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Seelenschatten

von

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Heilig

Aerith hatte großes Glück, dass sie bereits nach kurzem Marsch auf einen reisenden Händler traf, der sie in seinem Wagen mit nach Costa del Sol nahm. Dort konnte sie glücklicherweise nach einigem Suchen ein Schiff finden, auf dem sie zum nördlichsten Kontinent mitreisen konnte. Vermutlich, so dachte sie, war es Schicksal, dass eine Gruppe Archäologen ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit ihren Grabungen in der Nähe des „schlafenden Waldes“ beginnen wollte.

Während sie auf die gegen die Schiffswände schlagenden Wellen blickte und die salzige Gischt auf ihren Lippen schmeckte, gestand Aerith sich ein, dass sie eigentlich ziemlich verrückt handelte. Rational betrachtet war es gerade in diesen unruhigen Zeiten purer Wahnsinn als junge Frau völlig allein zu reisen. Zudem war sie sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich das richtige Ziel ansteuerte. Was, wenn sie sich die flüsternden Stimmen im Tempel des alten Volks lediglich eingebildet oder sie falsch verstanden hatte? Doch trotz ihrer leisen Zweifel spürte Aerith, tief in ihrem Herzen, dass sie auf dem richtigen Weg war.

Etwa eine halbe Woche später kam das Schiff endlich an seinem Bestimmungsort an und Aerith ging zusammen mit den Archäologen von Bord. Man konnte die Nähe zum Nordpol deutlich zu spüren, denn der steife Wind, der über das bewaldete Land strich, war eisig und ließ die junge Cetra in ihrem dünnen Sommerkleid frösteln. Dennoch zögerte sie nicht und setzte ihre Wanderung sogleich fort. Ihr war als stünde ihr ganzer Körper unter Strom und sie spürte deutlich, dass sie nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt war.

Ihr Weg führte sie tief in den „schlafenden Wald“ hinein, der seinen Namen aus einer Legende hatte. Angeblich verlief sich jeder, der nicht in Besitz der Mondharfe war, in dem düsteren, undurchdringlich wirkenden Gehölz. Aerith jedoch ließ sich von ihrem Herzen und ihren Cetra-Fähigkeiten leiten, was offenbar genauso gut funktionierte wie das legendäre Relikt.

Dennoch atmete die junge Frau erleichtert auf, als nach mehreren Stunden Fußmarsch endlich die ersten Schemen ihres Ziels durch die Baumreihen blitzten. Je näher sie kam, desto mehr Details schälten aus dem feuchtklammen, allgegenwärtigen Nebel und Aerith konnte kleine, hornmuschelartige Häuser erkennen, deren gedrehte Dächer sich in den trüben, stahlblauen Himmel schraubten.

Während das Blumenmädchen langsam über die weißgepflasterten Wege mit den gesprungenen Steinen wandelte, traten ihm Tränen in die Augen und ihm wurde unbeschreiblich leicht ums Herz. Aerith war selbst überrascht darüber, dass sie sich an diesem ausgestorbenen Ort vollkommen zuhause und irgendwie vollständiger fühlte so als hätte sie nach langer Zeit einen verschollen geglaubten Teil ihrer Persönlichkeit wiedergefunden.

Sie legte eine Hand auf die sich kalkig anfühlende Fassade des am nächsten stehenden Hauses und atmete tief durch. Endlich war sie an ihrem Ziel angekommen: die vergessene Stadt, die letzte noch stehende Cetra-Siedlung.
 

Fest auf die Stimmen in ihrem Herzen vertrauend betrat Aerith das größte Gebäude der Stadt, das ein wenig nach hinten versetzt stand und nur über eine Holzbrücke, die über den hier fließenden, klaren Bachlauf führte, zu erreichen war. Das Innere des Hauses war komplett mit Perlmutt ausgekleidet und raubte der Cetra durch seine unnatürlich wirkende Schönheit den Atem.

Nur zu gerne hätte Aerith sich genauer umgesehen, doch sie wusste, dass die Zeit drängte. Sephiroth konnte jeden Moment den Zauber der schwarzen Materia aktivieren und wäre dann womöglich wirklich nicht mehr aufzuhalten. Also eilte die Cetra mit flinken Schritten in den Keller. Wenn alles gut ging, hatte sie später immer noch genug Zeit, um sich ausgiebig in der vergessenen Stadt umzusehen.

Über eine Treppe aus gläsern wirkenden Stufen gelangte die junge Frau in eine Höhle, die vor Urzeiten findige Cetra-Hände unter dem breiten Bach geschaffen hatten. Das darüber errichtete Haus diente lediglich als Eingang und Schutz.

