verärgern und zu verlieren. Eigentlich kein Wunder, schließlich hatte er bis jetzt nicht sonderlich viele Freunde gehabt, trotzdem war es Adam fast schon unangenehm.
 

Mit einem innerlichen Schulterzucken dackelte er aus dem Laden, Muse im Schlepptau. Seit sie das erste Mal miteinander ins Gespräch gekommen waren, hatten sie häufiger mal die Pausen miteinander verbracht. Zuerst war es Adam gewesen, der sich fast schon aufgedrängt hatte, aber inzwischen, obwohl nicht mal eine Woche vergangen war, suchte Muse von selber seine Gegenwart. Adam störte es in keinster Weise, so hatte er nicht nur ein wenig Gesellschaft, sondern auch einen Zeitvertreib. Und, vor allem, jemanden, der ihn von seinen Gedanken ablenkte. Gedanken, die ihn in jeder einsamen Minute quälten.
 

Nach der letzten Auseinandersetzung mit Leon hatten sie kaum noch ein Wort gesprochen, doch Leons Blicke hatten sich förmlich in Adams Körper eingebrannt. Jedes Mal, wenn er an ihre letzte Begegnung dachte, an die Berührung der Fingerspitzen, an den Atem, den er warm an seinem Hinterkopf gespürt hatte, an die weichen Lippen, an das angenehmen Gefühl des Körpers, den er im Rücken gehabt hatte, jedes Mal stand er kurz vorm Durchdrehen, davor, allen Stolz und allen Widerstand über Bord zu werfen und sich in Leons Arme zu schmeißen. Einzig, dass er weder eine einmalige Angelegenheit für Leon sein wollte, noch wusste, was er für diesen arroganten Künstler eigentlich empfand, hinderte ihn daran. Leise seufzte er. Das Leben konnte so hart sein.
 

„Hey, hörst du mir zu?“
 

Muse sah ihn fast ein wenig vorwurfsvoll an. Fast, nicht ganz, aber man durfte ja nicht zu viel verlangen.
 

„’tschuldige, was hast du gesagt?“ Adam strich sich leicht verwirrt einige Strähnen aus dem Gesicht. Dieser dämliche Leon hatte sich mal wieder wie eine fiese, kleine Schlange in seine Gedanken geschlichen und seine grauen Zellen nicht mehr losgelassen.
 

„Wo willst du essen?“ Muse trat ein wenig ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Sonderlich viel Auswahl haben wir ja nicht.“
 

„Nope.“ Adam runzelte überlegend die Stirn. „Wie wär’s, wir schnappen uns nen Döner und setzten uns dann in den Park? Ist ja warm genug für.“
 

Es war eher eine rhetorische Frage. Muse würde eh zustimmen, und so war es auch. Er hatte gerade mal Zeit, kurz zu nicken, da zog ihn Adam auch schon am Ärmel mit sich. Einige Minuten später hatten sie es sich bereits im Park auf einer Wiese bequem gemacht, in den Händen ihr Essen.
 

Konzentriert und schweigend widmeten sie sich ihren Kebabs, doch Adam konnte es nicht unterlassen und warf Muse immer wieder von der Seite Blicke zu. Er versuchte es gar nicht zu verbergen, so das Muse es merkte, ohne jedoch es zu erwähnen. Schließlich, Adam war mit seinem Essen fertig, sprang er auf, kniete sich hinter Muse und raffte seine Haare zusammen. Noch bevor der Junge sich wehren konnte, hatte er seinen Kopf zu sich gedreht und musterte ihn von allen Seiten.
 

„Willst du nicht mal was mit deinen Haaren machen?“ Adam legte den Kopf schief, kramte ein Haargummi aus seiner Tasche und band die Haare zusammen. „So sieht das viel besser aus. Nicht so ungepflegt. Schon mal daran gedacht?“
 

„Eh... würdest du das bitte lassen!“ Muse versuchte, ihm seinen Kopf zu entziehen, scheiterte jedoch kläglich. „Ich mag es so, wie es ist.“
 

„Du oder dein Lover?“
 

Er drehte weiterhin den Kopf von seinem neuen Freund hin und her. Erst jetzt fielen ihm seine Augen auf. Muse selber war nicht grad der Schönling von nebenan, doch seine Augen hatten eindeutig eine verzaubernde Wirkung. Ein dunkles, schokoladiges Braun, lange Wimpern, die äußeren Augenwinkel schmal und ein wenig nach oben gezogen.
 

