Zum Inhalt der Seite

No Princess

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Seelenverwandte

Die Schule war einsam. Irgendwie leer. Anna saß in ihrem Stuhl und starrte an die Tafel, während verschiedene Lehrer unterschiedliche Monologe hielten. Es war still. Noch stiller jetzt, da Iori nicht mehr hier war. Das Ticken der Uhr an der Wand gab den Rhythmus zum Einschlafen an. Es schneite nicht mehr, dennoch war der Himmel fast schwarz mit Wolken. Der Wind wehte stürmisch und unnachgiebig. Der Herbst machte sich bemerkbar. Es war der nächste Montag, Anna hatte sich wieder erholt und zeigte ihr Gesicht in der Schule. Yuki war krank geschrieben worden. Er hatte Anna eine Nachricht geschrieben, als er gehört hatte, was passiert war. Doch aufgrund seiner Suche nach Mika schien er vor Erschöpfung umgefallen zu sein. Auch Kiki drückte ihr Bedauern aus. Doch bei aller Liebe, die Anna für die zwei empfand, war es langsam für sie an der Zeit zu gehen.

Die Pause begann. Die sonst so lauten 15 Minuten zwischen zwei Blöcken waren ruhiger als sonst. Anna räumte ihr Buch und ihr Notizheft in ihre Tasche, holte die Sachen für die nächste Stunde heraus und starrte wieder an die Tafel. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Sie wusste nicht, warum sie diese Stimmen immer wieder heimsuchten. Und doch rannte sie dieses Mal nicht. Entgegen dem, was die Schatten ihr zuflüsterten, hatte sie Zeit. Sie NAHM sich die Zeit.

Die Klassentür ging auf, ein schwarzhaariges Püppchen kam herein und sah sich um. Als sie Anna sah, grinste sie und verringerte die Distanz zwischen ihnen. Anna hob den Kopf und grüßte Eve.

„Yo.“ Eve roch nach einer Mischung aus Zederholz und Muskat. Es roch irgendwie männlich.

„Hey, Anna. Wie geht’s dir? Ich hab' gehört, du warst krank.“ lächelte sie süß. Die Blondine schaute wieder an die Tafel.

„Ja, mir geht’s besser. Danke.“ erwiderte sie belanglos. Eve hob die Augenbrauen.

„Sicher? Ist etwas passiert?“ Die Sorge in ihrer Stimme klang fast echt.

„Nein, ich hatte nur eine kleine Erkältung.“ gähnte das Mädchen, streckte sich und fiel wieder in ihre alte Position zurück.

„Oh...“ Eve schien überrascht. Etwas in Annas Herzen blühte auf. Es war ein Funke von Zufriedenheit. Doch ihr Gesicht blieb undurchschaubar. „Sag' mal, hast du Iori gesehen? Er kam seit ein paar Tagen nicht mehr in die Schule.“ fügte Eve hinzu und es war keine Sorge, die in ihrer Stimme mitklang. Es war Verdacht. Anna ließ ihren Blick durch den Raum wandern und musterte Ioris Stuhl.

„Ja, mir ist aufgefallen, dass er heute nicht da ist. Ich wusste aber nicht, dass er schon länger fehlte… Ist was passiert?“ Ihre Augen fixierten die schwarzen der Königin. Diese starrte zurück.

„Wieso kann ich dich nicht lesen?“ flüsterte Eve leise und eine Hand legte sich auf Annas Wange, um die Blondine näher an sich heran zu ziehen. Ihre Hand war kräftig. Es tat weh.

„Willst du sie küssen?“ Ein kurzes, schroffes Lachen ertönte. Eve erhob sich wieder und blickte zur Klassenzimmertür. Akira und Mirai standen im Türbogen und beobachteten die Situation. „Ich wusste nicht, dass du auf Mädchen stehst, Eve.“ grinste der Affenkönig. „Ist aber auch irgendwie heiß.“ Tatsächlich wusste das Mädchen nicht, wie sie reagieren sollte. Der Funke in Anna wurde größer.

„Was gibt’s, Jungs?“ Anna stand auf, um zu Akira und Mirai zu gehen.

„Nichts, wir wollten nur mal nach dir sehen.“ grinste Akira und legte seine Hand auf ihren Kopf, um sie zu streicheln. Anna lächelte.

„Alles gut.“ murmelte sie leise.

„Nach der Schule steht?“ fragte Mirai nun und Anna nickte.

„Was macht ihr denn nach der Schule?“ wollte Eve nun wissen und stellte sich zu den dreien. Akiras Grinsen wurde breiter.

„Anna hat ein Date mit uns.“ lächelte er zufrieden. Auch Mirai konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Nennt es bitte nicht 'Date'.“ murmelte Anna beschämt und zwirbelte eine ihrer Strähnen zwischen ihren Fingern.

„Sei nicht so schüchtern, Anna.“ lachte Mirai und gab dem kleinen Mädchen einen Kuss auf die Wange. Sofort handelte er sich dafür einen tiefsitzenden Hieb in der Magengrube von Anna ein, während Akira ihn wütend anstarrte.

„Okay, genug, genug.“ fauchte Akira und begann, den Blonden wieder aus dem Türrahmen zu schieben. „Also dann, bis später.“

Als die Jungs verschwunden waren musterte Eve Anna, wie diese sich wieder hinsetzte. Das Mädchen hatte ihre Mutter verloren und so wie Eve es verstanden hatte, hat sie die Leiche sogar gefunden. Eve wusste genau: Ihre Leute waren nicht zimperlich gewesen, was das Töten dieser Frau anging. Sie hatte zu gesehen. Das Blut flog bis an die Decke, als man ihr das Herz raus riss. Doch Anna schien es nicht zu wissen. Sie schien nicht zu wissen, dass ihre Mutter getötet worden war.

Eve musterte den geraden, schmalen Rücken, der ihr zugewandt war. Ihre Haare waren im Weg, auch ihre Bluse. Aber Anna hatte eine Reaktion an diesem Abend gezeigt – das Wetter hatte es verdeutlicht. Zwar hatte die Schwarzhaarige gespürt, wie Annas Kräfte langsam nach ließen, doch sie hatte nicht mit so einer starken Reaktion gerechnet. Wieso also tat sie nun so, als würde nichts sein? Sie ging sogar auf ein Date. Und noch schlimmer: Annas Gedanken blieben Eve verschlossen. Was ging da vor sich?

Die Schulglocke läutete und riss Eve wieder aus ihren Gedanken. Der Lehrer kam in die Klasse. Sie konnte nicht anders, als zu gehen. Nach der Schule würde sie vielleicht mehr erfahren. Doch als die letzte Glocke ertönte, waren Anna und ihre Männer schon weg.

„Wohin fahren wir?“ Ioris Stimme klang erstickt, leise. Sie waren in einem schwarzen Van. Mirai saß neben ihm und schwieg. Die grauen Wolken zogen in Schlieren an dem kalten, getönten Fenster vorbei. Das Auto war geräumig, bequem. Es war eines von vielen. Der Affenkönig verharrte in Schweigen. Auch Liam starrte beharrlich still aus dem Fenster.

„Ich hab' Anna seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen...“ Der Tengu klang ein bisschen, als würde er sehnsüchtig auf die Rückkehr seiner Königin warten. Die Motorgeräusche brummten unter dem Treten das Gaspedals auf. Der Fahrer war Iori unbekannt. Es begann zu regnen und wurde kalt.

Seit Tagen war Iori bei Ren untergebracht worden. Sie hatten ihm zu essen und zu trinken gegeben, hatten ihm kein Leid angetan. Er dachte darüber nach, zu fliehen. Oft. Jede Nacht eigentlich wollte er aus dem Fenster springen und seine Flügel ausbreiten, dem Mond zurufen. Doch etwas hielt ihn davon ab – war es nun Shiro, Annas Junge, oder Anna selbst, die nachts über ihn wachte. Sie gab Iori manchmal den Eindruck, als wäre er ein kranker Junge und sie seine Mutter, die ihn pflegte. Während sie neben seinem Bett gesessen und darauf gewartet hatte, dass er einschlief, musterte er das Mädchen. Ihr Haar glänzte fast wie Silber in der Nacht. Sie hatte eine schmale, zierliche Figur, auch wenn sie ziemlich groß war. Man sah ihr nicht an, dass sie sich ihren Weg durch die Welt mit Schlägereien bahnten. Tatsächlich hatte sie die Ausstrahlung einer Königin. Oft hatte er versucht, mit ihr zu sprechen, doch sie schwieg. Jeder, den er in diesem Haus angesprochen hatte, erwiderte seine Worte mit Schweigen. Es war ihm erlaubt worden, in dem Anwesen umher zu gehen, doch die Haustür war immer verschlossen geblieben. Jeder Ausgang, egal, wie viel Kraft der Tengu aufbrachte, würde sich ihm nicht öffnen.

Warum wurde er nicht gefoltert? Warum ging es ihm gut? Der Grund war einfach. Sie mussten nichts tun. Es reichte, wenn Anna jede Nacht neben ihm saß. Er spürte sie in seinem Kopf. Sie suchte sich die Erinnerungen heraus, die ihm am meisten bedeuteten. Sein Zuhause, seine Familie. Egal, wie süß oder wie traurig die Erinnerung war, Annas Gesicht blieb steinhart. Und das war die schlimmste Art von Folter: dieses konsequente Schweigen. Vier Tage lang hatte sie ihn angestarrt und nichts gesagt. Sie wühlte sich durch seine Gedanken, ohne dass er es verhindern konnte.

Das Auto bog in eine Abfahrt ein. Langsam wurden die Straßen unebener, die Gegend war gefüllt mit Bäumen, die ihre Blätter im starken Wind verstreuten. Es begann zu schneien.

„Wo ist Anna?“ fragte Iori erneut, doch Mirai und Liam blieben hart. Sie hatten sehr formale, schwarze Anzüge an. Die Krawatten drückten eng gegen ihre Hälse. Langsam wurde dem Jungen mulmig. Er kannte diese Gegend. Sein Blick wanderte wieder aus dem Fenster. In der Weite erstreckte sich ein Berg. Eine erschreckend bekannte Sicht. Alles in ihm fuhr zusammen, Gänsehaut ließ seine Haut zusammen zucken. Sein Herz beschleunigte auf 130 Schläge pro Minute, als würde er gerade rennen. Schmerz pochte in seinem Handgelenk. Mirais Griff war gewalttätig, stark, bestimmend und unnachgiebig. Würde Iori fliehen wollen, würde er wissen, wie Folter sich anfühlte. Sie waren noch längst nicht an ihrem Ziel angekommen.

Schnee sammelte sich an, je höher Annas Leute kamen. Nach weiteren, wenigen Minuten sah Iori zu, wie Anna aus einem der Vans stieg. Sie hatte ihr Haar offen, ein seltener Anblick. Es war mit Locken gefüllt, die über die Schultern über ihre Brust fielen. Die Locken gingen ihr bis zum Bauch. Sie hatte sich geschminkt. Ihre Augen wirkten kristallblau, nicht fast schwarz wie bei den letzten Male, wo er sie gesehen hatte. Sie trug ein glockenförmiges, schwarzes Kleid, dass durch einen Mantel bedeckt worden war. Eine Hand half dem Mädchen von ihrem Sitz, ließ sie anschließend nicht wieder los. Sie gehörte Akira. Er lächelte sie an. Selbst er trug einen schwarzen Anzug. Er hatte sogar seine Haare gebändigt und nach hinten frisiert. Iori wusste nun, wieso alle so formal angezogen waren. Vor ihnen erhob sich der letzte und höchste Abschnitt des Berges Takao in der Hachioji Präfektur.

Nun öffneten sich auch die Türen ihres Vans. Die eisige, verschneite Luft fuhr wie ein Güterzug durch die Wärme des Autos. Liam stieg aus. Mirai blieb sitzen und hielt Iori weiterhin fest. Die Türen des Vans schlossen sich wieder. Iori starrte Anna an, wie sie und Akira langsam die Treppen zum Schrein hinauf liefen. Der Schnee gab knirschend unter ihrem Gewicht nach. Dann folgten Ren und Liam, dann der Weißhaarige. Dicht hinter Shiro liefen junge Männer. Einige von ihnen sahen wild aus, selbst in ihren Anzügen, als wüssten sie nicht einmal, was „formal“ bedeutete. Sie hatten zerzaustes, wildes Haar, das in alle Richtungen ab stand. Andere hatten von der Sonne gebräunte Haut und helles Haar, ähnlich wie Mirai, und schienen dieser Art von Treffen wohl besser zu kennen. Ihr Blick war nach unten geheftet. In Demut und Gleichschritt liefen sie der Königin hinterher, während sie das Nest der Tengus betrat.

„Wieso gehen wir nicht?“ fragte Iori erstickt. Mit jedem Schritt, den Anna auf den Tempel zu machte, fühlte sich sein Herz schwerer an. Mirai schwieg.

Anna hatte sich bei Akiras Arm eingehakt. Es war kalt, der Schnee flog ihr ins Gesicht und drohte, die Frisur zu zerstören. Akiras Hand ruhte auf Annas Arm, schenkte ihr Wärme. Langsam kam die Parade an den großen Türen an, die immer noch verschlossen blieben.

„Alles okay?“ flüsterte Akira dem Mädchen leise zu. Dieses nickte. „Okay. Dann bis später.“ Er ließ sie los und trat zur Seite. Ren und Liam folgten ihm. Anna drehte sich noch einmal um. Die Masse an Leuten, die hinter ihr stand, war überwältigend. Zehn junge Männer von Silver, circa 50 aus dem Affenreich. Ihr Blick fiel auf Tristan, der Marlo gerade die Krawatte richtete. Sie waren gewachsen. Die Affen-Zwillinge waren heute nicht hier. Anna sah es genau so, wie Mirai und Silverback: Die Mädchen sollten Zuhause bleiben. Im Fall der Fälle, dass nicht alles so lief wie geplant, wäre es besser so. Sasahira schaute Anna musternd an. Sie war die einzige Frau, die neben Anna heute hier sein durfte und das auch nur, um sich um Anna zu kümmern. Die braunen, harten Augen starrten erwartungsvoll ihre Königin an. Diese nickte.

Mit einem Schlag ertönten Glöckchen. Die Affen hatten ihre Stäbe heraus geholt, hielten sie hoch in die Luft, ließen sie auf dem Boden aufstampfen und ließen erneut Glöckchen klingeln. Mit einem weiteren Schlag, der die kalten Steintreppen zum Tempeln erbeben ließ, hörte man abermals den süßen Klang. Er schien den Schnee von ihnen wegzublasen, als würden sie den Frühling bringen. Eine der Tannen, die den Weg zierten, ließ einen Brocken Schnee von seinen Zweigen fallen. Anna wandte sich nun den großen Tempeltüren zu. Langsam wurden diese geöffnet. Männer standen vor ihnen. Die meisten trugen eine weiße Kutte, hatten schwarze Haare und fast alle von ihnen starrten mit blauen Augen auf die Königin, in Ehrfurcht… und Angst. Sie verbeugten sich und entblößten die von Federn gezierten Nacken.

„Willkommen...“ sagte eine alte, bebende Stimme. Ein kleiner Mann mit kleinen, schwarzen Flügeln kniete sich vor Anna hin und legte seine Stirn auf den Schnee. „Wir sind Eures Besuches nicht würdig.“ Aber doch. Dieser Besuch war das mindeste, was Anna für angebracht hielt.

„Wir sind froh, eure Bekanntschaft machen zu dürfen.“ erwiderte das Mädchen mit einem Lächeln. Der alte Mann erhob sich. „Mein Name ist Fujisaki. Ich bin das Oberhaupt dieses Clans.“ Er verbeugte sich abermals.

„Mein Name ist Anna.“ Auch Anna senkte kurz den Kopf, um sich vorzustellen.

„Bitte, kommt rein.“ Der Mann breitete seine Hände aus und zeigte auf das Haus. Die alten Arme zitterten. Die Männer, die ihnen die Tore geöffnet hatten, verharrten in Position. Auch sie schienen Angst zu haben. Mit kleinen Schritten führte Fujisaki die Gäste in seinen Tempel.

Große, rote Säulen gaben dem Gebäude Halt. Weiße Mauern erhoben sich und ragten empor, wie riesige Schneehaufen. Unter dem Schnee blitzten rote Ziegel hervor. Das Innere des Tempels war gefüllt von Wärme und einem angenehmen Duft, als würde gerade gekocht werden.

„Entschuldigt bitte. Euer Kommen ist uns sehr wichtig, doch war es zu spontan, um alles rechtzeitig fertig zu kriegen...“ murmelte der älteste Tengu demütig. Aus den Augenwinkeln beobachtete Anna, wie Tristan und Marlo die Fährte von frischem Fleisch aufnahmen. Sie handelten sich einen bösen Blick ihres großen Bruders ein.

„Das ist nicht weiter wichtig. Wir sind nicht hier um zu essen.“ erwiderte Anna schnell.

„Natürlich, natürlich. Verzeiht.“ Der Mann schien sich unter seiner Schuld zu krümmen und immer kleiner zu werden.

Die Gänge des Tempels waren breit und geschmückt mit Zweigen. Kerzen waren auf großen Haltern angebracht und beleuchteten den braunen Dielenboden, der sich bis in die Tiefen des Gebäudes erstreckten, die Anna jedoch nicht erkunden würde. Denn die große Halle, zu der sie geführt wurden, war bereits kurz nach dem Haupteingang zu sehen. Riesige, lange Tische erstreckten sich hier und erinnerten Anna ein bisschen an Sun Wukongs Palasthallen. Die Tische waren verziert mit Tannenzweigen, Nüssen und Beeren. Die Wände waren gefüllt mit schwarzhaarigen Männern und Frauen, die kerzengerade da standen und auf das Eintreten der Königin warteten. Die Masse begann sich hinzusetzen. Nur Anna und Shiro wurden weiter in die Halle gefüllt und an einen Tisch gesetzt, der waagerecht zu den anderen stand und so einen Blick über die ganze Halle bot. Die Mäntel wurden ihnen abgenommen.

„Möchtet Ihr etwas trinken?“ fragte Fujisaki mit einem leichten Lächeln und Anna nahm das Angebot an. Shiro wich ihr nicht von der Seite. Selbst hier, an diesem Tisch, an dem nur Autoritätspersonen sitzen durften, hielt er die Distanz nur auf wenige Zentimeter. Einige Frauen, die an den Wänden bereit standen, begannen, die Gläser der Gäste zu füllen. Es war Honigwein. Annas Blick schweifte über ihre Leute. Sie rührten den Wein nicht an. Ihr Blick war auf Anna geheftet, erwiderten ihn in Bereitschaft. Anna nahm das Glas in die Hand und starrte auf die goldgelbe Flüssigkeit. Sie erinnerte an Akiras Augen.

„Meine Königin, womit haben wir Euer Kommen verdient?“ erhob sich nun eine andere, tiefere und um einiges ruhigere Stimme. Annas Augen richteten sich auf einen großen, durchtrainierten Mann. Seine Statur glich der Mirais, allerdings war seine Haut aschfahl und seine Haare rabenschwarz. Seine dunkelblauen Augen scheuten sich nicht, die Annas aufzusuchen.

„Wir haben bereits angekündigt, warum wir hier sind.“ Shiros Stimme brummte durch den Raum und ließ jeden einzelnen hier, bis auf Anna, erzittern. Diese musste lächeln. Es gab niemanden außer ihr, der bei dieser Stimme nicht zusammen zuckte. Der Mann schluckte.

„Verzeiht, wenn ich unhöflich war. Mein Name ist Makkuro, ich bin der älteste Sohn und Bruder von Iori.“ Er war bemüht, die Ruhe in seiner Stimme zu bewahren. „Der Grund ist mir klar, allerdings wüsste ich gerne die ganze Geschichte.“

Anna stellte ihr Glas wieder ab. Ihr Blick ruhte auf dem ältesten Sohn. Dem nächsten Oberhaupt. Wo sollte sie anfangen? Das Licht in dem Raum flackerte für einen Moment, dann löste das Mädchen ihren Blick wieder.

„Dein Bruder hat mir etwas gestohlen, wie du vielleicht schon gehört hast.“ begann die klare Stimme des Mädchens zu erzählen. „Er hat seine Dienste der anderen Königin angeboten und durch ihn habe ich meine Mutter verloren.“ Stille trat ein. Kalte, herzlose Stille. Man spürte die Anspannung der Tengus, aber auch die der Affen und Wölfe. Keiner rührte sich. Keiner hatte etwas getrunken. Nie hatten Annas Leute den Blick auch nur für eine Sekunde von ihr abgewandt. Sie warteten auf ein Zeichen für den Kampf.

Makkuro senkte seinen Blick. „Iori ist keine schlechte Person.“ fuhr Anna nun fort und schwenkte den Met in ihrem Glas, während sie gedankenversunken auf ihn blickte. „Ich weiß es. Jede Nacht habe ich gesehen, woran er dachte. Seine Gedankengänge sind naiv und unschuldig, irgendwie.“

„Ja, mein Sohn hat leider nicht viel Tiefgang.“ gab der Älteste beschämt zu, woraufhin Anna lächeln musste.

„Das ist wahr. Aber er hat etwas, das für Ausgleich sorgen würde. Und deshalb bin ich hier.“ Der Älteste schien überrascht, fast schon verwirrt.

„Alles. Alles, meine Königin.“ lächelte er nervös und rieb sich die Hände. „Alles, um mich für meinen Sohn bei Euch zu entschuldigen.“

Die junge Frau spürte, wie ihr die Galle hoch kam. Vor wenigen Monaten noch waren die Tengus ein Teil von Eves Privatarmee gewesen. Sie hatten sich ihr verschworen, sich ihr gebeugt. Und jetzt musste Anna ihnen nur einen kurzen Besuch abstatten und schon hatten sie eine neue Königin. Ihre Loyalität war einen Dreck wert.

„Gut. Ich sehe aber, dass dieses 'Etwas' gerade nicht hier ist.“ Anna setzte das Glas an ihre Lippen und trank. Der süße Geschmack von Honig glitt ihre Kehle hinunter. Toki hätte das Getränk gefallen. Nun nahm auch der Rest des Saales einen Schluck. Es war gruselig zu sehen, wie sie alle im Einklang das Glas erhoben und tranken.

„Was ist es, meine Königin?“ fragte Fujisaki sofort.

„Sho.“ Anna musterte den Ältesten bei ihrer Antwort und seine Reaktion gab ihr ein perverses Gefühl von Befriedigung. Der alte Mann wurde leichenblass, riss seine Augen auf. Seine Lippen bebten in Angst. Seine Zunge fuhr in seinem Mund herum, versuchte die Trockenheit zu bekämpfen. Makkuro war derjenige, der antworten musste.

„Das ist das einzige, was wir Euch nicht geben können.“ sagte der Mann ruhig, aber Anna hörte, wie sein Puls raste. Anspannung machte sich in seiner Brust breit. Sein Zeigefinger tippte nervös gegen seinen Wein. Das Mädchen stellte ihr Glas ab und so taten es auch die Wölfe und Affen. Die Königin musterte die Tengus, die immer noch an den Wänden aufgereiht waren und versuchten, ihrem Blick auszuweichen. Jeder Muskel ihrer Körper war spannte sich gegen die Atmosphäre an, die Annas Erscheinen hier verursachte.

„Das ist das einzige, was ich von euch gebrauchen kann.“ Ihre Antwort war rau, ohne Lächeln, und ließ keine Widerworte zu.

„Nein.“ flüsterte Fujisaki trocken und starrte auf seine Knie. „Köpft Iori, mich oder irgendjemanden hier. Aber wir können Euch Sho nicht geben.“ Er bebte vor Angst vor seinen eigenen Worten. Schweiß sammelte sich in seinem Nacken. Makkuro verschloss seine Augen.

„Euch ist klar, dass ich aufgrund von Iori meine einzige Mutter verloren habe.“ begann Anna und ihr Gefolge wandte den Blick ab. „Euch ist klar, dass eure Loyalität, die ihr Eve gegeben habt, mir hätte gelten sollen. Euch ist auch klar, dass das hier keine Verhandlungen sind.“ Körper bewegten sich. Leute begannen, sich zu erheben. Shiro kratzte mit einem seiner langen Fingernägel über den Holztisch und musterte die Kerben, die er in ihn hinein schnitzte. „Das ist eure Chance, eure Fehler gerade zu biegen. Die einzige Chance, die ich euch geben werde.“ Das Licht einer Kerze erlosch. Eine Frau japste kurz erschrocken auf, als der kalte Windzug die Flammen neben ihr ausblies. Eine weitere Kerze begann gefährlich zu flackern.

„Das… ist uns bewusst. Aber Sho...“ stotterte der Älteste. Eine Schweißperle versenkte sich in seinem Augenwinkel. Er schluckte abermals, versuchte, die Angst in sich zu behalten.

„Ich will Sho.“ hisste Anna scharf und kaltherzig. Der Rest des Raumes füllte sich mit Dunkelheit. Kerzen erloschen. Man hörte, wie die Männer sich umdrehten und ihren Körper Anna und dem Ältesten zuwandten. Augen von Bestien waren nun auf den Tisch gerichtet, an dem die Führer saßen. Sie glitzerten in der Dunkelheit. Es waren lauernde Jäger, auf den richtigen Moment wartend, ihre Beute zu attackieren. Makkuro bebte. Er spürte, wie sich die Königin einige Plätze weiter bewegte. Seine Augen wanderten über den Tisch zu der Blondine. Da saß sie, unverändert. Doch es schien kein Licht in diesen Augen. Das Weiß darin erlag einem Schwarz. Das, was sich um sie bewegte, war nicht ihr Körper. Feine schwarze Linien hoben sich von ihrer Haut ab und schienen in der Dunkelheit zu glühen. Das war es – die Macht einer Königin. Sie war überwältigend. Angsteinflößend. Der Körper des jungen Tengus zuckte automatisch zusammen, wollte von ihr weg. Sein Vater saß stocksteif da, schien in dem Terror nicht einmal daran zu denken, zu fliehen.

„Papa...“ Es war eine zarte, unschuldige Stimme, die an den Tisch drang. „Papa, es ist okay.“ Ein kleiner Junge trat hervor. Er hatte sich in einen der Seitenräume aufgehalten und hielt sich an einem der Wandteppiche fest. Auch er hatte Angst, doch nahm allen Mut zusammen, den sein kleines Herz hergab.

„Sho...“ Die Stimme Fujisakis war so rau und heiser, als würde er bald einer Lungenentzündung erliegen. Die Schritte des kleinen Tengus führten ihn an dem langen Tisch entlang bis zu Anna. Das Licht kehrte in den Raum zurück, als würde Sho den Frieden mit sich bringen. Langsam erhellte sich der Raum wieder.

Der Junge fiel vor Anna auf die Knie, legte seine Stirn auf den Boden. Er war nicht viel älter als vielleicht fünf. Das glänzende, schwarze Haar fiel auf den Boden. Seine Stimme war zart und leise.

„Wenn ich mit meinem Leben für die Fehler meines Bruders bezahlen soll, werde ich mich den Forderungen der Königin beugen.“ Trotz seiner jungen Stimme konnte man absolute Entschlossenheit aus seinen Worten hören. Er wirkte erschreckend erwachsen. Shiro, der aufgestanden war, setzte sich wieder mit einem Lächeln. Auch der Rest des Raumes setzte sich wieder hin und starrte den kleinen Tengu an. Als dieser seinen Kopf wieder hob, sah Anna in die tiefblauen Augen, die vor Willenskraft und Wissen nur so zu trotzen schienen. Sie musste lächeln bei dem Gedanken, dass er Adam unglaublich ähnelte, als dieser noch jünger gewesen war. Wahrscheinlich sogar mehr als Iori.

„Du bist Sho?“ fragte die Königin leise und konnte nicht umhin, das weiche Haar zu berühren. Der Junge nickte und senkte seinen Blick wieder. „Du willst dein Leben also für deinen Bruder opfern?“ fügte sie mit einem Grinsen hinzu. Der Junge zögerte ein bisschen, nickte dann aber erneut. „Shiro.“ Shiro erhob sich wieder und so taten es auch die anderen. Sie gingen Richtung Türen.

„Meine Königin, was...“ begann Fujisaki wieder, doch nun erhob sich auch Anna. Mit einer Handbewegung brachte die Königin den Ältesten zum Schweigen.

„Du hast ihn gehört. Er will für die Sünde deines Sohnes bezahlen. Wir brauchen etwas Ruhe. Ich will mit ihm alleine reden.“ Makkuros Hand zog an der Schulter seines Vaters, als dieser widersprechen wollte, doch das hielt ihn nicht davon ab, es tatsächlich zu tun.

„Meine Königin, bitte. Er ist der letzte, der geboren wurde. Seit Jahrzehnten warteten wir auf Nachwuchs...“

„Ich will es nicht hören.“ unterbrach Anna ihn. Sie schritt an ihm vorbei und ging das kleine Podest hinunter, auf dem der Tisch stand, um ebenfalls Richtung Tür zu laufen. Das glockenförmige Kleid, das sie trug, offenbarte das riesige, schwarze Mal auf ihrem Rücken. Linien wanderten durch die Haut wie kleine Schlangen. „Sho, führe uns dahin, wo wir in Ruhe reden können.“

Der jüngste Tengu tat, wie ihm geheißen. Als er die große Halle verließ, sah er, dass sich Annas Leute an den Wänden aufgereiht hatten. Sie standen Schulter an Schulter, sahen auf den Knirps hinab. Ihre Augen lechzten nach Blut. Sho war sich nicht sicher, ob es Hass oder Wut war, die in ihnen schlummerte, aber es war definitiv nichts freundliches.

„Sind das deine Untertanen?“ fragte er die Königin leise und musterte die Männer, an denen er vorbei lief. Dann blieb sein Blick kurz an Shiro hängen, der Anna dicht auf den Fersen war.

„Meine Untertanen. Meine Freunde. Meine Kinder.“ erwiderte das Mädchen. Sho blickte die ruhigen, tiefblauen Augen der Königin an, wandte seinen Blick dann wieder ab und ging den Gang entlang. Die Anzahl der Füße, die ihm folgten, wurden mehr. Die Männer, die sich wie Wachen aufgereiht hatten, begannen ihnen zu folgen.

„Hier.“ sagte der Junge leise und öffnete die Tür zu einem großen Raum. Er war nicht so groß wie die Halle, dennoch bot er genügend Platz für ein Gespräch. Anna folgte Sho und setzte sich ihm gegenüber.

„Shiro, hol' ihn.“ wies sie den Weißhaarigen an, der in der Tür auf dem Absatz kehrt machte, sie schloss und verschwand. Nun war der Tengu alleine mit der Königin. Stille trat ein. Sho wusste nicht, wo er anfangen sollte. Er konnte Anna nicht ansehen.

„Hab' keine Angst.“ Sie war ihm ungeheuerlich nah. Ihre Hand fuhr über seine Wange. Sie war weich, warm und angenehm. Furchtbar angenehm. „Ich tu' dir nichts.“ Mit diesen Worten hob der Junge seinen Blick. Anna war schön. Ihr langes, goldenes Haar wippte in seinen Locken leicht über ihre Brust, die zum Anlehnen einlud. Sie roch nach Vanille, ein ungewöhnlicher und süßer Duft für einen Winddämon. Ihre Augen glitzerten nun hellblau, als hätte sich die Dunkelheit in ihrem Herzen geklärt. Dort, wo sie ihn berührt hatte, glühte die Haut nun.

„Dein Bruder hat Eve erzählt, dass ich nicht da sein würde. Weißt du, was sie daraufhin getan hat?“ flüsterte das Mädchen und ihre Hand glitt von seiner Wange zu seinem Kopf. Sie streichelte ihn. Der Junge nickte.

„Sie hat meine Mutter getötet, Sho. Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn man seine Mutter so sieht?“ Sie klang nicht herzlos, als sie das sagte. Tatsächlich spürte Sho, wie sie bei diesen Worten litt. Ihre Stimme klang kratzig, als könnte sie die Worte kaum aussprechen. Sein Herz verkrampfte schmerzhaft.

„Nein. Ich habe meine Mutter nie kennen gelernt. Sie ist bei meiner Geburt gestorben.“ erwiderte er und senkte seinen Blick wieder. Sie schwieg, als wollte sie hören, was er noch zu sagen hatte. Also fuhr der Fünfjährige fort: „Der Grund dafür, dass unser Clan so klein geworden ist, ist unsere Schwäche. Wir können keine Nachfahren mehr zeugen. Die Kinder sind Totgeburten und die Frauen sterben bei dem Versuch, sie zu gebären. Deshalb… bin ich der Letzte.“ murmelte er. Die Hand auf seinem Kopf stoppte und entfernte sich wieder. Sie fand sich in Annas Schoß wieder, ruhte auf ihrem Oberschenkel. Er fixierte die weiße Haut der Königin.

„Du hast es nicht leicht oder?“ sagte die sanfte Stimme. Sho wollte nicken, konnte aber nicht. Etwas hielt ihn davon ab. Die Tür öffnete sich erneut. Akira, Liam, Ren, Shiro und Mirai traten ein. Mirais Hand war um das Handgelenk eines alten Bekannten gewickelt. Shos Blick war auf Annas Schoß geheftet, doch er konnte Ioris Geruch vernehmen.

„Sho…!“ keuchte er entsetzt und lief auf die beiden zu, wurde jedoch festgehalten.

„Dankeschön. Ist schon okay, lasst uns alleine.“ Als Sho Annas Stimme vernahm, bekam er eine kleine Gänsehaut. Er senkte seinen Blick wieder auf seine Knie. Das Geräusch der schließenden Tür war fast wie ein Todesurteil. Annas Hand, die bisher geruht hatte, wanderte die paar Zentimeter, die Abstand zu ihm bildeten, über den Holzboden und griff nach seinen Fingern. Sie war wirklich warm. Die zarten Finger drückten das kleine Händchen kurz, dann erhob sich die Königin wieder.

„Iori.“ Es war, als würde ein plötzlicher Sturm die Sommerhitze durchbrechen. Ihre Stimme war kalt und tat weh. Sie ging ein paar Schritte auf Shos großen Bruder zu.

„Anna, bitte. Lass es nicht an Sho aus.“ Er klang verängstigt. Scham stach wie ein Messer auf Shos Magengrube ein.

„Sht.“ Anna bedeutete ihm mit einem Zischen zu schweigen. „Iori. Du hast mir nie erzählt, was für eine liebreizende Familie du hast.“ fuhr sie fort. Ihre Schritte stoppten vor dem Mann, der ihrem Bruder so ähnlich sah.

„Er kann nichts dafür. Bitte...“ fuhr er fort, doch auch er wurde von sanften Fingerkuppen auf seinen Lippen zum Schweigen gebracht, wie einst Kai.

„Es gibt einen Zauber… Eher einen Fluch.“ hauchte ihm die Königin zu und er erschauderte. Es war die Stimme, die er ab und zu in seinen Träumen hörte. „Er ist für die Liebenden. Indem sie sich ewige Treue schwören, brennen sie sich auf dem Herzen ein. Sobald einer von ihnen stirbt, tut es auch der andere.“ erklärte die Königin leise. „Aber das brauchen wir im Moment nicht … Jedenfalls nicht in dieser Form.“

„Ich tu's. Ich schwöre dir ewige Treue, Anna.“ erwiderte Iori sofort verzweifelt, doch der Finger drückte sich noch tiefer in seinen Mund.

„Tut mir Leid. Mein Bruder ist wirklich dumm.“ Sho erhob sich und lief zu Iori. Er starrte seinen Bruder an. In diesem Moment wünschte er sich für einige, kurze Sekunden, er hätte ihn nicht „Bruder“ nennen müssen. Annas Lippen formten ein Lächeln, als sie sich wieder erhob. Der kleine Junge stellte sich neben seine Königin.

„Du weißt nicht, wie es ist, jemanden zu verlieren oder vielleicht hast du hast es bereits vergessen, nicht wahr?“ fragte Anna ihren einstigen Klassenkameraden. Pures Entsetzen machte sich in Ioris Gesicht breit, er wurde blass. „Nicht du wirst diesen Zauber erhalten, Iori.“ Annas Hand legte sich auf das weiche Haar seines kleinen Bruders.

„Bitte, tu das nicht, Anna.“ Tränen formten sich in seinen Augenwinkeln. Seine Hände wickelten sich in Verzweiflung um sein Gesicht. Er hatte Angst. Er hatte Panik, dass sein kleiner Bruder sterben würde.

„Wir haben die Möglichkeit, den Zauber so auszusprechen, dass nur einer stirbt, sobald der andere das Zeitliche gesegnet hat.“ fuhr das Mädchen unbeeindruckt fort und musterte den Haufen Elend vor sich.

„Anna...“ flüsterte Iori entsetzt. Sein Kopf fiel auf den Boden. Er kauerte in Demut vor ihr zusammen. „Bitte.“

Die Königin kniete sich wieder vor ihren Gefangenen. Abermals fassten die Finger nach seinem Kinn, damit er ihr in die Augen schauen würde.

„Du würdest alles für ihn tun oder?“ zischte ihre Stimme leise. Sie war so eindringlich wie ein Nagel, der sich in eine Wand bohrte.

„Alles.“ gab Iori erstickt zurück und versuchte, seine Tränen im Zaum zu halten.

„Dann schwör' mir – hier und jetzt – deine ewige Treue, deine unsterbliche Liebe und das Leben von dir und deiner ganzen Familie.“

„Ich schwöre dir, wir werden dich nie verraten. Ich werde dir dienen, für immer.“ gab Iori erstickt und ohne nachzudenken zurück. Annas Finger verließen seine Haut und sein Kopf sackte wieder zu Boden. Er keuchte, schnappte nach Luft und heiße Tränen flossen wieder still über sein Gesicht. Shiro stellte sich neben Iori. Seine Hände waren wie Klauen, die sich in seine Schulter und seinen Nacken gruben.

„Dann fangen wir an.“ Rens Stimme hallte durch den gefüllten Raum. Hinter Iori traten nun Makkuro und Fujisaki hervor. Ihr Blick ruhte leidend und beschämt auf den mittleren Sohn.

„Setzt euch.“ wies Liam Sho und Anna an und Ioris Kopf hob sich erneut.

„Was?“ flüsterte er geschockt, als er sah, wie Anna und Sho sich die Hände reichten. „Ich dachte, du würdest...“ begann er, doch Annas Lächeln gebot ihm Einhalt.

„Dein Leben ist dir nichts wert, wie ich fürchte. Die würdest sofort ins offene Messer rennen, wenn Eve dich dazu anweisen würde.“ Ihre Stimme war so hell und klar, dass sie sich einen Weg durch die angespannte Luft zu Ioris Hörgang schnitt. „Doch ist es das Leben deines Bruders überlegst du dir vielleicht noch einmal, wem du wirklich dienen solltest.“

Iori starrte Anna an. Sein Körper bewegte sich von alleine, doch Shiros Nägel drangen in sein Fleisch ein und hielten ihn zurück.

„Iori. Lass es.“ fauchte Makkuro leise. „Das ist deine Schuld. Das ist dein Urteil.“ Er senkte seinen Blick und seine Hand fuhr vor seine Augen, als wollte er nicht sehen, wie sich der Jüngste für die Familie opferte. Liams Stimme ertönte und sprach fremdartige Wörter. Seine Hände schwebten über die von Anna und Shos, die ihre Finger ineinander verschlungen hatten. Der Raum wurde heller, als würde Licht von der Decke herab fallen, die aber immer noch im Schatten verborgen blieb. Iori schaffte es nicht mehr, etwas zu sagen oder sich zu bewegen. Sein ganzer Körper und sein Herz waren gefüllt mit Bedauern und Versagen. Als Sho keuchte, zuckte er kurz zusammen. Sein kleiner Bruder schien Schmerzen zu haben. Liams Stimme erstarb wieder, dennoch hielt Anna die kleinen Hände des Jungen fest.

„Alles okay?“ fragte sie leise, ehe Sho nickte. „Es tut ein bisschen weh...“ murmelte er. Annas Hände zogen an ihm, führten ihn an ihre Brust und legten sich auf seinen Rücken und Hinterkopf. Die sanften Streicheleinheiten kehrten zurück.

„Ihr habt eine neue Königin.“ Akira hatte seine Stimme erhoben. Er ging ein, zwei Schritte auf den Ältesten zu. Er überragte ihn. Sein Gesicht war in Schatten gehüllt, als er mit einem Grinsen fortfuhr: „Ihr werdet ihr und nur ihr gehorchen. Ihr werdet Eve nichts sagen. Ihr werdet jeden Kontakt mit ihr unterbinden. Ihr seid nun ein Teil von Anna und wenn sie nach euch ruft, werdet ihr kommen. Wenn sie sagt, ihr sollt kämpfen, werdet ihr für sie kämpfen. Wenn sie will, dass ihr für sie sterbt, werdet ihr sterben.“ Seine Stimme war so angsteinflößend tief und gefährlich, dass Fujisaki nichts anderes tun konnte, als zu nicken.

„Wir werden Iori wieder mitnehmen. Er wird unser Kontakt zu euch sein.“ sagte Ren nun ruhig und half dem besiegten Tengu auf die Füße.

„Was sollen wir tun, wenn Eve uns nicht gehen lässt ? Uns für unseren Verrat töten will?“ heischte Makkuro nun aufgebracht.

„Wir werden da sein.“ Erneut trat beklommene Stille ein, als Shiro sprach. „Sie wird nicht viel tun können. Ein Teil von uns bleibt hier und passt auf.“ Das war der Plan. Während Tristan und Marlo zuständig für die Hälfte der Wölfe waren, würden sie auch einen Teil der Affen hier befehligen. Das war nicht nur zum Schutz, sondern auch noch eine offenbar friedliche Kontrolle der Tengus durch Anna. Kein Schritt, den sie gegen die neue Königin unternehmen würden, würde nicht an Annas Ohren gelangen.

„Ich will bei ihr bleiben.“ Shos zarte, junge Stimme vibrierte an Annas Brustkorb. Überrascht fiel ihr Blick auf den Tengu, der sich in ihren Armen einkugelte. Er drückte seine Wange an ihre Brüste. Seine Hände legten sich an ihre Seiten. Er hatte die Augen geschlossen. Das war nicht geplant gewesen.

„Es ist gefährlich für ein Kind.“ fauchte Shiro sofort. Er klang immer noch ruhig, dennoch konnte er eine gewisse Aufregung in seiner Stimme nicht unterdrücken. Sho öffnete die Augen und starrte den Wolfsdämon an. Ren seufzte. Tatsächlich würde es schwierig sein, Sho bei ihnen Zuhause unterzubringen. Eve würde früher oder später wissen, wo sie wohnten, und würde sie einen der Verräter vorfinden, würde sie sich auch bei einem kleinen Jungen nicht zurück halten.

„Ich werde nicht im Weg sein...“ flüsterte Sho leise. Seine Hand vergrub sich im Kragen seiner Königin.

„Ich glaube kaum, dass wir ihm das aus dem Kopf schlagen können.“ lächelte das Mädchen.

„Sho...“ Iori klang, als könnte er kaum atmen. Doch sein kleiner Bruder würdigte ihn mit keinem Blick. Anna sah sich den flehenden Blick Ioris einige Sekunden lang an, stand dann auf und setzte den Kleinen auf dem Boden ab. Mirai seufzte. Auch die anderen Männer schauten resigniert drein.

„Bringt Sho und Iori zu den Wagen. Wir sind hier fertig.“ Ren klatschte in die Hände und die Leute setzten sich langsam in Bewegung. „Mirai, wie besprochen bleibst du erst einmal hier und klärst die anfallenden Details. Ich zähl' auf dich.“ Ren hatte eine Hand auf die Schulter des Affengottes gelegt, welcher genervt nickte. Die Tengus folgten Annas Leuten aus dem Raum.

Erneut ging Anna die langen Flure des Tempels entlang und fand sich nach wenigen Minuten in der eisigen Kälte wieder. Es schneite nicht mehr. Die Wölfe und Affen teilten sich in zwei Gruppen – einmal die Heimkehrer und einmal die Bleibenden.

„Passt auf euch auf.“ Annas Hand fuhr über Tristans braunes, wildes Haar und der Junge nickte emotionslos. Marlo schnüffelte an Annas Hand, die dann auch seinen Kopf streichelte. Sie waren ihr fast schon über den Kopf gewachsen. „Wenn etwas ist, sagt Shiro Bescheid.“

„Sie werden es schon schaffen. Auch wenn sie dumm sind.“ brummte Shiro und lief an Anna vorbei zum Wagen.

„Ich glaube, er ist wieder eifersüchtig.“ grinste Akira, der nun ebenfalls bei Anna stehen blieb. Die Schritte der jungen Wölfe knarzten und knirschten im Schnee, als sie wieder ins Haus gingen.

„Ja, er schmollt.“ lachte die Blondine. Shiro fand es nie gut, wenn jemand anderes mehr Aufmerksamkeit von Anna bekam, als er.

„Das hast du gut gemacht.“ lächelte Akira und fuhr mit seiner Hand über Annas Kopf.

„Ich hatte das Gefühl, es lief ein bisschen zu einfach.“ erwiderte das Mädchen nachdenklich.

„Ich hab's gespürt. Du hast deine Macht ausgedrückt.“ grinste Akira nun und seine Hand glitt über die zarte Wange der Königin. Sie lächelte triumphierend. „Das Kleid steht dir gut. Sie hatten einen perfekten Blick auf deinen Rücken.“ Seine Augen waren auf Annas Oberkörper fixiert, während diese begann, sich die Haare in einen Zopf zu binden. Ihr Mantel war noch offen und erlaubte den Einblick auf ihr Dekolleté. Sie grinste.

„Das war der Sinn der Sache.“ erwiderte sie neunmalklug. Plötzlich wanderte Akiras Hand über ihr Schlüsselbein. Seine Finger tasteten den Knochen ab, glitten einige Millimeter hinab und blieben an der Opalhalskette hängen, ehe sie sich komplett zurück zogen.

„Du solltest deine Jacke zu machen, sonst wirst du wieder krank.“ Er vergrub seine Hände in seinen Jackentaschen.

„Zu Befehl.“ gab das Mädchen lächelnd zurück und knöpfte den Mantel zu.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück