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Liebe führt, auch in Russland, zu Dummheiten

von

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Mitbewohner

Yuriy

 

Es war der Abend des Tages, an dem Kai bei ihnen eingezogen war. Sein Training war gerade beendet und wie immer, stand er danach mit seinem Team unter der Dusche. Das Training war oberflächlich normal verlaufen, aber in seinem Inneren war es unruhig. Volkov hatte eine Entscheidung getroffen, die er durchaus nachvollziehen konnte, aber sie passte ihm nicht und er selbst wagte es normalerweise nicht einmal daran zu denken, dass eine Entscheidung von Volkov ihm nicht passte.

 

"Denkst du, du bekommst das hin?", fragte Sergei von gegenüber. Was für eine Frage.

"Natürlich." Er ließ seine Stimme absichtlich etwas kühler und schneidender klingen. Sein Befehlston. Die anderen sollten es nicht einmal wagen, ihm irgendeine Art der Schwäche zu unterstellen. Er hatte bisher alle seine Aufträge ausgeführt, dann sollte er auch das schaffen.

"Ob Volkov es tatsächlich schafft, dass niemand sich verrät? Einige hier kennen Hiwatari."

Yuriy zuckte auf diese Frage nur gleichgültig die Schultern. Das war nicht sein Problem, auch wenn es dann an ihm hängen bleiben würde, das wieder gerade zu biegen. Aber das würden auch bald die anderen Kinder hier wissen, weshalb er wirklich hoffte, dass die genug Angst vor den Konsequenzen hatten, dass sie nichts verraten würden.

"Ich verstehe das Alles nicht wirklich." Es war kein Wunder, dass Boris das sagte. Er konnte das nicht verstehen. Wie auch? Er kannte Kai nicht.

"Dann hat er eben sein Gedächtnis verloren und weiß nicht mehr, dass er schon mal hier war, aber warum ist das so ein großes Problem? Und warum ist er dann überhaupt wieder hier? Das ist absolut unlogisch. Wie hat er sein Gedächtnis überhaupt verloren?"

"Er hat es nicht verkraftet.", plapperte Ivan auch gleich los. Natürlich hielt der nicht seine Klappe, aber das war glücklicherweise nicht sein Problem. Er musste allerdings auch selbst gestehen, dass es unfair wäre, Boris als einzigen im Dunkeln zu lassen. Wenn Ivan das erledigte, musste er sich nicht darum kümmern.

"Was nicht verkraftet?"

"Das, was wir alle schon verkraften mussten."

Eine kurze, andächtige Stille legte sich über den Raum.

"Er war schwach. Zu schwach. Danach ist er in eine Art Schockstarre verfallen. Er hat nicht einmal mehr gegessen. Hiwatari Senior hat ihn dann kurz darauf abgeholt. Keine Ahnung, warum er das Privileg hatte, adoptiert zu werden. Aber er war schon immer intelligent und zielstrebig und so was. Wahrscheinlich war der Alte der Meinung, dass er zu nützlich wäre, um ihn einfach wegzuwerfen, wie ein kaputtes Spielzeug."

Ja, das war so ziemlich die bestehende Meinung. Es war nur die Frage, ob die beiden wirklich verwandt waren. Das wusste keiner so recht und wahrscheinlich würde man das auch nie erfahren. Die meisten, Yuriy selbst auch, waren der Meinung, dass sie es nicht waren. Kein Verwandter tauchte so plötzlich auf, vor allem nicht zu so einem Zeitpunkt und rettete einen von ihnen. Solche glücklichen Zufälle gab es in ihrer Welt nicht. Das war kompletter Unsinn.

Aber vielleicht war für sie alle auch die Alternative zu dieser Theorie einfach unerträglich. Denn, wenn sie tatsächlich verwandt waren, hieße das, dass sein Großvater ihn all die Jahre hier behalten hatte. Hier, in diesem dunklen Verlies, wo sein eigener Enkel vollkommen auf sich allein gestellt war und zusätzlich auch noch in höchster Lebensgefahr. Keiner von ihnen wusste genau, was mit den Kindern passierte, die für unfähig gehalten wurden, aber das auch nur, weil sie es nicht wissen wollten. Es wäre wahrscheinlich nicht schwer, das herauszufinden, aber es ging sie nichts an und damit beließen sie jedwede Nachforschung.

