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Stolen Dreams Ⅳ

von

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19. Kapitel

Misha saß in einem grasgrünen Sessel und starrte gedankenverloren zu Boden. Die Wohnung, in der er sich befand, gehörte einer jungen Frau namens Sina, die eine ehemalige Bekannte von Viktor war. Sina und Artjom hockten nebenan im Büro. Misha konnte hören, dass sie miteinander sprachen, aber was genau sie sagten, verstand er nicht. Eigentlich interessierte ihn das auch gar nicht – er wollte bloß hier weg.

Weg von diesem kranken Monster, das sich in einer menschlichen Hülle versteckte und alles, was es berührte, verfaulen und verrotten ließ. Mishas Körper war das beste Beispiel dafür. Artjom hatte ihn ruiniert. Selbst wenn jetzt, in genau dieser Sekunde, ein Notarzt die Tür eintreten, Misha versorgen und ins nächste Krankenhaus bringen würde, gäbe es keine Garantie dafür, dass der Junge sich je vollständig erholen würde. Sein Leib war in Verbände gehüllt, mit Pflastern beklebt und mit so vielen Wunden übersät, dass er das Zählen schon lange aufgegeben hatte. Er sah aus, als wäre er von wilden Tieren angefallen und mehrere Male überfahren worden.
 

Misha verstand nicht, warum es ‘‘Menschen‘‘ wie Artjom gab. Wie zur Hölle konnte man es mögen, anderen Leuten zu schaden, insbesondere wehrlosen Minderjährigen? War es das Gefühl von Kontrolle? Brauchte Artjom eine Bestätigung seiner körperlichen Überlegenheit? Oder besaß er einfach nur einen kranken Fetisch, der ihn Erregung verspüren ließ, wenn er andere in die Ohnmacht prügelte und Unmengen an Blut aus ihren Körpern holte? Misha würde es wahrscheinlich nie verstehen.

Ihm liefen schon wieder die Tränen über das Gesicht. Hastig wischte er sie weg und presste sich Daumen und Zeigefinger auf die Tränendrüsen, damit er nicht erneut zu weinen begann, weil er panische Angst davor hatte, von Sina dabei erwischt zu werden. Er wusste, dass er jetzt andere Probleme hatte, aber das war seiner Angst egal – sie vertrat die Meinung, dass es nichts Schlimmeres gab, als aufzufallen. In seinem Kopf spielte sich das Szenario ab, dass Sina auf ihn zukam und fragte, ob alles okay sei, und diese Vorstellung ließ ihn vor Furcht erzittern.
 

Eine Weile später verstummten die beiden Erwachsenen und verließen das Büro. Während Sina in die Küche ging und dort vermutlich einen Kaffee aufsetzte, trottete Artjom ins Wohnzimmer und blieb vor Misha stehen, dem er zärtlich über die Wange strich.

Dem Jungen fiel es wirklich schwer, nicht zurückzuweichen. Es fühlte sich an, als würde Artjom mit einem Messer über die weiche Haut streichen und jeden Moment ausholen und zustechen. Misha meinte bereits spüren zu können, wie das Metall sich durch seine Wange bohrte, in seine Zunge stach und seinen ganzen Mund mit Blut füllte.

„Alles okay, mein Kleiner?“

Halt die Klappe, Arschloch. Ich bin nicht dein Kleiner. Mir geht es einfach nur beschissen und du darfst dreimal raten, wer dafür verantwortlich ist, du krankes--

Misha sah, dass Sina ihren Kopf durch den Türrahmen steckte, und schob sofort Artjoms Hand von sich weg. Er wollte nicht auffallen. Auf gar keinen Fall.
 

„Möchtest du Zucker oder Milch dazu haben?“

„Nur Milch, danke“, antwortete Artjom, ohne sie anzusehen. Seine grünen Augen ruhten auf Misha, der nervös schluckte und sich verkrampfte.

„Kann ich dir auch etwas anbieten?“

Ugh, sie hat mich angesprochen. Das musste ja passieren.

„N-nein, danke“, sagte Misha und bereute seine Worte sofort. Er hatte sie ganz komisch betont und bestimmt auch viel zu leise und undeutlich gesprochen und höflich hatten sie irgendwie auch nicht geklungen.

Falls Misha tatsächlich etwas falsch gemacht hatte, dann ließ Sina sich das nicht anmerken. Sie nickte bloß und verschwand wieder in der Küche.
 

