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Bruderliebe

von

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Wenn es einen Gott gab, der uns nicht wohlgesonnen war, dann spürten wir ab diesem Zeitpunkt seine volle Härte.

Wir fühlten Gottes Zorn.

Warum durften wir nicht glücklich sein? Hatten wir nicht genug durchgemacht!

Fast ein Jahr später, ich war tatsächlich über Darian hinweggekommen, erkrankte Carsten an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er hatte die Bauchschmerzen, warum auch immer, ignoriert, bis er es nicht mehr vor mir verheimlichen konnte. Ich sah am Frühstückstisch oder beim Abendessen seine voranschreitende Appetitlosigkeit, die Schmerzen im Gesicht. Carsten, der immer gerne aß, das Leben genoss, mochte auf einmal in der Frühe seine Brötchen nicht mehr. Umso liebevoller ich den Frühstückstisch gestaltete, umso schlechter gelaunt wurde er. Als ich ihn anbrüllte, was los sei, sagte er mir, dass er Schmerzen hätte und dann erst ging er endlich zu einem Arzt. Aber es war zu spät – zu spät für eine Behandlung. Natürlich blieben wir nicht bei einer Diagnose, sondern holten uns zwei weitere Meinungen ein. Aber alle sagten das Gleiche: Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Carsten war dem Tode geweiht. Die endgültige Diagnose riss uns beiden den Boden unter den Füßen weg.

„Warum?“, fragte ich schockiert, als wir von der letzten Untersuchung abends völlig erschöpft zuhause ankamen.

„Ich dachte, es wäre der Stress, vielleicht auch noch die Sache mit deinem Bruder, dies wäre mir auf den Magen geschlagen. Ich glaubte tatsächlich, ich hätte nur eine Magenschleimhautentzündung.“ Carsten schien gefasster als ich. Wie konnte er in dem Moment so ruhig bleiben? Schon der Gedanke, ohne ihn weiter leben zu müssen, war für mich undenkbar.

„Aber wenn du gleich gegangen wärst?“ Ich konnte und wollte es nicht begreifen. Wir waren so glücklich.

„Ich bin kein Ärztegänger, hab so was wie eine Phobie, man sieht, was dabei herauskommt.“ Die geröteten Augen und wie er mich blass ansah, riss mir das Herz entzwei. Ich nahm ihn in den Arm und schwor mir, zu kämpfen, noch war nicht alles verloren. Und doch dachte ich immer öfter nach, ob man uns nicht einfach bestrafte. Für unsere Liebe, oder war es die Liebe zu meinem Bruder – den ich immer noch still liebte, aber mich für Carsten entschieden hatte und nun damit zurechtkam? Warum war das Schicksal so grausam? Wie in Watte gepackt, fühlte ich im Moment so viel und dann wiederum gar nichts ... man konnte es nicht beschreiben.

Ich verstand Carsten nicht wirklich. Warum hatte er solche Angst vor Ärzten? Er half doch den Menschen ebenfalls. Er hatte mir geholfen! Ich hatte dank ihm niemals zu einem Therapeuten gemusst. Es war alles sein Verdienst gewesen. Als er mich damals auf der Brücke von meinem Selbstmord abgehalten hatte, hatte er mich auch nicht in ein Krankenhaus gebracht.

Ich grübelte etwas, doch dann verstand ich langsam seine Phobie. Er hatte sie von Anfang an. Jeder andere hätte mich damals eingeliefert.

 Zudem fiel mir noch etwas auf.

In der ganzen Zeit, in der wir zusammen waren, war er nur einmal beim Arzt gewesen und das war, als er sich mit meinem Bruder geprügelt hatte. Ich fragte nicht mehr nach und nahm ihn so, wie er war. Doch jeden Abend weinte ich mich still und heimlich in den Schlaf, wenn Carsten neben mir eingeschlafen war. Tagsüber zwang ich mich, ihm beizustehen. Trotzdem gab es Tage, in denen ich wütend wurde, weil er nicht früher zu einem Arzt gegangen war. Doch brauchte er mich. Er brauchte eine Schulter zum Anlehnen, jemand, der ihn im Arm hielt, wenn es ihm schlecht ging. Schließlich war er der Todgeweihte, nicht ich. Ich gab alles, und merkte, dass ich ihm dadurch Halt gab, opferte meine ganze Kraft. Zumindest konnte ich ihm so etwas zurückgeben, konnte ihm beweisen, dass er sich auf mich verlassen konnte, so wie er es früher bei mir tat, als es mir so schlecht ging und er für mich da war. Daher hatte ich Angst um ihn und wollte mich nicht damit abfinden. Auch wenn die Ärzte ihm keinerlei Chance ausrechneten, klammerten wir uns an jeden Strohhalm, probierten zum Schluss diverse Heilpraktiker aus. Und dennoch … Carstens Gesundheitszustand verschlechterte sich so drastisch, dass er sein abendliches Klavierspielen einstellen musste. Wie würde ich seine Musik vermissen.

Ich sah jeden Tag seine Kraft weniger werden. Gevatter Tod kam immer näher und näher.

Wir redeten viel über das danach und Carsten hatte den Wunsch, in seinem Haus zu sterben. Ich respektierte seinen Wunsch, war es mir ebenfalls lieber, als wenn er in einem Krankenhaus die Augen zumachte. Hier war er zu Hause bei mir und seinem Hund. Dank einer Patientenverfügung bekamen wir keine Schwierigkeiten und konnten uns eine stationäre Hilfe kommen lassen, die seinen Zustand einmal am Tag überwachte.

Die Arbeit hielt mich aufrecht, und ich kümmerte mich um alles. Die Praxis lief nun ohne Carsten weiter, wir hatten sie abgegeben, als er nicht mehr arbeiten konnte. Beate, seine Sprechstundenhilfe, hatten wir von seiner Krankheit unterrichtet und sie wurde von dem neuen Therapeuten übernommen.

Das war auch der Zeitpunkt, zu dem wir beide gemeinsam beschlossen, seine Krankheit nicht mehr vor den anderen zu verheimlichen. Ich war dankbar darum. Unsere Freunde waren sowieso stutzig geworden, als wir keinen mehr besuchten und wir auch keinen Besuch mehr empfangen hatten, an Ausreden wurden wir nie verlegen.

So luden wir an einem Samstagnachmittag alle Freunde, Verwandte, sogar seine Eltern, zum Kaffee und Kuchen ein. Bei seinen Eltern wunderte es mich, dass sie überhaupt kamen, hatte Carsten doch kein Verhältnis mehr zu ihnen gehabt. Nachdem alle mit Kuchen und Getränke versorgt waren, wir hatten davor mithilfe unserer Haushälterin das Wohnzimmer etwas umgeräumt und zwei Tische zusammengestellt und zu einer großen Tafel umgestaltet, ließ Carsten die Bombe platzen. Viele von ihnen dachten an etwas ganz anderes. Mir wäre das ‚etwas andere‘ auch lieber gewesen. Alle sahen uns mit entsetzten Gesichtern an und da stand Carsten schließlich von seinem Platz auf und erzählte es ihnen ausführlicher.

Ich bewunderte seine Haltung, während er über seine Krankheit berichtete. Carsten schien gefasst und mit sich im Reinen. Er kam mit seiner Ansprache ans Ende.

„Seid nicht traurig, ich habe alles erreicht, was ich mir jemals erträumt habe. Und ich habe einen wundervollen Mann an meiner Seite.“ Er schenkte mir einen verliebten Seitenblick, der mir durch und durch ging. Tapfer schenkte ich ihm ebenso einen zurück.

Die gespenstische Stille, die Einzug hielt, war schlimm, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Taschentücher wurden ausgepackt. Hier und da ein Raunen. Es fielen Tränen, Kuchenstücke wurden nicht weiter angerührt und zu Ende gegessen, der Kaffee zum Teil kalt. Ich hielt Carsten im Arm und er hielt mich, als es dann alle verdaut hatten. Zum Schluss lagen wir uns beide in den Armen und ich hatte all meine Mühe, meine Tränen zurückzuhalten.

Wie liebte ich diesen Mann, in den letzten Tagen noch mehr, auch wenn wir uns nicht mehr körperlich so lieben konnten, gab es die stille Liebe, die zwischen uns immer fester wurde.

Seine Eltern hingegen überraschten mich mit ihrer distanzierten Haltung ihrem Sohn gegenüber, als sie dann als Erste gehen wollten. Sie wirkten auf mich wie Fremde.

„Wollen Sie nicht noch ...“, versuchte ich sie zum Bleiben zu überreden, doch schüttelte sein Vater den Kopf und ich ließ sie wortlos gehen. Mit einem Handgruß hatten sie sich verabschiedet.

„Lass sie, wir haben nicht das beste Verhältnis, es ist besser so. Sie haben mir nie verziehen, dass ich mich von Inge scheiden ließ und dass ich mich geoutet hatte. Sie sind gekommen, immerhin etwas, ich hätte es nicht gedacht.“ Er versuchte sich in einem Lächeln und da wurde mir schmerzlich bewusst, dass mir meine Familie fehlte. Susan, meine Mutter, auch mein Vater – Darian!

Der Samstag neigte sich dem Ende, und unsere Gäste verabschiedeten sich, wirkten verunsichert. Viele wollten etwas sagen, doch Carsten lenkte geschickt ein. Er war derjenige, der es von uns allen am besten wegsteckte …

Von da an bekamen wir täglichen Besuch. Sie sprachen sich untereinander ab, sodass Carsten nicht noch mehr belastet wurde, wenn der Besuch zu viel für ihn werden würde.