"Das erklärt aber immer noch nicht, warum er wieder hier ist."

Yuriy schnaubte, was die anderen nicht hören konnten, da das Wasser der Dusche, solch leise Geräusche verschluckte.

"Das ist doch offensichtlich." Sie hatten ein Recht es zu erfahren, auch wenn es sie eigentlich nichts anging. Aber er brauchte wahrscheinlich ihre Unterstützung, wenn er seinen neuen Auftrag erledigen sollte. Sein Team sollte also eingeweiht sein. Sie mussten nur nicht alles wissen.

"Was ist passiert, bevor er her gekommen ist?"

Ratlose Blicke ruhten auf ihm, das konnte er spüren. Sergei war es dann schließlich, der wieder das Wort ergriff:

"Dieser Chinese ist doch abgestochen worden, oder?"

Sein Teamkamerad war nicht in der Lage, die leichte Verachtung aus seiner Stimme zu verbannen. Dass er diesen Kampf verloren hatte, war ein Zeichen von Schwäche. Sie alle waren schon mehrfach angegriffen worden und nicht selten auch mit Messern. Wer das nicht ab konnte, war hier definitiv falsch, aber er sah ein, dass es für Außenstehende schwierig war, sich an diese Regeln zu gewöhnen. Hier hieß es eben 'friss oder stirb' und Letzteres war durchaus wörtlich gemeint. Er fragte sich bis heute, wie Volkov die Toten vor der Presse verbergen konnte, aber er nahm an, dass nach Heimkindern nicht wirklich jemand fragte und wenn doch, dann waren sie eben adoptiert worden, von Personen, die nicht genannt werden wollten. Die angebliche Adoptionsrate in diesem Heim war hoch, dabei hatte er selten wirklich einmal eine mitbekommen und er war eigentlich über alles informiert, was hier vor sich ging.

"Das heißt, er und der Chinese stehen sich so nah, dass er wegen ihm hier ist?", fragte Boris skeptisch.

"Richtig."

Eine merkwürdige Stille legte sich über den Raum und er konnte die Frage, die sich in den Köpfen seiner drei Teamkameraden bildete, förmlich hören. Wie konnten zwei Menschen, sich so nah stehen, dass man so etwas für den anderen tat? Er selbst fragte sich das auch, aber die beiden liebten sich ja anscheinend. Eine Emotion, mit der er selbst nicht wirklich etwas anfangen konnte, wie so ziemlich mit allen anderen Emotionen. Aber diese eine, diese spezielle, verstand er noch weniger. Freude, Trauer, Wut, Angst.. all das konnte logisch erklärt werden. Aber Liebe? Liebe war ein irrationales Gefühl, das offensichtlich merkwürdige Dinge anstellte. Nichts, was er je verstehen würde.

 

Die anderen stellten ihre Frage nicht und er antwortete ihnen nicht darauf. Das ging sie nichts an. Niemand musste wissen, dass die beiden auf das gleiche Geschlecht standen. Das würde sich viel zu schnell hier verbreiten und viel zu viele Probleme machen. Sie redeten alle nicht viel und waren hauptsächlich nur unter sich, wegen dem Sonderstatus, den sie aufgrund ihrer Titel 'genossen', aber das hieß nicht, dass allein das Aussprechen dieser Tatsache, dazu führen konnte, dass es jemand mitbekam, der es anderen erzählen würde. Ob es jetzt ein Außenstehender oder jemand innerhalb des Teams, war dabei gleich. Was ausgesprochen wurde, konnte weitergegeben werden. Es wunderte ihn sowieso, dass Kai so offen damit umgegangen war. Ob er sich doch noch an Einzelheiten erinnerte?

"Warum bist ausgerechnet du eigentlich sein Aufpasser?", fragte Bryan weiter. Seine Neugierde schien heute wirklich nicht gestillt werden zu können. Doch diesmal war diese Information so intim, dass nicht einmal Ivan es wagte, das Wort zu ergreifen. Sie waren einmal Freunde gewesen. Das war die schlichte Wahrheit und deshalb befürchtete Sergei auch, dass er das nicht schaffen würde. Volkov hingegen war der festen Überzeugung, dass er es genau deshalb als einziger konnte. So ein törichter Mann. Seit damals waren Jahre vergangen und Kai erinnerte sich nicht einmal daran. Es war heute alles anders.

"Wir waren schon einmal Zimmergenossen."

Seit damals hatte er keinen Mitbewohner mehr gehabt. Ein Privileg, das die Elite eben bekam. Das einzige, wenn man es genau nahm.

Es würde eine Umstellung werden, jetzt wieder jemanden in seinem Zimmer zu haben. Aber das war eigentlich das geringste Problem an der ganzen Sache. Innerlich seufzte er. Das würde noch spaßig werden.

 
 

*

 

Er öffnete die Tür, gab sich Mühe, dass er es nicht zögerlicher tat als sonst. Was Unsinn war, wenn man bedachte, dass Kai nicht wusste, wie er sonst eine Tür öffnete.

Da lag er. Auf dem Bett und las ein Buch. In einem ersten Impuls wollte er ihm sagen, dass so was wie Bücher oder andere persönliche Sachen keine gute Idee waren, denn die konnten einem weg genommen werden. Dann aber hielt er sich zurück und schloss einfach nur die Tür hinter sich. Kai musste nicht wissen, was hier vor sich ging und er würde auch nichts zu befürchten haben, denn er hatte eine Sonderstellung.

 

Er war etwas nervös, das musste er zugeben. Er wusste nicht genau, was er tun sollte. So eine Situation kannte er noch nicht, es gab noch kein Skript dafür, was bedeutete, dass potentiell viele Fehler gemacht werden konnten. Das musste er unbedingt auf ein Minimum begrenzen. Aber wie jetzt anfangen? Was jetzt sagen?

"Du also."

Nun, das nahm ihm das Problem mit dem Anfang ab. Kai hatte das Buch gesengt und sah ihn nun aus düsteren, roten Augen an. Seine Augenfarbe hatte sich ein wenig verändert. Als er ihn kennengelernt hatte, war es eher ein Braunton gewesen. Das stechende rot war wirklich etwas neues und irgendwie passte es zu ihm.

"Offensichtlich.", antwortete er nur kurz angebunden. Wahrscheinlich hätte er noch mehr sagen sollen, aber reden war nicht seine Stärke und das konnte er kaum von jetzt auf gleich ändern.

 

Kai

 

Yuriy war es also. Eigentlich hätte er sich das auch denken können. Volkov schickte natürlich sein bestes Pferd im Stall um ihn im Auge zu behalten. Oder um ihn hier heraus zu ekeln, das konnte er nicht genau sagen. Außerdem war Yuriy skrupellos genug, um ihn auch mit Gewalt von irgendetwas abzuhalten. Ein gefährlicher Mitbewohner.

Aber, und das galt es auch zu bedenken, wenn er ihn auf seine Seite ziehen konnte, wäre er der wertvollste Verbündete in diesem ganzen Laden. Mit ihm hätte er Zugang zu allen Informationen und Bereichen in diesem Internat. Wer wusste schon mehr von diesem Laden, als das Kronjuwel der ganzen Einrichtung? Aber wie brachte er ihn dazu, sich ihm anzuvertrauen? Ihm zu vertrauen? Er war in so was nicht wirklich geschickt, aber vielleicht konnte Rei ihm dabei helfen, schließlich schien der sich ganz gut mit ihm zu verstehen. Und er war allgemein besser im Zwischenmenschlichen, wie Kai selbst.

Allerdings schien sein Zimmergenosse ungefähr genauso gesprächig zu sein, wie er. Vielleicht waren sie sich ja recht ähnlich. Dann aber fragte er sich, wie man ihn beeindrucken konnte. Konnte man das überhaupt? Rei hatte dafür ein halbes Jahr gebraucht und er konnte noch nicht einmal sagen, wie er das gemacht hatte.

Vielleicht sollte er mit den Grundlagen anfangen?

So stand er erst einmal vom Bett auf, denn es war unhöflich, bei einem ersten Treffen zu liegen. Er schätzte sehr, dass man diese Begegnung als ihr erstes 'Treffen' bezeichnen konnte. Das im Krankenhaus war dafür zu kurz gewesen.

Als er jedoch auf ihn zu ging, um ihm nach europäischer Tradition die Hand zu reichen, bemerkte er, wie Yuriy sich anspannte, seine Hand leicht hinter seinen Rücken schob. Entweder hatte er da ein Messer, oder er wollte im Notfall nach dem Türknauf greifen können. Eine wirklich seltsame Reaktion darauf, dass einfach nur jemand auf ihn zukam. Aber nach kurzen nachdenken bemerkte er, dass der Raum zu klein war, um ausweichen zu können, sollte er ihn tatsächlich angreifen. Indem er auf ihn zukam, drängte er ihn förmlich an die Wand. Aber was sollte diese Reaktion? Ja, er war ein Fremder, aber eine normale Reaktion war das nicht, oder?

Dann allerdings musste er an das denken, was Rei passiert war. Das Verhalten seines Gegenübers ließ darauf schließen, dass das normal war. Was war das nur für ein furchtbares Internat, oder wusste die Leitung nichts davon? War das für ein Kinderheim vielleicht normal?

Nun, die Jugendlichen hier hatten nicht wirklich eine Bezugsperson, niemanden, zu dem sie Vertrauen aufbauen konnten. Spiegelte sich das vielleicht in Gewalt wieder? Er konnte es nicht wirklich sagen, aber als er bei seinem Großvater angekommen war, hatte er auch eine hohe Gewaltbereitschaft gehabt. Wenn er auch in einem Heim gewesen war, könnte das ein Muster sein. Aber das konnte er nicht beweisen und bevor Yuriy ihn angreifen würde, musste er etwas tun. Er entschied sich, einfach sein Vorhaben weiter durchzuführen.

 

Er blieb vor ihm stehen und streckte ihm nachlässig die Hand entgegen. Er bemerkte das kurze Zucken in dem Arm des anderen, ignorierte das aber geflissentlich.

"Mein Name ist Kai Hiwatari. Erfreut dich kennenzulernen."

Mit wachsamen Augen, beobachtete er, was sein Gegenüber jetzt tat.

 

Yuriy

 

Seine sonst so aufmerksamen Augen glitten kurz nach unten, um der ausgestreckten Hand entgegen zu sehen. Was sollte das denn jetzt? In seinem Kopf kramte er nach einem passenden Protokoll, aber es wollte sich nicht so recht eines finden. Sie hatten sich doch schon kennengelernt, oder nicht? Warum sollte er sich noch einmal vorstellen. War das in Japan normal so? Soweit er wusste, war Hiwatari ein japanischer Nachname, demnach würde Kai doch da wohnen, nicht? Begrüßte man sich da zweimal? Gab es dafür einen bestimmten Ablauf? Er kannte keinen und so blieb ihm nichts anderes übrig, als das Skript für ein normales Kennenlernen hervor zu kramen.

Er hielt allerdings inne, als er seinen Blick wieder hob und den aufmerksamen, musternden Augen seines Gegenübers begegnete. Er beobachtete ihn so genau. Hatte er etwas vor? Es war ihm schon unheimlich gewesen, dass er ihn so eingekesselt hatte. Instinktiv hatte er sich eine Fluchtmöglichkeit geschaffen, indem er sich bereit machte, die Tür zu öffnen, sollte es brenzlig werden. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ihm schon das ein oder andere Mal das Leben gerettet hatte.

Jetzt aber streckte ihm dieser Kerl nur die Hand entgegen. War das ernst gemeint oder ein Trick? Er war sich nicht sicher. Andererseits wäre es wahrscheinlich eine Beleidigung, wenn er die dargebotene Geste nicht annahm. Das könnte unpraktisch werden, denn nur, wenn er das Vertrauen des anderen gewann, konnte er ordentlich auf ihn aufpassen. Wenn Kai irgendetwas tun würde, was das Internat auch nur im geringsten beschädigen könnte, würde er selbst den Kopf dafür hinhalten müssen. Er musste auf ihn achten, denn er kannte ihn ja am besten, weil sie ein Freunde gewesen waren. So ein Unsinn. Den Menschen vor sich, hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Nichts erinnerte noch an seinen damaligen Freund.

 

Außer einer Sache und die veranlasste ihn dazu, doch noch die Hand anzunehmen. "Yuriy Ivanov. Manche nennen mich auch Tala."

Kurz wurden die Hände geschüttelt, dann war die Szene auch wieder vorbei. So einfach konnte das gehen. Warum Kai das gemacht hatte, wusste er dennoch nicht. In seinen Augen war das vollkommen überflüssig, denn sie hatten sich bereits kennengelernt. Merkwürdige Gebräuche, die die da in Japan hatten.

"Wir hatten im Krankenhaus nicht wirklich die Gelegenheit uns kennen zu lernen." Yuriy konnte nicht wirklich sagen, aus welcher Ecke seines Verstandes das jetzt gekommen war, aber an dem amüsierten Funkeln in den Augen seines Gegenübers konnte er erahnen, dass es kein falscher Schachzug gewesen war.

"Du hattest es auch ziemlich eilig, da weg zu kommen."

"War mir plötzlich zu warm da drin."

Nein, verdammt! Das war die falsche Antwort gewesen. Ich mag keine Krankenhäuser oder so etwas in der Richtung, wäre besser gewesen. Eine gute Ausflucht und eine Offenbarung über sich selbst, die den Gesprächspartner mit etwas Glück dazu bringen konnte, selbst etwas über sich preis zu geben und so ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Ja, das wäre die bessere Antwort gewesen. Ihn wegen seiner Homosexualität zu verhöhnen, war es sicherlich nicht gewesen. Verdammt.

 

Kai schnaubte, während seine Augen sich gefährlich verengten. Das mit dem Vertrauensverhältnis konnte er die nächste Zeit vergessen.

"Gib acht, was du sagst, Ivanov!", zischte er und dachte damit wohl, einschüchternd zu wirken. Tz, nicht bei ihm. Ganz sicher nicht bei ihm.

"Sonst was?" Das nahm vielen den Wind aus den Segeln, auch wenn er sich sicher war, dass das bei Kai nicht zutraf. Der war noch nie auf den Mund gefallen.

"Sonst landest du das nächste Mal im Krankenbett."

Das war erstaunlich schwach, aber er hatte ja schon erwähnt, dass er sein Gegenüber nicht mehr kannte. Wenn er beim Kämpfen genauso abgebaut hatte, wäre das enorm enttäuschend. Aber was war von einem Lichtkind auch Anderes zu erwarten? Die waren doch alle so. Schwach und weich. Erbärmlich.

"Das üben wir nochmal.", antwortete er schlichtweg. Es lag kein Spott in seiner Stimme, nur pure Kälte und Berechnung. Wo die Frage vorher nicht funktioniert hatte um die Situation zu entschärfen, saß das jetzt wirklich punktgenau. Er war sich sicher, dass ihm das noch keiner entgegnet hatte, mit dem er je ein verbales Duell ausgetragen hatte. Kai war es, wie auch damals immer, gewohnt, dass er der Überlegene war, aber das konnte er hier vergessen. Hier würde keiner vor ihm kriechen. Nicht, bevor er sich nicht bewiesen hatte und selbst dann, gab es immer noch Menschen, die mit ihm auf der gleichen Stufe oder sogar über ihm standen. Das würde noch eine harte Lektion werden.

 

Er nutzte den kurzen Moment der Verwirrung und schlüpfte an seinem neuen Zimmergenossen vorbei, zu seinem Bett. Fein säuberlich zusammengefaltet, lag dort eine Schlafhose auf dem akkurat gemachten Bett. Disziplin war hier oberste Priorität. Alles, was sie taten beruhte auf diesem einfachen Prinzip. Disziplin in allem was sie ausmachte. Denn nur wer klare Regeln befolgte, konnte einen ebenso klaren Kopf haben. Wie gut Kai das wohl noch konnte? Ihm war bekannt, dass viele Lichtkinder ein Problem mit derart strenger Disziplin hatten. Nun, es würde sich zeigen.

Während er sich auszog, legte sich Kai wieder auf sein Bett. Er war noch vollständig angezogen und schien diesen Umstand auch noch nicht ändern zu wollen. Seine Sache, damit hatte er nichts zu tun.

Er zog sich gerade die Schlafhose an, als die verwunderte Stimme von seinem Mitbewohner plötzlich ertönte:

"Woher hast du die?"

Vollkommen perplex, wandte er sich wieder zu ihm um. Was sollte die Frage denn?

"Von Alexander. Dem Kerl, der die Spenden verwaltet." Hatte er etwa keine Schlafsachen dabei? War er deshalb noch nicht umgezogen?

Kurz unterbrach ein Zungeschnalzen die Stille im Zimmer und indizierte Yuriy, dass die Hose wohl nicht gemeint gewesen war.

Dennoch zögerte sein neuer Mitbewohner offenbar, die Frage noch einmal zu stellen und sah ihn stattdessen lieber unschlüssig an. Der musternde Blick, der über seinen Körper streifte, ließ kurz Ekel in ihm aufsteigen, bis er begriff, dass das kein sexuell aufgeladener Blick war. Irgendetwas an seinem Körper, hatte seine Aufmerksamkeit erweckt und schien mit seiner Frage zu tun zu haben. Aber was?

"Spuck's schon aus!" Geduld war nur dann eine seiner Tugenden, wenn es keine Alternative gab. Im Privaten Rahmen - und obwohl man es anders sehen konnte, waren die Zimmer der Elite tatsächlich so was wie privat - griff er als Ersatz gerne zu Aggressionen.

Doch genau wie er, ließ auch Kai sich nicht einschüchtern, was ihn offenbar dazu brachte, noch eine ganze Minute ihrer Zeit zu verschwenden, ehe er mit der Sprache heraus rückte:

"Die Narben. Woher hast du die?"

 

Kurz glitt Yuriy Blick automatisch an sich hinunter. Streifte erst über die Brust, dann den Bauch und schließlich auch über seine Arme. Fast überall, waren kleine, feine Linien zu erkennen. Zwischendurch wölbte seine Haut sich auch mal, doch das meiste sah man kaum. Er konnte nicht genau sagen warum, aber er wich der Frage aus:

"Ist doch normal."

Ehrlich gesagt, wusste er auch nicht so recht, was er darauf antworten sollte. An die meisten Verletzungen erinnerte er sich kaum noch. Die meisten kamen von Strafen, andere hatte er sich im Kampf zugezogen. Manche sogar bei Wettbewerben. Jeder hier sah so aus, deshalb hatte er sich niemals Gedanken darum gemacht und würde auch jetzt nicht damit anfangen.

"Nicht wirklich."

 

Die Augen von Kai ruhten noch immer auf ihm, als er sich auf sein Bett setzte. Es stand parallel zu dem anderen. Lässig stützte er die Ellbogen auf seine Knie, ließ die Hände locker dazwischen hängen. Eine typische Geste von ihm, die sein Gegenüber in trügerischer Sicherheit wiegte. Es sah entspannt aus, aber in Wirklichkeit, konnte er mit nur wenig Gewichtsverlagerung nach vorne schnellen und hatte dabei Arme und Hände sofort einsatzbereit. Nur sein Kopf war durch die nach vorne gebeugte Haltung offen und recht ungeschützt, aber bisher hatte die fingierte Ruhe ihn immer genug geschützt. Außerdem konnte er, indem er sich von seinen Knien abstieß, auch recht schnell nach hinten ausweichen. Er achtete darauf, genau so weit auf dem Bett zu sitzen, dass sein Kopf, sollte er sich nach hinten fallen lassen, nicht mit der Wand kollidierte. Den Schwung konnte er dann gut nutzen, um den anderen über sich zu werfen, oder ihn mit einem gezielten Tritt auszuschalten.

"Was willst du jetzt von mir hören?"

Er fragte das, weil er sich wirklich nicht sicher war und weil er Zeit schinden musste, um sich eine passende Antwort zu suchen. Er durfte ihm keine Informationen geben, die dem Heim schaden konnten und obwohl er selbst es als vollkommen normal empfand, wusste er, dass es die Außenwelt nicht gut heißen würde, würde sie erfahren, dass hier Kinder verletzt wurden.

"Die Wahrheit.", kam es trocken als Entgegnung.

Er musste lachen, ohne, dass er etwas dafür konnte. Er war auch nicht in der Lage zu sagen, warum er es tat. Er lachte einfach nur. Trocken und freudlos.

Nur einen Moment später war der kurze Anfall wieder vorbei und er fixierte sein Gegenüber nicht minder ernst als vorher, nur mit einem kalten Lächeln auf den Lippen.

"Wahrheit existiert nicht. Du solltest jetzt schlafen, Kai. Der Wecker klingelt um fünf Uhr dreißig."

 

Und damit schlug er die Decke beiseite, legte sich hin und rollte sich mit dem Rücken zu seinem Zimmergenossen. Es war merkwürdig wieder jemanden im Raum zu haben. Er war sich nicht sicher, ob er so schlafen konnte.

Eigentlich sollte das kein Problem darstellen, denn er wusste, dass, wenn Kai auch nur eine falsche Bewegung machte, er sofort wieder wach wäre und jeden möglichen Angriff auch abwehren könnte, aber wohl war ihm dennoch nicht dabei, dass er sich so wehrlos jemandem auslieferte. Manchmal war es nur eine halbe Sekunde, die man zu langsam reagierte. Das konnte ihn das Leben kosten.

Andererseits war das ein Lichtkind, wenn er sich von dem überwältigen ließ, wenn auch nur im Schlaf, hatte er das Leben wahrscheinlich sowieso nicht mehr verdient.

Weiterhin gab es für Kai keinen Grund ihn anzugreifen. Was brachte ihm das? Nun, ziemlich viele Pluspunkte bei Volkov, wenn er es wirklich schaffte, ihn zu überlisten, aber das konnte Kai kaum wissen. Zumindest nicht, wenn er wirklich sein Gedächtnis verloren hatte und das war etwas, was er nicht überprüfen konnte. Dennoch sah es ehrlich gesagt nicht so aus, als könne er sich noch an irgendetwas erinnern, wenn er schon so merkwürdige Fragen stellte und so merkwürdige Rituale durchführte.

Also war von Kai keine Gefahr zu erwarten, aber was hieß das schon? Vielleicht hatte sein Kopf noch andere Schäden, als nur einen Gedächtnisverlust davon getragen und er war zu einem irren mutiert? Wenn er dann einen Anfall hatte, war ein Angriff gar nicht mehr so unwahrscheinlich.

Vielleicht hatte Volkov ihn ja deshalb ausgewählt. Nicht, weil er ihn angeblich am besten kannte, sondern, weil er sich am besten wehren konnte. Befürchtete Volkov einen Wahn, in den sein neustes Heimmitglied verfallen könnte?

Wo er gerade an Mitglied dachte...

Wenn Kai der Enkel von Hiwatari, dem Mitbegründer, war, was tat er dann hier? Rei mal ganz außen vor gelassen. Hiwatari würde niemals zulassen, dass sein Fleisch und Blut wieder hier her kam. Es sei denn....

Ja... es sei denn.

Es sei denn, er hatte ihn her geschickt, um überprüfen zu lassen, ob hier alles nach dem Rechten lief. Das war die einzig logische Erklärung. Sollte er deshalb auf ihn aufpassen? Befürchtete Volkov nicht, dass irgendetwas an die Außenwelt drang, was dort nicht hin gehörte, sondern, dass Hiwatari nicht zufrieden sein könnte? Wusste Volkov überhaupt von der Überprüfung? Was, wenn Hiwatari nicht zufrieden sein würde? Würde dann Volkov bestraft? Das würde auf sie alle zurückfallen...

Wenn Kai ihn nun zum Test im Schlaf angreifen würde? Um zu überprüfen, ob er gut genug trainiert war?

 

Erst Stunden später, schaffte Yuriy es, über seinen vollkommen paranoiden Gedanken einzuschlafen. Es forderte eben seinen Tribut, immer allen einen Schritt voraus sein zu müssen, um in dieser Welt wortwörtlich überleben zu können.



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