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Lex Aeterna

von

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Aufbruch bei Nacht

Noch im Gehen entledigte sich Jakk seiner Stiefel und fiel wie ein Sack Kartoffeln bäuchlings ins Bett. Kahlis hatte nicht gelogen, als er sagte, die Betten seien weich. Wohlig seufzend umschloss er das Kissen und drückte sein Gesicht in die Federn. Die letzte Woche hatten Rhai und er auf Wiesen und Waldböden verbracht und sie würden es auch in Zukunft tun. Den Luxus eines kuscheligen Betts wollte Jakk deshalb voll und ganz auskosten. Mit einer schwungvollen Bewegung ließ sich Rhai neben ihn auf die Matratze fallen, die federnd nachgab. Er lächelte doch Jakk glaubte eine gewisse Unruhe in ihm erkennen zu können.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er vorsichtig.

Rhai zog die Augenbrauen zusammen und rollte sich auf den Rücken. Sein Blick ging gedankenverloren gen Decke.

„Kahlis war ziemlich distanziert, findest du nicht?“

Jakk zuckte mit den Schultern. „Bestimmt war er nur überfordert.“

„Glaubst du? Auf mich wirkte er eher misstrauisch als überfordert.“ Rhai seufzte. „Was tun wir, wenn er nicht mit uns kommen will?“

„Dann greift Plan B und wir zwingen ihn zu seinem Glück“, erwiderte Jakk trocken. Rhai jedoch schien von dieser Antwort nicht überzeugt. „Du machst dir zu viele Gedanken.“, sagte Jakk in beschwichtigendem Ton, „Wenn ihm dieser Sey wirklich so wichtig ist, wie du sagst, dann wird er uns regelrecht anflehen, dass wir ihn mitnehmen.“ Wahrscheinlich hatte er Recht. Sobald Kahlis ihnen Gehör schenkte, wäre er Feuer und Flamme. Von neuem Elan gepackt stand Rhai auf und ging Richtung Tür.

„Du gehst schon wieder?“, fragte Jakk verwundert. „Du solltest dich auch ausruhen. Wird 'ne verdammt lange Nacht heute.“

„Ja, ich weiß.“, entgegnete Rhai und hielt inne, „Aber ich würde gerne etwas mehr über ihn erfahren. Vielleicht verliert er so auch seine Scheu. Außerdem...“, ein breites Grinsen zierte nun sein Gesicht, „Außerdem meinte er, es gibt hier gutes Essen. Das kann ich mir unmöglich entgehen lassen!“ Welcher der beiden Gründe wohl Rhais Hauptmotivation war vermochte Jakk nicht zu sagen. Doch das glückliche Gesicht seines Freundes entlockte auch ihm ein flüchtiges Lächeln.

„Kommst du mit?“, fragte Rhai mit großen Augen doch Jakk schüttelte den Kopf.

„Ne, lass mal. Ich schlaf lieber für später vor.“

„Achso, verstehe.“ Ein Hauch von Enttäuschung spiegelte sich auf Rhais Gesicht wider. „Dann sehen wir uns erst heute Abend wieder?“

Jakk nickte knapp. „Ich denke schon, aber wecke mich einfach, wenn irgendetwas ist.“

„Geht klar!“, bestätigte Rhai und drückte die Klinke. „Verschlaf nur nicht!“, setzte er schelmisch grinsend nach und schlüpfte durch die Tür.

„Das wirst du schon zu verhindern wissen.“, entgegnete Jakk und beobachtete wie Rhai lächelnd im Flur verschwand. Er konnte seine Schritte noch eine Weile lang hören, bis sich diese schließlich zu weit entfernten.