Während Aerith in das Gewölbe herabstieg, hatte sie das Gefühl in eine andere Welt einzutauchen. Künstliche Lichtquellen, von denen das Blumenmädchen nicht sagen konnte, wie sie auch nach so langer Zeit noch so tadellos funktionieren konnten, hüllten alles in ein weiches, buntschillerndes Licht, während Bachwasser durch die Decke sickerte und die Wände, an denen es herablief, glitzern ließ als bestünden sie aus kostbaren Edelsteinen.

Der Boden der Höhle war meterhoch von einer klaren, im Lampenschein funkelnden Flüssigkeit bedeckt, die Aerith wegen ihrer zartgrünen Färbung für den Lebensstrom hielt. Vielleicht bestand auch der über ihr fließende Bach nicht aus gewöhnlichem Wasser, da war sie sich nicht sicher. Außerdem war ihr Geist sowieso viel mehr mit der Ausführung ihres Plans beschäftigt.

Der einzige Pfad, der über der Flüssigkeit hinweg durch die Höhle führte, war schmal und sah aus als wären an den Seiten bereits große Teile abgebrochen. Mit heftig schlagendem Herzen setzte Aerith vorsichtig einen Fuß vor den anderen und arbeitete sich langsam zu dem Plateau vor, das ein wenig erhöht in der Mitte des Gewölbes lag.

Auf ihm stand ein massiver Altar aus marmoriertem, dunklem Stein, der mit allerlei kunstvollen Verzierungen versehen war. An den Seiten des Gebetstisches waren mehrere Lampen aufgebaut, sodass das Plateau strahlte wie ein buntfunkelnder Stern. Auf der Steinplatte konnte man deutliche Gebrauchs- und Abnutzungsspuren erkennen, doch ansonsten befand sich dort rein gar nichts.

Dennoch war Aerith endlich dort angekommen, wohin ihr Instinkt und die Weisungen der einstigen Tempelwächter sie geführt hatten. Ein letztes Mal tief durchatmend griff sie in ihre Tasche und holte die Materia heraus, die sie von ihrer leiblichen Mutter geerbt hatte. Dann kniete sie sich vor den Altar, stützte ihre die Kugel umschließenden Hände auf die kühle Steinplatte und begann zu beten.
 

Es war das allererste Mal in ihrem Leben und Aerith war sich nicht einmal sicher, ob sie das erforderliche Gebet richtig aufsagte, doch sie vertraute vollkommen auf ihr Herz, das seit ihrem Besuch im Tempel des alten Volks mit den Seelen der verstorbenen Cetra in Verbindung zu stehen schien. Mit geschlossenen Augen umklammerte sie die von innen heraus aufleuchtende Materia und formte mit den Lippen die geflüsterten Worte, die auf einmal in ihrem Geist auftauchten wie schwere Korkschiffchen aus Wasser.

Während sie betete, konzentrierte sich die Cetra auf ihre Hoffnung, dass sie die einstigen Tempelwächter richtig verstanden hatte und schon bald wieder alles gut werden würde. Im Geist ging sie noch einmal durch, was sie im Tempel erfahren hatte:

Die schwarze Materia war ein so gewaltiger und vernichtender Zauber, dass die Cetra vor langer Zeit ein Gegenstück dazu erschaffen hatten – die weiße Materia. Diese bewirkte den ebenso mächtigen Zauberspruch „Heilig“, der die Wirkung der schwarzen Materia neutralisieren konnte. Der einzige Haken an der Sache war, dass er früh genug gesprochen werden musste und nur von einem Cetra an einem Altar des alten Volks eingesetzt werden konnte.

Aerith war ziemlich verblüfft gewesen, als sie erfahren hatte, dass ihr Erinnerungsstück an ihre Mutter, das sie bislang für kaputt und unbrauchbar gehalten hatte, die vermutlich einzige Möglichkeit war, den Planeten noch zu retten. Doch nun verstand sie endlich, warum ihre Mutter ihr schon als kleines Kind eingebläut hatte, immer gut auf die sanft schimmernde Kugel zu achten und sie niemals aus der Hand zu geben. Als letzte Cetra hatte sie wirklich eine enorm große Verantwortung…
 

Eine Stunde nach der anderen verging und Aerith hockte noch immer betend am Altar. Zwischenzeitig hatten ihre Knie sehr geschmerzt, doch die junge Frau hatte tapfer die Zähne zusammengebissen, bis sich erlösende Taubheit in ihren Beinen breit gemacht hatte. Die Materia-Kugel in ihren Händen strahlte inzwischen hell und verströmte eine angenehme Wärme.

Bald schon, da war Aerith sich sicher, würde „Heilig“ seine volle Wirkung entfalten. Doch plötzlich drangen aufgeregte Stimmen an die Ohren der Cetra und sie lauschte angespannt. Als sie schließlich erkannte, wer sich näherte, wurde ihr vor Rührung ganz warm ums Herz. Obwohl sie ohne ein Wort abgehauen war, hatten ihre Freunde sich die Mühe gemacht, sie zu finden!

Sie hörte das helle Trippeln von Reds Krallen auf dem steinernen Boden, Tifas besorgte Rufe und die stampfenden Schritte Clouds, der den Anderen voraus zu eilen schien. Als die Gruppe die vor dem Altar kniende Frau entdeckte, riefen alle Mitglieder erleichtert wie aus einem Mund: „Aerith!“

Während die Cetra sich beeilte, ihr Gebet endlich zu beenden, und Cloud mit schnellen Schritten über den schmalen Steg balancierte, zeterte Tifa: „Wie konntest du uns das antun und dich wortlos aus dem Staub machen?! Wir haben uns riesige Sorgen gemacht! Wenn Cloud nicht die Idee mit der vergessenen Stadt gehabt hätte, würden wir dich immer noch suchen. Schäm dich!“

Überraschung durchzuckte Aerith und sie wunderte sich, woher der Exsoldat jene Eingebung wohl gehabt hatte. Doch anstatt sich intensiv mit dieser Frage auseinanderzusetzen, konzentrierte sich die Cetra lieber auf ihr Gebet. Sie spürte deutlich, dass „Heilig“ kurz vor der Entfaltung seiner vollen Kräfte stand. Nur noch ein kleines bisschen…
 

Inzwischen hatte Cloud das Plateau erreicht und wollte zu einer Begrüßung ansetzen, doch stattdessen kamen nur abgehackte, gurgelnde Laute aus seinem Mund. Aerith öffnete erschrocken die Augen und späte vorsichtig über ihre Schulter. Als sie sah, dass Clouds Aura wieder zu flackern begonnen hatte und sein Körper von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde, gefror ihr das Blut in den Adern.

„Du musst dagegen ankämpfen!“ Vincent brüllte aus vollen Lungen, doch er war sich dennoch nicht sicher, ob er zu dem besessen wirkenden Cloud durchdringen konnte. Dieser fiel stöhnend auf die Knie, während seine Hände scheinbar gegen seinen Willen mit einer abgehackten Bewegung nach seinem Schwertheft griffen. Aeriths Herz begann wie wild zu hämmern und sie kniff ängstlich die Augen zusammen, um sich mit neuer Intensität auf ihr Gebet zu konzentrieren.

„Reiß dich zusammen, Cloud!“ Barrett klang als hätte er den Blonden in diesem Moment am liebsten erwürgt. Auch Tifa versuchte mit Flehen und Bitten zu ihrem Freund durchzudringen: „Cloud, sieh mich an. Ich bitte dich, sieh mich an!“ Doch trotz ihrer Bemühungen zog der Blonde sein mächtiges Schwert und hob es über den Kopf, wobei ihm sein schwerer, innerer Kampf deutlich ins Gesicht geschrieben stand.

„Hör auf mit dem Scheiß!“ Red rannte über den langen Steg, konnte das Plateau jedoch nicht erreichen, bevor Cloud plötzlich den Schwertgriff losließ so als hätte er sich verbrannt. Er schüttelte heftig mit dem Kopf, um wieder zu sich zu kommen, und stammelte: „Nein… Nein! Ich… Ich will das nicht!“

Gerade als Aerith erleichtert aufatmen wollte, ertönte auf einmal Sephiroths schauriges Lachen und nur einen Herzschlag später schoss ein heißer, stechender Schmerz durch den Brustkorb der Cetra. Überrascht sah sie an sich herunter und entdeckte die lange, schmale Katanaschwertspitze, die aus ihrer linken Brust herausragte.

Für einen Moment wunderte Aerith sich darüber, doch dann fühlte sie wie alle Kraft ihren Körper verließ und sie langsam in sich zusammenbrach. Sie spürte wie die weiße Materia aus ihren Händen rollte und hörte wie Cloud und Tifa entsetzt schrien: „Nein! Aerith, nein!“ Dann wurde alles um sie herum schwarz.



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