„Ich.“ Es klang ein wenig wie ein Knurren. „Außerdem ist er nicht mein ‚Lover’!“
 

„Ja ja. Schon gut.“ Er starrte einen Moment länger nachdenklich in sein Gesicht, ließ es dann los und setzte sich im Schneidersitz dann vor ihn.
 

„Was ist?“ Muse wich ein wenig zurück. „Starr mich nicht so an.“
 

Er drehte seinen Kopf abrupt zur Seite, so dass sich einige Haarsträhnen lösten und wieder vor sein Gesicht fielen, doch Adam störte sich nicht daran.
 

„Darf ich was ausprobieren?“ Fragen kostet nichts.
 

„Was?“ In Muse’ Stimme schwang ein starker Hauch von Misstrauen mit.
 

„Darf ich dich küssen?“
 

Hätte er jetzt was getrunken, Muse hätte es sich bestimmt verschluckt. Oder im weiten Bogen ausgespuckt. Statt dessen fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf und sein Mund klappte runter. Es sah nicht wirklich toll aus, eher wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten war, aber Adam ignorierte es. Er hatte es sich jetzt in den Kopf gesetzt und wollte es auch durchziehen.
 

„Wie...wieso?“, stotterte Muse leise.
 

“Na ja... ich will wissen, wie es ist.“, meinte Adam lapidar. Wieso auch sonst?
 

„Mich zu küssen?“
 

„Nen Mann zu küssen.“
 

„Hast du... hast du diesen einen Kerl noch nicht geküsst oder wie?“ Muse entspannte sich ein wenig, blieb aber trotzdem in Hab-Acht-Stellung, so als ob Adam sich gleich wie ein wildes Tier auf ihn stürzen würde.
 

„Das ist kein Mann, das ist eine fiese, kleine Schlange. Außerdem, ich will einen Vergleich haben. Ob auch andere Kerle so ne Wirkung auf mich haben.“
 

„Ich hab nen Freund.“
 

„Na und? Der wird schon nicht gleich wegen einem Kuss ausflippen.“
 

„Ja, schon, aber... hier?“
 

„Hier ist keiner.“ Adam sah sich demonstrativ um. „Uns wird keiner sehen.“
 

Muse’ Blick blieb skeptisch. Er verzog etwas unwillig das Gesicht. „Muss das sein?“
 

„Ja.“ Adam wusste, dass es fies war, Muse so auszunutzen, vor allem, da der Junge sich in keinster Weise wehren würde. Aber, trotzdem, er war der einzige, den er fragen konnte. Außer seinem Vater hatte er keine anderen, männlichen Bekannten, und sein Vater... nun, er kam nicht wirklich in Frage.
 

„Okay.“ Muse wand sich ein bisschen. „Aber nicht lang. Und nicht mit Zunge, klar?“
 

„Erks... keine Sorge, ich hatte noch nie mit Zunge und will’s auch nicht mit dir ausprobieren.“
 

Adam atmete einmal tief durch, nahm dann Muse’ Gesicht zwischen seine Hände und drückte seine Lippen auf seinen Mund, so wie er es von Leon kannte. Die Augen geschlossen, versuchte er sich ganz auf das Gefühl des fremden Geschmacks zu konzentrieren, doch immer wieder funkten ihm die Erinnerungen an Leons Küsse dazwischen. Das Gefühl, das er da gehabt hatte. Das Herzklopfen. Der Stillstand der Zeit. Die intensiven Eindrücke seiner Umgebung. Das Zittern seiner Finger. Leons Duft. Leons Wärme. Leon.
 

All das fehlte.
 

All das wollte er aber haben.
 

Jetzt.
 