Jakk streckte sich und ging zum Fenster. Es war helllichter Tag und die Sonne stand im Zenit am Himmel. Im Laufe ihrer Reise hatte er sich diverse skurrile Talente angeeignet. Eines der nützlicheren war es zu jeder Tag- und Nachtzeit in tiefen Schlaf fallen zu können. Dennoch schloss er die Fensterläden ein Stück und tauchte den Raum ins Halbdunkel. Nachdem er sich den meisten Teilen seiner Kleidung entledigt hatte, kroch er unter die leichte Decke und rollte sich wie eine Raupe darin ein. Sein Rücken würde ihm einige Stunden Ruhe in einem Federbett sicher danken. Er schloss die Augen und lauschte ins Dunkel. Gelegentlich drang das Geräusch von Schritten, die aus dem Flur hallten, an sein Ohr, doch zumeist umgab ihn Stille. Jakk spürte, wie sein Bewusstsein langsam in diesigen Schlummer entfloh, als es ihn plötzlich schauerte. Nicht vor Kälte. Viel mehr war es die unerwartete Berührung einer anderen Existenz. Wieder hellwach saß er im Bett und betrachtete seine Umgebung. Er war definitiv der Einzige im Raum doch er wusste, er war nicht allein. Entnervt stöhnend fiel er zurück ins Bett und schlug die Hände über dem Gesicht zusammen. Die fremdartige Präsenz war ihm durchaus bekannt und kam mehr als ungelegen. „Ami?“, fragte er mit knirschenden Zähnen. Ein leises Kichern erklang in seinen Ohren. Es war kein Geräusch, das von außen in seinen Gehörgang eindrang. Eher glich es einem Echo, das in seinem Kopf selbst widerhallte doch die Stimme war nicht seine eigene. „Lass mich in Ruhe, wenn du nichts zu sagen hast!“, fauchte Jakk gereizt in den leeren Raum.

„Warum so feindselig?“, fragte die tiefe melodische Stimme eines Mannes. Am Fuße des Betts tat sich eine schlanke Gestalt auf. Amis schwarzes Haar war ordentlich nach hinten gekämmt und seine gelben Augen leuchteten in der Düsternis wie die Flamme einer Kerze. Sein Körper war in fließenden dunklen Stoff gehüllt. Obwohl Jakk ihn so deutlich vor sich sah, schien seine Erscheinung keinerlei Konsistenz zu haben. Schwebend wie ein Gespenst bewegte er sich auf ihn zu. „Ich bin nicht hier um dich zu quälen. Ich spürte lediglich das Schwanken deines Geistes und dachte, du könntest einen Gesprächspartner brauchen.“ Mit Besorgnis in den Augen sah er Jakk an. „Sag, was versetzt dich in derartige Unrast?“ Sanft legte er seine Hand an Jakks Wange. Seine Berührung war wie ein kalter Windhauch auf dessen warmer Haut. Reflexartig versuchte Jakk seine Hand wegzuschlagen doch er traf auf keinerlei Widerstand.

„Es ist nichts.“, sagte er monoton doch Ami seufzte.

„Dein Mund spricht nicht die Worte, die dein Herz dir sagt.“ Er ließ von Jakk ab und wandte ihm den Rücken zu. „Die Ablehnung in dir ist unbegründet und wird dem Samen einer neuen Freundschaft kein guter Nährboden sein.“

„Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst.“

Ami blickte über die Schulter zu Jakk zurück. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Die Wahrheit wird selbst durch erzwungenes Unverständnis nicht zur Lüge.“

Stöhnend schüttelte Jakk den Kopf. „Kannst du dich nicht einfach mal normal ausdrücken? Von deinem Gerede kriege ich echt Kopfschmerzen.“ Frustriert warf er sich auf die Seite und zog die Decke bis unter die Nase. Er hatte sich auf ein paar Stunden Ruhe und Erholung gefreut, stattdessen fand er sich nun im Zwiegespräch mit dieser Entität, die ihm schon seit seiner Kindheit nicht von der Seite wich. Und stets ließ ihn Ami mit mehr Fragen zurück, als er beantwortete. Es war ernüchternd.

„Bitte verzeih meine mangelnde Eloquenz.“, erwiderte Ami kichernd. Offensichtlich empfand er Jakks Frustration als ausgesprochen amüsant. „Was ich meinte, war: Gib dem Jungen eine Chance. War das verständlicher?“ Der Hohn in Amis Stimme war kaum zu überhören. Am liebsten hätte Jakk ihn dafür am Schlafittchen gepackt, doch er wusste, dass dies ein sinnloses Unterfangen wäre. In seinem Stolz gekränkt verkroch er sich schließlich ganz unter die Decke während er unverständliche Flüche murmelte. Ami konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. „Jakk?“, fragte er in friedfertigem Ton, „Bitte sprich mit mir wann immer dich etwas bedrückt, ja?“ Jakk schwieg. „Du weißt, ich bin immer an deiner Seite.“ Während Amis Worte noch in seinen Ohren klangen, spürte er dessen Präsenz schwinden. Ob dieser letzte Satz ein Versprechen oder eine Drohung war, konnte Jakk nicht eindeutig sagen, doch beide Möglichkeiten ließen ihn mit einem seltsam schwammigen Gefühl in der Magengrube zurück. Nach Luft ringend zog er sich die Decke vom Kopf und starrte ins Dunkel. Ami war so schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Doch was blieb, waren seine Worte. Und obwohl Jakk sich unglaublich erschöpft fühlte und sein Körper schwer wie Blei war, glaubte er nicht, dass er jetzt noch schlafen konnte.
 

Kahlis war wenig überrascht, als er Rhai an einem der Tische im Speisesaal erblickte. Er hatte ihn quasi selbst dazu aufgefordert. Jedoch wunderte es ihn, dass Jakk nicht bei ihm war. Er wusste nicht wieso, doch aus irgendeinem Grund hatte er nicht erwartet die beiden getrennt zu sehen. Obwohl es für zwei erwachsene Männer sicherlich seltsam wäre permanent Zeit miteinander zu verbringen. Oder nicht? Als er noch hier war hing Kahlis wie eine Klette an seinem Bruder. Am liebsten hätte er ihn vierundzwanzig Stunden am Tag begleitet. War diese enge Beziehung akzeptabler, weil sie verwandt waren? Je länger er darüber nachdachte desto seltsamer erschienen ihm seine eigenen Gedankengänge. Und wieso kümmerte es ihn überhaupt? Tagein und tagaus sah er dutzende anderer Gäste an die er nie derartige Gedanken verschwendete. Jedoch hatte von denen auch niemand je so direktes Interesse an ihm gezeigt. Er war verwirrt. Die Arbeit ging ihm jetzt noch schlechter von der Hand als sonst. Dennoch verliefen die nächsten Stunden relativ ruhig. Rhai lächelte wann immer sich ihre Blicke trafen, doch versuchte er nicht Kahlis aufzuhalten oder ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Seinen Kollegen hingegen widmete er rege Aufmerksamkeit. Vor allem bei den jüngeren Damen kam er damit sehr gut an. Es dauerte nicht lange bis die ersten Mädchen von dem „charmanten Mann von Tisch Vier“ schwärmten. Ein spontaner Hauch der Übelkeit überkam Kahlis jedes Mal, wenn er eines dieser Gespräche im Vorbeigehen aufschnappte. Als ob ein schweres Gewicht auf seinen Magen drückte. Kurz aber intensiv.

Unendliche Dankbarkeit erfüllte ihn, als Rutha ihm endlich gestatte sich um die Pferde zu kümmern. Wenigstens dort dürfte er für eine Weile von diesem Theater verschont bleiben. Er legt seine Schürze ab und wollte gerade gehen, als seine Mutter ihn beiseite nahm.

„Ist alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie...“, sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen, „...konfus?“ Tatsächlich traf sie seine Stimmung damit ziemlich gut. Aufrichtige Sorge glänzte in Ruthas Augen, als sie ihren Jüngsten musterte. „Ist irgendetwas vorgefallen? Oder wirst du vielleicht krank?“ Sie legte ihre Hand auf Kahlis' Stirn, konnte jedoch keine erhöhte Temperatur feststellen. „Fieber hast du schon mal nicht.“ Sie dachte nach. Neben seinem tranigen Verhalten hatte er außerdem schon den ganzen Tag das Essen vernachlässigt. „Antriebslosigkeit, kein Appetit, gedankenverloren...“, sagte sie mehr zu sich selbst, als zu Kahlis, der sie mit zunehmender Verwirrung beäugte. Wie vom Donner gerührt weiteten sich plötzlich ihre Augen, als ihr scheinbar die Erleuchtung kam. Sie ergriff Kahlis an beiden Schultern und sah ihm todernst in die Augen. Ein heiseres nervöses Lachen entfloh seiner Kehle, als ihm klar wurde, dass es keinen Ausweg gab. „Kahlis.“, begann sie mit ernster Stimme zu sprechen, „Du weißt, dass du mit mir offen über alles reden kannst. Und schließlich bist du jetzt genau in diesem Alter...“ Sie hielt inne und Kahlis ahnte voll Schrecken in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickeln würde. „Mein Junge“, sie holte noch einmal tief Luft, „Hast du Liebeskummer?“ Ein peinlich berührtes Zucken durchzog Kahlis' Gesicht bevor er vehement den Kopf schüttelte.

„Nein. Nein, wirklich nicht. Definitiv nicht.“ Er schob seine Mutter sanft von sich und brachte sie auf eine Armlänge Distanz. Er wusste nicht, ob er lachen, weinen oder wortlos das Weite suchen sollte. Es war ihm ein absolutes Rätsel, wie sie ausgerechnet zu dieser Schlussfolgerung gekommen war. Doch er befürchtete, dass sie daran festhalten würde.

„Och Schatz, das muss dir doch nicht peinlich sein.“, versuchte Rutha ihn zu beruhigen, „Als ich in deinem Alter war, wurde mir schon mehr als ein Mal das Herz gebrochen. Und ich weiß wie grausam Mädchen sein können.“ Mit einem verständnisvollen Nicken tätschelte sie Kahlis die Schulter. Er zwang sich ruhig zu bleiben.

„Mir hat aber niemand das Herz gebrochen. Es ist alles in Ordnung. Wirklich.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verliehen nahm er die Hand seiner Mutter und drückte diese fest.

„Das heißt dann also...“, in ihrem Kopf schienen sich komplexe Denkvorgänge abzuspielen und ihre Augen begannen zu leuchten. „Wenn sie dir das Herz nicht gebrochen hat und alles in Ordnung ist... hast du eine Freundin und ihr seid glücklich? Wann stellst du sie mir vor?“

Kahlis klappte buchstäblich die Kinnlade herunter. „Was...?“, fragte er ungläubig. Er bemühte sich angestrengt, doch die Gedankengänge, die seine Mutter zu dieser Annahme geführt hatten, wollten sich ihm einfach nicht offenbaren. Ihr Gesicht strahlte hell und war voller Freude.

„Das hättest du mir doch ruhig sagen können, statt es so lange mit dir herumzutragen. Gefühle können verwirrend sein, ich weiß. Aber gerade die erste Liebe ist etwas Wunderbares!“ Rutha war vollkommen in ihrer eigenen schillernden Welt. Kahlis' verzerrten Gesichtsausdruck ignorierte sie dabei beflissen. Am liebsten hätte er verzweifelt aufgeschrien. Tief ein und aus atmend rief er sich selbst zur Ruhe und setzt zu einem weiteren Klärungsversuch an: „Du hast das falsch verstanden. Ich habe keine Freundin. Ich hatte noch nie eine Freundin. Und ich werde auch in naher Zukunft keine haben. Okay?“ Trotz seiner Anstrengung war sein Tonfall harscher als er es wollte. Rutha sah ihn bestürzt an. Es tat ihm im Herzen weh, als das Lächeln seiner Mutter erstarb, doch es war nötig. Betroffen blickte sie zu Boden. Plötzlich hatte Kahlis das Gefühl etwas Furchtbares getan zu haben. „Ich bin heute einfach nur durch den Wind. Ist nichts Ernstes.“, sagte er ruhig. Vorsichtig nahm er seine Mutter in den Arm. „Entschuldige, ich wollte dir keine Sorgen machen.“ Rutha lächelte schwach und erwiderte die Umarmung.

„Schon in Ordnung. Da ist wohl die Fantasie mit mir durchgegangen.“ Sie lachte peinlich berührt und fuhr sich durchs Haar. „Ich werde wohl doch langsam senil.“ Sie ging einige Schritte zurück und betrachtete Kahlis von oben bis unten. „Aber wenn es doch soweit ist, dann rede bitte mit mir. Schließlich werden die Mädchen nicht ewig die Finger von dir lassen und ich freue mich doch schon auf viele kleine Enkelchen!“ Sie lachte herzhaft.

„Mama...“, brachte Kahlis gequält hervor. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm das letzte Mal ein Gespräch derart unangenehm war. Wenn er auch nie an Dea geglaubt hatte, so schickte er jetzt doch ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass es endlich enden möge. Während er noch hilfesuchend ins Blaue sah, räusperte sich Rutha. Ihr Blick war jetzt wieder ernst und hart.