„Willst du dich nicht zu uns setzen?“, fragte Artjom und streckte seine Hand erneut nach Misha aus. Diesmal waren die haselnussbraunen Haare dran.

„N-nein. Ich möchte nicht“, sagte Misha und erschauerte bei dem Gefühl, wie Artjom ihm durch das Haar wuschelte. Es fühlte sich an, als würden Würmer und Läuse über seine Kopfhaut krabbeln.

„Komm, stell dich nicht so an.“

Misha hätte am liebsten genervt geseufzt, als Artjom ihn aus dem Sessel zog und Richtung Büro zerrte. Warum fragte der Penner überhaupt, wenn er sich sowieso nicht für Mishas Meinung interessierte? Hatte er wirklich nichts Besseres zu tun?

Im Büro angekommen nahm Artjom auf dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz und beförderte Misha auf seinen Schoß. Der Junge wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Er fühlte sich wie eine Prostituierte.
 

Kurze Zeit später betrat Sina den Raum und stellte ein Tablett mit zwei Tassen auf dem Tisch ab, ehe sie sich hinter ihn auf dem Stuhl niederließ und irgendetwas sagte. Misha hörte ihr nicht zu. Seine Gedanken drehten sich darum, wie er Artjom zusammenschlagen und demütigen würde, wenn er in der Lage dazu wäre. Er hasste diesen Kerl. Und das in einem Ausmaß, von dessen Existenz er nicht einmal gewusst hatte.

Artjom legte eine Hand auf Mishas Rücken. Der Kleine wollte ihm die Finger einzeln brechen und sie danach Stück für Stück abschneiden. Dieses Monster sollte nie wieder jemanden schlagen können.

„Ich glaube, das wäre dann alles“, sagte Sina schließlich. Misha hatte keine Ahnung, wie lange sie und Artjom schon geredet hatten. „Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?“

„Ja. Viktor hat erwähnt, dass du ein altes Handy von ihm besitzen würdest. Kann ich es haben?“
 

Sina setzte eine nachdenkliche Miene auf und fuhr sich durch das kurze, dunkle Haar. Sie griff in die oberste Schublade ihres Schreibtisches und holte einen Stapel Münzen hervor, die sie in einer Reihe über den Tisch verteilte.

„Lass uns ein Spiel spielen“, sagte sie, nachdem die letzte Münze – Misha würde auf eine alte, nicht mehr benutzte Währung aus dem letzten Jahrhundert tippen – mit einem leisen ‘‘Klack‘‘ auf der Tischplatte landete. „Wir werden jetzt abwechselnd Münzen ziehen. Du kannst dir bei jedem Zug eine, zwei oder drei nehmen; das ist vollkommen dir überlassen. Das Gleiche gilt übrigens für mich. Derjenige, der die letzte Münze kriegt, hat gewonnen.“

„Tut mir leid, Sina, aber ich habe dafür keine Zeit. Kann ich bitte das Handy haben?“

„Meinst du das hier?“, erwiderte sie leicht neckend und holte ein Smartphone aus der Tasche ihres Pullovers. „Klar. Aber nur, wenn du mich besiegst. Komm schon, es ist wirklich nicht schwer. Du darfst sogar bestimmen, wer anfängt.“
 

Hätte Misha sich außerhalb Artjoms Reichweite befunden, würde er ihn jetzt auslachen. Er spähte unauffällig zu Artjoms Gesicht, auf dem eine genervte Miene lag, und zählte anschließend die Münzen. Es waren 16 Stück.

„Wenn‘s unbedingt sein muss“, stöhnte Artjom lustlos. „Ich fang‘ an.“

Er nahm sich drei Münzen, woraufhin Sina eine nahm. Es dauerte nicht lange, bis genau das passierte, womit Misha gerechnet hatte: Sina hielt die letzte Münze in der Hand und sah schief lächelnd zu Artjom, der die Arme vor der Brust verschränkte und mürrisch das Gesicht verzog.

„Noch ‘ne Runde?“

Artjom antwortete nicht, sondern packte Misha, schob ihn von seinem Schoß und setzte ihn im anderen Sessel ab. Es folgten drei weitere Runden, die Artjom alle verlor. Danach versuchte es mit der Taktik, Sina anfangen zu lassen, aber das änderte nichts daran, dass er den Kürzeren zog.
 