Plötzlich drang das fast schon panische Kläffen eines Hundes an ihr Ohr. Mit einem Ruck trennten sie sich und schauten sich beide mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen um. In nicht allzu weiter Ferne stand eine ältere Dame, das Gesicht in einem Zustand des markerschütternden Schocks, in der Hand die Leine eines nervtötenden, kleinen Kläffers. Eine Augenblicke starrten sie sich gegenseitig an, dann erwachte die Spaziergängerin aus ihrem Schockzustand, zischte einige Sachen vor sich hin, die weder Muse noch Adam hörten, die sich aber sehr nach Beschimpfungen anhörten, und stakste auf ihren knallroten Pumps davon. Wie hypnotisiert schauten sie ihr hinterher, bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Wie in Zeitlupe drehten sie ihre Köpfe einander zu, tauschten einen skeptischen Blick und brachen dann beide in lautes Lachen aus.
 

Adam ließ sich nach hinten auf den Rücken fallen und rollte sich halb über die Wiese, während Muse sich vorbeugte, sich den Bauch hielt und sein Lachen in einem atemlosen Keuchen erstickte.
 

„Hast du ihren Blick gesehen? Zu geil.“, japste Adam.
 

„Ja, sie sah fast aus wie ihr Kläffer.“
 

„Aber voll, von oben bis unten. Hast du die Haare gesehen? Wie die abstanden?“
 

„Haben sich durch den Schock aufgestellt!“
 

„Yes, und kurz vorm Kläffen war sie auch.“
 

„Sie wollte mit dem Köter sicher im Partnerlook gehen.“
 

„Yeah, bestimmt!“
 

Es dauerte eine Zeit lang, bis sie sich beruhigt hatten. Immer noch ein wenig außer Atem drehte Adam sich auf den Bauch, die Lippen zu einem fetten Grinsen verzogen, und schielte zu Muse hoch.
 

„Ich küss dich nie, nie, nie wieder!“
 

„Na, Gott sei Dank!“ Muse grinste zurück. „Jetzt bin ich aber wirklich erleichtert. Du kommst nicht mal annähernd an meinen Lover ran.“
 

„Und du nicht an Leon.“
 

„Dann sind wir uns ja einig.“
 

Wieder prusteten sie wie zwei kleine Jungs los.
 

Erst nach einigen Minuten verfielen sie in einvernehmliches Schweigen, lagen beide auf dem Rücken und starrten in den Himmel, still, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. Die Sonne schien auf sie herunter, in einem klaren, wolkenfreien Blau. Es war ausnahmsweise Mal ein warmer Tag, vermutlich einer der letzten des Jahres. Der Wind raschelte leise in den Wipfeln der Bäume, während einige Vögel vor sich hin zwitscherten.
 

„Absolute Idylle.“ Muse grinste.
 

„Jap. Wie aus einem Bilderbuch.“ Adam streckte sich. „Wollten wir nicht eigentlich noch Shoppen gehen?“
 

„Find das Gras grad so gemütlich.“
 

„Ja, und die Ameisen erst, die auf mir rumkrabbeln.“
 

Muse zog sarkastisch eine Augenbraue hoch. „Red keinen Scheiß, da sind keine Ameisen.“
 

„Doch, klar, siehst du die nicht? Die drei schwarzen Punkte, die grad auf deiner Stirn rumkrabbeln?“
 

„Ja, ich sehe die wirklich nicht. Hab keine Stilaugen, sorry.“
 

Adam lachte kurz auf und sprang dann auf die Füße.
 

„So, hopp, hopp. Ich brauch noch nen warmen Pullover für den Winter, sonst lauf ich als Eiszapfen durch die Gegend.”
 