„Gut, nachdem das jetzt geklärt ist haben wir genug Zeit vertrödelt. Die Pferde warten schließlich nicht ewig. Hopp, hopp!“ Von liebender Mutter zu knallharter Geschäftsfrau innerhalb eines Wimpernschlags vermochte nur sie zu vollbringen. Doch tatsächlich war Kahlis dankbar für den abrupten Sinneswandel. Im Eiltempo begab er sich zum Stall.

Runa beäugte ihn neugierig, als er das schwere Stalltor öffnete. Vida hingegen verschwendete, ähnlich wie sein Besitzer, keinen Blick an ihn. Die rotbraune Stute wackelte freundlich mit den Ohren, als sich Kahlis näherte und ließ sich anstandslos auf die Koppel führen. Er hoffte, dass Vida es ihm ähnlich einfach machen würde, doch Rhai hatte ihn sicherlich nicht grundlos als Sturkopf betitelt. Ein unwillkürliches Schmunzeln überkam Kahlis, als er sich an Jakks empörte Reaktion darauf erinnerte. Festen Schrittes ging er auf den schwarzen Hengst zu, der simultan zurückwich. Jedoch gab ihm die Box nur wenig Spielraum zum Rückzug. Drohend hob er seinen großen Kopf und schnaubte mit geblähten Nüstern, als Kahlis die Tür öffnete. Der Rappe war eine respekteinflößende Erscheinung. Sein Stockmaß entsprach Kahlis' eigener Größe. Und bei einem Gewicht von mehreren hundert Kilogramm wollte er äußerst ungern unter die Hufe geraten.

„Ruhig, Großer...“, sagte Kahlis mit tiefer Stimme. Mit den Händen machte er eine beschwichtigende Geste doch Vida schien unbeeindruckt. Immer wieder scharrte er aufgeregt mit den Hufen. Das Herz schlug Kahlis bis zum Hals, als er die Hand nach dem Hengst ausstreckte. Mit wachen Augen beobachtete er jede Bewegung des Pferdes, während er sich langsam näherte. „Siehst du? Ich tu dir nichts. Lass uns Freunde sein.“ Angespannt berührten seine Fingerspitzen Vidas Hals. Dieser schnaubte laut, senkte aber schließlich den Kopf. Erleichterung ergriff Kahlis' ganzen Körper und zufrieden streichelte er Vidas glänzendes Fell. „Na siehst du, war doch gar nicht schlimm.“ Als ob er ihm zustimmen wollte, hob und senkte der Hengst den Kopf.

„Beeindruckend!“, erklang eine nicht mehr ganz unbekannte Männerstimme hinter ihm. Mit einem Lächeln auf den Lippen lehnte Rhai am Türrahmen des Eingangs. Vermutlich stand er schon lange genug dort, um das komplette Spektakel gesehen zu haben. Kahlis' Herz machte einen Sprung, als er ihn erblickte. Er hatte nicht mit Publikum gerechnet. „Für einen Moment wollte ich dir zur Hilfe eilen, aber du hast das ja voll im Griff.“ Rhais Lob trieb eine zarte Röte auf Kahlis blasse Wangen und für einen Moment stockte ihm der Atem.

„Danke...“, erwiderte er leise und führte Vida an Rhai vorbei auf die Koppel.

„Brauchst du Hilfe beim Füttern oder so?“, fragte Rhai doch Kahlis schüttelte rasch den Kopf.

„Nein, danke. Das gehört zum Service.“

„Verstehe.“ Ohne ein weiteres Wort ließ sich Rhai auf einem Schemel in der Ecke des Stalls nieder. Obwohl Kahlis ihm den Rücken zugekehrt hatte, spürte er wie Rhais Blick an ihm haftete. Stumm beobachtete er jede seiner Bewegungen. Neben dem Rascheln des Heus hörte Kahlis nur seinen eigenen nervösen Herzschlag. Die Anspannung machte ihn mürbe. Wieso war er hier? Warum war er ihm an diesen abgeschiedenen, miefigen Ort gefolgt, nachdem er ihn die letzten Stunden so schändlich ignoriert hatte?

„Kahlis...“ Erschrocken zuckte er zusammen, als Rhai ihn plötzlich ansprach. „Entschuldige, das wollte ich nicht.“

„Ist schon in...“, Kahlis erstarrte, als Rhais maskuline Gestalt direkt vor ihm auftauchte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er zu ihm aufgeschlossen hatte. Mit rasendem Herzen und weit aufgerissenen Augen wich er einige Schritte zurück.

„Verzeih, ich hatte nicht bemerkt, dass du so in Gedanken warst.“ Rhai sprach mit aufrichtiger Reue. Sein Blick glich dabei einem Hund, den man soeben getadelt hatte.

„Nicht deine Schuld, ich hätte besser aufpassen müssen.“ Nach einigen ruhigen Atemzügen erlangte Kahlis seine Fassung zurück. „Also, was kann ich für dich tun?“

„Ich brauche nur ein paar Minuten deiner Zeit. Bitte höre mich an!“ Obwohl Rhai die meiste Zeit gelächelt hatte, strotzte sein Ausdruck nun von wilder Entschlossenheit. Doch Kahlis war sich unsicher, ob er dieser Bitte nachkommen sollte. So sehr sein Interesse auch geweckt war, so sehr keimte ebenfalls die Saat des Misstrauens in ihm. Rhai und Jakk waren nach wie vor Fremde. Söldner obendrein. Ihre Moral und Loyalität gehörte dem, der den höchsten Preis dafür zahlte. Wie vertrauenswürdig konnten solche Leute wirklich sein? Seine Vernunft sträubte sich mit jeder Faser dagegen Rhai Gehör zu schenken. Doch wenn er in das flehende Gesicht dieses Mannes blickte, sah er nicht die mordende Bestie, die er sein sollte.

„Ich weiß nicht...“, sagte er mit zitternder Stimme. Er brachte es nicht übers Herz Rhai dabei in die Augen zu sehen. Enttäuscht wandte er sich von ihm ab. Mit einem Seufzen zog Rhai einen Brief aus seiner Tasche. Die Ecken waren abgewetzt und das Papier zerknittert und aufgeraut. Der Umschlag hatte eindeutig schon einige Jahre auf dem Buckel. Doch das Wachs auf der Rückseite war unversehrt. Es hatte kein Siegel eingeprägt und diente lediglich als Zeugnis, dass der Brief nie zuvor geöffnet wurde. Mit einem schwachen Lächeln streckte er Kahlis das Schriftstück entgegen.

„Wenn du mir nicht vertraust, dann vielleicht Sey?“

Sämtliche Farbe wich aus Kahlis' Gesicht, als Rhai den Namen seines Bruders aussprach. Er konnte ihn unmöglich zufällig aufgeschnappt haben.

„Sag... das nochmal.“, brachte Kahlis atemlos hervor. Ihm wurde unglaublich warm und er zitterte am ganzen Körper.

„Sey schickt mich, um dir diesen Brief und eine schwerwiegende Bitte zu überbringen.“ Rhais Stimme war klar und fest, dennoch konnte Kahlis das Gesagte kaum verstehen. Mit schweißnassen Händen ergriff er den Umschlag und brach das Wachs, welches ihn so lange verschlossen hielt. Die Handschrift auf dem Papier war ihm schmerzlich bekannt. Mit feuchten Augen begann er zu lesen:
 

„Liebster Kahlis,

bitte verzeih mir den Schmerz, den mein Gehen dir und Mutter bereitet hat. Doch warst du damals noch zu jung, als dass ich dich hätte mit mir nehmen können. Seither verging kein Tag, an dem ich mich nicht danach sehnte wieder mit dir vereint zu sein. Doch wisse, dass dieser Tag in greifbarer Nähe liegt. Noch trennen uns Welten, doch du wirst diesen Weg nicht alleine beschreiten müssen. Wenn dich diese Nachricht erreicht, sobald du zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen bist, so weiß ich, dass ich einen treuen und achtbaren Gefährten gefunden habe, der dich von nun an an meiner statt begleiten wird. Möge er dir der Freund sein, der er mir war.

Zu viel drückt mir auf dem Herzen, als dass ich es in diesen Zeilen niederschreiben könnte. Doch ich verspreche dir, dass all deine Fragen geklärt werden, wenn wir uns wieder in den Armen liegen. Dein wahres Potential ruht noch tief verborgen in deinem Inneren, doch gemeinsam werden wir es wecken und diese Welt zum Besseren wenden.

Sei stark und tapfer. Und wisse, dass ich im Geiste stets bei dir bin, wann immer dir der Mut schwindet oder die Hoffnung sinkt.
 

In stiller Sehnsucht,

dein dich liebender Bruder Sey“
 

Wortlos starrte Kahlis auf das alte Stück Papier. Stumme Tränen rollten heiß seine Wange hinab, während er die Zeilen wieder und wieder überflog.

„Sey...“, schluchzte er erstickt. „Ist... das wirklich wahr?“ Hilflos wie ein Kind sah er zu Rhai auf. Mit einem warmen Lächeln bejahte er diese Frage. Ein unkontrollierbarer Schwall von Emotionen brach wie eine Flutwelle auf Kahlis ein. Freude, Angst, Erleichterung, Verwirrung, Hoffnung – es war überwältigend und riss ihn hinfort wie ein Schiff im Sturm. Die ganze Anspannung dieses Tages löste sich explosionsartig. Zitternd gaben seine Beine nach und er fiel im Heu auf die Knie. Rhai setzte sich neben ihn auf den Boden. Stützend hielt er Kahlis' Arm.

„Wirst du mit uns kommen und ihn finden?“, fragte er ruhig.

Obwohl er kaum realisierte was hier gerade vor sich ging, begann Kahlis zu nicken. „Ja... ja. Bring mich zu ihm!“ Von Eifer gepackt richtete er sich auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Wenn Sey Rhai vertraute, so würde er es auch tun. „Wann brechen wir auf?“

Überrascht von Kahlis' plötzlichen Tatendrang fehlten Rhai für einen Moment die Worte. Jedoch fing er sich schnell wieder. „Mitternacht, wenn alle schlafen.“ Mit ernstem Blick zog er Kahlis zu sich heran. „Aber du musst dir im Klaren darüber sein, was du alles hinter dir lässt - Freunde, Familie, dein ganzes bisheriges Leben. Außerdem kann ich nicht für deine Sicherheit garantieren. Der Weg wird lang und gefährlich. Ich werde alles dafür tun dich zu beschützen doch ultimativ kann ich dir dein Überleben nicht versprechen.“ Kahlis schluckte schwer. Rhais Worte waren hart und unverblümt. Doch wenn es jemals einen Moment gab in dem Kahlis ganz genau wusste was er zu tun hatte, so war es dieser. Mit eiserner Entschlossenheit sah er Rhai an.

„Freund, Familie und Leben war stets Sey für mich. Ich habe nichts zu verlieren auf dieser Reise. Und wenn ich ihn nur durch die kalte Umarmung des Todes wieder in meine Arme schließen kann, dann sei es so.“

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Rhais Gesicht aus. Er gab Kahlis einen kräftigen Schlag auf die Schulter, sodass dieser leicht taumelte. „Dann ist es beschlossene Sache! Jakk und ich werden um Mitternacht vor dem Gasthaus auf dich warten. Iss ordentlich, bring nur leichtes Gepäck und sag zu niemandem ein Sterbenswort. Mitwisser bedeuten immer moralischen Ballast.“

„Verstanden.“ Kahlis war klar, was Rhai damit meinte. Der Gedanke seine Mutter allein und unwissend hier zurück zu lassen stach ihm im Herzen. Doch sie würde sicherlich versuchen ihn aufzuhalten, wenn sie davon erfuhr. Und wenn er Sey nur zurückbringen konnte, indem er Arindell den Rücken kehrte, so war er bereit dieses Opfer zu bringen. Bestimmt würde sie es irgendwann verstehen.

Gemeinsam mit Rhai verließ er den Stall. Zurück im Goldblatt trennten sich ihre Wege vorerst. Es verblieben noch etwa sechs Stunden bis Mitternacht. Sechs Stunden in denen Kahlis keinen Verdacht erregen und trotzdem alles Nötige vorbereiten musste. Euphorie und Nervosität wechselten in ihm wie Ebbe und Flut und er konnte den Einbruch der Nacht kaum erwarten.
 

Der dunkle Himmel war wolkenverhangen und das Mondlicht erhellte die Stadt nur spärlich. Mit einer Kerze in der Hand und seinem Gepäck auf der Schulter schlich Kahlis auf Zehenspitzen aus seinem Zimmer. Wie durch Rhai angewiesen hatte er nur das Nötigste eingepackt. Diverse Kleidungsstücke und einige nützliche Hilfsmittel und Arzneien füllten seinen Stoffbeutel. Des weiteren führte er ein langes scharfes Messer mit sich, welches er heimlich aus der Küche entwendet hatte. Er war kein Kämpfer, doch er hatte das Gefühl, dass dies das Mindeste war, was er tun konnte. Mit vorsichtigen Schritten stahl er sich den Flur entlang. Obwohl Kahlis ein Leichtgewicht war, knarrten die Bodenbretter verräterisch unter seinen Füßen. Dennoch rührte sich außer ihm niemand. Kurz bevor er die Treppe erreichte, die hinunter ins Gasthaus führte, hielt er inne. Wehmütig blickte er auf die Schlafzimmertür seiner Mutter. Sein Mund war trocken. „Bitte verzeih mir...“, flüsterte er leise und stieg die Stufen hinab.

Vor dem Goldblatt warteten Rhai und Jakk wie versprochen in voller Montur mit ihren Pferden. Rhais Haare waren nun straff geflochten und eine Augenbinde verdeckte sein linkes Auge. Seine Hände, Unterarme und Schienbeine waren durch Stahl geschützt und von den Knöcheln seiner Finger ragten spitze Dornen. Jakk war nach wie vor in schwarz gekleidet. Farblich passendes Leder verstärkte seine Brust, Arme und Hände. Neben dem Langbogen auf seinem Rücken und dem Köcher an der Hüfte trug er außerdem ein Jagdmesser griffbereit am Oberschenkel. Kahlis fühlte sich plötzlich furchtbar fehl am Platz.

„Wir hatten schon Angst, dass du einen Rückzieher machst.“, begrüßte ihn Rhai mit neckischem Ton und nahm ihm sein Gepäck ab.

„Niemals. Ein Mann steht zu seinem Wort!“, erwiderte Kahlis entschlossen.

„Sehr gut, dann lass uns keine Zeit verlieren. Du reitest mit mir. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich?“ Die Wahl mit wem er sich lieber ein Pferd teilte, fiel Kahlis nicht all zu schwer und so schwang er sich hinter Rhai auf Runas Rücken. Unsicher suchte er nach Halt, doch der Sattel war kaum für zwei Personen ausgelegt. Zaghaft legte er die Hände auf Rhais Schultern. Sogleich griff dieser danach und führte Kahlis' Arme um seine Taille.

„Was ist dir lieber – vom Pferd fallen oder mich anfassen?“

„Ehm...“, war das einzige was Kahlis vor lauter Perplexität hervor brachte.

„Dachte ich mir.“, sagte Rhai lachend und gab Runa die Sporen. Die Stute setzte sich rasant in Bewegung und Jakk auf Vida folgte nach. Voll Schwermut blickte Kahlis zurück zu dem Haus, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte. Er wusste, ab jetzt gab es kein Zurück mehr und er hoffte inständig, dass er diese Entscheidung nicht bereuen würde.
 

Wutentbrannt stürmte Rutha auf Kahlis' Zimmer zu. Wie eine Furie begann sie an die Tür zu hämmern. „Kahlis! Was habe ich dir gestern übers Zu-Spät-Kommen gesagt, du fauler Hund?!“ Kraftvoll drückte sie die Klinke nach unten, wie sie es jedes Mal tat doch heute gab die Tür zum ersten Mal nach. Überrascht betrat sie das leere Zimmer. „Kahlis?“ Ihre Wut war wie weggeblasen, als sie ihn nirgendwo erblickte. Jedoch erweckten zwei Briefe auf dem Bett ihre Aufmerksamkeit. Der eine wirkte alt und das Papier war bereits leicht vergilbt. Der andere hingegen war neu und trug lediglich eine Zeile:
 

„Bitte vergib mir, Mama, aber ich musste gehen.“



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