„Okay, du hattest deinen Spaß“, zischte er nach der fünften oder sechsten Runde. „Ich gebe auf. Kann ich jetzt das scheiß Handy haben?“

„Nö“, antwortete Sina, die sich anscheinend nicht bewusst war, dass Artjom sie jeden Moment erwürgen könnte. Misha hatte das Ganze am Anfang noch unterhaltsam gefunden, aber mittlerweile fand er es nicht mehr lustig. Es würde entweder damit enden, dass Sina im Krankenhaus landete oder dass Artjom sie verschonte und seine Wut später an Misha ausließ.

„Sina, ich meine das ernst“, sagte Artjom und legte die Hände auf den Tisch, als würde er mit einem Geschäftspartner reden. „Ich habe bereits genug Zeit mit diesem Blödsinn verschwendet. Gib mir das verdammte Handy.“

„Nur noch eine Runde, okay? Ich hole uns auch neuen Kaffee.“
 

Ohne auf eine Antwort zu warten, stand sie auf, griff nach dem Tablett und verließ das Büro. Zurück blieb ein nervös schluckender Junge, der sich denken konnte, dass das hier nicht gut enden würde, und ein sich auf die Unterlippe beißender Artjom, der sich wie der letzte Vollidiot vorkam. Das Problem war nicht, dass ihm die nötige Intelligenz fehlte, sondern dass Mishas Anwesenheit ihn ablenkte. Ständig musste er daran denken, dass er sich zu dem Kleinen hingezogen fühlte, sich überhaupt nicht dagegen wehren konnte und mit seinen Taten eine Beziehung unmöglich gemacht hatte. Misha ist niedlich, er hasst mich, ich liebe ihn und hasse mich dafür, er wird meine Gefühle niemals erwidern, weil ich ihn so entstellt habe, er sieht trotz seiner Wunden niedlich aus – das waren die Punkte, aus denen der Kreis bestand, den Artjoms Gedanken zum hundertsten Mal abliefen. Er fühlte sich, als hätte er die Kontrolle über sich selbst verloren.

„Ich wünschte, wir hätten uns niemals kennengelernt“, sagte er zu Misha, der am liebsten erwidert hätte, dass dieser Wunsch auf Gegenseitigkeit beruhte. „Hast du ‘ne Idee, wie der Scheiß funktioniert? Ich will hier nicht übernachten.“
 

„I-ich glaube schon“, stammelte Misha und wandte ängstlich den Blick ab. „Lass Sina anfangen und dann versuch, bei jedem Zug… es halt so zu machen, dass ihr zusammen vier nimmt.“

„Also soll ich drei nehmen, wenn sie eine nimmt?“

Misha nickte. „D-das ist aber nur eine Vermutung. Ich kann mich auch irren.“

„Wird schon schiefgehen“, murmelte Artjom verbittert und lehnte sich in den Sessel zurück. Ihm wurde das echt zu blöd.

Eine knappe Minute später kam Sina mit frischem Kaffee wieder. „Logik liegt dir nicht so, oder?“, neckte sie Artjom, der das bloß mit einem genervten Blick quittierte. Misha hätte Sina am liebsten gebeten, die Klappe zu halten und Artjom einfach zu geben, was er verlangte. Jeden Satz, den sie aussprach, würde er später sicherlich am Körper spüren.
 

Sina legte die Münzen zurecht, nur um danach zwei wegzunehmen. Artjom nahm ebenfalls zwei. Er folgte Mishas Ratschlag und hatte keine Minute später die letzte Münze vor sich liegen.

„Glückwunsch“, flötete Sina, wofür Artjom ihr gerne ins Gesicht geschlagen hätte. „Hier ist dein Preis.“

Artjom nahm das Handy wortlos entgegen und forderte Misha dazu auf, mit ihm mitzukommen. Er wandte sich zum Gehen ab und hatte schon fast den Türrahmen erreicht, als sich Sina auf einmal räusperte.

„Keine Ahnung, was für Informationen Viktor auf seinem Handy hat, aber du scheinst nicht der Einzige zu sein, der sie sich anschauen möchte. Ich bin seit zwei Wochen nicht vor die Tür gegangen, aus Angst, dass mich jemand angreifen könnte. Gönn mir einfach meine halbe Stunde Spaß, okay?“
 

„Danke für den Kaffee“, war alles, was Artjom darauf erwiderte, ehe er Misha an die Hand nahm und die Wohnung verließ.

„Kannst du ihr nicht irgendwie helfen?“, fragte der Junge zaghaft. „Stell doch wenigstens sicher, dass sie genug Lebensmittel ha--“

Die Ohrfeige, der er dafür erhielt, hallte im ganzen Flur wieder und nahm ihm das Gleichgewicht. Er prallte gegen die harte Wand und rutschte gequält ächzend an ihr herab.

„Sag mir nicht, was ich zu tun habe“, fauchte Artjom gereizt. „Ich nehme keine Befehle entgegen und erst recht nicht von dir. Und jetzt komm endlich – ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

Anstatt zu gehorchen, krümmte Misha sich zusammen und begann zu weinen. Artjom packte ihn mit einer Hand an den Haaren und zerrte ihn nach oben, während er ihm mit der anderen den Mund zuhielt, damit er nicht schreien und die Bewohner der anderen Apartments auf sich aufmerksam machen konnte. Rücksichtslos schleifte er ihn durch den Flur und stieß ihn in den leeren Fahrstuhl, wo Misha sofort von ihm wegkroch und sich in eine Ecke zurückzog.
 

„Störrisches Blag“, zischte Artjom verachtend und betätigte den Knopf für das Erdgeschoss. „Es ist mir echt ein Rätsel, warum ich mich noch mit dir abgebe. Ich hätte dich Roman überlassen sollen.“

Von Misha kam bloß ein mitleiderregendes Schluchzen. Die Art und Weise, wie sein zierlicher Körper bebte und sich so klein wie nur möglich machte, ließ Artjom den Wunsch verspüren, ihn vom Boden aufzusammeln, auf den Arm zu nehmen und ihm so lange über den Rücken zu streichen, bis er mit dem Weinen aufhörte.

Wag es nicht.

Ehe Artjom sich versah, saß er neben Misha auf dem Boden und strich ihm über den Kopf. Er hatte gar nicht wahrgenommen, wie er sich niedergelassen und seine Hand ausgestreckt hatte.

Schlag ihn. Kratz ihn. Knall seinen Kopf gegen die Wand.
 

„Kleiner, wir werden jetzt nach Hause fahren und dort ein paar Dinge erledigen. Beziehungsweise: Ich werde ein paar Dinge erledigen. Und rate mal, was wir danach machen.“

Misha antwortete nicht, sondern wimmerte leise.

„Komm schon, du weißt es“, fügte Artjom hinzu und strich ihm das Stirnhaar aus den Augen, woraufhin der Junge die Arme sinken ließ, sich die Tränen vom Gesicht wischte und den Größeren mit einer Mischung aus Angst und Feindseligkeit anstarrte.

„Ich will nicht zu Hannah.“

„Aber… warum nicht? Du nervst mich deswegen schon seit mehreren Tagen.“

„Weil ich es mir niemals verzeihen könnte, wenn sie einem Menschen wie dir begegnet. Es reicht, dass du mich umbringst, du krankes Scheusal.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Sundy
2018-09-24T13:44:19+00:00 24.09.2018 15:44
Das hat gesessen
Von:  Karokitty
2018-09-21T03:13:28+00:00 21.09.2018 05:13
Ich weiß nicht ob dieser satz nicht schlimm enden könnte Artjom ist gerade gereizt und mal wieder nicht herr seiner selbst..
Von:  Sumino
2018-09-20T21:44:42+00:00 20.09.2018 23:44
der arme bin echt gespannt wie die Wendung wird :/
Von:  Onlyknow3
2018-09-20T18:58:08+00:00 20.09.2018 20:58
Wenn Artjom, sich nicht um Misha kümmern möchte, warum lässt er ihn nich bei jemand anderem?
Misha will ja auch nicht bei ihm sein.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Karokitty
21.09.2018 05:14
Weil Artjom ihn haben will. Selbsten wenn er es sich immer und immer wieder einreden will das es nicht so ist.
Von:  Arya-Gendry
2018-09-20T17:58:07+00:00 20.09.2018 19:58
Ja Artjom, so wird das echt nichts mit einer Beziehung. Micha wird dir niemals trauen und das ist deine Schuld. Hofftlich läsdtber denn kleinen entlich mal in Ruhe, aber danach sieht es nicht aus und nach diesen Spruch von denn kleinen wird Artjom sich bestimmt nicht zurück halten.
Bin gesoannt wie es weiter geht und ob Artjom sich noch mal änderen wird.
LG.


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