„Kannst dich ja von deinem Leon wärmen lassen.“ Muse stand ebenfalls auf und klopfte sich sporadisch die Kleidung ab. „Macht der sicher gern.“
 

„Nee, lieber nicht. Der will mir sonst gleich an die Wäsche.“
 

„Und? Sagst halt Nein.“
 

Adam warf ihm einen selbstironischen Blick zu. „Ich könnte nicht Nein sagen, dass weiß ich jetzt schon.“
 

„Tja... das nenn ich Pech.“ Muse streckte ihm kurz die Zunge raus und strich sich ein paar Strähnen aus der Stirn. „Musst halt Selbstbeherrschung lernen.“
 

„Pff... du hast gut reden, du kennst ihn ja gar nicht. Du würdest ihm niemals widerstehen können.“
 

„Will ich vielleicht auch nicht.“
 

Sich weiter kabbelnd verließen sie den Park und stürzten sich fröhlich in den Shoppingwahn. Die Stimmung hatte sich komplett geändert, und Adam genoss es in vollen Zügen. Muse benahm sich nicht mehr wie ein kleiner Hund, der seinem Herrchen folgen musste, sondern öffnete sich immer mehr, machte Witze oder flapsige Bemerkungen und stellte sich als sehr sympathischer Typ raus. Auch wenn man ihm immer wieder seine Unsicherheit anmerkte, so fühlte sich Adam bei ihm pudelwohl. In ihm breitete sich das Gefühl aus, dass er sich tatsächlich mit dem schüchternen Jungen anfreunden könnte, das sie vielleicht beste Freunde werden könnten. Innerlich seufzte Adam. Abwarten und Tee trinken, aber er hoffte, dass es klappen würde.
 

Es war bereits spät, als sie sich trennten. Muse nahm den Bus, während Adam entschied, nach Hause zu laufen. Er winkte Muse noch zu und trabte dann los. Die Nachtluft war kalt, er fröstelte leicht, doch irgendwie war er zufrieden. Zwischen den Wolken, die inzwischen aufgezogen waren, schaute immer wieder der Mond hervor, tauchte die Straße in silbriges Licht und warf schemenhafte Schatten auf den Asphalt. Es war nicht sonderlich viel los, so das Adam nur wenige Menschen traf. Er ließ seine Gedanken schweifen, doch sie beinhalteten nichts bestimmtes. Nichts, außer wieder Leon. Diesmal jedoch auf angenehme Weise, nicht dieses beängstigende, drängende, sondern wohlig warm, angenehm.
 

Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden änderte er seinen Weg, der schließlich vor Leons Haustür endete. Adam zog die Jacke enger um sich. In der Küche brannte Licht. Es ging aus, einige Zeit blieb alles dunkel, dann ging es in einem Zimmer im ersten Stock wieder an.
 

Adam schloss kurz die Augen, atmete tief durch und drückte dann zitternd die Klingel. Es war fast zehn Uhr abends, er würde Leon eigentlich morgen wieder sehen. Eigentlich hatte er ihn auch gar nicht vorher sehen wollen. Eigentlich halt.
 

Die Hände wieder tief in die Taschen vergraben, an einer Seite die Einkaufstüte baumelnd, den Schal um das Gesicht gewickelt, bereute er es schon wieder gekommen zu sein. Das er jetzt hier war, würde Leon doch nur noch selbstsicherer machen. Und auf dumme Gedanken bringen. Adam würde wie ein süchtiges Hündchen wirken, dass von seinem Herrchen nicht los kam. Oder wie ein kleiner, dummer, bis über beide Ohren verknallter Junge. Fehlte nur noch, dass er einen Strauß Blumen in den Händen hielt und schüchtern auf den Boden blickte.

Aber er blickte nicht schüchtern, als die Tür nach einiger Zeit aufging. Und Leon blickte nicht selbstsicher. Oder in irgendwelchen Vermutungen bestätigt. Sondern überrascht. Überrascht und... erfreut.
 

„Hi.“
 

Mehr brachte Adam nicht raus. Er wusste gar nicht, was er eigentlich hier gewollt hatte. Leon sehen, ja. Und weiter? Ihn sehen und dann wieder gehen? Wohl kaum.
 

„Hi.“ Leon lächelte. Freundlich. Sanft. Unwiderstehlich. „Willst du eine heiße Schokolade?“
 

„Mhm.“
 

Leon stellte keine weitere Fragen, doch das wunderte Adam nicht. Es war in Ordnung so. Es passte so. Dann musste er sich zumindest nicht irgendwelche Antworten aus den Fingern saugen.
 

Langsam schloß er die Tür hinter sich und legte seine Sachen in der Eingangshalle ab, während Leon bereits in der Küche verschwunden war.
 

„Geh nach oben ins Wohnzimmer. Dort, wo das Licht brennt.“ Er steckte nur kurz den Kopf aus der Tür und winkte ihn hoch. „Ich komm gleich nach.“
 

Adam nickte nur und folgte der angewiesenen Richtung. Das Zimmer war nicht schwer zu finden, da es eines der ersten auf dem ersten Stock war. Er blieb für einen Moment im Türrahmen stehen und betrachtete alles. Wie auch der Rest des Hauses war es sehr geschmackvoll eingerichtet. Die Möbel waren in dunklem Braun gehalten, das ein wenig antik wirkte, während der Teppich hellgrau war. An einer Wand hing ein großer Flachbildfernseher, unter dem ein BluRay-Player und eine Stereoanlage standen, und an der linken Seite konnte man durch eine breite Fensterfront nach draußen schauen. Cremefarbene Vorhänge waren kunstvoll an den Seiten drapiert, und auf dem Fensterbrett reihten sich drei hübsche, Adam unbekannte Pflanzen auf. Um den gläsernen Wohnzimmertisch in der Mitte gruppierten sich eine weiche kamelbraune Couch und zwei Sofas in der selben Farbe. Auf den kleineren Schränken und in dem größeren Vitrinenschrank befanden sich mehrere Figuren aus Glas und Porzellan. Einige Kerzenständer mit langen, weißen Kerzen waren aufgestellt und angezündet, so dass die Flammen den Raum in ein warmes, orangenes Licht tauchten.
 

Auf dem Tischchen stand eine Tasse mit heißem Tee, daneben lag ein aufgeschlagenes Buch. Anscheinend hatte Leon es sich gerade bequem machen wollen, als Adam ihn in seiner Ruhe gestört hatte. Er strich sich kurz durch die Haare und ließ sich auf der Couch nieder, einen Fuß unter sich gezogen, während er den anderen auf dem Boden abstellte.
 

Adam hatte sich kaum gesetzt, da kam auch schon Leon ins Zimmer, in den Händen ein Tablett, auf dem Kekse und Adams heiße Schokolade waren. Er stellte es auf dem Glastisch ab, setzte sich ebenfalls auf die Couch und reichte Adam seine Tasse, alles, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
 

Den Blick gesenkt, nippte der Junge an seinem Getränk. Und jetzt?
 

Er spürte, wie Leon ihn musterte, fand es jedoch angebrachter, seine Tasse intensiv zu betrachten.
 

„Hast du was dagegen, wenn ich ein bisschen lese?“, frage Leon leise.
 

Adam schüttelte den Kopf. Er war hier ja unverschämterweise einfach unangemeldet aufgetaucht, wie könnte er da was dagegen sagen? Und so würde Leon ihn zumindest nicht dauernd anschauen, nicht mit diesen durchdringenden Blicken, sondern seine ganze Aufmerksamkeit seinem Buch widmen.
 

Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Leon sein Buch nahm, doch anstatt sich zurückzulehnen, drehte er ihm den Rücken zu und legte sich nach hinten. Adam registrierte es erst so richtig, als er bereits das Gewicht von Leons Kopf auf seinem Oberschenkel spürte. Überrascht zuckte er zusammen, doch Leon würdigte ihn keines Blickes, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf seine Lektüre, als ob nichts ungewöhnliches daran wäre, Adams Schenkel als Kopfkissen zu nutzen.
 