Die mitleidigen Blicke jedoch brachten mich schier um den Verstand. Jeder kam ihn besuchen, manche ein paar Mal mehr sogar ... nur einer kam nicht, Miguel, den ich damals seit der Hochzeit nicht mehr gesehen hatte. Ich hatte ihn auch nicht angerufen, die Angst, ich würde Darian am Telefon haben, war zu groß.

 

Die letzten Stunden waren für mich die schlimmsten, als Carsten durch das Morphium mehr schlief, als dass er von der Umwelt etwas mitbekam. In wachen Momenten versicherten wir uns unsere Liebe.

„Jaden.“

Ich war kurz eingenickt, als ich seine dünne Stimme vernahm, schreckte ich auf der Couch hoch und war sofort bei ihm. Wir hatten unten im Wohnzimmer das Krankenbett hergerichtet, da Carsten nicht mehr die Kraft hatte, die Treppen nach oben ins Schlafzimmer zu schaffen und ich schlief auf der Couch, wollte ganz nah bei ihm sein.

„Schht, du sollst dich nicht überanstrengen.“

„Mir egal.“

„Aber mir nicht, Schatz.“

Carsten winkte träge ab und ich ließ ihn, setzte mich seitlich auf sein Bett und strich ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Er war so dünn geworden. Die Wangen eingefallen, um Jahre gealtert, die Augen trübe, sie hatten an Glanz verloren. Es zerriss einem das Herz und doch liebte ich ihn. Basta lag bei uns, er spürte, dass etwas mit seinem Herrchen nicht in Ordnung war, und spitzte die Ohren. „Jaden, dass mit dir und Darian tut mir so leid“, flüsterte er.

Warum sprach er jetzt gerade von meinem Bruder?

„Warum denn? Das muss dir doch nicht leidtun.“

„Doch.“ Er schloss kurz seine Augen, Schweißperlen traten auf die Stirn und ich wischte sie mit einem trockenen Tuch weg.

„Nein, das muss es nicht.“ Erwiderte ich mit Nachdruck, küsste ihn dann. Ich schmeckte die Medikamente auf seinen Lippen. „Ich habe mich für dich entschieden und ich bereute es niemals.“ Vorsichtig legte ich mich zu ihm auf das Krankenbett und umarmte ihn. Er berührte meine Hand, als ich weitersprach. „Ich bin genau da, wo ich sein möchte, nämlich bei dir.“

„Ich liebe dich, mehr als du denkst.“ Carstens Stimme wurde brüchiger und ich hob meinen Kopf, die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten, ich wusste, sein Ende war nicht mehr weit und meine Trauer nahm überhand.

„Ich liebe dich auch.“ Das Morphium nahm wieder seine Arbeit auf, er war eingeschlafen.

 

Er starb am nächsten Tag, an einem Donnerstagmorgen, in meinen Armen. Als ich spürte, wie er seine letzten Atemzüge machte und ich mich zu ihm legte, ihn in den Arm nahm und sah, wie er ein letztes Mal kurz die Augen öffnete – mich anblickte und starb.

Da wusste ich, er hatte meine Anwesenheit gespürt, auch ohne große Worte, verabschiedete ich mich still von ihm, drückte zuletzt einen Kuss auf seine nun toten Lippen, während ich bitterlich weinte. Carsten war nicht mehr da, hinterließ eine große Lücke, eine Leere, in die ich abzustürzen drohte. Und ich stürzte ab.

 

 

©Randy D. Avies 2012 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Nao-Chann
2015-09-13T09:02:28+00:00 13.09.2015 11:02
Ich weine ja selten wenn ich eine Geschichte Lea, aber gerade weine ich Wie ein Wasserfall das ist einfach zu traurig 😢
Antwort von:  randydavies
13.09.2015 20:25
Ich hoffe du konntest es noch zu Ende lesen und konntest mit dem Ende leben! Es ist doch nur eine Geschichte! ;) Anonsten bedanke ich mich für deinen Kommentar!

LG Randy
Von:  Veri
2015-09-02T07:14:03+00:00 02.09.2015 09:14
Omg ich bin so am heulen. Mitten im Bus auf den Weg zur Arbeit, ist mir egal :( & als würde mein iPhone spüren wie es mir geht, kommen nur so traurige Lieder :D darf nicht wahr sein :(
Ich hoffe meine Schminke hält noch was :(
Antwort von:  randydavies
04.09.2015 12:23
Nicht heulen, ist ja nur eine Geschichte! ;) Wasserfeste Schminke benutzen! *sichduckt*
Ja Jaden macht momentan erneut eine Hölle durch, mal schauen ob er es packt oder daran zerbricht. Ich habe gerade frische Kapitel hochgeladen! :)


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