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Schwarzer Komet

Drachengesang und Sternentanz - Teil 1
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich bin wieder im Lande und ich habe super viele Eindrücke gesammelt, die sich zum Teil auch hervorragend für die kommenden Kapitel eignen *~*

Und ich bin pünktlich *stolz*
Dabei ist das Kapitel schon wieder so ewig lang und es brauchte nach dem Abtippen wirklich noch viel Überarbeitung. Insbesondere die erste Szene kam mir sehr holprig vor und ich bin mir immer noch nicht so hundertpro sicher damit :/

Ich weiß, dass Jadestadt ein bisschen übertrieben ist. Ich habe nichts zu meiner Verteidigung zu sagen ^^'

Und endlich Akis und Toraans Auftritt. Ich habe sie mir - genau wie Mummy - aus Hiro Mashimas Manga Monster Soul geliehen, einfach weil sie hervorragend mit in dieses Setting gepasst haben. In den folgenden Kapiteln werden sie noch einige mehr oder weniger wichtige Auftritte haben.

Ab sofort werden die Kapitel - hoffe ich zumindest - wieder im normalen 2-Wochen-Rhythmus online kommen. Das könnte allerhöchstens mal um einen oder zwei Tage schwanken, da ich bis Mitte November in einer sehr turbulenten Phase stecke - Kranichsaison halt X//D

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen

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Der Pfad, auf dem der Krieg begann

Der Puls der Sterne stach und zwickte heute, schien sich in Lucys Körper hinein zu wühlen und fest zu setzen wie ein Parasit. Lucys Herz wurde zusammen gepresst, auseinander gezogen, wieder zusammen gepresst – und jedes Mal schien ein bisschen etwas weg zu bröckeln, bis das Herz nackt und wehrlos für das schwarze Nichts da lag, das sich aus dem Himmel schälte. Das Licht und die Wärme der Welt schwanden.

Lucy wollte schreien, wollte die Hände um ihr schutzloses Herz legen, aber etwas hielt sie fest. Etwas das Alles und Nichts zugleich war. Ein Unding – kalt, dunkel und unendlich grausam. Das Unding umfing sie, schnitt sie von der Außenwelt ab, ja, sogar von der Luft. Lucy rang um Atem, der ihr doch verwehrt blieb. Verzweifelt beschwor sie das Bild ihrer Freunde herauf, den alten und den neuen. Doch das Nichts verschlang auch dieses Bild. Ein Gesicht nach dem nächsten verzog sich in Agonie, ehe es verging. Zuletzt erstarb auch Natsus zuversichtliches Lächeln und Lucys Herz zerriss…

„Rogue, Lucy, wir bekommen Besuch.“

Sofort schlug Lucy die Augen auf und griff nach ihrem Rapier, das sie vorm Einschlafen in Reichweite neben sich gelegt hatte. Ihre Finger waren steif vor Kälte, die nichts mit der Nachtkühle der Wüste zu tun hatte, und ihr Herz raste. Auf ihrer Zunge lag der bittere Geschmack des Alptraums. Sie verstärkte ihren Griff um ihre Waffe und richtete sich auf, um sich zu ihren Begleitern herum zu drehen.

Im Licht des Mondes konnte Lucy sie kaum sehen, aber Beide hielten still und schienen zu lauschen. Lucy versuchte gar nicht erst, es ihnen gleich zu tun. Sie besaß einfach nicht das sensible Gehör der Drachenreiter. Stattdessen hob sie den Blick und studierte den Himmel. Es konnte noch nicht lange her sein, seit sie sich zur Ruhe gebettet hatte.

„Etwas nähert sich schnell“, murmelte Rogue und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Vielleicht sechs oder sieben, den Schrittgeräuschen nach zu urteilen.“

„Dämonen vermutlich. Sie stinken bestialisch“, knurrte Sting, stand auf und schob seinen Säbel in die passgerechte Scheide an seinem Gürtel.

Auch Lucy rappelte sich auf, hängte ihr Rapier wieder in ihren Waffengürtel und faltete ihre Decke zusammen, um sie in den Rucksack zurück zu stecken.

„Kämpfen wir gegen sie?“

„Nein, wir gehen weiter“, erklärte Rogue und knotete sich ein Seil um die Hüfte, ließ zwei Mannslängen frei und schlang das Seil dann um Lucys Hüfte.

„Versuch’ nicht, etwas zu sehen. Verlass’ dich auf deine Hände und Füße und folge dem Zug des Seils“, riet Sting ihr und reichte seine Rebmesser an Rogue weiter, der ihm dafür das Ende des Seils übergab. „Rogue ist jetzt unsere Augen. Er ist nicht umsonst der Reiter des Schattendrachens.“

Lucy nickte und beobachtete, wie Sting sich das Ende des Seils um die Hüfte schlang. Sie würde also zwischen den beiden Drachenreitern klettern. So war sie nicht nur vor einem Sturz, sondern auch vor den Verfolgern am besten abgesichert.

Für weitere Gedanken hatte sie keine Zeit. Sie musste sich aufs Klettern konzentrieren. Wie Sting es ihr geraten hatte, verließ sie sich auf ihren Tastsinn. Es ging immer steiler bergauf, sodass sie irgendwann nicht mehr normal laufen konnten, sondern im Grunde auf allen Vieren krochen.

Bislang war Lucy der Rucksack leicht vorgekommen, aber jetzt begannen ihre Schultern irgendwann zu schmerzen und ihre Waden wurden schwer wie Blei. Dennoch weigerte Lucy sich, um eine Pause zu bitten. Sie trieb sich immer weiter. Selbst als ihre Gedanken langsam stumpf und träge wurden, hielt sie ihre Entschlossenheit, durchzuhalten, aufrecht.

Nach einer Ewigkeit realisierte sie, wie sie auf einmal wieder auf halbwegs ebenen Boden trat. Rogue hielt und legte lauschend den Kopf schräg. Darum bemüht, leise zu bleiben, stützte Lucy sich auf ihren zitternden Knien ab und konzentrierte sich auf ihren Atem.

„Wir haben einen guten Vorsprung, aber abhängen können wir sie so nicht“, murmelte Rogue und machte sich am Seil an seiner Hüfte zu schaffen.

„Was hast du vor?“, krächzte Lucy.

„Ich verschaffe uns etwas mehr Zeit“, war die nebulöse Antwort.

Der Schattenmagier entledigte sich seines Rucksacks und zog sich die schwarze Robe aus. Darunter trug er einen ebenfalls schwarzen Lederpanzer und lederne Unterarmschienen.

„Pass’ auf dich auf“, flüsterte Sting, der sich auch des Seils entledigt hatte, und trat vor, um seinen Partner zu küssen.

Verlegen sah Lucy beiseite, bis die Drachenreiter sich wieder voneinander lösten. Rogue verschwand vollkommen lautlos in den Schatten und Sting ließ sich zu Boden sinken, wo er sich mit dem Rücken an einen Stein lehnte. Indem er neben sich auf den Boden klopfte, bedeutete er Lucy, sich neben ihn zu setzen. Als sie sich mit züchtigem Abstand neben ihm nieder ließ, rückte er an sie heran.

„Du bist verschwitzt und müde und heute Nacht ist es kühl“, erklärte er schlicht und ein Grinsen umspielte seine Lippen. „Keine Sorge, ich werde dir nicht an die Wäsche gehen. Dafür habe ich Rogue.“

„D-das will ich gar nicht wissen“, quietschte Lucy und das Blut schoss ihr in die Wangen.

Sting kicherte. „Ihr Grünländer seid ja alle so prüde.“

„Sind alle Wüstennomaden so unverschämt wie du?“, konterte Lucy beleidigt.

Nachlässig wackelte Sting mit einer Hand. „Die meisten sehen nicht so gut aus und sind auch nicht so stark wie ich.“

„Wie gut, dass du so bescheiden bist“, stellte Lucy spitz fest.

„Finde ich auch.“

Lucy schnaubte leise, lehnte sich jedoch dankbar an Stings Schulter, die ihr Schutz vor der kühlen Nachtbrise bot. Eine Weile schwieg sie und versuchte wider besseres Wissen, ein Geräusch zu hören, das ihr Aufschluss über Rogues Verbleib gab. Irgendwann verlegte sie sich darauf, zu Sting hinauf zu schielen, um zu erraten, was in ihm vorging. Obwohl er sonst so ausdrucksstark und –freudig war, hatte er sich jetzt gut im Griff.

„Hast du keine Angst um Rogue?“

„Jetzt gerade besteht kein Grund dafür“, erklärte Sting ruhig. „Diese Dämonen sind dumm, sie machen Krach und sie achten nicht auf ihren Geruch. Obendrein sind sie weit genug weg. Rogue wird ihnen ein paar nette Grüße schicken und dann wird er auch schon wieder hier sein.“

Seiner ruhigen Worte zum Trotz schien Sting sehr angespannt zu lauschen. Lucy tat so, als würde sie gähnen, um ihr Lächeln hinter ihrer Hand zu verbergen. Sting und Rogue waren ein schönes Paar. Sie kannten einander so gut, waren vollkommen vertraut miteinander und so gerne Sting auch pikante Andeutungen machte, es war doch unübersehbar, wie verliebt er in den Schattenmagier war.

Sie führten die Art von Beziehung, die Lucy sich insgeheim immer für sich selbst gewünscht hatte. Damals, als sie noch nicht die Verantwortung für ein ganzes Fürstentum auf den Schultern gespürt hatte. Damals, als der Gedanke, jemand würde sie mit seinem Leben beschützen müssen, vollkommen abwegig gewesen war…

„Glaubst du wirklich, dass Yukino noch lebt?“, durchbrach Sting das Schweigen überraschend und riss Lucy damit aus ihren sich verdüsternden Gedanken.

„Ich weiß es“, erwiderte sie bestimmt, überwand ihre Scheu und schlang einen Arm um Stings Taille. „Yukino ist von dir und Minerva ausgebildet worden und sie konnte mir gar nicht oft genug sagen, wie sehr sie das geprägt hat.“

Amüsiert und irgendwie auch gerührt beobachtete Lucy, wie Sting sie zuerst offenen Mundes anstarrte, ehe er mit roten Wangen schnell den Blick abwandte. Die Verbindung zwischen Sting, Rogue, Minerva und Yukino war wirklich etwas Besonderes. Das bedeutete es, vom selben Sand zu sein. Yukino hatte sich schwer damit getan, die Bedeutung dieser Formel zu erklären, aber jetzt erkannte Lucy es von selbst, Sie fühlte sich an die Zeit erinnert, als sie mit Loke und den Anderen in der harten Ausbildung von Meister Capricorn gesteckt hatte. Und an die Zeit mit Levy, Meredy und den Fullbuster-Brüdern in Crocus. Wieder verspürte sie einen wehmütigen Stich ob des Verlusts dieser unbeschwerten Zeiten, aber sie vertrieb den Gedanken schnell wieder.

„Dass es tatsächlich möglich ist, dich mundtot zu kriegen“, neckte sie Sting.

Sofort blies dieser beleidigt die Wangen auf. „Yukino ist gemein, so aus den Höhlen zu plaudern!“

Kichernd schubste Lucy den Drachenreiter an. „Sie hat mir noch etwas verraten… Deine große Schwachstelle…“

Zuerst schien Sting verwirrt, aber als sie in seine Haare greifen wollte, wich er entsetzt zurück. „Bring’ nicht meine Haare durcheinander!“

Lucy lachte befreit und versuchte wieder, nach Stings Haaren zu greifen. Er hielt sie an den Handgelenken fest. Sie entwand sich und ließ ihre Hand vorschnellen. Als Sting auswich, kippte er nach hinten und zog Lucy mit sich. Prustend kniete Lucy über dem Drachenreiter, der schmollend zu ihr aufsah.

„Niemand darf meine Haare anrühren außer Rogue!“

„Das ist echt süß“, kicherte Lucy und krabbelte wieder von Sting herunter.

Brummelnd setzte Sting sich wieder neben sie und sie lehnte sich entspannt an seine Schulter. So losgelöst hatte sie sich seit dem Vorfall in Sabertooth nicht mehr gefühlt. Nein, eigentlich war es sogar länger her. Nach dem Ritt auf Igneel und während der ersten Tage auf der Pyxis hatte sie sich eine Zeit lang treiben lassen können, aber je näher sie Sabertooth gekommen waren, desto mehr hatten ihr wieder ihre Zweifel zu schaffen gemacht.

Ein lautes Krachen in der Ferne ließ Lucy zusammen zucken. Sofort schlang Sting beruhigend einen Arm um ihre Hüfte. „Keine Sorge, das ist Rogue.“

„Hat er einen Steinschlag ausgelöst?“

Angst umklammerte Lucys Herz. Was war, wenn Rogue auch davon erfasst worden war? War er just in diesem Moment verschüttet und brauchte Hilfe? Sollten sie besser nach ihm suchen?

„Es geht ihm gut“, erklärte Sting mit völliger Gewissheit. „Er weiß genau, was er tut.“

Für einen Moment wollte Lucy etwas einwenden, doch dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. „Es gefällt mir nicht, so unwissend zu warten, während jemand unter anderem auch meinetwegen sein Leben riskiert.“

„Habe ich schon gemerkt, dass du ein Problem damit hast“, sagte Sting ernst. „Dein Verhalten bei der Sache mit dem Dämonenfeuer… Vertraust du Loke nicht mehr?“

Lucy zuckte zusammen und für einen Moment erwog sie, sich einfach von Sting abzuwenden, aber schließlich musste sie der traurigen Wahrheit ins Gesicht sehen: Sting hatte einen wunden Punkt bei ihr getroffen.

„Während unserer Ausbildung war für mich alles vollkommen klar“, murmelte Lucy, schlang die Arme um die angezogenen Beine und stützte das Kinn auf den Knien ab. „Loke und ich… Wir haben einfach zusammen gepasst. Wir haben einander ergänzt, einander gestärkt… Es stand für mich nie zur Debatte, jemand anderen als meinen Schild und Schwert zu wählen. Ich habe ihm immer vertraut, bis…“

Lucy blieben die Worte im Halse stecken und um ihre aufkommenden Tränen zu verbergen, drückte sie ihre Stirn gegen die Knie. Als sich Stings Arm tröstend um ihre Schultern legte, verkrampfte sie sich, aber er zog sich nicht wieder zurück.

„Bis er sein Leben für dich riskiert hat, als ihr von den Söldnern von Avatar überfallen wurdet?“

Wieder zuckte Lucy zusammen und sie kauerte sich noch mehr zusammen, um ihr Zittern unter Kontrolle zu kriegen. Noch immer hielt Sting sie fest. Eine ruhige, unerschütterliche Wärme.

„Loke tat, was er tun musste, das weißt du, ja? Du bist die Fürstin von Heartfilia. Dein Volk braucht dich. Ich habe gesehen, wie viel Hoffnungen sie in dich setzen.“

Lucy kniff die Augen zusammen und verkrampfte ihre Finger im Leinen ihrer Pluderhose. Sie war sich bewusst, dass ihre Schultern bebten, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, dagegen anzukämpfen. Sie musste daran denken, was sie zu Juvia gesagt hatte und wie Loke sie daraufhin angesehen hatte. Wieso vertraute er ihr so bedingungslos, obwohl sie doch so schwach war?

„Ich glaube, dass du das irgendwann von selbst verstehen wirst, was Loke in dir sieht“, sagte Sting zu ihrer Überraschung schließlich leise.

„Ihr traut mir alle viel zu viel zu“, krächzte Lucy dem Boden entgegen.

Sting schnaubte leise. „Ich bin erst seit einem Mond mit dir unterwegs und ich glaube, wir trauen dir alle eher zu wenig zu.“ Ungläubig hob Lucy den Blick und erkannte im Dämmerlicht Stings warmes Lächeln. „Du hast bei deiner Ankunft in Heartfilia vom Tod deines Vaters erfahren, dennoch warst du die ganze Zeit die Fürstin, die Heartfilia brauchte. Aber du bist eben immer noch ein Mensch. Du hast Gefühle und Zweifel. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen.“

Diese aufrichtigen Worte trieben Lucy noch mehr Tränen in die Augen. Sie fühlte sich an Juvias zaghafte Trostversuche auf der Pyxis erinnert, an Lokes unerschütterlichen Blick, an das unsichere Versprechen mit Gray, an Levys Umarmung. Und an den Ritt auf Igneel…

Es gab so viele Menschen, die sich um sie sorgten. Nicht weil sie die Fürstin von Heartfilia war. Ganz bestimmt nicht deswegen. Sting gehörte dazu. Der vorlaute, abenteuerlustige Sting, der hier und jetzt genug eigene Sorgen hatte und sich dennoch geduldig ihre wirren Ängste anhörte.

Die Gefühle schäumten über und als ihr ein Schluchzen entkam, presste Lucy sich beide Hände auf den Mund. Sting hielt sie einfach weiter fest und ließ sie weinen, ihr Wimmern gedämpft von ihren Händen und seiner Tunika.

Im Rückblick betrachtet, war das wahrscheinlich der Moment, an dem aus ihnen wirklich und wahrhaftig Freunde wurden.
 

Jadestadt stellte einen schärferen Kontrast zu Sabertooth dar, als Gray es für möglich gehalten hätte. Allein die Mauern waren ein Kunstwerk, ein krasser Gegensatz zu den schmucklosen, gnadenlos dicken Mauern von Sabertooth. Hoch aufragend aus dunklem, weiß geädertem Marmor und mit Reliefen versehen waren sie hier. Alle dreihundert Schrittlängen waren Türme in die Mauer eingefügt worden, jeder von ihnen eine in sich gedrehte Spirale mit zierlicher Spitze. Selbst die Obsidiansäulen, die alle hundert Schrittlängen ins Mauerwerk eingefügt waren, waren mit Ornamenten versehen.

Doch allem Prunk zum Trotz ließen die Mauern keinen Zweifel an ihrer Wehrhaftigkeit. Kleine und große Pechnasen ragten an verschiedenen Höhen aus dem Mauerwerk und die Ballisten und Onager ragten hinter den Zinnen hervor. Und auch wenn Gray es aus dieser Entfernung nicht sehen konnte, er war sich doch sicher, dass die Mauern letztendlich doch keinen einzigen guten Griff für etwaige Kletterer boten. Anders ließe sich nicht erklären, wie diese Stadt seit mehr als hundertfünfzig Zyklen gegen die beständige Bedrohung durch Bosco bestehen konnte.

Hinter den Mauern ragten weitere Türme auf, dem Anschein nach alle aus Marmor und sogar noch kunstvoller gestaltet als die Wehrtürme. Am höchsten ragte jedoch der namengebende Turm im Zentrum der Stadt auf. Vom Fundament bis zur Spitze bestand er aus kostbarem Jademarmor. Das Wahrzeichen einer Stadt, die ihren Reichtum und ihre bloße Existenz einer glücklichen Entdeckung und dem Geschick ihres Gründers verdankte.

„Wer hätte gedacht, dass es uns mal bis zur südlichsten Stadt von Fiore führen würde…“

Gray ließ seine Hand, mit der er die Augen beschattet hatte, sinken und wandte sich seinem Bruder zu. Lyons Gesicht war gerötet von der ewig sengenden Sonne und der Schweiß stand auf seiner Stirn und verklebte die weißen Strähnen, die unter dem Tagelmust hervorlugten.

Gray verkniff sich einen Kommentar zu diesem Aussehen, denn er war sich deutlich bewusst, dass er kein besseres Bild bot. Beim großen Sturm, sie waren Eismenschen! Ihre Heimat lag mehr als sechzig Tagesreisen von hier entfernt!

Es hatte immer wieder Eismenschen gegeben, die jenseits des Spaltengletschers auf Abenteuerreise gegangen waren, die Crocus besucht hatten, vielleicht auch Hargeon oder Malba, meistens Margaret, das mit seiner zentralen Lage im Norden den idealen Umschlagplatz für alle Handelsgeschäfte bot, oder auch Cait Shelter. Südlich von Crocus wurde es den meisten Eismenschen einfach zu warm. Gray konnte sich an keinen einzigen Reisebericht über Sabertooth oder Jadestadt erinnern. Gut möglich also, dass er und sein Bruder auch die allerersten Eismenschen waren, die auf Kamelen geritten waren.

Während der letzten sechs Tage waren sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang immer auf den beharrlichen Wüstenschiffen unterwegs gewesen, hatten Mensch und Tier nur in der Nacht Zeit zum Ausruhen zugestanden. Abgesehen von der Zeit der brennenden Mittagshitze waren sie ständig im holprigen Trab unterwegs gewesen. Die gemütlich schunkelnden Schrittphasen waren da jedes Mal eine Wohltat für Gray gewesen, der sich auf dem breiten Sattel des Kamels bei weitem nicht so gut halten konnte wie auf einem Pferdesattel oder auf dem Sattel einer Reitkatze.

Sein Blick wanderte zu Meredy hinüber, die auf ihrem ruhenden Kamel saß, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ihr schien die Hitze bei weitem nicht so viel auszumachen. Wahrscheinlich war sie bereits abgehärtet. Wer wusste, was für Orte sie als Assassine bereits bereist hatte. Vielleicht war ihr sogar alles recht, was sie nicht an das einstmals milde Klima ihres Heimatlandes erinnerte.

Etwas entfernt war Natsu von seinem Kamel abgestiegen und kraulte es nun am Kinn. Entspannt ließ das Tier die Unterlippe hängen und schlug nur noch träge mit den Ohren, die Lider mit den langen Wimpern beinahe geschlossen. Ob es an seiner Drachenmagie lag oder daran, dass er so viel herum gekommen war, auch Natsu war nicht anzumerken, ob ihm die Hitze irgendwie zusetzte. Nicht ein Schweißtropfen stand auf seiner Stirn. Dabei trug er wie alle Anderen auch ein fein gearbeitetes Kettenhemd und eisenbeschlagene Stiefel. Nur einen Lederhandschuh hatte er sich ausgezogen, um sein Reittier streicheln zu können.

Natsu schaffte es sogar, frisch und erwartungsvoll zu wirken, während er zur Heeresführung blickte und der Dinge harrte, die da kommen mochten.

Diese bestand aus Rüstungsmeister Orga, dem alten Exceed Mysdroy und Fürstin Minerva, welche zusammen mit Libra im Sand knieten und eine Skizze von Jadestadt studierten, welche die Jaderitterin angefertigt hatte. Alle waren gerüstet, Minervas Hand ruhte immer auf dem Knauf des schlichten Säbels, anscheinend ihre bevorzugte Waffe.

„Wir haben keine Chance, ungesehen an die Stadt heran zu kommen“, brummte Orga, die Stirn in tiefe Falten gelegt. „Es gibt hier keine Deckung für uns. Wahrscheinlich haben sie uns sogar schon gesehen.“

„Davon ist wohl auszugehen“, sinnierte Mysdroy und strich sich über den Schnurbart. „Aber eine offene Schlacht könnte die Dämonen veranlassen, unsere Verbündeten zu töten.“

„Nach allem, was wir wissen, haben sie ohnehin vor, sie zu töten“, erwiderte Minerva mit beherrschter Wut in der Stimme. „Sie scheinen auf irgendetwas zu warten. Die Frage ist nur, worauf…“

„Unseren Angriff womöglich.“

„Wir können nicht einfach nichts tun. Sabertooth ist Jadestadt verpflichtet.“

„Vielleicht hätten wir Dobengal mitnehmen sollen. Augen und Ohren im feindlichen Lager zu haben, wäre jetzt sehr praktisch“, murmelte Orga.

„Da kann ich vielleicht helfen.“

Neben Gray zuckte Lyon heftig zusammen, als seine Freundin auf die Heeresführung zutrat, ihre Haltung mustergütig gerade, das Kinn nach vorn gereckt.

„Ich kenne Jadestadt, ich werde mich dort unbemerkt fortbewegen können. Eure Späher beherrschen gewiss auch die Spiegel- und Laternenkodierungen. Lasst sie Jadestadt im Auge behalten. Sobald ich Genaueres weiß, werde ich ihnen eine Nachricht zukommen lassen.“

Kritisch musterte Minerva die Assassine. „Ich bin bereits von Rogue informiert worden, dass wir Euch meine Legitimierung verdanken. Als kaiserliche Assassine halte ich Euch für kundig genug, um Euch unbemerkt in der Stadt zu bewegen und an die Informationen zu kommen. Aber wie wollt Ihr hinein gelangen? Ihr steht da vor denselben Problemen wie das Heer.“

„Wenn der Löwe eine Gazelle sieht, interessiert er sich nicht für die Maus zu seinen Pranken“, antwortete Meredy ruhig und schlug dabei den Singsang-Ton der Wüstennomaden an, von welchen das Sprichwort anscheinend stammte.

„Ein Ablenkungsmanöver mit dem Heer“, murmelte Mysdroy. „Das könnte funktionieren.“

Minerva verengte die Augen und sah sich langsam im Lager um. Ihre Miene blieb vollkommen unbewegt, während sie den Blick über die vielen Sonnensegel schweifen ließ, unter denen sich die Soldaten eine Pause gönnten, die Waffen stets griffbereit, allesamt vollständig gerüstet, die Kamele noch gesattelt. Ob sie daran dachte, wie viele dieser Männer und Frauen für dieses Ablenkungsmanöver vielleicht sterben mussten? Auf einmal war Gray heilfroh, dass er nie eine so gewaltige Verantwortung würde tragen müssen. Die paar hundert Eismenschen, für deren Leben er Sorge zu tragen hatte, waren schon schlimm genug.

Schließlich wandte Minerva sich wieder an Meredy. „Ich habe nicht das Recht, Euch um so etwas zu bitten. Diese Mission könnte sehr schnell Euren Tod bedeuten und Ihr seid eine Assassine der Kaiserin.“

„Hier und jetzt bin ich niemandes Assassine.“

In Grays Kehle bildete sich ein unangenehmer Kloß. Er hatte Meredy als seine Schwester angenommen und das war ihm jetzt sogar noch heiliger, als es das vor vier Monden gewesen wäre. Meredy in einer Stadt mit Dämonen zu wissen, über deren Truppenstärke und Fähigkeiten sie nur spekulieren konnten, war ein grauenhafter Gedanke. Aber das war die Gelegenheit, etwas über diejenigen zu erfahren, die die Heimat angegriffen hatten. So konnten sie vielleicht eine Spur zu den überlebenden Eismenschen finden…

Lyon wollte vortreten und etwas sagen. Gray hörte ihn schon tief Luft holen, als Meredys scharfe Stimme durch die Stille schnitt: „Ich weiß, welches Risiko ich eingehe, und ich weiß auch, wofür ich das tue.“

Obwohl die Worte allgemein gehalten waren, wusste Gray, dass sie an ihn und Lyon gerichtet waren. Er konnte Lyons Zähneknirschen hören, aber sein Bruder schluckte den Protest herunter. Auch Gray schwieg, aber er hatte kein gutes Gefühl dabei.
 

Die Gesteinsformation, die vor ihnen aufragte, hatte etwas sehr Eigentümliches. Wie ein von Menschenhand erschaffenes Gebäude ragte sie beinahe schnurgerade in die Höhe und hatte eine Nord-Süd-Ausdehnung von schätzungsweise zweitausend Schrittlängen. In der Außenwand waren ansatzweise Stufen zu erkennen, sehr unregelmäßig große, oft auch noch schiefe, aber doch Stufen. Sie führten zu Höhlen und Plattformen, doch Gajeel konnte lediglich die Nester einiger Schmutzgeier und Wüstenraben erkennen, ansonsten waren keine Anzeichen von Besiedlung zu sehen oder zu riechen.

Für einen Moment zweifelte Gajeel an Wendys Nase, aber er behielt diese Zweifel für sich. Die Jüngere hatte sich vorgestern nach mehreren Tagen erfolglosen Suchens in eine Art meditative Trance begeben, um sich noch besser auf die Winde der Wüste einzustimmen. So hatte Romeo es zumindest erklärt. Nervenaufreibend lange hatte Wendy da gesessen und ihre Haare hatten sich in einer Brise bewegt, die Gajeel nicht hatte spüren können. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Augen geöffnet hatte, hatte sie schnurstracks ihren Sandschlitten bestiegen und war nach Südosten abgeschwenkt. Sie wären wohl die Nacht hindurch gefahren, wenn Romeo seine Schutzbefohlene nicht zu einer Pause ermahnt hätte.

Ihr neuer Kurs hatte sie in ein noch trockeneres Gebiet geführt. Weit und breit gab es nur Sand und gelegentlich Felsen. Gajeel bereute beinahe, Juvia nicht mitgenommen zu haben. Sie könnte hier sicher immer noch Wasser finden. So mussten sie mit ihren Vorräten haushalten und immer Ausschau nach den Stümpfen der Knollen halten, die es irgendwie schafften, in dieser unwirtlichen Gegend Wasser zu speichern.

Laut der Karte, die Romeo nach wie vor führte, waren sie hier nun bei der Golemschlucht und damit nur noch vier bis fünf Tagesreisen mit dem Sandschlitten von der Zuflucht entfernt. Von dort aus müssten sie sich vier Tage geradewegs nach Norden begeben, um nach Sabertooth zurück zu gelangen. Dann hätten sie sich einmal im Kreis bewegt.

„Sie ist da drin“, erklärte Wendy leise, stieg von ihrem Sandschlitten ab und deutete auf einen schmalen Durchlass im Gestein. „Ich kann altes Blut riechen.“

„Ist sie allein?“, fragte Romeo angespannt und musterte den Durchlass kritisch. Ihm war wahrscheinlich auch klar, dass das der perfekte Ort für einen Hinterhalt war.

Die Nasenflügel der Windmagierin bebten, als sie intensiv schnupperte, aber sie runzelte verwirrt die Stirn und legte dann den Kopf schräg, um zu lauschen. Als Gajeel es ihr gleichtat, konnte er nichts hören, dennoch legte er eine Hand an den Griff seines Bastardschwertes.

„Ich kann etwas hören, aber es ist sehr undeutlich. So etwas habe ich noch nie gehört…“

„Die Dämonen hätten Yukino wahrscheinlich eher gleich getötet“, überlegte Romeo laut, der seinen Sandschlitten neben denen der Anderen abstellte, ohne das Segel einzuklappen – bereit für einen schnellen Aufbruch. „Vielleicht sind das hier Verbündete.“

Seiner Worte zum Trotz zog der junge Krieger seinen Kurzbogen aus dem Köcher und spannte beeindruckend schnell die Sehne auf. Dann nockte er einen Pfeil ein und blickte fragend zu den Anderen. Gajeel brummte und ging voraus, um die Vorhut zu bilden. Sie waren doch nicht so lange unterwegs gewesen, um kurz vorm Ziel aufzugeben. Außerdem hatte er Sting und Rogue ein Versprechen gegeben. Warum auch immer er das getan hatte, aber jetzt würde er dazu stehen.

Romeo bildete die Nachhut, seine Schritte erstaunlich lautlos.

Als Gajeel ihn vor sieben Zyklen das letzte Mal gesehen hatte, war er noch ein naseweißer Bengel gewesen, der ständig nach Herausforderungen gehungert hatte. Die Ausbildung bei seinem vielgerühmten Lehrmeister hatte jedoch verblüffende Früchte getragen. Selten zuvor war Gajeel einem so gut trainierten Krieger begegnet. Und das nicht nur in Bezug auf die kämpferischen Fähigkeiten: Romeo hatte sich den hiesigen Klimaverhältnissen überraschend schnell angepasst und ging ausgesprochen vernünftig und effektiv mit all seinen Ressourcen um. Damit erinnerte er Gajeel irgendwie an Pantherlily. Gajeel hatte sich nie die Mühe gemacht, danach zu fragen, aber mittlerweile nahm er an, dass der Lehrer des Jungen ein Kriegsveteran war. Einer, der es verstand, seine Erfahrungen in den Unterricht einfließen zu lassen. So wie Pantherlily.

Wendy wiederum gab Gajeel ein anderes Rätsel auf. Das magische Kontrollvermögen der Drachenreiterin war außergewöhnlich. Gajeel schätzte, dass ansonsten höchstens Rogue so akkurat mit seiner Magie umgehen konnte. Aber dass Wendy so vehement alle Kampftechniken mied, war in Gajeels Augen ein gewaltiger und womöglich sogar tödlicher Fehler. Es war naiv, zu glauben, dass Romeo sie immer würde beschützen können. Der junge Krieger war ohne Zweifel begnadet und auch für Magier sicherlich ein ernst zu nehmender Gegner, wenn er es richtig anging, aber er war nicht allmächtig. Irgendwann würde er an seine Grenzen stoßen und dann würde Wendy keinerlei Schutz mehr haben.

Aber Gajeel sprach keinen dieser Gedanken aus. Das war etwas, was Romeo und Wendy allein verantworten mussten. Immerhin hatten sie es Beide so weit kommen lassen. Und wenn das alles hier vorbei war, würde Gajeel nichts mehr mit den Beiden zu tun haben. Er würde sich Juvia schnappen und mit ihr wieder verschwinden, bevor jemand auf sie aufmerksam werden konnte. Für Juvia war es wahrscheinlich sogar besser, von der Gruppe – besonders von diesem Idioten Gray – wieder los zu kommen. Auch wenn sie sie alle ins Herz geschlossen haben mochte, die bedeuteten doch nichts als Ärger.

Langsam tauchten sie in den Spalt ein und schon bald musste Gajeel feststellen, dass sie sich damit immer tiefer in ein Labyrinth begaben. Immer wieder gab es Abzweigungen, Tunnel, Brücken, Steigungen, Senken, Nischen, Höhlen, Plattformen… Die Größenverhältnisse waren genauso grotesk, die Linien und Winkel genauso ungelenk, wie bei den Treppen an der Außenseite. Es gab auch keinerlei Anzeichen dafür, dass hier auch nur ein einziges Mal der Meißel von einem Menschen geschlagen worden war. Tatsächlich bezweifelte Gajeel sogar, dass hier überhaupt irgendein Werkzeug verwendet worden war. Hier sah es aus, als sei eine Höhle in den Stein hinein geschmolzen worden, dort schien eine Treppe aus dem Boden gewachsen zu sein. Eine Nische wies Fingerspuren an den Wänden auf, als wäre das Gestein mit bloßen Händen aus der Wand heraus geklaubt worden.

Magie.

Gajeel hatte von Metallicana den Umgang mit Eisenmagie erlernt, aber eigentlich war Gajeel ein Erdmagier. Was er hier sah und spürte, war das Resultat von Erdmagie. Der Geruch, der hier in der Luft lag, war jedoch sehr fremdartig. Höchst wahrscheinlich gehörte er zu den Golems, die einstmals hier gelebt hatten.

Sie folgten Wendys Nase, mussten dafür jedoch immer wieder schier endlose Umwege auf sich nehmen. So langsam begriff Gajeel, dass das hier eine Stadt gewesen war. Die Stadt der Golems. Ob sie auch in Familiengemeinschaften gelebt, Freundschaften gepflegt und Liebschaften unterhalten hatten? Wie viele von den grausigen Dämonengeschichten über sie waren überhaupt wahr?

Gajeel musste an Levy denken, die ihm all diese Fragen wahrscheinlich beantworten könnte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihm sogar einen halben Tag lang Fakten über Golems auflisten könnte, inklusive allen möglichen Büchern zu dem Thema. Und ganz gewiss würde sie Luftsprünge machen, wenn sie durch diese Stadt hier laufen könnte. Der Gedanke daran, wie ihre braunen Augen dabei vor Begeisterung und Wissbegierde leuchten würden, war jedoch irgendwie… irritierend…

„Wartet.“

Gajeel drehte sich zu Romeo um, der seinen Kurzbogen noch immer bereit hielt, den Blick jedoch gesenkt hatte. Als Gajeel dem Hinweis folgte, konnte er nur Wendys Fußspuren sehen, die langsam verweht wurden.

„Was ist?“, knurrte Gajeel verärgert.

„Die Spuren verschwinden zu schnell“, erklärte Romeo.

Aus einer Gürteltasche holte er eine Feder – vermutlich für neue Pfeile gedacht – und ließ sie fallen. Zuerst trudelte sie langsam nach links, doch kaum dass sie den Boden berührte, wurde sie wie von einer unsichtbaren Strömung nach hinten gezogen oder getrieben.

„Sandmagie“, überlegte Romeo laut. „Das ist es wohl auch, was es euch so schwer macht, Yukino zu riechen.“

„Beeindruckend. Es gibt nur wenige, die es so schnell bemerken.“

Alle Drei wirbelten sie herum, Gajeel zog sein Bastardschwert, Romeo hob seinen Bogen wieder, spannte und ankerte – alles innerhalb eines Herzschlages, der Pfeil sicher auf den Sprecher gerichtet. Auf einem Absatz über ihnen hockte ein Junge von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Sommern mit struppigen, schwarzen Haaren, die unter einem sehr nachlässig gebundenen Tagelmust hervorlugten. Er trug die Pluderhosen der Wüstennomaden und ein schlichtes langärmeliges Hemd. An seinem geflochtenen Kordelgürtel hing ein Säbel und unter den Ärmeln und in den Stiefeln erkannte Gajeel die Konturen von Dolchen. Als er verwegen grinste, blitzten Reißzähne auf, die keinen Zweifel an einer nichtmenschlichen Herkunft ließen. Ebenso wenig die kleinen Hörner, die sich unter dem zu dünn gewickelten Stoff des Tagelmust abzeichneten.

„Habt ihr euch verlaufen, Grünländer?“, fragte er unverhohlen spöttisch.

Obwohl er lümmelhaft am Boden hockte und seine Hände nicht einmal in der Nähe seiner Waffen waren, bestand doch kein Zweifel an seiner Kampfbereitschaft. Und der Spott sollte wohl nur sein Misstrauen übertünchen. Der Bengel war ein Kämpfer.

„Ihr solltet wieder umdrehen.“

„Soll das eine Drohung sein?“, knurrte Gajeel.

„Eine Warnung.“ Wieder blitzten die Eckzähne.

„Wartet“, flüsterte Wendy. „Yukinos Geruch haftet an ihm.“

Der Junge zog die Augenbrauen zusammen. Seine Hand wanderte langsam zum Säbel. „Eine Windmagierin… Was geht euch Yukinos Geruch an?“

„Wir suchen sie“, erwiderte Gajeel knapp.

„Wir sind Freunde von Sting und Rogue“, fügte Romeo hinzu, ließ die Sehne seines Bogens wieder locker, ehe er die Waffe senkte und die kleine, knöcherne Flöte aus einer seiner unzähligen Taschen hervor zog. „Wir haben ihnen versprochen, Yukino zu finden.“

Die Hand des Jungen lag nun offen auf dem Säbel und die Zähne waren gefletscht. Ein Knurren – viel zu tief und zu mächtig für so einen schlaksigen Körper – drang aus seiner Kehle.

„Woher soll ich wissen, dass ihr tatsächlich Freunde der Beiden seid und nicht ihre Mörder?“

Gajeel schnaubte spöttisch. „Woher sollen wir wissen, dass du ein Freund von Yukino bist und nicht ihr Gefängniswärter?“

„Das ist nicht mein Problem“, stellte der Junge feindselig fest.

„So kommen wir nicht weiter“, seufzte Wendy leise. „Yukino braucht Hilfe.“

„Dann finden wir sie alleine“, entschied Gajeel und wandte sich wieder in die Richtung, die Wendy ihnen vorhin gewiesen hatte.

Verblüffend geschickt sprang der Junge von seinem Hochsitz herunter und landete mit animalischer Eleganz mitten im Weg, der Säbel in seiner rechten Hand, ein Krummdolch in seiner linken Hand. Wieder knurrte er. Noch tiefer sogar.

Gajeel wollte sein Bastardschwert heben, aber da trat Romeo vor, die Knochenflöte erhoben, Pfeil und Bogen weiterhin gesenkt. „Wir haben eine Nachricht von der Wüstenlöwin für Yukino, damit sie uns als Freunde erkennen kann.“

„Die Flöte hättet ihr auch von den Leichen holen können“, erwiderte der Junge misstrauisch.

„Wenn du ein Freund von Yukino bist, dann weißt du auch, dass Minerva Orland und ihre Klauen uns selbst unter Folter niemals die Möglichkeit gegeben hätten, Yukinos Vertrauen zu gewinnen, wenn wir Feinde wären“, erklärte Romeo ruhig. „Die Nachricht lautet: Deine Suche ist noch nicht beendet, also untersteh’ dich, den letzten Ritt anzutreten!

Sofort fiel die Anspannung von dem Jungen ab, er blinzelte kurz verblüfft, dann lachte er auf. „Das sieht Nerva ähnlich, so eine Drohung auszustoßen!“ Er gab seine Kampfposition auf und steckte seine Waffen wieder ein. „Aber warum schickt sie euch? Mit Sting und Rogue wäre es viel einfacher gewesen.“

„Hast du eigentlich mitgekriegt, dass die Stille Wüste zum Schlachtfeld geworden ist?“, schnaubte Gajeel und ließ ebenfalls sein Schwert sinken, auch wenn er es noch nicht wieder in die Scheide gleiten ließ. „Die Turteltauben sind auf dem Weg zu Zirkonis.“

Jetzt schnaubte der Junge. „Sie waren sicher sehr begeistert… Wie habt ihr hierher gefunden? Toraans Sandmagie hätte Yukinos Geruch eigentlich tilgen müssen.“

„Das hat es mir also so schwer gemacht“, stellte Wendy seufzend fest. „Ich bin Wendy, das sind Romeo und Gajeel. Ich bin die Reiterin von Grandine, dem Winddrachen.“

„Reife Leistung, Wendy. Ich bin Aki.“

Der Junge grinste wieder und drehte sich herum, wobei er ihnen winkte, ihm zu folgen. Gajeel war zutiefst skeptisch, aber Romeo und Wendy zuckten einvernehmlich mit den Schultern und folgten dem Bengel einfach. Missmutig schloss Gajeel sich ihnen an.

Zügig führte Aki sie durch eine Spalte, die so eng war, dass Gajeel seitwärts gehen musste. Noch immer war er misstrauisch. Der Junge mochte nicht zu den Dämonen von Tartaros gehören, aber er war eindeutig kein Mensch und auch kein Geist, also konnte er nur ein Dämon sein. Und was war die von ihm erwähnte Person namens Toraan für eine, dass sie so starke Sandmagie beherrschte? Warum hatten Sting und Rogue eigentlich nicht erwähnt, dass es in ihren Freundeskreis Dämonen gab?

Soweit Gajeel sich orientieren konnte, drangen sie weiter ins Zentrum des Labyrinths vor. Kein einziges Mal musste Aki innehalten, um sich zu orientieren. Anscheinend war er schon sehr oft hier gewesen. Gleichgültig, welcher Spezies er angehörte, er war noch blutjung. Was machte solch ein Hüpfer in so einer lebensfeindlichen Umgebung?

Schließlich führte Aki sie in eine Höhle und hier endlich konnte auch Gajeel Yukino riechen. Er musste stehen bleiben, damit seine Augen sich nach der langen Zeit im Hellen an die dämmrigen Lichtverhältnisse gewöhnen konnten. Aki schien diese Zeit nicht zu brauchen. Er ging zielgerade weiter in den hinteren Bereich der Höhle. Als er endlich etwas sehen konnte, erkannte Gajeel, dass die Höhle mehrere kuhlenartige Nischen besaß. Schlafstätten? Decken und dergleichen hatten die Golems wohl nie gebraucht.

In einer dieser Nischen lag Yukino – mit einer Decke unterm Kopf und mehreren notdürftigen Verbänden versehen, die bräunlich verfärbt waren. Der beißende Gestank von Eiter ging von den Tüchern aus. Das Gesicht war fiebrig rot, die Haare verdreckt und nass von Schweiß, der Atem rasselnd.

Neben dem Krankenlager saß ein Mädchen, das etwa so alt wie Aki sein mochte. Es war barfuß und trug wie der Junge Pluderhosen und Tunika, jedoch kein Kopftuch über den kastanienbraunen, brustlangen Haaren. Das wirklich Bemerkenswerte waren jedoch die Arme des Mädchens, denn von den Ellenbogen an schienen sie sich mit dem Sand am Boden vereint zu haben und von ihnen ging die Strömung aus, die es Wendy und Gajeel so schwer gemacht hatte, Yukino zu riechen und zu hören. Das war dann wohl Toraan – und sie war offensichtlich ein Sandgolem. Entweder ein Halbdämon oder ein besonders mächtiger Vollgolem, denn soweit Gajeel es wusste, konnten nur wenige Golems eine menschliche Gestalt annehmen.

„Das ist Toraan“, erklärte Aki und kniete sich neben Yukino. „Toraan, das sind Wendy, Gajeel und Romeo, sie sind Freunde der Klauen.“

Das Mädchen fragte nicht nach, nickte einfach nur. Es schien dem Urteil seines Begleiters vorbehaltlos zu vertrauen und sich weiterhin auf seine Aufgabe zu konzentrieren, Yukinos Geruch zu verschleiern.

Wendy kniete sich neben Yukino. Ihre Nasenflügel bebten und ihre Augen verengten sich, während sie die Verletzungen der Wüstennomadin musterte.

„Bist du eine Ärztin oder eine Heilerin?“, fragte Aki hoffnungsvoll. Als Wendy nickte, beeilte er sich, zu erzählen: „Yukino ist vor fünf Tagen hier angekommen. Sie hat es irgendwie geschafft, einen Basilisken-Schlüpfling zu zähnen und auf ihm zu reiten. Sie war vertrocknet und die Wunden sahen sogar noch schlimmer aus. Wir hatten nicht viel bei uns. Ich habe ihr all mein Wasser eingeflößt und ihre Wunden geleckt, besser wusste ich ihr nicht zu helfen.“

„Geleckt?“, fragte Romeo verwirrt.

Auch Gajeel war stutzig: „Was habt ihr getrunken, wenn ihr euer Wasser Yukino gegeben hat?“

Aki tauschte einen Blick mit Toraan, dann schob er seinen Tagelmust zurück. Darunter kamen zwischen den platt gedrückten Haaren zwei kleine, dicke, spitze Hörner zum Vorschein.

„Ich brauche kein Wasser. Es ist sogar schädlich für mich“, erklärte Toraan. „Und Aki hat in den letzten Tagen das Blut der Geier getrunken, die er gejagt hat.“

„Ewig kann ich so nicht überleben, aber ein bis zwei Monde geht das schon“, fügte Aki hinzu.

„Wieso hast du Yukinos Wunden geleckt?“, wiederholte Romeo seine Frage.

„Es ist das Einzige, was mir eingefallen ist. Wölfe machen das so, wenn ein Mitglied ihres Packs verletzt ist.“

„Du bist ein Wolfsdämon?“, fragte Romeo fasziniert.

Von dieser Reaktion schien der Jüngere zuerst verwirrt zu sein, doch letztendlich beließ er es bei einem schlichten Schulternzucken. „Aber ich wurde von den Wüstennomaden großgezogen. Was aus meinem Pack geworden ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich Opfer von Trophäensammlern oder so.“

Romeo und Wendy senkten bedrückt ihre Blicke und schwiegen. Schwer ließ Gajeel sich zu Boden sinken und zog seine Feldflasche aus seinem Bündel, um sie Wendy zu zuwerfen. Sie verstand die Aufforderung und begann, sich um Yukinos Wunden zu kümmern.

Akis Schicksal ließ sich nicht ändern, egal wie viel Mitleid sie zur Schau stellten – und er schien damit bereits seinen Frieden gemacht zu haben. Gajeel fragte sich, warum er sich dem Bengel in gewisser Hinsicht unterlegen fühlte.



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