Schweigend legte Adam seine Hände noch fester um die Tasse und sah auf Leon hinunter. Mit den Augen fuhr er seine Züge nach, die Linien der Wangenknochen, das markante Kinn, die langen Wimpern. Bei seinen vollen Lippen, die jetzt leicht geöffnet waren, blieb er einen Moment stehen, bevor er zu den einzelnen Haarsträhnen des offenen Haares wanderte, die sich wie kleine, weißblonde Wasserfälle auf den Teppich ergossen. Die Seiten des Buches raschelten, als Leon sie umblätterte, und Adams Aufmerksamkeit wechselte zu den schlanken Fingern mit den gepflegten Nägeln. Er musterte sie etwas genauer. Am Mittelfinger der rechten Hand trug er einen silbernen Ring, in den Efeublätter graviert waren, und am linken Daumen glitzerte ein Reif aus Gold und Silber, mit einigen kleinen, hellblauen Steinchen besetzt.
 

Adam biss sich leicht auf die Unterlippe. Leon war ein Kunstwerk an sich, kein Wunder, dass er so von sich überzeugt war. Nur, wieso interessierte er sich so sehr für Adam, wenn er doch jeden anderen auf dieser Welt mit einem Fingerschnipsen haben könnte?
 

Vorsichtig löste er eine Hand von seiner Tasse und fuhr die Konturen von Leons Ohr nach, die äußere Ohrmuschel, das Ohrläppchen, die drei Kreolen. Leon sagte nichts, tat aber auch nichts mehr. Und Adam ließ sich nicht stören. Völlig in dessen Anblick versunken strich er über seine Schläfe zu seinem Hals hinunter und seinen Kiefer entlang. Bei seinem Kinn hielt er kurz inne und hob es dann in seine Richtung an.
 

„Du hast nur diese Schlacht gewonnen.“ Adam schaute in Leons Augen, die sich jetzt auf ihn gerichtet hatten. „Nur diese Schlacht. Der Krieg ist noch lange nicht vorbei.“
 

Leon lächelte nicht. Er schaute ihn nur an. Ohne Erwartung, ohne Gefühl. Er schaute ihn einfach nur an.
 

Langsam beugte Adam sich vor, strich mit seinen Lippen vorsichtig über seine Stirn, über seine Wangenknochen. Das heiße Gefühl in seinem Inneren ignorierte er. Das Herz, das fast aus seiner Brust brach, auch. Und die Vernunft hatte er sowieso schon lange weggeschmissen. Er nahm einfach nur auf. Leons Geruch. Leons Geschmack. Er wanderte mit den Lippen langsam das Kinn entlang. Die Tasse stellte er währenddessen auf den Tisch. Mit den Fingerspitzen beider Hände strich er über Leons Hals, an seinen Ohren entlang, über seine Schläfen. Nach einigen Augenblicken spürte er Leons Hand in seinem Haar, ein sanfter Druck, der in noch näher zu sich zog. Ohne einen weiteren Gedanken küsste er ihn.
 

Ganz kurz.
 

Dann nochmal.
 

Ein bisschen länger.
 

Adam schlang seine Arme um Leons Oberkörper.
 

Und dann blieb er dort. Bei diesen weichen Lippen. Bei diesen warmen Lippen.

Keiner von beiden bewegte sich mehr.
 

Die Welt hörte auf sich zu drehen.
 

Es schien wie eine Ewigkeit, bis Adam sich von Leon löste. Er zitterte nicht. Aber er konnte nichts sagen. Er wollte nichts sagen. Ohne den Blick von Leon abzuwenden, ohne sich von dessen Blick zu lösen, leckte er sich vorsichtig über die Lippen. Langsam wendete er den Kopf und stand auf. Leon hob nur kurz seinen Oberkörper an, um ihn aufstehen zu lassen, und ließ sich dann nach hinten sinken. Er schloss die Augen, während Adam nochmal kurz an der Tür stehen blieb.
 

„Das wiederholt sich nicht nochmal.“
 

Es kam ihm seltsam vor, das zu sagen. Leon antwortete nicht.
 

„Bis morgen.“
 

Leon antwortete wieder nicht.
 

Adam hatte keine Eile, als er das Haus verließ. Gemächlich zog er sich an und trat in die Kälte hinaus. Der Wind war wieder etwas stärker geworden, jagte die Wolken über den Himmel. Die Blätter raschelten, durchbrachen die Stille der Nacht. Und flüsterten ihm immer wieder das Gleiche zu.
 

Wieso hatte er das getan?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück