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Mesmerize Me!

The Play of Snake and Lion
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Fanfiction ist quasi mein zweites PWP-Projekt und nachdem mehrere Leute für die Mafia-FF abgestimmt haben, ist das hier dabei rausgekommen. Die meisten Charaktere stammen aus alten Projekten von mir, haben aber eine komplett neue Geschichte und lediglich ihre Charaktereigenschaften wurden größtenteils beibehalten. Sam Leens und Araphel stammen aus meiner "Last Desire" Reihe, Christine stammt aus meiner Creepypasta Extra-Triologie und Morph stammt aus "Down Hill". Shen Yuanxian feiert einmal in "Der Trickster" und als Delta in der "Last Desire" Reihe sein Debüt.

Als Inspiration für diese Fanfiction dienten einmal der Manga "Finder" von Ayano Yamane und wie schon bei "Corrupt Me!" die Fanfiction "How To Train Your Petboy" von WhiteMaid. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und vergesst nicht: I don't care. I ship it! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel enthält zum Teil sehr verstörende Inhalte. Seid also gewarnt! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bevor ihr anfangt zu lest, folgt dem Link hier und hört euch beim Lesen diese Musik an ;-)

https://www.youtube.com/watch?v=PBYKqvDK8d8 Komplett anzeigen

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Die Geburt eines Löwen

Ein Ruck ging durch die Maschine und der Druck auf seine Ohren wurde immer stärker, sodass er kaum noch etwas hören konnte. Er hatte sich ganz klein zusammengekauert und war mucksmäuschenstill. Obwohl die Motoren des Fliegers ohnehin einen gewissen Geräuschpegel hatten, wollte er es nicht riskieren, gehört zu werden. Noch waren sie nicht in Sicherheit. Noch waren sie nicht am Ziel ihrer Reise. Der kleine Junge mit den zerzausten schwarzen Haaren, der zerfetzten und blutverschmierten Kleidung war wachsam. Er war es immer und sein Wille war trotz der Schmerzen und des Fiebers ungebrochen. Jetzt, wo er seinem Ziel so nah war, durfte er nicht aufgeben. Natürlich wusste er dass das, was er da tat, ein Himmelfahrtskommando war und das im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte sich heimlich in einen Flieger geschlichen und sich versteckt, um abzuhauen. Er wollte fort von hier und raus aus diesem Land, welches eh keine Zukunft für ihn bereithielt. Weg von diesem Krieg, der schon seit Jahren wütete und kein Ende fand. Weg von den Straßen, auf denen es schon zu oft Angriffe gab und wo er schon zu oft Leichen liegen sah. Zu oft hatte er die Menschen in Angst gesehen und den Alarm ausrufen hören. Seine Flucht war für ihn der einzige Weg, dieser Hölle zu entkommen und er würde sich diese Chance nicht nehmen lassen, von niemandem. Und wenn er sich mit aller Gewalt seine Chance auf eine Zukunft und ein besseres Leben erzwingen musste. Dabei ging es ja nicht nur um seine Zukunft. Fest im Arm hielt er ein kleines Mädchen, das höchstens drei Jahre alt war und am ganzen Leib zitterte vor Angst. Die ganze Zeit hatte er sie im Arm gehalten, damit sie ruhig blieb und sie beide nicht noch verriet. Das kleine Mädchen trug nichts als ein zerschlissenes und dreckiges weißes Kleid und ihr langes blondes Haar war zu einem einfachen Zopf gebunden. Sie war sehr blass und dünn. Nicht einmal Schuhe hatte sie an. Die meiste Zeit hatte sie brav geschwiegen und keinen Ton von sich gegeben. Und bis jetzt hatte niemand sie bemerkt. Gut so. So etwas konnte er eh als Letztes gebrauchen. Immerhin war die Gefahr groß, dass sie entdeckt werden könnten und der Flieger daraufhin wieder zurückkehrte und sie dann wieder auf der Straße landeten. Doch selbst für diesen Fall hatte er vorgesorgt. Auch wenn er selbst noch ein Kind war, sein Wille, in ein besseres Land zu kommen, war so stark, dass er über sich hinausgewachsen war und sich für jeden Fall vorbereitet hatte. Auch wenn es vielleicht etwas gefährlich und leichtsinnig erscheinen mochte, mit einer geladenen Pistole herumzulaufen. Aber da in ihrem Land eh ständig Krieg herrschte, war es nicht schwer, an Pistolen oder Maschinengewehre zu kommen, wenn man wusste, wo man nachfragen musste. Naja… nachgefragt hatte er nicht unbedingt. Er hatte sie einem der Zahal gestohlen, als seine kleine Schwester nach Essen gefragt hatte. So lief es meistens ab, wenn sie sich irgendwie durchschlagen wollten. Entweder bettelten sie, oder sie stahlen einfach. Das war der einzige Weg für sie, um auf der Straße zu überleben. Ins Waisenhaus konnten und wollten sie eh nicht. Er war dort schon mit sieben Jahren weggelaufen, als sich herausgestellt hatte, dass diese Waisenhäuser nur dazu da waren, um Arbeitskräfte auszubilden, nur um sie dann wieder schnellstmöglich loszuwerden. Er wollte nicht so enden und hinterher noch als Arbeitssklave herhalten müssen. Vor allem weil die Heimleiter die Kinder oft schlugen. Da lebte er lieber auf der Straße. Doch selbst da war das Leben hart und so war es seine einzige Hoffnung, in ein Land zu fliehen, in welchem die Lebensbedingungen deutlich besser waren. Und zu diesem Zweck war er in ein Flugzeug gestiegen, von dem er wusste, dass es ein Privatflieger war. Diese wurden nicht so streng kontrolliert wie die normalen und so war es leichter, sich an Bord zu schmuggeln. Wochenlang war alles geplant worden und nun hatte er es geschafft. Jetzt galt es nur, nicht erwischt zu werden, bevor sie lang genug in der Luft gewesen waren.

Plötzlich aber zupfte seine kleine Schwester an seinem Ärmel und sah ihn mit ihren großen himmelblauen Augen gegangen.

„Ich hab Durst“, flüsterte sie und schaute ihn mit einem bettelnden Blick an. Er sah sich um, doch er wollte lieber kein Risiko eingehen.

„Halt noch etwas durch, ja? Wir müssen warten.“

„Aber ich hab jetzt Durst!“

Sofort hielt er ihr den Mund zu, denn da hörte er plötzlich Schritte, die näher kamen. Sein Herz begann schneller zu schlagen und kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Er hörte, wie jemand etwas sagte, was er mit etwas Mühe als Englisch identifizieren konnte. Nun, Englisch verstand er zum Glück, zumindest teilweise, aber mit dem Sprechen hatte er es hingegen weniger. Ob der Flieger etwa in die USA flog? Das traf sich ja noch besser. Dann hatten sie vielleicht tatsächlich eine Zukunft.

Plötzlich kamen die Schritte näher und dann stand auch schon ein groß gewachsener glatzköpfiger Mann mit Sonnenbrille vor ihm. Er trug einen Anzug und sah furchterregend aus.

„Was zum Teufel…“

Der Junge reagierte sofort und zog seine Pistole, entsicherte sie und richtete sie direkt auf das Gesicht des Mannes. Schnell stand er auf und stellte sich schützend vor seine kleine Schwester und machte sich bereit, sofort zu schießen. Auch wenn er niemanden töten wollte, so wollte er noch weniger wieder nach Hause zurückkehren müssen. Und jetzt konnte er sowieso nicht mehr zurück. Seine Pistole und seine Willenskraft, die ihn seine Schmerzen und sein Fieber vergessen ließ, waren seine einzigen Waffen, die ihm noch blieben. Stimmen von weiter hinten ertönten und der Junge hörte, wie der Mann nach einem gewissen „Boss“ rief. Der Junge wusste, dass der Mann Verstärkung holen wollte und rief deshalb in einem sehr gebrochenen Englisch „Du still oder du sterben! Ich will Amerika.“

Der Mann hob die Hände, doch es war schon zu spät. Es kamen noch zwei weitere Anzugtypen mit Sonnenbrillen und sie sprachen so durcheinander, dass der Junge kein Wort verstehen konnte. Er hörte immer wieder das Wort „Boss“ und wusste nicht, was das bedeutete. Da er rein gar nichts verstehen konnte, was die Männer sagten, feuerte er einen Schuss vor ihre Füße ab und rief „Ruhe! Nicht reden. Ihr mich bringen nach Amerika oder ich töte euch!“

Das kleine Mädchen, das durch den abgefeuerten Schuss aufgeschreckt wurde, schrie kurz auf und begann zu weinen vor Angst. Doch davon ließ er sich jetzt auch nicht ablenken. Die drei Männer würden ihn sofort überwältigen, wenn er jetzt die Pistole herunternahm und dann war es endgültig vorbei. Doch dann hörte er plötzlich eine weitere Stimme. Offenbar war noch ein vierter Mann an Bord.

„Was ist hier los und wer hat da geschossen?“

Ein ziemlich reich aussehender Mann mit Kinnbart und Brille kam zum Vorschein. Er hatte sein schwarzes Haar akkurat zurückgekämmt und wirkte wie ein sehr wichtiger Geschäftsmann. Sofort stellten sich die Männer schützend vor ihn und nannten ihn Boss, während sie mit ihm sprachen. Ob das sein Name war? Der kleine Junge von der Straße ließ sich nicht beirren und hielt die Pistole weiterhin auf die Männer gerichtet. Zwar hatte ihn die Wucht des Rückstoßes fast aus dem Gleichgewicht gebracht und seine Hand tat weh, aber er ließ sich nicht beirren. Wild entschlossen stand er da und wirkte wie ein kampfbereiter Löwe, auch wenn er noch ein Kind war. Der Mann, der von den anderen „Boss“ genannt wurde, wirkte im Gegensatz zu den anderen Männern nicht so hektisch, sondern lächelte etwas amüsiert über den Anblick der beiden Kinder.

„Na so was“, bemerkte er und lachte. „Ein blinder Passagier. Sag mal Junge, wie bist du hier reingekommen und was willst du mit der Knarre?“

„Wir gehen nach Amerika“, antwortete der Junge im gebrochenen Englisch. „Du mich hinfliegen, ja? Sonst ich schießen!“

„Boss, das ist gefährlich!“ rief einer der drei Männer und wollte ihn wegbringen, doch der „Boss“ blieb gelassen und trat näher. Er schien gar keine Angst zu haben, dabei hielt der Junge ihm eine geladene Pistole vor die Nase. Was war das nur für einer? Hinter ihm weinte seine kleine Schwester immer noch und kauerte sich ängstlich zusammen. Doch jetzt konnte der Junge von der Straße nichts für sie tun. Die Situation war zu gefährlich und er durfte sich bloß nicht ablenken lassen. Alles hing davon ab, dass er sich mit aller Gewalt durchsetzte und sie beide sicher nach Amerika brachte. Aber dann sagte der Mann plötzlich klar verständlich in seiner Heimatsprache „Du gefällst mir, Junge. Du scheinst mir ein richtiger Kämpfer zu sein und hast nicht mal einen Funken Angst in deinem Blick. Und du hast es geschafft, dich in mein Flugzeug zu schleichen zusammen mit der Kleinen, das war sicher nicht leicht. Sag mal, wie alt bist du denn?“

Es irritierte den Jungen ein wenig, dass der Mann tatsächlich israelisch sprach. Normalerweise beherrschten die Ausländer immer nur die Weltsprache Englisch und selbst dieses war teilweise sehr dürftig. Ein klein wenig entspannte sich der Junge als er sah, dass der „Boss“ ruhig blieb und offenbar vernünftig mit ihm sprechen wollte und sogar extra für ihn auf israelisch sprach. Darum antwortete er ihm auch ehrlich „Ich bin zehn.“

„Und das kleine Mädchen hinter dir?“

„Meine Schwester. Sie ist drei.“

„Habt ihr keine Eltern?“

Der Junge schüttelte den Kopf und antwortete, dass sie beide Waisenkinder waren und er seine Eltern durch eine Bombenexplosion verloren habe und es keine anderen Verwandten gab und er deshalb auf der Straße lebte. Der „Boss“ nickte und erkundigte sich „Und du wolltest mit deiner Schwester nach Amerika?“

„Ja“, antwortete der Junge. „Wir wollen nicht mehr im Krieg leben! Und darum wirst du mich nach Amerika bringen.“

Wieder richtete der Junge die Pistole auf den Mann und zielte direkt auf seinen Kopf. Er wusste, dass das ausreichte, um einen Menschen zu töten. Doch der „Boss“ ließ sich nicht sonderlich beirren und rückte seine Brille zurecht. Ein freundliches Lächeln spielte sich auf seine Lippen und irgendwie wirkte er ganz nett, auch wenn sich der Junge von der Straße nicht sicher war, wie er ihn wirklich einschätzen sollte. Dann aber sagte der Mann „Ich mag dich wirklich, Junge. Du kennst keine Angst und du kämpfst wie ein Löwe. Weißt du, ich habe meinen einzigen Sohn kurz nach seiner Geburt verloren und habe sonst keine anderen Kinder. Wenn er noch leben würde, dann wünschte ich, er wäre genauso ein tapferer Kämpfer wie du. Wie wäre es, wenn ich dich bei mir aufnehme, zusammen mit deiner kleinen Schwester? Dann kannst du bei mir in Amerika bleiben und ich hätte Kinder, für dich ich dann doch sorgen könnte.“

Die Männer, die den „Boss“ offenbar beschützen wollten, verstanden kein einziges Wort von dem, was gesprochen worden war und fragten deshalb nach, was denn los war. Daraufhin wurde ihnen auf Englisch erklärt, dass er die Kinder nach Amerika mitnehmen würde, doch sonderlich begeistert reagierten die Männer nicht und einer meinte auch „Boss, das ist verrückt. Der Bengel wollte uns töten! Er hat eine geladene Pistole!“

„Er wollte sich und seine Schwester schützen, du Trottel“, erklärte der „Boss“ daraufhin in einem strengen und herrischen Ton, der nichts von dem freundlichen Mann von eben hatte. „Und wenn ihr Hornochsen unfähig seid, es mit einem zehnjährigen Straßenjungen und einem dreijährigen Mädchen aufzunehmen, ist das allein eure Schuld. Der Kleine da hat wesentlich mehr Grips und Mumm als ihr alle zusammen und darum sage ich auch, er kommt mit uns. Wenn er erst mal alt genug ist, kann noch etwas Großes aus ihm werden. Dessen bin ich mir sicher.“

Und damit gaben sich die drei Leibwächter geschlagen und wurden weggeschickt, sodass nur der „Boss“ blieb. Langsam ließ der Junge die Pistole sinken, als er merkte, dass die Gefahr wohl vorbei war. Aber dennoch blieb er misstrauisch. Dann aber merkte er, wie ihm schwindelig wurde. Ihm war heiß zumute und er verlor das Gleichgewicht. Das Fieber rächte sich jetzt an ihm. Sofort fing ihn der Mann auf und rief einem seiner Leibwächter zu „Hol mal einer ein Glas Wasser. Der Junge hat Fieber!“

Behutsam nahm der Mann ihn auf den Arm und trug ihn zu einer Couch, auf welche er ihn legte. Ängstlich folgte das kleine Mädchen ihm. Wenig später kamen die Leibwächter wieder zurück und der Junge bekam noch einen kühlen Lappen auf die Stirn.

„Du erstaunst mich wirklich, Kleiner“, sagte der Mann und lächelte wieder. „Obwohl du krank bist, hast du so etwas Gefährliches gemacht und dich an Bord eines Flugzeuges geschlichen und ohne zu zögern einen Mafiaboss bedroht, nur weil du dich und deine Schwester schützen wolltest. Du bist wirklich sehr tapfer. Mein Name ist übrigens Stephen Mason. Und darf ich deinen Namen erfahren?“

Der Junge rieb sich benommen die Augen und ihm war, als würde ihm sämtliche Kraft entzogen werden. Er war müde und erschöpft, was sicherlich vom Fieber her kam. Und obwohl er immer noch die Pistole festhielt und er Angst hatte, zurück nach Israel zu müssen, wirkten die Worte des Mannes so angenehm beruhigend und freundlich auf ihn wie ein Vater es vielleicht tun würde. Und darum antwortete er auch ohne weiteres: „Ich bin Araphel.“

„Und deine kleine Schwester?“ Damit deutete Stephen Mason auf das kleine Mädchen, das sich langsam wieder beruhigte, nachdem sie gemerkt hatte, dass die Gefahr vorbei war.

„Das ist Ahava“, antwortete der Junge und wies seine Schwester mit einer winkenden Handbewegung, zu ihm zu kommen. Zögernd kam sie näher und blieb schüchtern zusammengekauert bei ihm. Mit einem freundlichen Lächeln streckte Stephen eine Hand aus und streichelte ihr den Kopf.

„Ihr braucht keine Angst mehr zu haben“, sagte er schließlich. „Ich werde gut für euch sorgen, ihr beiden. Es wird euch gut gehen in Amerika.“

Der Hinterhalt

„Strafe und der natürliche Hass gegen Schufte und der unausrottbare Drang, sich an ihnen zu rächen, ihnen heimzuzahlen, was sie verdient haben: das ist immerdar ein natürliches, richtiges, ja sogar göttliches Gefühl im Herzen eines jeden Menschen. Nur das Übermaß darin ist teuflisch.“
 

Thomas Carlyle, schottischer Philosoph
 

Es herrschte eine ziemliche Lautstärke in der Bar, obwohl die Happy Hour noch gar nicht angefangen hatte. Aber da derzeit die Footballsaison lief, war es ja eigentlich nicht verwunderlich, wenn so ein Andrang herrschte und sich die Fans in Scharen um die Fernseher versammelten, um ihre jeweilige Mannschaft anzufeuern. Nun, auch Sam Leens war ein Fan der New England Patriots und ließ es sich bei gemeinsamen Abenden mit seinen Freunden nicht nehmen, aus voller Kehle den Quarterback Tom „Terrific“ Brady anzufeuern, wenn er über das Feld rannte und seinen Pass machte. Bei einer Flasche Bier klappte das alles ohnehin problemlos und man ließ sich halt schnell von anderen mitreißen. Aber heute war ihm nicht danach, insbesondere nachdem die Patriots das letzte Spiel gegen die Red Socks eh verloren hatten. Außerdem war er nicht zum Vergnügen her, sondern weil er sich mit seinem Kumpel Marco Illes traf, den er noch von der Polizeiakademie her kannte. Auch wenn es eine Zeit lang her war, so pflegte er immer noch sehr freundschaftlichen Kontakt zu seinen alten Kameraden von der Akademie, auch wenn er selbst nie Polizist geworden war so wie sein Bruder Lawrence. Es war nicht so, dass er dumm war oder so, dass er die Prüfung nicht geschafft hatte. Er hatte die Bestnoten gehabt und war der beste Schütze gewesen. Doch ein einziger Makel hatte ausgereicht, um ihm seine Hoffnung zu nehmen, in die Fußstapfen seines Vaters treten zu können. Warum nur musste er auch mit diesem verdammten Asthma gestraft sein, welches ihm immer wieder aufs Neue im Weg stand? Alle in seiner Familie waren Polizisten. Sein Vater Henry, sein älterer Bruder Lawrence und sogar sein Onkel Jeffrey. Selbst sein Großvater. Die Familie Leens hatte eine lange Polizeitradition und er war das schwarze Schaf, nur weil er bei extremen Stresssituationen einen so heftigen Asthmaanfall bekam, dass er während eines Trainings sogar kollabiert und fast gestorben wäre, weil sein Asthmaspray gerade nicht greifbar gewesen war. Sein Vater hatte ihn seitdem kaum noch beachtet und all seine Aufmerksamkeit auf Lawrence gerichtet. Lawrence Leens, der viel versprechende Sprössling, der keine solche Enttäuschung wie sein jüngerer Bruder war. Nun, zumindest hatte seine Mutter hinter ihm gestanden und gesagt, dass es Schlimmeres gäbe. Es hätte ja noch die Möglichkeit gegeben, dass er im Innendienst anfangen konnte, aber damit hatte sich Sam nicht zufrieden geben wollen. Er wollte aktiv sein und dem Abschaum der Bostoner Unterwelt den Kampf ansagen. Sein Ausbilder hatte ihm daraufhin die Adresse eines Detektivs gegeben, der ihn daraufhin unter seine Fittiche nahm. Und das war die beste Entscheidung gewesen, die er getroffen hatte, denn seitdem unterstützte er die Polizei auf seine Weise. Als Detektiv hatte er meist bessere Möglichkeiten und war nicht an unzählige Vorschriften gebunden, was ihm zusätzlich Bewegungsfreiheit gab. Und so hatte er auf seine Weise ja doch noch sein Ziel erreichen können, trotz des Asthmas. Aber dennoch nagte es bis heute an ihm, dass ihm gesagt wurde, er würde niemals Polizist werden. Sein Vater war mit Sicherheit schrecklich enttäuscht von ihm. Allein bei dem Gedanken schnürte sich bei Sam die Brust zusammen.

Inzwischen war es knapp acht Monate her, seit sein Vater bei einem Einsatz ums Leben gekommen war. Bei einem Versuch, einen Menschenschmugglerring zu fassen, hatte es eine Schießerei gegeben, der Henry Leens dann schließlich zum Opfer gefallen war. Die Verantwortlichen hatte man dennoch festnehmen können und das war zumindest ein kleiner Trost. Dennoch war es für Sam ein schwerer Schlag gewesen und seitdem hatte er es sich zum Ziel gemacht, alles in seiner Macht stehende zu tun, um dem organisierten Verbrechen den Kampf anzusagen. Doch es nicht einfach. Insbesondere die drei Oberhäupter waren quasi unantastbar. Zwar gab es in Boston unzählige kriminelle Gruppen, aber es gab drei Gruppen, die die Bostoner Unterwelt regierten und sie waren die einflussreichsten und gefährlichsten. Alle drei Oberhäupter waren längst bekannt und jeder war auf seine Weise gefährlich. Sergej Camorra war auch als „der Patriarch“ bekannt, da er das älteste der drei Oberhäupter war. Seine Mutter, die der russischen Petrow-Familie abstammte, hatte damals den italienischen Mafiasprössling Giacomo Camorra geheiratet und dadurch hatte sich eine mächtige Allianz zweier Mafiamächte vereint. Er galt als geschickter Geschäftsmann, der den diplomatischen Weg bevorzugte, sich allerdings in einen wahren Teufel verwandeln konnte, wenn man es wagte, sich mit ihm anzulegen. Die Camorras kontrollierten das Glücksspiel, diverse illegale Untergrundgeschäfte und sogar Organ- und Menschenhandel. Außerdem hatten sie sehr viele Beziehungen in der Politik und der Polizei, was auch mit unter anderem der Grund war, warum sie so lange bestehen konnten.

Der zweite war Araphel Mason, der Adoptivsohn des verstorbenen Mafiabosses Stephen Mason, der einem Giftanschlag zum Opfer gefallen war. Obwohl Araphel mit 31 Jahren noch recht jung für die Rolle des Oberhauptes war, hatte er durch seine Hartnäckigkeit und Willensstärke die Mafiafamilie, die nach Stephens Tod vor dem Zerfall gestanden hatte, zur derzeit mächtigsten in Boston gemacht und hatte seine Finger überall im Spiel. Schwarzmarkt, Immobiliengeschäfte, Schutzgelderpressungen, Drogenhandel, Erpressungen und illegale Glücksspiele sowie Anteile an Casinos in Las Vegas. Aufgrund seiner Unnachgiebigkeit, seinem gefürchteten Kampfgeist und seiner Entschlossenheit nannte man ihn auch „Araphel den Löwen“. Er war ein geborener Anführer und darum die wichtigste und stärkste Figur für die Mason-Familie. Würde er fallen, dann würde es das Ende der Mason-Familie bedeuten.

Relativ neu in Boston war hingegen der Chinese Shen Yuanxian, der vor einigen Jahren die Kontrolle über die Shanghaier Triade Yanjingshe übernommen hatte und ihren Einfluss auch auf das Bostoner Vergnügungsviertel und ganz Chinatown ausgebreitet hatte. Er galt als skrupellos, kaltblütig, absolut gnadenlos und brutal und wurde am meisten gefürchtet. Es war kein Geheimnis, dass er nicht mal davor zurückschreckte, sogar seine eigenen Leute auf besonders grausame Art und Weise zu verstümmeln, zu foltern oder zu töten. Selbst vor Polizisten schreckte er nicht zurück und hatte den Unmut mehrerer Mafiagruppen auf sich gezogen, bevor er sie erbarmungslos vernichtete. Und das Schlimmste war: so grausam wie er war, so intelligent war er zur gleichen Zeit. Er verstand es bestens, seine Spuren vollständig zu verwischen und selbst den Giftmord am Polizeipräsidenten, der eindeutig Shens Handschrift trug, hatte man ihm nicht nachweisen können. Aufgrund seiner kaltblütigen Vorgehensweise, dem Hang zu Giftmorden und dem Töten der eigenen Leute wurde Shen meist als „Schlange“ oder sogar als „Schlangendämon“ bezeichnet. Nicht selten hatten Marco und die anderen gemeint, dass Shen kein Mafioso, sondern ein Killer war. Denn selbst die Mafia wagte es nur in den allerseltensten Fällen, einen Polizisten zu töten. Es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen, denn einen Polizisten zu töten bedeutete, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen und die Mafia zog es vor, im Verborgenen zu agieren. Darum war es auch kein Geheimnis, dass in den letzten Jahren sehr heftige Spannungen zwischen den drei mächtigsten Clans herrschten. Insbesondere die Mason-Familie hatte es auf das Oberhaupt der Yanjingshe abgesehen, um den Mord an ihren letzten Boss zu rächen. Beide Clans bekriegten sich bis aufs Blut und es hatte besonders in der letzten Zeit viel Blutvergießen gegeben. Doch gleichzeitig konnte die Polizei wiederum Vorteile aus dieser Blutfehde ziehen. Denn da die Mason-Familie es anscheinend darauf abgesehen hatte, die Geschäfte der Yanjingshe zu vereiteln und zu sabotieren, hatte man viele illegale Bordelle hochnehmen und unter anderem auch Opfer von Menschenhändlern retten können. Doch es änderte nichts daran, dass der Krieg der beiden Clans zu einem großen Problem geworden war und man konnte von Glück reden, dass der alte Sergej Camorra sich aus dieser Geschichte raushielt und sich ruhig verhielt. Man konnte diesen Krieg auch schon als das Spiel von Schlange und Löwe um die Vorherrschaft betrachten. Und nun stellte sich die Frage, ob nun die Schlange oder der Löwe als Sieger hervorgehen würde. Auf jeden Fall würde der Kampf noch sehr hässlich werden.

„Yo Sam!“

Sofort wurde Sam aus seinen Gedanken gerissen und sah auch schon seinen Kumpel Marco, der direkt neben ihm Platz nahm. Er grinste breit und wirkte gut gelaunt.

„Na du machst ja ein Gesicht, Mann. Sag bloß, du bist immer noch frustriert, weil das mit dem Drogengeschäft fehlgeschlagen ist. Mach dir keinen Kopf deswegen. So was passiert und wir haben wenigstens die Dealer schnappen können.“

„Ja, aber dafür ist Araphel mal wieder fein raus…“

Es war kein Geheimnis, dass Sam es ganz besonders auf Araphel Mason abgesehen hatte. Schon seit dieser nach der Giftmordaffäre das Ruder übernommen hatte und die Mason-Familie zum derzeit mächtigsten Mafiaclan geworden war, lag Sams größte Motivation darin, ihn zu schnappen, denn er wusste, dass Araphel im Spiel der König war. Er war die treibende Kraft der Mafia-Familie und da es keinen potentiellen Nachfolger geben würde, da Stephen Mason sonst keine anderen Kinder oder Verwandten hatte, war es nur allzu klar, dass Araphels Sturz das Ende der mächtigsten Mafia-Familie bedeuten würde. Und als amtierende Nummer 1 der Bostoner Unterwelt war er ein beliebtes Ziel. Außerdem würde auch endlich der Krieg zwischen der Mason-Familie und der Yanjingshe enden, wenn einer von beiden zu Fall gebracht werden würde. Und momentan war die Yanjingshe noch unantastbar. Darum war es strategisch vorteilhafter, erst jenen zu Fall zu bringen, bei dem die Erfolgsquote höher lag.

Marco wandte sich schließlich an den Barkeeper und bestellte zwei Drinks, dann klopfte er Sam freundschaftlich auf die Schulter.

„Wieso bist du eigentlich so fixiert auf den Mason-Sprössling?“

„Warum wohl… na weil es Vaters Ziel gewesen war, die Mason-Familie dingfest zu machen. Und nun, da er tot ist und Lawrence genug um die Ohren hat, liegt es halt an mir, es zu Ende zu bringen. Das ist der Vorteil eines Detektivs: er kann sich seine Arbeit öfter aussuchen als ihr. Und außerdem… ich kann es nicht mit ansehen, wie Boston langsam aber sicher zu einem korrupten Drecksloch wird, das von der Mafia kontrolliert wird.“

Marco lachte und schüttelte den Kopf. „Du bist und bleibst wohl immer ein Idealist, was? Ich finde, du siehst das ein bisschen zu negativ. So verdorben ist Boston ja nun auch wieder nicht und es gibt genug Polizisten, die genauso sehr wie du diese ständigen Bandenkriege stoppen wollen.“

„Als ob nicht auch schon die Polizei korrupt genug wäre. Schlimmer als die Mafia sind doch im Grunde Staatsleute, die sich von der Mafia kaufen lassen und all das verraten, wofür sie eigentlich einstehen. Diese Menschen behaupten, so etwas wie Ideale zu haben, aber wer sie einfach so verrät, der hatte nie welche und ist nichts anderes als ein Heuchler.“

Damit schlug Sam mit der Faust auf den Tresen und rief die letzten Worte regelrecht. Diese ganze Situation regte ihn so sehr auf, dass er ihm plötzlich die Luft wegblieb und er nicht mehr atmen konnte. Schnell holte er das Asthmaspray aus seiner Tasche und rettete sich noch rechtzeitig genug vor einem erneuten Anfall. Marco schüttelte den Kopf und trank seinen Drink.

„Es nützt nichts, sich darüber aufzuregen. Natürlich ist es frustrierend, den Abschaum in den eigenen Reihen zu haben, aber wenn du nicht auspasst, bringt dich das noch in Schwierigkeiten, Sam. Du bist kein Polizist, sondern nur Detektiv. Darum ist die Gefahr durch die Mafia wesentlich höher und ich kann nicht immer auf dich aufpassen.“

„Ich brauche keinen Aufpasser. Alles, was ich brauche, ist ein Mittel, mit dem ich Araphel endlich dingfest machen kann. Vater pflegte stets zu sagen, dass man das Übel immer an der Wurzel packen muss, um das Unkraut zu entfernen. Ansonsten wächst es immer wieder nach. Und deshalb… deshalb müssen wir die Mafiabosse schnappen. Auch wenn es lebensmüde ist, ich werde schon dafür sorgen, dass Vater nicht umsonst gestorben ist und wir endlich die Mason-Familie zerschlagen.“

Marco schmunzelte und schüttelte den Kopf. Natürlich wusste Sam, dass das, was er da von sich gab, ziemlich naiv klang. Aber das waren nun mal seine Überzeugungen. Auch wenn er aufgrund seines schweren Asthmas niemals Polizist werden würde, so wollte er auf seine Weise das Erbe seines Vaters fortführen, genauso wie es Lawrence tat. Er würde schon seinen eigenen Weg finden, um gegen die Mafia zu kämpfen, auch wenn es schwer und vor allem gefährlich war. Insbesondere in diesen Zeiten. Schließlich aber seufzte sein alter Kamerad von der Akademie und trank seinen Drink aus, wobei er nach einer Weile wieder zum Reden ansetzte.

„Sag mal Sam, hast du eigentlich schon mal von dem Informanten gehört, der sich Morphius Black nennt?“

Nun wurde Sam hellhörig. Natürlich war ihm dieser Name bekannt. Morphius Black war ein gefürchteter Informant der Bostoner Unterwelt, der bis vor zwei Jahren regelmäßig die Bostoner Polizei mit Informationen versorgt hatte. Mit seiner Hilfe hatten viele illegale Geschäfte aufgedeckt werden können. Doch dann hatte Morphius seine Zusammenarbeit mit der Polizei schlagartig beendet und man hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört. Es war nicht mal sicher, ob er überhaupt noch am Leben war. Immerhin hatte er sich sogar in fremde Mafiaorganisationen eingeschlichen und war sogar an Insiderinformationen der Yanjingshe gekommen. Erstaunt hob Sam die Augenbrauen und fragte: „Morph ist wieder aktiv geworden?“

„Es scheint so“, murmelte Marco und reichte ihm einen kleinen Zettel. „Anscheinend ist er aus den Tiefen der Bostoner Unterwelt zurückgekehrt und will uns offenbar wieder unterstützen. Es soll wohl heute Abend ein Handel über die Bühne gehen.“

„Und was für ein Handel?“

„Druckermaschinen für Blüten. Die Camorra-Familie will sie für ein stolzes Sümmchen an die Mason-Familie verkaufen. Allerdings gibt es da ein Problem: zum gleichen Zeitpunkt soll ein Treffen der Oberhäupter stattfinden und darum hat die Polizei alle Hände voll zu tun. Immerhin wird es auch ein gewaltiges Mafiaaufgebot geben.“

So langsam verstand Sam, worauf das alles hinauslief. Die Clans nutzten die Gelegenheit während des Treffens, um weitere Geschäfte abzuwickeln, da sie wussten, dass die Polizei sich auf das Hauptgeschehen konzentrieren würde. Nun, in solchen Momenten war Sam froh, ein Detektiv zu sein. Er konnte sich um solche Sachen problemlos kümmern.

„Also schön. Was genau verlangst du von mir?“

„Überwach alles und erstatte Bericht, wenn die Festnahme erfolgen soll. Es reicht, wenn du die Observation übernehmen würdest. Wenn du das Signal gibst, würde die Festnahme erfolgen. Mehr brauchst du nicht machen. Meinst du, du kriegst das hin?“

Bei dieser Frage musste Sam lachen und er bestellte sich sogleich noch einen Drink.

„Ich bin ein Leens. Natürlich kriege ich das hin.“
 

Es war still und ein kühler Wind wehte. Sam harrte nun seit knapp zwei Stunden aus und wartete geduldig darauf, dass es endlich losgehen würde. Er hatte seine Kamera dabei, das Funkgerät und für alle Fälle seine Smith & Wesson. Man musste als guter Detektiv eben immer auf alles vorbereitet sein und nach allem, was er so über die Mason-Familie wusste, verstand diese überhaupt keinen Spaß, wenn sich irgendjemand in ihre Angelegenheiten einmischte. Es wäre also nur gefährlich, unbedacht zu handeln und unbewaffnet da reinzugehen. Na hoffentlich ging alles gut. Sicherheitshalber holte er noch mal das Fernglas heraus und suchte die Umgebung ab. Aber seltsamerweise sah er hier rein gar nichts. Ob wohl etwas dazwischengekommen war und die Übergabe an einen anderen Ort verlegt worden war? Womöglich hatte sich Morphius aufs Kreuz legen lassen, aber das konnte sich Sam nicht wirklich vorstellen. Morphius’ Informationen waren immer exakt gewesen und er galt als bester Informant in Boston. Die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums war hiermit ziemlich gering. Nun holte er sein Funkgerät, um Kontakt mit Marco aufzunehmen.

„Hier ist Sam. Immer noch keine Spur von Mitgliedern der beiden Familien. So langsam beschleicht mich das Gefühl, als wären sie gewarnt worden, over.“

„Bleib erst mal hier und warte noch“, hörte er Marco von der anderen Leitung sagen. „Es kann gut möglich sein, dass sie absichtlich warten, um auf Nummer sicher zu gehen, over.“

Ja, das war auch möglich, allerdings hatte Sam irgendwie ein ganz merkwürdiges Gefühl bei der Sache. Er konnte es nicht genau benennen, aber manchmal hatte man einfach das Gefühl, als wäre etwas nicht in Ordnung. Ja, er war sich sicher, dass etwas Unangenehmes passieren würde, das sagte ihm einfach sein Bauchgefühl und auf dieses hatte er sich bis jetzt immer verlassen können. Irgendetwas stimmte hier nicht, er konnte aber noch nicht sagen, was es war. Nein, vielleicht steigerte er sich ja auch nur in irgendetwas hinein. Sam schüttelte den Kopf und versuchte diesen Gedanken zu vergessen und sich wieder auf die eigentliche Sache zu konzentrieren. Es brachte ohnehin nichts, sich jetzt verrückt zu machen. Wenn er jetzt nervös wurde, begann er nur nachlässig zu werden und das konnte er sich jetzt momentan eh nicht erlauben. Also atmete er noch mal tief durch und trank einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne, die er sicherheitshalber mitgenommen hatte, falls es länger dauern sollte. Einen Koffeinschub war jetzt ohnehin genau das, was er jetzt am Besten brauchen konnte, um konzentriert bei der Sache zu bleiben. Und während er da saß und die seit Jahren leer stehende Schuhfabrik beobachtete, musste er über so einiges nachdenken. Es war schon einige Monate her, seit sein Vater gestorben war, aber so ganz losgelassen hatte ihn das trotzdem nicht. Sein ganzes Leben hatte Henry Leens sein Leben der Mafiajagd gewidmet. Nicht nur er, sondern die ganze Familie Leens hatte den Camorras und Masons mehr als oft schwere Zeiten bereitet und ihnen jedes Mal die Stirn bieten können, ganz egal wie groß die Gefahr auch war. Doch kaum, dass dieser Shen aufgetaucht war, drohte alles zu zerbrechen, weil dieser nicht einmal den Gesetzen der Mafia folgte. Er tötete Polizisten, Politiker, andere Mafiagruppen und gewann immer mehr Einfluss und der Krieg zwischen den Mafia-Familien drohte früher oder später endgültig zu eskalieren. Tagtäglich ereigneten sich Schießereien, es gab Fälle von Auftragsmorden und es schien, als würde es kein Ende nehmen. Die einzige Hoffnung bestand darin, erst Araphel zu schnappen und dann einen Weg zu finden, Shen das Handwerk zu legen.

Eine plötzliche Bewegung lenkte Sams Aufmerksamkeit auf das Geschehen zurück. Er sah, wie zwei Wagen zur alten Fabrik vorfuhren, die als Übergabeort bestimmt worden war. Es waren schwarz lackierte Wagen und eine Gruppe Männer stieg aus, von denen einer einen silbernen Koffer bei sich trug, in dem sich wohl Geld befand. Das waren dann also Leute der Mason-Familie. Sam schnappte sich sein Funkgerät und erstattete kurz Bericht, bevor er aus dem Wagen stieg und den Männern leise folgte. Zur Sicherheit hatte er eine kugelsichere Weste an, da die Leute aus der Mason-Familie schnell zum Waffengebrauch neigten. Außerdem war er schon mal angeschossen worden und hatte wahnsinniges Glück gehabt. Dieses Mal wollte er auf alles vorbereitet sein.

Geduckt schlich er zwischen den alten verstaubten Maschinen her und blieb schließlich an einer Tür stehen, die in eine große Halle führte. Drinnen brannte Licht, also musste dort wohl die Übergabe stattfinden. Langsam kam er näher und blieb in allerhöchster Alarmbereitschaft. Jetzt durfte er sich um Gottes Willen keine Fehler leisten, ansonsten würde es noch brenzlig werden. Vorsichtig näherte er sich der Tür und lugte durch einen Spalt. Doch als er niemanden in dem Raum sah und diesen komplett leer vorfand, stutzte er für einen Moment und verstand nicht, was das sollte. Zumindest bist zu dem Moment, in welchem er das Klicken einer Pistole hörte, die gerade entsichert wurde.

„Sieht so aus, als wäre da ein Mäuschen in die Falle getappt.“

Sam gefror das Blut in den Adern, als er realisierte, dass er erwischt worden war. Und nun begriff er es auch endlich: das war alles eine hinterhältige Falle gewesen. Langsam drehte er sich um und sah direkt in die dunklen Augen eines Mannes, der nur wenige Jahre älter war als er. Er trug einen Anzug, hatte schwarzes Haar und einen feindseligen und angriffslustigen Blick und auch sonst harte Gesichtszüge, die von einer abgehärteten und rauen Persönlichkeit herrührten, die keine Sanftmut kannte. Er war fast zwei Meter groß und sein Blick sah verdächtig danach aus, als wolle er seinem Gegner direkt eine Kugel durch den Schädel jagen. Mit einem inneren Entsetzen erkannte Sam, dass das nicht bloß irgendein Strohmann der Mason-Familie war. Es war das Oberhaupt der Familie selbst: Araphel Mason. Aber was machte er denn hier? Sollte denn nicht ein Treffen der Clanoberhäupter stattfinden?

Ein amüsiertes und auch spöttisches Grinsen zog sich über das Gesicht des jungen Mafiabosses.

„Für einen Schnüffler bist du echt miserabel, weißt du das? Auf so eine simple Falle hereinzufallen und nicht mal Verdacht zu schöpfen, ist ja wohl mehr als erbärmlich. Und ich dachte, du hättest echt mehr Grips für einen, der von einer Familie aus Cops abstammt, aber anscheinend bist du wirklich so dämlich wie du aussiehst.“

„Fahr zur Hölle!“ gab Sam zurück und hielt diesem alles durchdringenden Blick stand. Diese Augen, in die er da blickte… das waren nicht die eines Menschen. Das waren die eines Raubtieres, das keine Furcht kannte und niemals Schwäche zeigte. Es hatte schon fast eine dämonische Erscheinung, doch auf Sam wirkte es eher wie die eines schwarzen Löwen, der sich vor seiner Beute aufgebaut hatte, um seine Zähne in ihre Kehle zu vergraben, um sie zu erlegen. Eine wirklich respekteinflößende und furchterregende Erscheinung trotz der Tatsache, dass Araphel Mason gerade mal drei Jahre älter war als er. Doch davon wollte sich Sam gewiss nicht einschüchtern lassen. Er war ein Leens und er war stolz darauf, einer Familie anzugehören, die alles dafür tat, um es mit der Mafia aufzunehmen. Sein Vater hatte es sogar mit Shen aufgenommen und mit dem Leben bezahlt, darum würde er dessen Beispiel folgen, wenn es sein musste. Nie im Leben würde er sich von der Mafia einschüchtern lassen, dafür besaß er zu viel Stolz.

Araphel, der diesen entschlossenen Blick sah, lächelte nur abschätzig und schlug die Pistole gegen Sams Stirn, woraufhin dieser durch den heftigen Schlag zu Boden fiel. Ein erneuter Tritt folgte, dann riss Araphel ihm das Funkgerät vom Gürtel und zertrat es auf dem Boden.

„Tja, das war es dann wohl für dich. Und? Was ist? Willst du nicht wenigstens um dein Leben betteln?“

„Als ob ich so etwas nötig hätte“, gab Sam zurück und sah ihm direkt in die Augen. „Was soll die miese Tour hier überhaupt und warum ausgerechnet ich? Normalerweise legt sich die Mafia nie direkt mit Polizisten an!“

„Na warum wohl?“ rief Araphel und drückte seinen Fuß auf Sams Kopf, um ihn auf dem Boden festzunageln. „Ich hab die Schnauze voll von euch Schnüfflern und du hast dich oft genug in fremder Leute Angelegenheiten eingemischt. So etwas wie dich kann ich halt nicht gebrauchen. Und außerdem bist du kein Cop, sondern nur ein kleiner lästiger Schnüffler. Und da interessiert es mich einen Scheiß, wer deine Ve…“

Sam reagierte sofort und trat Araphel die Beine weg. Ein Schuss löste sich, der den 28-jährigen nur knapp verfehlte. Als der Mafiaboss zu Boden ging, riss Sam ihm die Waffe aus der Hand und wollte ihn schon festnehmen, da ertönte ein Schuss und eine Kugel streifte seine Schulter. Die anderen Männer kamen zur Verstärkung.

„Shit!“ rief Sam und entschied sich lieber für den Rückweg. Das hier war eindeutig zu gefährlich für ihn. Schnell sprang er auf und rannte los. Er musste schnellstmöglich raus aus der Fabrik und die Polizei benachrichtigen. Doch wo sollte er hin? Den Haupteingang zu nehmen war jedenfalls Schwachsinn. Die würden ihn dort garantiert abfangen und erschießen. Es brachte nichts… er musste sich wohl einen anderen Weg einfallen lassen. Zum Glück hatte er sich noch vorher über die Fabrik erkundigt war nicht völlig unvorbereitet hergekommen. Also bog er direkt nach links ab und rannte weiter, seine Verfolger waren dicht hinter ihm und mit ihnen auch Araphel. Nie hätte Sam gedacht, dass er mal in so eine Falle geraten würde. Und noch mehr beschäftigte ihn die Frage, warum das passiert war. Konnte es tatsächlich sein, dass Marco ihn verraten hatte? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Marco und die anderen waren seine besten Freunde und er vertraute ihnen auch. Selbst sein Bruder Lawrence, der ein arrogantes Arschloch sein konnte, würde sich niemals mit der Mafia einlassen. Also wer war dann verantwortlich? War bereits die Nachricht von Morphius eine Falle gewesen? Nein, selbst der beste Informant hätte nicht wissen können, ob Henry Leens’ jüngster Sohn auch wirklich mit von der Partie sein würde. Und Morphius hatte nie gegen die Polizei gearbeitet, also gab es auch keinen Grund, dass dieser jetzt gemeinsame Sache mit der Mafia machte. Es musste also einen Verräter innerhalb der Polizei geben, der ihn verraten hatte. Schöne Scheiße… Selbst die Polizei war inzwischen vollkommen korrupt geworden.

Nachdem er durch die Werkhalle gerannt war, verbarrikadierte er erst mal die Tür und hielt kurz inne um Luft zu holen. Seine Brust schmerzte und das Atmen fiel ihm sehr schwer. Na hoffentlich bekam er jetzt nicht noch einen Asthmaanfall, das konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Irgendwie musste er wieder zu Atem kommen und sich beruhigen, ansonsten sah es schlecht aus.

Nachdem er kurz Luft geholt hatte, rannte er zu einem der Fenster, zerschoss es und kletterte hindurch, ungeachtet der Splitter, an denen er sich schnitt. Außerdem schmerzte seine Schulter, wo ihn der Streifschuss erwischt hatte. Aber angesichts der Tatsache, dass er Araphel gegenübergestanden hatte, konnte er von Glück reden, das Ganze überlebt zu haben. Doch irgendwie war es doch zu einfach gelaufen. Hatte dieser Kerl ihm vielleicht absichtlich einen Vorsprung gewährt, um seinen Jagdspaß zu haben? Tja, Araphel wurde eben der „Löwe“ genannt und war ein Kämpfer und Jäger. Und offenbar stand er wohl auf so einen abartigen Nervenkitzel.

Etwas ungeschickt kletterte der 28-jährige durch die Öffnung und erreichte somit den Hinterhof. Zum Glück war das Gelände so dunkel, dass man kaum etwas erkennen konnte. So konnte er schnell zu seinem Wagen flüchten. Also lief er weiter und hörte die Schritte seiner Verfolger hinter sich. Sein Herz raste und er spürte, wie immer mehr Adrenalin durch seinen Körper gepumpt wurde. Verdammt noch mal, warum musste es auch so schief laufen und wieso hatte er nicht gleich erkannt, dass er gelinkt worden war? Wer um alles in der Welt hätte denn bitteschön einen Grund, ihn an die Mafia zu verraten? Wer?

Sam rannte weiter, doch sein Atem wurde immer schwerfälliger und seine Brust schnürte sich immer mehr zusammen. Das war nicht gut, ganz und gar nicht! Wo zum Teufel war nur der verdammte Wagen? In der Dunkelheit konnte man doch so gut wie gar nichts sehen!

Allmählich wurde er hektisch und seine Atmung ging immer schneller, doch es kam immer weniger Luft in seine Lungen. Durch die ganze Aufregung stand er kurz vor einem Anfall und das ausgerechnet in so einer Situation, wo er die Mafia auf den Fersen hatte. Beschissener konnte das Timing aber auch wirklich nicht sein. Heute war aber auch wirklich nicht sein Tag.

Als er endlich die Hauptstraße erreichte, sah er seinen Wagen und eilte darauf zu. Zu spät sah er die Lichter des Wagens, der auf ihn zufuhr. Zu spät reagierte sein Körper auf die drohende Gefahr und alles, was Sam Leens noch wahrnahm, war das gleißende Licht, welches sein gesamtes Sichtfeld ausfüllte. Danach spürte er nur noch, wie ein rasender Schmerz durch seinen Körper jagte, als die Kühlerhaube des Wagens ihn erfasste und er von den Füßen gerissen wurde. Durch die Wucht dieser einwirkenden Kraft wurde er daraufhin gegen die Windschutzscheibe geschleudert es gelang ihm nicht, sich irgendwie zu schützen oder festzuhalten. Ihm war, als würde gewaltsam alles Leben aus ihm herausgepresst und sein Körper regelrecht zerschmettert werden. Er schaffte es nicht einmal, geistesgegenwärtig genug zu reagieren, um seinen Kopf zu schützen. Der Schmerz raubte ihm jegliche Kontrolle und als er nach einer Vollbremsung des Wagens auf dem Asphalt aufschlug, war ihm so, als würde sich für einen kurzen Moment wirklich alles in seinem Kopf ausschalten und jegliche Empfindung völlig betäuben. Erst als der Schmerz langsam wieder zurückkehrte und er nur schwach am Rande realisierte, was gerade passiert war, konnte er nur verschwommen etwas sehen. Er wollte aufstehen und gehen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Alles, was er noch wahrnahm, war Schmerz und ein seltsames Schwindelgefühl in seinem Kopf, das eine fremdartige Lähmung mit sich brachte. Es fühlte sich seltsam an… es tat nicht mal mehr weh… offenbar war nun der Schockzustand eingetreten…

Nur schwach am Rande hörte er Schritte und Stimmen. Doch er konnte kaum etwas hören. Er fühlte sich so benommen und kraftlos. Seine Lider wurden schwer und er wusste, dass ihn gleich die Ohnmacht überkommen würde.
 

„Hey, Boss!“ rief einer der Männer, die inzwischen den Unfallort erreicht hatten. „Da liegt er!“

Nun war auch Araphel eingetroffen und sah, was passiert war. Ein Autounfall. Seine Leute, die ihm mit dem Auto den Weg abschneiden wollten, hatten den Detektiv wohl über den Haufen gefahren. Umso praktischer. Dann fand die Jagd jetzt zumindest auch ein Ende. Langsam trat er näher an ihn heran und sah, dass dieser wohl nicht mehr lange wach bleiben würde. Dafür hatte es ihn ziemlich böse erwischt. Er lachte und drehte Sam mit seinem Fuß auf den Rücken, um sein Gesicht sehen zu können.

„Na?“ fragte er ihn. „Willst du immer noch weglaufen? Versuch es doch.“

Sams Blick war glasig und wirkte ziellos. Offenbar war er schon halb bewusstlos. Und doch… selbst jetzt zeigte er keine Angst. Obwohl er wusste, dass er hier nicht lebend rauskommen würde, hatte er keine Angst. Und mit letzter Kraft schaffte es der 28-jährige tatsächlich noch, etwas zu sagen, bevor er das Bewusstsein verlor. Worte, die den Mafiaboss sichtlich amüsierten: „Als ob ich vor jemandem wie dir weglaufen würde…“

Stille trat ein und als Araphel ihn mit dem Fuß anstieß, wurde er bestätigt: der Kerl war endgültig weggetreten. Nach dem Unfall war es ja auch kein Wunder, das musste ihn ja ziemlich böse erwischt haben. Er blutete ganz schön am Kopf und mit viel Pech waren ein paar Knochenbrüche auch dabei. Araphel warf seine Zigarette zu Boden und trat sie aus, wobei er mit einem spöttischen Lächeln „Was für ein Idiot“ murmelte. Danach wandte er sich zu seinen Leuten um, die von ihm neue Anweisungen erwarteten. Etwas herablassend deutete er auf den Schwerverletzten hinter ihm. „Packt ihn ein und bringt ihn zu Heian, der soll ihn wieder zusammenflicken.“

„Aber Boss!“ rief einer der Männer. „Er ist ein Detektiv! Wollten Sie ihn nicht…“

Bevor der Mann ausreden konnte, hatte der 31-jährige ihn auch schon an der Kehle gepackt und drückte zu, wobei er ihn mit einem Blick ansah, als wolle er ihn gleich hier auf der Stelle umbringen als Strafe für seine Widerworte.

„Ich hasse es, mich wiederholen zu müssen, Jefferson. Packt ihn ein und bringt ihn zum Doc, oder sonst wirst du hier der Nächste sein, der unter die Räder kommt, verstanden?“

Als ein „Ja, Boss!“ zur Antwort kam, ließ Araphel von ihm ab und ging zusammen mit seinem Wagen, doch es war ihm anzusehen, dass es ihm immer noch in den Fingern juckte, den Kerl zu töten, der es gewagt hatte, seine Befehle anzuzweifeln. Beim nächsten Mal würde er nicht so nachsichtig sein, immerhin gehörte es zu den Gesetzen der Mafia, dem Boss bedingungslos zu gehorchen und ihm niemals zu widersprechen. Wenn er seine Pläne eben änderte, dann hatte das niemanden zu interessieren.

Dieser Sam war aber schon eine Nummer für sich. Obwohl sein alter Herr von der Mafia getötet worden war und er genau wusste, was ihm geblüht hätte, hatte er nicht mal Angst gehabt und ihm bis zuletzt die Stirn geboten. Ein wirklich interessanter Kerl… die Frage war nur, wie lange das noch so bleiben würde und was es wohl brauchte, um ihn endgültig das Fürchten zu lehren. Tatsache war, dass die Familie Leens ihm schon genug Scherereien gemacht hatte. Und dafür, dass dieser kleine Schnüffler ihm schon oft genug Geschäfte versaut hatte, war es jetzt auch mal an der Zeit, ihm das alles zurückzuzahlen. Was brachte es schon, ihn einfach zu töten, wenn er ihn genauso gut brechen konnte? Das machte eindeutig mehr Spaß und brachte vor allem mehr Genugtuung.

In der Falle

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das Treffen der Bosse

„Rache übe ich nie aus; in Fällen, wo ich gegen andere Menschen handeln muss, tue ich nichts mehr gegen sie, als was die Notwendigkeit erfordert.“
 

Ludwig van Beethoven, deutscher Komponist
 

Das Licht im Raum war ein wenig gedämpft und obwohl die Atmosphäre auf einer unterschwelligen Ebene zum zerreißen gespannt war, büßte Sergej Camorra nicht eine Sekunde etwas von seinem charismatischen Lächeln ein, welches ihn oft wie ein durchtriebener Geschäftsmann erscheinen ließ. Er war ein wenig zu früh, aber er war es ohnehin gewohnt, lieber zu früh als zu spät zu kommen. Selbst als Oberhaupt einer Mafia-Familie, die hauptsächlich vom Menschen- und Organhandel lebte, legte er großen Wert auf Höflichkeit und die zeichnete ihn auch aus. Doch obwohl er wie immer fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit den Treffpunkt erreichte, wartete sein Gesprächpartner bereits auf ihn. Auf einem Sessel saß ein Mann, der einen Kimono mit goldenen Schmetterlingen trug. Trotz seines Alters von 42 Jahren wirkte er noch sehr jung und schön und seine fein geschnittenen Gesichtszüge und sein langes Haar verliehen ihm etwas sehr Erhabenes. Wie ein fernöstlicher Kaiser aus einer alten Zeit. Doch seine Augen verrieten seine wahre Natur. In ihnen befand sich kein Glanz, keine Wärme und kein Hoffnungsschimmer, nur Kälte und Tod. Augen, die keinem Menschen gehören konnten, da sie mehr den Augen eines Dämons glichen, den es nach nichts anderes mehr dürstete, als nach dem Blut seiner Feinde. Ein Grund dafür, wieso Shen auch als „Schlangendämon“ betitelt wurde.

Auch wenn es wie ein gewöhnliches Treffen zwischen zwei Geschäftspartnern aussah, so war es gleichzeitig ein Spiel mit dem Tod und das wussten beide Parteien. Shen erhob sich von seinem Sessel und kam zu ihm hin, um ihn zu begrüßen.

„Pünktlich wie immer, wie man es vom Bostoner Patriarchen erwartet, Mr. Camorra. Es ist mir jedes Mal eine Freude, Sie zu treffen. Allerdings wundert es mich, dass Mr. Mason nicht zugegen ist. Ich hoffe doch sehr, es ist ihm nichts zugestoßen.“

Shens Lächeln wirkte freundlich und vertraut, doch ein erfahrener Blick genügte um zu erkennen, dass es das falsche Lächeln eines Dämons war und bei Sergej Camorra verhielt es sich nicht anders. Doch das gehörte dazu. Freundlichkeit und vor allem Respekterweisung gegenüber dem Boss eines anderen Clans, mit dem man Geschäfte zu machen gedachte, musste man diese erweisen. Es gehörte zu den Gesetzen des Clans, die sogar Shen befolgte, da er seine geschäftlichen Beziehungen nicht gefährden wollte.

„Es ist ihm etwas dazwischengekommen und er lässt sich entschuldigen“, erklärte der Patriarch auf Russisch und als Shen ihm die Hand zum Gruß reichen wollte, zog Sergej seine Hand mit der Erklärung zurück „Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, wenn ich aus Gründen des Selbstschutzes auf solche Förmlichkeiten verzichte. So wie ich höre, haben Sie immerhin den Polizeipräsidenten durch einen Giftring getötet, wie sie von Attentätern gerne verwendet werden.“

„Wie ich sehe, gehen Sie kein Risiko ein, wie es ebenfalls vom Patriarchen zu erwarten ist. Aber was ist der Grund, dass Sie mir nicht entgegenkommen wollen und wir uns auf amerikanischen Boden nicht in amerikanischer Sprache unterhalten?“

Sergej lächelte souverän und setzte sich Shen gegenüber und legte seinen Mantel ab. Aus seiner Tasche holte er ein kleines Metallkästchen, öffnete es und nahm eine Zigarre heraus.

„Ich bin ein Mann mit Prinzipien“, erklärte der 51-jährige und zündete sich die Zigarre an. „Verhandelst du mit einem Freund, sprich in seiner Heimatsprache. Verhandelst du mit einem Feind, sprich in deiner Heimatsprache. Beleidigst du jemanden, verwende eine Sprache, die er nicht versteht.“

„Sie betrachten mich also als Ihren Feind? Etwa, weil Araphel Ihr Schützling ist?“

Das war eine äußerst gefährliche Frage, mit der Shen ihm auf eine unterschwellige Weise das Messer an die Kehle setzte. Unbedachte Antworten hätten sofort den Anschein erweckt, dass Sergej aus privaten Gründen Partei für die Mason-Familie ergriff und da diese eine Fehde mit der Yanjingshe hatte, wäre das auch für die Camorra-Familie äußerst gefährlich. Außerdem könnte Sergejs jetzige Position darunter leiden. Doch der 51-jährige war viel zu gelassen und vor allem ausgekocht, um sich von so einer Frage in die Falle locken zu lassen. Vor Shen hatten schon genug andere Bosse versucht, ihn zu Fall zu bringen und waren kläglich gescheitert.

„Ich glaube, da verstehen Sie etwas falsch. In erster Linie bin ich Unternehmer und dann ein Mensch. Meine Beziehung zu Araphel Mason hat nichts mit meinen Geschäften zu tun. Ich bin seinem alten Herrn einen Gefallen schuldig und habe ein Auge auf ihn, nicht mehr und nicht weniger.“

„Das ist schön zu hören, dass Sie sich die Neutralität bewahrt haben, für die der Bostoner Patriarch doch erst bekannt geworden ist“, gab Shen darauf mit einem zufrieden wirkendem Lächeln zurück und goss sich eine Tasse Tee ein. Sie beide wirkten entspannt und redeten gesittet miteinander, doch die Luft zwar dick und die Spannung wäre für einen normalen Menschen kaum auszuhalten gewesen. Es war kein Geheimnis, dass Shen es auf die Macht der gesamten Bostoner Unterwelt abgesehen hatte und dazu auch die anderen Oberhäupter ins Visier genommen hatte. Wie eine Schlange lag er bereits auf der Lauer und wartete nur auf eine Gelegenheit, in der sich sein Opfer eine Blöße gab. Doch Sergej Camorra hatte weit genug gedacht, um sich fürs Erste abzusichern. Als Geschäftsmann hatte er Shens Interesse am Bostoner Rotlichtviertel genutzt und geschäftliche Beziehungen zu ihm geknüpft. Immerhin ließ er Frauen aus Russland einschleppen, um sie an Bordelle zu verkaufen. Diese gehörten Shen und so war eine Zusammenarbeit von Nöten, von der sie beide profitierten. Nicht selten verglich man Sergej deshalb mit einem Fuchs, der die Tatsache nutzte, dass er dieselbe Beute jagte wie die Schlange und darum einen Pakt mit ihr schloss, anstatt sich gegen sie zu wenden. Und doch durfte er nicht einen Augenblick lang Blöße zeigen, ansonsten würde die Schlange ihn mit ihren Giftzähnen beißen und töten, wenn er ihr auch nur für eine Sekunde den Rücken zuwandte.

„Ich hoffe, ich kann weiterhin mit Ihrer freundlichen Unterstützung rechnen. Ihre Ware ist in meinen Bordellen sehr gefragt und insbesondere der „besondere Service“ ist in den letzten zwei Jahren rapide angestiegen. Darum würde es mich sehr freuen, wenn wir als Geschäftspartner weiterhin gut miteinander auskommen, mein sehr verehrter Mr. Camorra.“

„Das liegt ebenso in meinem Interesse, Mr. Yuanxian.“

Ein freundliches und fast schon warmherzig andeutendes Lächeln zeichnete sich auf Shens Gesicht ab und auch Sergej erwiderte diese Geste. Doch hatte diese Geste nicht die geringste Spur von Ehrlichkeit an sich und dieser Tatsache waren sich beide Parteien durchaus im Klaren. Dennoch war diese Geste von Nöten, denn eine Kränkung hätte fatale Folgen. Es galt, die Situation souverän zu meistern und oberste Vorsicht zu wahren. Normalerweise war die Atmosphäre nicht so sehr angespannt, wäre da nicht die Tatsache, dass Shen gnadenlos jeden jagte, der in seine Reichweite kam und der eine willkommene Beute darstellte. Schließlich aber, nachdem Shen seinen Tee ausgetrunken hatte, stellte er eine Frage an Sergej.

„Bei unserem letzten Treffen hatten Sie mir deutlich zu verstehen gegeben, dass Sie die Yanjingshe nicht als Mafiaorganisation anerkennen. Dürfte ich erfahren, was Sie dazu veranlasst hat?“

„Nun, die Mafia ist ein Unternehmen, kein Killerkommando. Sie unterscheidet sich nicht sonderlich von einem gewöhnlichen Unternehmen, lediglich darin, dass das eine vom Staat verfolgt und das andere vom Staat geschützt wird. Ich bin nicht sehr versiert darin, wie die Gesetze der chinesischen Triaden aussehen. Aber mit den westlichen Familien verhält es sich so, dass es bestimmte Gesetze gibt. Mein Vater erklärte mir einst, dass eine Familie wie ein Staat ist. Es gibt eine Hierarchie und feste Gesetze, die einzuhalten sind. Der markante Unterschied besteht darin, dass die Mafia es nicht nötig hat, ihre Gesetze zu verkomplizieren und sie schriftlich festzuhalten. Der Boss ist das Familienoberhaupt, der Patriarch. Er führt sie an und hält sie zusammen. Die Hierarchie wird streng eingehalten und alle gehorchen ihrem Patriarchen bedingungslos.“

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Allerdings erklärt dies nicht, warum Sie die Yanjingshe nicht als Mafia anerkennen wollen.“

„Ich sprach nie von der Triade an sich. Es sind Sie, den ich nicht als Boss anerkenne. Verstehen Sie dies nicht als persönlichen Angriff. Als alter Hase und als Sprössling einer alteingesessenen Familie, die schon den ersten Weltkrieg und die Depression überstanden hat, mögen meine Ansichten vielleicht nicht mit denen anderer Bosse übereinstimmen. Aber Sie müssen eines wissen: ein Boss ist nicht bloß ein Alleinherrscher. Er ist wie der Anführer eines Rudels. Er kämpft an vorderster Front für den Fortbestand seines Rudels, hält die Gesetze ein und bewahrt ebenso die Hierarchie. Um ein Boss zu sein, bedarf es nicht nur eines guten Geschäftssinns, sondern vor allem auch Führungsqualitäten. Er beherrscht seine Untergebenen nicht nur, er führt sie an und muss die Gabe besitzen, auf sie einzugehen und dennoch seine Autorität zu wahren. Der Unterschied zwischen Araphel und Ihnen ist einfach: ein Löwe jagt niemals um der Jagd willen, sondern lediglich um den Fortbestand zu sichern. Er jagt im Rudel und ist ein geborener Anführer, der das tut, was nötig ist, um das Überleben seines Rudels zu sichern und seine Macht zu wahren. All seine Handlungen stehen allein im Interesse des Rudels und sind nicht seine allein. Eine Schlange hingegen jagt immerzu alleine. Sie ist ein strikter Einzelgänger und sie kennt so etwas wie Gemeinschaftssinn nicht. Von Geburt an ist sie auf sich allein gestellt und das Fatale an der Schlange ist ihre Gier: verfangen sich zwei Schlangen in ein Beutetier, verschlingen sie die andere Schlange einfach mit und da sie oftmals ihre Grenzen nicht kennen, wird die Gier zum Todesurteil der Schlange. Verstehen sie nun? Eine Schlange ist ein äußerst mächtiges und gefährliches Tier, aber sie kann keine Gruppe anführen, da sie dazu neigt, selbst ihre eigenen Artgenossen zu fressen.“

„Das sind also Ihre Ansichten?“ fragte Shen und er lachte amüsiert. Selbst sein Lachen war eiskalt. Normalerweise hätte Sergej es nicht gewagt, solch gefährliche Worte an das Oberhaupt der mächtigsten Shanghaier Triade zu richten, doch da er durch seinen Pakt mit Shen ein gewisses Maß an Sicherheit hatte, konnte er sich dieses Recht durchaus nehmen. Es galt nur, den formellen Ton zu bewahren und seine Wortwahl gut abzuwägen.

„Ihre Ansichten einer Familie sind wirklich sehr interessant und vielleicht auch inspirierend, allerdings erscheint sie mir wirklich etwas altmodisch. Uns trennen zwar nur neun Jahre Lebenserfahrung, allerdings kann ich von mir behaupten, modernere Ansichten zu haben und mit der Zeit zu gehen. Die Zeiten ändern sich, genauso wie die Mafia.“

„Mag sein, dass ich nicht immer mit der Zeit gehe, aber als alter Hase hat man eine andere Sicht der Dinge und geht sie auch anders an. Der Vorteil des Älterwerdens liegt darin, dass man eine größere Gelassenheit und Geduld entwickelt. In meiner Jugend war ich ein ziemlich energiegeladener Jungspund gewesen und die Dinge konnten sich nicht schnell genug für mich entwickeln. Inzwischen weiß ich, dass Pflanzen Zeit brauchen, bis sie Früchte tragen und mit den Jahren habe ich die nötige Gelassenheit und Geduld entwickelt, die von Nöten ist, um auf den perfekten Zeitpunkt zu warten, an dem die Ernte am größten ist. Vor allem aber erlangt man mit dem Alter eine gewisse Nachsicht gegenüber seinen Mitmenschen. Wenn man mich ein Mal beleidigt, sehe ich darüber hinweg und vergesse den Vorfall. Beim zweiten Mal belasse ich es bei einer Verwarnung. Beleidigt man mich aber ein drittes Mal, verteile ich dessen Schädelinhalt höchstpersönlich über den Tisch.“
 

Einen Augenblick herrschte Stille und die Luft war vergleichbar mit jenem Phänomen, welches man insbesondere kurz vor einem schweren Unwetter deutlich wahrnahm. Man wartete darauf, dass es mit einem lauten Donnern hereinbrechen würde. Man wusste, dass es kommen würde, weil man es mit jeder Faser seines Körpers spüren konnte. Doch niemand konnte sagen, wann es endlich soweit sein und wie verheerend es wirklich werden würde. Schließlich aber holte Sergej aus seinem Mantel einen kleinen Flachmann hervor, wobei er weiter erzählte. „Die Gesetze der Mafia unterscheiden sich zu einem gewissen Teil je nach Nationalität und Gruppe, aber in folgenden Punkten ist fast jede in ihren Ansichten gleich: die Ehefrau eines Mafioso ist ihm heilig und er wird sie niemals betrügen. Kein Mafioso hat Kontakt oder Verwandtschaft zur Polizei und ähnlichen Organisationen und die Mafia steht an alleroberster Stelle, selbst dann wenn die Ehefrau gerade entbindet. Wer eine Vendetta beginnt, der muss gute Gründe vorweisen können, wie etwa der Mord an einem hochrangigen Mitglied. Fußleute zählen nicht dazu. Den Befehlen des Bosses ist bedingungslos Folge zu leisten, Frauen haben in der Mafia nichts zu suchen, ebenso wie Drogensüchtige in einer Familie, die mit Drogen handelt. Gegenüber seinem Boss und seinen Kameraden besteht unbedingte Wahrheitspflicht, Diebstahl innerhalb der Familie ist genauso untersagt wie der Diebstahl an anderen Familien. Und Aussteiger werden genauso bestraft wie Verräter. Nun, einige der Gesetze mögen etwas konservativ erscheinen, was aber auch größtenteils daher kommt, weil diese Gesetze von alten, konservativen Herren geschrieben worden sind. Tja, das mit dem Alter ist so eine Sache… Je älter man wird, desto mehr Laster kommen hinzu. Ich habe noch nie einen guten Wein oder einen wahren russischen Wodka verweigert. Eine kleine Schwäche, könnte man sagen. Aber wissen Sie, darum gibt es die Mafia ja erst. Sie lebt von den Schwächen der Menschen, nämlich ihrer Gier. Es sind so einfältige Wesen, die sich so leicht verführen lassen, dass es den Herrgott wirklich grämen muss, wie sehr seine Schöpfung verkommen ist. Sie und ich bilden keine Ausnahme. Wir alle werden von unserer eigenen Gier getrieben und beherrscht. Sei es die Gier nach Macht und Reichtum, das Verlangen nach Vergeltung, sexuelle Gelüste oder der Hunger nach Wissen. Der Mensch ist ein gieriges Wesen und selbst wenn er ein Jahrhundert lebt und ein Jahrhundert lernt, so stirbt er letzten Endes doch als Dummkopf. Darum braucht das Neue auch das Alte, damit es lernen kann. Ich mag trotz meiner 51 Jahre schon zum alten Eisen gehören, aber ich erteile der Jugend gerne den einen oder anderen Rat, das macht einen guten Patriarchen nun einmal aus. Sie und ich, wir haben viel gesehen, Sie vielleicht sogar noch mehr als wir alle. Sie mögen es verbergen, aber es steht in Ihren Augen geschrieben, dass Sie die tiefsten Abgründe der Menschheit erblickt haben. Ich weiß nicht, was Sie dazu bewegt hat, das zu tun, was Sie jetzt tun. Ich will Sie weder belehren, noch Sie in irgendeiner Art und Weise kränken. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich trotz meiner schlechten Augen sehr wohl in der Lage bin zu erkennen, wann eine Schlange frisst um zu leben, oder wann sie ihre eigenen Artgenossen aus einem anderen Hunger heraus frisst. Verzeihen Sie, wenn ich zu viel rede. Meine Redseligkeit zählte schon stets zu meinen Schwächen.“

Doch Shen winkte nur mit einem Lächeln ab und versicherte „Es ist immer schön, weisen Männern zuzuhören, die bereit sind, ihren Erfahrungsschatz mit anderen zu teilen.“
 

Nach einer sehr höflichen Verabschiedung erhob sich Sergej und verließ das Hinterzimmer des Clubs, welches Zwecks für dieses Treffen reserviert worden war. Eine Weile blieb Shen sitzen, bevor er sich ebenfalls erhob und ging. Draußen vor dem Club wartete sowieso die Limousine, die ihn zurück zu seiner Villa fahren würde.

„Und wie ist das Treffen verlaufen, Boss?“ fragte sein Berater und Vertrauter Liu Cheng, der wie angewiesen in der Limousine gewartet hatte, da zu einem Clantreff niemand sonst als die Bosse Zutritt hatten. Einzige Ausnahme bildete der Unterboss, der in absehbarer Zeit die Nachfolge übernehmen würde.

Ein eisiges Lächeln spielte sich über Shens Lippen und er hob vorsichtig seinen rechten Arm. Unter den Ärmel seines Gewandes kam langsam der Kopf einer Schlange hervor, näher gesagt der Kopf einer schwarzen Mamba.

„Ich habe ihn unterschätzt“, erklärte er seinem Berater, mit dem er sich genauso wie mit allen anderen Mitglieder der Triade auf Chinesisch unterhielt. „Er hat meine Absichten sofort durchschaut und sich keinen Moment lang die geringste Blöße gegeben. Er hat selbst meine Person durchschaut, genauso wie meine Mordabsichten. Er ist klüger als erwartet.“

„Sollen wir uns um ihn kümmern?“

„Nein, das ist nicht nötig. Fürs Erste profitieren wir noch von unserem Geschäftsbündnis und darum verschieben wir unsere Pläne bis auf Weiteres.“

Shen strich vorsichtig über den Kopf der Schlange, die ihrerseits vollkommen ruhig blieb und nicht die geringsten Anstalten machte, ihn anzugreifen. Warum auch? Shen hatte schon seit seiner Kindheit eine sehr enge Bindung zu diesen Tieren gehabt. Er war mit ihnen groß geworden und sie waren zu einem Teil seines Wesens geworden. Selbst als er damals als kleiner Junge in eine Schlangengrube geworfen worden war, war er nicht ein einziges Mal angegriffen worden. Vielleicht, weil sie gespürt hatten, dass er ihnen ähnlich war. Ja, es war wie Sergej gesagt hatte: er war eine Schlange, die ihre eigenen Artgenossen verschlang und vor nichts zurückschreckte. Ja, auch er schreckte vor nichts zurück. Er würde jeden verschlingen und ins Verderben reißen, der ihm zu nahe kam. Doch das war ihm nicht genug. Er wollte nicht bloß zerstören und alles vernichten, was ihm in die Quere kam. Das reichte ihm nicht aus. Sein größtes Werk war ja noch nicht vollendet. Nicht mehr lange würde es dauern, bis er sein Geschöpf auf diese Welt loslassen und den Zorn entfesseln konnte, den er so lange in sich getragen hatte und den er seiner wohl größten Schöpfung hinterlassen würde… seinem Monster, das noch nicht vollständig erweckt war. Allein der Gedanke ließ bei ihm ein gewisses Gefühl der Genugtuung aufkommen. Sollte der Patriarch ihn doch für einen Killer halten, der die Mafia nur für seine eigenen Zwecke benutzte. Es war ihm egal und er war auf die Belehrungen dieses altmodischen Mafioso nicht angewiesen. Schon bald würde es eh vorbei sein. Dann war die Mafia allein in seiner Hand und er selbst würde der Schöpfer eines Dämons werden, der alles vernichten würde, was er nicht beherrschen konnte. Genauso wie er, Shen Yuanxian, ein Dämon war, der alles beherrschen würde, was er nicht zerstören konnte. Es würde ein herrliches Spiel werden, fast schon zu einfach mochte man meinen. Alles, was er nur dazu brauchte war, den Hass weiter zu schüren. Selbst der stolze schwarze Löwe hatte seine Wildheit längst verloren und merkte nicht, dass er sich schon längst in einem Käfig befand. Er musste nur noch entsprechend abgerichtet werden, damit man mit ihm spielen konnte. Darauf freute sich Shen schon besonders. Denn was nutzte es ihm, einen Löwen niederzustrecken, wenn er ihn genauso gut kontrollieren konnte?

Aussichtslos

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Besorgniserregende Entwicklung

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das Erwachen

„Wenn jemand dich schlägt und du schlägst zurück – wer von euch ist dann der Bessere?“
 

Dr. Mohinder Singh Jus, Homöopath
 

Als Araphel genug hatte und Sam ohnehin schon völlig ausgelaugt war, ließ er seinen Gefangenen auf dem Boden ließen und schloss die Tür der Zelle ab. Danach verließ er den Keller und wollte sich eine heiße Dusche gönnen und wieder an die Arbeit gehen. Es galt noch, eine Geschäftsabwicklung vorzubereiten, die er unmöglich verschieben konnte und außerdem mussten die gestohlenen Autos transportfertig gemacht werden. Dabei war es schon fast 20 Uhr. Na was soll’s, dachte er sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Manchmal gab es halt viel Arbeit und morgen würde er wahrscheinlich gar nicht die Zeit haben, sich seinem Gefangenen zu widmen. Aber er konnte das Treffen mit Sergej nicht verschieben, insbesondere weil dieser nach dem Tod seines Adoptivvaters quasi eine Art Vaterfigur für ihn geworden war und er brauchte Sergejs Hilfe, um seinem Ziel näher zu kommen, die Yanjingshe zu zerschlagen und ihren Boss zu töten. Immerhin hatte er es am Grab seiner Schwester versprochen und solange er dieses Monster nicht gestoppt hatte, würde es niemals Ruhe geben… keine Vergeltung für die Verbrechen, die Shen zu verantworten hatte. Bei diesem Gedanken fiel ihm ein, dass es morgen auch wieder mal an der Zeit war, Ahavas Grab zu besuchen und so wie er Sergej kannte, würde dieser ihn sicherlich begleiten wollen. Immerhin lag neben ihrem Grab auch das von Stephen Mason, jenem Menschen, der ihnen ein Zuhause, eine Familie und eine Zukunft gegeben hatte. Und dabei hatte es für ihn keine Rolle gespielt, ob diese Zukunft die eines Mafiabosses war und Verbrechen sein Geschäft sein würden. Er konnte damit leben, er konnte mit jeder Last leben und er war es gewohnt, in einer Welt zu leben, die gefährlich war. Er war in ihr geboren worden und das hatte ihn zu einem Kämpfer gemacht. Und doch… ganz egal wie sehr er auch gekämpft hatte… die schlimmste Katastrophe hatte er damals nicht verhindern können. Stattdessen war er Zeuge eines Dämons geworden, der erbarmungslos alles zerschlug, was ihm zuwider war. Jedes Licht… jede Hoffnung. Araphel hatte sich geschworen, nicht eher Ruhe zu geben, bis seine Vendetta gegen Shen beendet war. Vendetta… ein Gesetz, das viel älter war als das Gesetz selbst. Ein dunkler Teil der menschlichen Natur, die auch das erste Gesetz war, was niedergeschrieben worden war: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Beule um Beule, ein Toter für einen Toten. So lautete das älteste von Menschenhand verfasste Gesetz und es hatte sich in die Natur des Menschen eingebrannt und unterschied ihn auch von den Tieren. Die Mafia war nicht bloß ein Verbrechersyndikat, sondern auch Verfechter dieses ältesten Gesetzes. Wer ein hochrangiges Mitglied der Familie tötete, wurde selbst getötet. Und so waren über die Jahre hinweg Blutfehden entstanden, die zahllose Opfer gefordert hatten. Fehden, die niemals enden würden, weil man bereits zu tief drin war und es keinen Ausweg mehr gab. Es wäre vielleicht einfach gewesen, den Mord an seinen Adoptivvater als „rein geschäftlich“ abzustempeln und Araphel wäre auch bereit gewesen, es damit auf sich beruhen zu lassen. Denn es war ein rein geschäftlicher Mord gewesen, weil Stephen Mason ein Hindernis für die Yanjingshe war. Aber an dem Zeitpunkt, an dem Shen es gewagt hatte, seine Schwester mit in die Sache reinzuziehen, obwohl diese nicht einmal zur Mafia dazugehörte, da war es mit dem „rein geschäftlichen“ Kram auch vorbei. Das war längst nicht mehr bloß ein Teil der Mafiageschäfte gewesen, sondern eine direkte Kriegserklärung. Und nach dem, was Shen ihnen beiden angetan hatte, war das einzige, was er verdiente, einen besonders qualvollen und grausamen Tod. Allein der Gedanke daran bereitete ihm eine wahre Genugtuung.

Als er ins Bad ging, sich einschloss und seine Sachen mitsamt einer Pistole griffbereit legte (denn er war aufgrund der Fehde mit der Yanjingshe extrem vorsichtig geworden), ertastete seine Hand instinktiv jene Stelle an seinem Rücken, an der er gezeichnet worden war. Wo sich eine Erinnerung besonders tief in seinen Körper gebrannt hatte, dass sie tiefe Narben hinterlassen hatte. Nicht nur auf seinem Körper, sondern auch tief in seiner Seele. Shen Yuanxian. Dieser Mann hatte ihm so gut wie alles genommen und selbst nach vier Jahren ließ dieser keine einzige Gelegenheit aus, um ihn zu verspotten, ihn zu provozieren und diese alten Wunden immer und immer wieder aufzureißen.

„Um etwas zu töten, das nicht menschlich ist, muss der Mensch seine Menschlichkeit ablegen. Also werde zu einem Dämon, um einen Dämon zu töten.“ Das hatte Shen ihm vor vier Jahren gesagt. Und die letzten vier Jahre hatte er hart gearbeitet, um die Mason-Familie zum mächtigsten Syndikat in Boston zu machen. Er hatte Menschen erpresst, verletzt, verkauft, manipuliert und getötet. Und doch hatte er es nicht geschafft, Shen zu schlagen. Egal was er tat, dieser Hurensohn war ihm stets überlegen. Er durchschaute jeden Schachzug und selbst Attentate waren wirkungslos, da Shen selbst ein perfekter Attentäter war. Er brauchte keine Leibwächter, er selbst war tödlicher als eine Pistole und beherrschte 27 Kampfkünste, war den Umgang mit Waffen gewohnt und aufgrund seines Charismas und seiner Intelligenz schaffte er es, die Leute auf seine Seite zu ziehen. Es schien so, als wäre er unantastbar und das machte ihn umso wütender.

Als er unter der heißen Dusche stand, spürte er erst, wie erschöpft er eigentlich war. Und dabei wartete noch so viel Arbeit auf ihn. In dem Moment musste er daran denken, wenn solche Tage waren, an denen er so lange arbeiten musste. Abends pflegte Ahava dann immer mit einem Tablett in sein Büro zu kommen, nachdem sie Tee und Snacks vorbereitet hatte und sagte dann „Du solltest ein wenig mehr auf dich Acht geben, Bruderherz. Überarbeite dich nicht allzu sehr, okay?“

Sie hatte sich immer sehr rührend um ihn gekümmert, wenn er bis spät in die Nacht arbeiten musste. Seitdem ihre Adoptivmutter sehr früh an Lungenkrebs verstorben war, hatte Ahava immer die Rolle der Frau in der Familie ausgefüllt und ihm Halt gegeben. Sie war der einzige Mensch, den er je gebraucht hatte und obwohl sie ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie niemals etwas mit der Mafia zu tun haben wollte und die kriminellen Geschäfte nicht gutheißen konnte, war sie dennoch stets treu an seiner Seite geblieben. Und dann war Shen gekommen und hatte alles zerstört. Er hatte ihren Adoptivvater getötet und Ahava auf dem Gewissen. Und schlimmer noch: er hatte sie völlig gebrochen. Doch als er wieder an Ahavas gütiges und sanftmütiges Lächeln dachte und an ihre warmherzigen strahlend blauen Augen, da tauchte plötzlich dieses andere Bild auf. Das von Sam Leens, der dieselben Augen hatte wie Ahava. Und das konnte er nicht akzeptieren. Wieso nur hatte der Bruder jenes Mannes, der Ahava verraten hatte, die gleichen Augen wie sie? Und wieso nur gelang es ihm nicht, sich dazu durchzuringen, ihn endlich zu töten, so wie er es ursprünglich vorgehabt hatte? Was hatte ihn nur dazu getrieben, ihn stattdessen zu retten, in den Keller zu sperren und mit ihm zu schlafen? Das war ganz und gar nicht seine Vorgehensweise. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich! Wieso nur brachte dieser Schnüffler ihn so aus dem Konzept? Er verstand sich selbst nicht mehr.

Nachdem er mit der Dusche fertig war und sich angezogen hatte, trocknete er seine Haare nur mit dem Handtuch und wollte in sein Arbeitszimmer gehen, doch da sah er blieb er stehen, als er eine Frau auf ihn zukommen sah. Sie hatte schulterlanges feuerrotes Haar, trug eine weiße Bluse mit hochgekrempelten Ärmeln und eine rote Weste, auch ihre Hose und ihre Stiefel waren rot. An ihrer Hüfte trug sie einen Werkzeuggürtel und in ihrer Hand hielt sie einen Schraubenschlüssel. Es war Christine Cunningham, die Mechanikerin und das einzig weibliche Mitglied der Mason-Familie. Verwundert zog Araphel die Augenbrauen zusammen, denn normalerweise war Christine um die Zeit in der Werkstatt, um an ihrem Plymouth zu schrauben. Und noch etwas fiel ihm auf: sie war kreidebleich im Gesicht und sie hatte Dr. Heian und Morph im Schlepptau. Verwundert fragte er „Ist etwas vorgefallen?“

Wortlos kam Christine näher und man sah ihr an, dass ihre Hände zitterten. Etwas stimmte nicht mit ihr. Araphel ging direkt zu ihr hin und fragte besorgt „Christine, geht es dir nicht gut? Was hast du?“

Doch kaum, dass seine Hand ihre Schulter berührte, drehte sie endgültig durch und schlug mit dem Schraubenschlüssel nach ihm, doch Araphel reagierte noch schnell genug, um ihren Arm festzuhalten, bevor der Schraubenschlüssel ihn noch am Kopf treffen konnte.

„Wie kannst du es wagen?“ schrie sie und versuchte wieder zuzuschlagen, doch gegen den Mafiaboss hatte sie keine Chance. Sie war völlig von der Rolle und schien sich gar nicht mehr beruhigen zu können. Doch er verstand nicht so ganz, was dir Ursache dafür war und wieso sie sich so aufregte.

„Christine, jetzt beruhige dich doch und erklär mir, wa…“

„Wie kannst du uns das nur antun, du elendes Stück Scheiße?“ schrie sie und unkontrolliert flossen Tränen ihre Wangen hinab. Sie wehrte sich nach Leibeskräften und schien sich in einem Zustand zu befinden, in der sie zwischen einer Raserei und einem Nervenzusammenbruch hin und her schwankte. „Du hast versprochen, dass das nie wieder passiert und dass du uns beschützen wirst. Wie kannst du da nur so etwas tun?“

„Wovon zum Teufel sprichst du?“

„Na davon, dass du einen Menschen im Keller wie ein Tier einsperrst und ihm diese schrecklichen Dinge antust, du Bastard!“

Hieraufhin schien der Tobsuchtsanfall abzuebben und stattdessen ließ Christine den Schraubenschlüssel fallen und ließ schluchzend den Kopf hängen. Und als Araphel sie losließ, verpasste sie ihm eine Ohrfeige, wobei ihr Körper heftig unter den Schluchzern bebte.

„Hast du etwa vergessen, was sie uns angetan haben? Wie sehr wir durch diese Leute gelitten haben und welche Hölle wir gesehen haben? War es denn nicht schon schlimm genug, dass uns das passieren musste und dass Ahava gestorben ist und sie… sie…“

Weiter kam sie nicht, ihre Stimme versagte und sie schien einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein. Hieraufhin wandte sich Araphel an Morphius und Dr. Heian und forderte in einem scharfen Ton „Erklärt mir, was das zu bedeuten hat!“

„Wir wollen dir die Augen öffnen, Araphel“, erklärte Morphius, der einen Rauchkringel ausblies, nachdem er einen langen Zug von seiner Zigarette genommen hatte. „Auf uns hörst du nicht, darum haben wir Christine die Bänder der Überwachungskameras gezeigt.“

„Ihr habt WAS?“ rief er und bekam nicht wenig Lust, sie beide windelweich zu prügeln. Eine solche Unverschämtheit kam der Beleidigung eines Clanbosses gleich und so etwas duldete Araphel nicht. Doch Christine ließ ihm nicht die Zeit, um sich seinen beiden Untergebenen zu widmen, die sich diese Unverschämtheit erlaubt hatten. Denn da ergriff sie seinen Arm und verpasste ihm mit der anderen Hand eine zweite Ohrfeige.

„Ich dachte wirklich, ich könnte dir vertrauen und dass du Shen das büßen lässt, was er getan hat. Aber dass du wie er wirst, ist einfach das Letzte.“

„Christine…“, sprach er nun besänftigend und wollte sie in den Arm nehmen, um sie zu beruhigen, wobei er ihr tröstend über den Kopf strich. „Beruhige dich doch erst mal, Christine. Es ist nicht gesund für dich, wenn du dich zu sehr aufregst und…“

„Hör auf, mich wie deine Schwester zu behandeln“, rief sie und stieß ihn von sich, wobei unaufhörlich Tränen über ihre Wangen flossen. „Hör endlich auf damit, mich wie ein Ersatz zu behandeln. Ahava ist tot, verdammt! Sie ist gestorben, nachdem diese Mistkerle sie endgültig gebrochen hatten. Warum also tust du nur so etwas Schreckliches, wenn du doch selbst weißt, wie sehr wir gelitten haben und was sie Ahava angetan haben… was sie mir…“

Christines Stimme versagte endgültig. Ihre Augen verdrehten sich und sie sank kraftlos zusammen. Sofort war Dr. Heian bei ihr und fing sie auf. „Shit“, kam es von Morphius, der dem Arzt schnell zur Hand ging und half, die bewusstlose Christine zu stützen.

„Ich hab dir ja gesagt, dass das passieren wird. Und was jetzt?“

„Ich werde ihr erst einmal etwas zur Beruhigung geben, dann wird sie für eine Weile schlafen. Das Beste wird sein, sie erst mal auf ihr Zimmer zu bringen.“

Damit ging Dr. Heian, der die Bewusstlose bei sich trug und so blieb Morphius alleine mit Araphel zurück. Dieser stand schweigend mit gesenktem Blick da und es war schwer zu erkennen, ob er wütend oder betroffen war. Es war, als hätte etwas seinen Kampfgeist und seinen Willen geraubt und das war ein Anblick, den Morphius noch nie bei ihm gesehen hatte, seit er ihm das erste Mal begegnet war. Natürlich war es ihm alles andere als leicht gefallen, solch eine fiese Methode zu wählen, aber er sorgte sich auch um Araphel und im Notfall musste man auch manchmal zu solch unfeinen Methoden greifen, um sein Ziel zu erreichen. Das war insbesondere in der Welt der Mafia wichtig und vor allem unvermeidlich. Er seufzte und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

„Tut mir wirklich leid, dass wir zu solchen Mitteln gegriffen haben. Aber du wolltest ja einfach nicht hören und hast dich immer weiter verändert. Und jetzt hör mir mal gut zu: die Menschen sind ein dummes Volk. Sie lassen sich manipulieren, belügen, benutzen und sie sind sogar bereit, ihr Leben für einen infantilen Schwachsinn wie einer Gottheit zu opfern. Es gibt nicht gerade viele Dinge, auf die die Menschen sonderlich stolz sein können. Aber ihre Menschlichkeit ist es, die sie erst wirklich zu Menschen macht. Wenn wir unsere Menschlichkeit über Bord werfen, sind wir es auch nicht mehr länger wert, Menschen genannt zu werden. Man nennt uns dann nur Abschaum… oder Dämonen. Wenn deine Schwester sehen würde, zu was dich diese Vendetta gemacht hat, würde sie Tränen vergießen und sagen, dass sie das niemals gewollt hätte. Sie wusste, dass du trotz allem ein guter Mensch bist, genauso wie Christine, Yugure und ich es wissen. Wir sind deine Gefolgsleute und deine Freunde und wenn wir sehen, dass du dich von diesem Kerl manipulieren lässt, werden wir auch jedes Mittel ergreifen, um dich wieder aufzuwecken. Warum hast du Sam Leens in den Keller gesperrt und ihm diese Dinge angetan? Ganz einfach: weil Shen dich zerstören will. Erst will er dir das nehmen, was du liebst und dann nimmt er dir deine Menschlichkeit, damit du genauso ein Monster wirst wie er. Ein Monster, das nichts beschützen, sondern nur zerstören kann. Und bevor es so weit kommt, greifen wir eben ein, das ist nun mal unsere Pflicht: das Oberhaupt der Familie zu beschützen. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel, als dass du dich von ihm manipulieren lassen kannst. Nicht nur das Leben anderer oder dein eigenes oder die Existenz der Familie. Nein, im Grunde ist diese Fehde ein Krieg. Wenn du dich von Shen schwächen lässt, wird er uns vernichten. Dann wird als nächstes der Patriarch folgen und dann wird niemand mehr in der Lage sein, es mit dieser Schlange aufzunehmen, wenn sie erst einmal all ihre Feinde gefressen hat. Darum hielten Yugure und ich es für das Beste, dich auf diese Weise mit der Wahrheit zu konfrontieren, auch wenn es schmerzt. Lass nicht zu, dass dieser Kerl Macht über dich hat und dich noch tiefer in die Finsternis reinzieht. Denn ich weiß nicht, ob wir dann noch in der Lage sein werden, dich zu retten.“

Hier legte Morphius ihm eine Hand auf die Schulter und blickte ihn ernst mit seinen Augen an, die alles mit einem scharfen Zynismus zu betrachten schienen. Augen, die die tiefsten Abgründe der Menschheit erblickt hatten und die Wahrheit im Sumpf dieser Verderbtheit ergründet hatten.

„Nach der Tragödie, die sich mit deiner Schwester ereignet hat, willst du sie wirklich einem anderen antun?“

„Ich weiß selbst, dass es nicht der richtige Weg war“, seufzte Araphel und rieb sich die Augen. „Aber nach dem, was Lawrence Ahava angetan hat, ist es nur mehr als fair, wenn er das Gleiche durchmacht.“

„Das würde aber bedeuten, dass du ihn und nicht Sam quälst. Sam ist sein Bruder, das stimmt und ich verstehe, dass du Lawrence das Gleiche fühlen lassen willst, was du erlebt hast. Aber ist das wirklich eine gerechte Rache? Sam ist ein Unschuldiger in dieser Vendetta, auch wenn er uns ständig Probleme macht. Er ist nur eine Person, die für ihre dummen und völlig naiven Ideale lebt und diese verteidigen will. So wie es Ahava getan hat. Willst du, dass sich so eine Tragödie etwa noch mal ereignet wie vor vier Jahren? Hasse den Menschen, aber nicht die Menschheit, ansonsten wirst du letzten Endes nicht besser sein als Shen.“
 

Wortlos verschwand Morphius und ließ Araphel alleine. Er wusste, dass dieser erst mal seine Ruhe brauchte, um über all das nachdenken zu können und es war ohnehin genug gesagt worden. Während er sich auf den Weg zu Christine machte, um Dr. Heian noch zu treffen, zündete er sich wieder eine Zigarette an. Es wurmte ihn wirklich, dass sie Christine benutzt hatten, um Araphel wachzurütteln. Insbesondere, wo sie aufgrund ihres Zustandes in eine Klinik gehörte. Normalerweise wäre sie dort auch eingeliefert worden, wäre da nicht die Gefahr durch die Yanjingshe so groß. Innerhalb der Mason-Familie war sie sicher und es drohte kaum Gefahr, wenn sie hier blieb und Dr. Heian ein Auge auf sie hatte. Aber dennoch wäre sie in einer Klinik deutlich besser aufgehoben. Dann hätte sie nicht schon wieder einen Zusammenbruch erleiden müssen.

Schließlich aber, als er ihr Zimmer erreichte, kam Dr. Heian gerade heraus und schloss die Tür hinter sich.

„Und? Wie geht es ihr?“ fragte der Informant besorgt. Dr. Heian rückte seine Brille zurecht und atmete geräuschvoll aus.

„Den Umständen entsprechend. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und sie wird bis morgen erst mal schlafen. Aber wirklich helfen kann ich ihr nicht und das wissen wir alle. Was sie braucht, ist kein Arzt wie ich. Ich kann nur einen Körper behandeln, doch es ist nicht ihr Körper, der leidet. Sie wird morgen aufwachen als wäre nichts gewesen und vergessen haben, wovon wir gesprochen haben und was sie gesehen hat. Es wird ihr vorkommen, als hätte es diese Szene niemals gegeben. Sie wird in ihrer eigenen Welt weiterleben, die sie sich geschaffen hat und glücklich damit sein. Ich kann ihr nicht helfen und das wurmt mich wirklich, Makoto. Du weißt, ich bin Arzt geworden, weil ich Menschen helfen will. Aber dennoch werden wir oft genug mit der Tatsache konfrontiert, dass es auch für Ärzte Grenzen gibt und sie nicht die Götter in weiß sind, die sie gerne wären. Ich kann keine Wunder vollbringen, ich kann nicht alle Krankheiten und Wunden heilen. Und nicht selten hasse ich meine eigene Unfähigkeit. Sogar mehr noch als diese Kurpfuscher, die mit dem Leben ihrer Patienten spielen, um ihre Fehler zu vertuschen.“

„Jetzt lass den Kopf nicht gleich hängen, Yu-chan. Na komm, der Tag ist noch nicht vorbei und wir haben eh Feierabend. Lass uns doch in eine Bar was trinken gehen und ein wenig über die guten alten Zeiten reden.“

„Welche guten alten Zeiten?“ fragte der Arzt in einem mehr als frostigen Ton und warf Morphius einen eiskalten und giftigen Blick zu. „Wer hat denn bitte dieses impertinente Frauenzimmer geehelicht, nachdem er sie geschwängert hat? Ich für meinen Teil kann mich an keine guten alten Zeiten erinnern.“

„Warum klingt das trotz deiner gehobenen Wortwahl so… schäbig?“

„Weil es so ist. Nein danke, ich habe kein Interesse mit dir noch mehr als unnötig Zeit zu verschwenden. Vielleicht solltest du mal ernsthaft in Betracht ziehen, mal dein Leben besser auf die Reihe zu bekommen, anstatt dich immer so verantwortungslos aufzuführen und dich von einem Fettnäpfchen ins nächste ziehen zu lassen. Glaub bloß nicht, dass ich dir das so schnell verzeihen werde, Makoto. Und nimm endlich diesen bescheuerten Hut ab. Der steht dir sowieso nicht.“

Damit drehte sich Dr. Heian um und ging, wobei mehr als deutlich war, dass er Morphius für heute anscheinend nicht mehr sehen wollte. Dieser seufzte und rückte seinen Hut zurecht, wobei er doch noch letzten Endes lächelte und leise für sich sprach „Du warst es doch, der ihn mir damals geschenkt hat, Yu-chan.“

Gespräche

„ Eine kleine Rache ist menschlicher, als gar keine Rache.“
 

Friedrich Wilhelm Nietzsche, Philosoph
 

Es regnete und ein kalter Wind wehte auf dem Friedhof. Unter diesen Umständen war es nicht möglich, sich eine Zigarette anzuzünden und das verleitete den Patriarchen dazu, etwas wehmütig zu seufzen.

„Das Wetter meint es wohl nicht gut mit uns. Da treffen wir uns schon am Grab und einem alten Mann ist nicht mal eine Zigarette vergönnt.“

„So alt bist du nun auch wieder nicht“, gab Araphel zurück und legte den Strauß weißer Lilien ans Grab seiner Schwester, nachdem er auch welche für seine Adoptiveltern hingelegt hatte. Auch Sergej war gekommen, nachdem sich der Tod von Stephen Mason schon zum vierten Mal jährte. Und bald würde auch Ahavas Todestag folgen. Jedes Mal, wenn er ihr Grab besuchen kam, kehrten diese quälenden Fragen zurück, die ihn wie Geister verfolgten. Was hatte er nur falsch gemacht, dass er sie nicht hatte retten können? Warum war er nicht fähig gewesen, sie zu beschützen? Was hätte er tun können, um sie zu retten? Eine Hand legte sich auf seine Schulter und er hörte Sergej leise seufzen.

„Mag sein, dass ich mit 51 Jahren in der heutigen Zeit noch gut sieben Jahre davon entfernt bin, alt genannt zu werden. Aber ich finde, dass das Alter wesentlich mehr Vorzüge hat als die Jugend. Man hat dann eine gute Entschuldigung, um unliebsamen Dingen aus dem Weg zu gehen, indem man einfach sagt, dass man zu alt für diesen Unsinn ist. Außerdem kann man sich das Recht ausnehmen, die Dinge auch langsamer anzugehen. Ich mag zwar noch nicht gänzlich alt sein, aber es ist auch eine Frage des Gefühls. Ich habe in meinem Leben schon viele Menschen zu Grabe tragen müssen. Meinen älteren Bruder Iwan, meine erste Ehefrau Catherine und später meine zweite Frau Lucia. Dann stirbt mir noch derjenige weg, der vor elf Jahren eine Kugel für mich abgefangen und mir das Leben gerettet hat. Das Leben ist manchmal wirklich eine grausame Ehefrau.“

Es erstaunte Araphel so manchmal, wie Sergej solche Dinge so locker dahersagen konnte, wenn er schon so viel im Leben verloren hatte. Seine Familie, seinen besten Freund…

„Wie schaffst du es nur, so stark zu sein und über solche Sachen drüber zu stehen?“

„Das entwickelt sich mit den Jahren. Außerdem muss man gewisse angeborene Charakterzüge für so etwas besitzen, was heißt: man muss von Geburt an eine gesunde Kaltherzigkeit besitzen, um schnell über solche Dinge hinwegzukommen. Ich war schon immer ein abgebrühter Geschäftsmann gewesen und habe schon in der Schule die anderen Schüler um ihr Essensgeld betrogen. Dafür besitze ich aber nicht mehr diesen Elan und Kampfgeist wie du, Junge.“

Nachdem der Wind immer stärker wurde und auch der Regen zunahm, gab es Sergej auf, sich eine Zigarette anzuzünden und steckte sie wieder ein, wobei er leise „Beschissenes Wetter“ auf Russisch murmelte. Eine Weile des Schweigens verging, ohne dass einer der Beteiligten Anstalten machte, etwas zu sagen, dann aber beendete Sergej schließlich die Stille, indem er wieder zum Reden ansetzte.

„Beim Treffen hat Shen versucht, mich zu töten. Offenbar kümmern ihn auch unsere geschäftlichen Beziehungen kaum noch mehr. Oder aber er wollte mich auf die Probe stellen, ob ich noch fit genug bin, um ihm die Stirn zu bieten und ihm ein ebenbürtiger Gegner zu sein.“

„Das ist doch Irrsinn!“ rief Araphel und schüttelte den Kopf. „Wieso tötet er seine besten Geschäftspartner? Das würde ihm doch mehr schaden als nützen. Wo liegt darin die Logik? So geht doch kein vernünftiger Boss vor.“

„Er ist auch kein Mafiaboss“, erklärte Sergej und blieb gelassen. Es wirkte fast schon unheimlich, wie ruhig er war angesichts der Tatsache, dass er knapp einem Mordanschlag entgangen war. „Er ist ein Wolf im Schafspelz, der die Mafia nur für seine Zwecke missbraucht. Und dabei kann er seine Rolle nahezu perfekt spielen. Allerdings hab ich ihn gleich schon zu Anfang durchschaut und deshalb will er mich loswerden, weil ich ihm offenbar zu gefährlich bin. Aber da muss er früher aufstehen. Er ist ja nicht der Erste, der mich umbringen will und mit Sicherheit nicht der letzte. Tja, der Posten eines Bosses ist und bleibt eben ein Damoklesschwert. Und wenn wir nicht Acht geben, wird die Schlange alles verschlingen und immer weiter wachsen, bis sie die ganze Welt umspannt.“

Hier aber stieß Araphel einen ungläubigen Laut aus und fügte hinzu „Das Glaubst du doch wohl selbst nicht. Es ist unmöglich, dass der Kerl weltweit so eine Kontrolle erlangen könnte.“

„Vielleicht hast du Recht und es geht der Schlange nicht ums Wachstum, sondern einfach nur ums Fressen. Darum will ich dir raten: gib Acht auf dich und biete ihm keine Angriffsfläche. Denn wenn du es tust, wird die Schlange dich mit ihrem ganzen Körper umspannen und dich mit ihrer ganzen Kraft an sich binden und dann erbarmungslos zerquetschen. Ich sage dir nicht, dass du deine Rache vergessen sollst. Es wäre nur ein Zeichen von Schwäche für uns, wenn wir solche Dinge stillschweigend hinnehmen, ohne es unseren Feinden gebührend heimzuzahlen. Ich sage immer, dass Rache im Allgemeinen keine Lösung ist, ebenso wenig wie keine Rache. Menschen brauchen die Rache, um sich Gerechtigkeit zu verschaffen, das war schon immer so gewesen. Aber man darf sich nicht zu sehr hineinsteigern, ansonsten verlieren wir noch unseren Blick fürs Objektive und das ist sehr gefährlich. Denn blind hast du keine Chance gegen Shen. Zwar denken meine Leute, ich könnte es locker mit ihm aufnehmen, aber sie irren sich. Ich kann ihn lediglich in seine Schranken weisen, aber vernichten kann ich ihn nicht. Vor fünfzehn Jahren hätte ich das vielleicht noch geschafft. Naja, das bringt uns aber auch nicht weiter. Die beste Art, sich an seinem Feind zu rächen ist die, besser als er zu werden. Ich habe Kontakte zu einem Drogenring in Russland. Das sollte dir eine kleine Hilfe meinerseits sein, um deine Macht weiter zu festigen und dir ein zusätzliches Standbein zu verschaffen.“

Damit reichte Sergej ihm unauffällig einen Zettel mit den Kontaktdaten.

„Könntest du mir im Gegenzug deinen wunderbaren Informanten ausleihen? Ich wollte da ein paar Dinge in Erfahrung bringen, für die ich seine Hilfe bräuchte.“

„Klar, das sollte kein Problem darstellen. Aber sag mal… warum machst du mit diesem Kerl eigentlich Geschäfte, wenn du mich gleichzeitig unterstützt, um ihn zu Fall zu bringen? Mir kannst du ja erzählen, dass du mir hilfst, weil du meinem Vater was schuldest, aber du ziehst deinen Profit aus Shen und demnach wäre es wiederum von Nachteil für dich, wenn er wegfällt. Es sei denn, du nutzt unsere Fehde aus, um dir seine Geschäfte unter den Nagel zu reißen und deine eigene Macht auszubauen, was wiederum bedeutet, dass ich nur ein Mittel zum Zweck für dich bin. Das würde dich nicht zu einem Fuchs machen, sondern zu einer Hyäne, die sich über die Kadaver von Beutetieren her macht, die bereits von Raubtieren erlegt worden ist.“

Araphel warf Sergej einen misstrauischen und zugleich prüfenden Blick zu, doch der Patriarch lächelte nur selbstsicher und konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.

„Nun, du hast sowohl Recht als auch Unrecht, mein Junge. Ich unterstütze dich hauptsächlich deswegen, weil ich deinem alten Herrn versprochen habe, mich um dich und deine Schwester zu kümmern, sollte er der Triade zum Opfer fallen und ich bin ein Mann, der sein Wort hält. Selbst als Mafioso sollte man sich zumindest seine Ehre bewahren. Aber was hätte ich denn davon, wenn die Triade aus Boston vertrieben ist und sowohl das Rotlichtviertel als auch Chinatown an irgendwelche kleinen Fische gehen und mir ein gutes Geschäft abhanden kommt? Ich bin in erster Linie Geschäftsmann, vergiss das nicht. Wer Schulden bei mir hat, der muss sie abbezahlen. Und wenn er das nicht kann, muss er entweder seinen Körper oder seine Organe verkaufen. Und warum sollte ich die Triade vernichten, ohne mir meinen Vorteil aus dem Geschäft zu ziehen? Selbst aus einem räudigen Schaf kann man noch ein Büschel Wolle gewinnen. Du solltest das auch machen. Ich würde mich also nicht unbedingt mit einer stinkenden Hyäne vergleichen lassen, sondern viel eher mit einem Krokodilwächter. Ich unterstütze dich und nehme im Gegenzug das, was ich selber brauche. So funktioniert letzten Endes unsere Zusammenarbeit. Die Einflussgebiete der Yanjingshe sind deine Hauptbeute, was also auch Chinatown betrifft. Die Rotlichtviertel hingegen sind die Würmer und Parasiten, von denen ich mich hingegen ernähren werde, weil du damit sowieso nichts anfangen willst. Spätestens seit diesem Vorfall von vor vier Jahren. Es ist ein unangenehmes Kapitel für dich, mit dem du dich genauso wenig befassen willst, wie mit dem Menschenhandel, von dem letztendlich ich lebe. Also ist es letztendlich nur fair, wenn ich Shens Bordelle und Nachtclubs erhalte und du dafür Chinatown. Mit den Asiaten kann ich ohnehin nichts anfangen. Für mich sehen die eh alle gleich aus.“

Zuerst schien es, als würde sich Wut in Araphel breit machen, doch stattdessen erwiderte er nur das selbstsichere Lächeln seines Mentors und mit einem Handschlag besiegelten sie ihre Abmachung.

„Sergej, du machst deinem Titel als Patriarch und alter Fuchs wirklich alle Ehre.“

„Tja, ich weiß eben meine Brötchen zu verdienen. Und solange wir uns bei unseren Geschäften nicht in die Quere kommen, besteht auch kein Anlass, dass sich an unserer Freundschaft etwas ändert.“

Damit kehrten sie wieder zu ihren Wagen zurück. Sergej hätte wohl noch eine Verabredung mit seiner Verlobten (er gedachte nämlich trotz seines Alters ein drittes Mal zu heiraten) und Araphel hatte auch einige Dinge, die er zu erledigen hatte.
 

Sam erwachte langsam aus einem sehr tiefen Schlaf und fühlte sich ziemlich gerädert. Er hatte einen seltsamen Traum gehabt, den er erst nicht so wirklich deuten konnte. Er hatte von einem schwarzen Löwen geträumt, der aus zahlreichen Wunden blutete. Sein lautes Brüllen war ihm durch Mark und Bein gegangen und da war noch eine Schlange gewesen. Sie war so gewaltig, dass man sie kaum noch als Schlange bezeichnen konnte. Viel größer als eine Anakonda und ihr Körper war dicker als ein Baumstamm. Immer und immer wieder schlug der Löwe seine Krallen in den Körper der Schlange, doch er hinterließ nicht einmal Kratzer bei ihr. Stattdessen riss die Schlange nur ihr Maul auf, ließ ein gefährliches Zischen vernehmen, was dem angriffslustigen Fauchen einer Katze nachkam. Immer und immer wieder schnellte der Kopf der Schlange vor und vergrub ihre Zähne in den Körper des Löwen und visierte dabei immer wieder seine Vorderläufe an, um ihn zu Fall zu bringen. Doch der Löwe kämpfte ungeachtet seiner Verletzungen immer weiter, um es mit der Schlange aufzunehmen. Sam hatte dieses grausame Schauspiel beobachtet und versucht, die beiden aufzuhalten und hatte immer wieder gerufen, dass sie damit aufhören sollten. Doch es hatte nichts gebracht. Die Schlange schnappte immer wieder nach dem Löwen, während der Löwe vergebens versuchte, ihren Kopf zu erreichen. Und als er dann nahe genug war, umwickelte die Schlange ihn und zerquetschte ihn. Im selben Moment biss ihr der Löwe ins Genick, woraufhin beide starben. Und in dem Moment, wo der Löwe noch während seines Todes ein letztes Mal sein Brüllen erklingen ließ, da war Sam auch schon aufgewacht. Zuerst war er völlig orientierungslos, denn als er die Augen öffnete, fand er sich selbst gar nicht die grauen Betonwände des Kellers wieder. Und er lag nicht in diesem alten Bett. Der Raum war hell und als er sich aufsetzte, erkannte er, dass er sich in einem gewöhnlichen Zimmer befand. Es gab Schränke und auch ein Fenster. Was war nur los? Wieso war er hier? Träumte er noch? Nein, das hier fühlte sich viel zu real für einen Traum an. Araphel hatte ihn offenbar aus einem unerklärlichen Grund in ein richtiges Zimmer verlegt, oder aber es war der Hilfe dieses Doktors zu verdanken. Sein erster Gedanke war, die Gelegenheit gleich beim Schopf zu packen und zu verschwinden. Also stand er auf und eilte zum Fenster hin. Tatsächlich ließ es sich öffnen und zu seinem Glück war er gerade mal im ersten Stockwerk. Unter ihm befanden sich Sträucher und Büsche. Wenn er also raussprang, würde er sich allerhöchstens ein paar Prellungen und Kratzer holen. Eine bessere Gelegenheit konnte man ihm kaum bieten. Schnell kletterte er auf den Fenstersims und wollte sich schon dem Abstieg widmen, da durchfuhr ihn plötzlich ein heftiger Schlag, der jeden Muskel in seinem Körper verkrampfen ließ. Es war ein Stromschlag, der ihn fast an den eines Tasers erinnerte. Er verlor augenblicklich die Kontrolle über seinen Körper, der unter schmerzhaften Krämpfen unkontrolliert zu zucken begann und er wäre schlimmstenfalls noch hinuntergefallen, wenn ihn da nicht jemand am Kragen gepackt und zurückgezogen hätte. Etwas ungeschickt fiel er zu Boden und sogleich hörten auch die Stromstöße auf.

„Oi, ich deiner Stelle würde das lieber lassen. Du kriegst nur eine gewischt, wenn du abzuhauen versuchst.“

Sam blieb erst mal stöhnend liegen und brauchte einen Moment, um wieder ein Gefühl in seinem Körper zu bekommen. Er erkannte einen Mann mit dunkelrot gefärbtem Haar, der einen Hut trug und eine Zigarette rauchte. Den Gesichtszügen nach war er Asiate.

„Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte er und bekam sogleich auch schon eine Hand gereicht, die er annahm. Der Mann half ihm wieder hoch und brachte ihn zum Bett.

„Mein Name oder besser gesagt mein Deckname ist Morphius Black. Du hast ja schon von mir gehört.“

Etwas ungläubig starrte Sam den Mann an, der einen eher desinteressierten und etwas zynischen Eindruck machte, so als wäre er nicht gerade an Smalltalk interessiert. Er konnte nicht glauben, dass das wirklich der Morphius Black war. Noch nie hatte er ihn persönlich getroffen und es war auch schwierig, ihn persönlich zu treffen, denn er zog es vor, möglichst anonym seine Informationen weiterzugeben. Und nun stand dieser leibhaftig und wie selbstverständlich vor ihm. Das ließ nur einen Schluss zu und auch wenn Sams Hirn noch ein wenig geröstet war, schnallte er ziemlich schnell, was Sache war.

„Du bist Morphius? Dann bedeutet das, dass dieser Hinterhalt deine Schuld war?“

„Schuld würde ich es nicht nennen. Ich hab lediglich die Anweisungen befolgt, die ich erhalten habe und mehr nicht.“

„Dann arbeitest du für die Mafia? Aber ich dachte, du würdest ausschließlich der Polizei helfen.“

Morphius blies eine Nikotinwolke aus und starrte Sam mit Augen an, die ihn im Moment irgendwie an die einer grimmigen Katze erinnerten. Anders konnte man es einfach nicht beschreiben. Irgendwie machte dieser Kerl den Eindruck, als würde ihm alles am Arsch vorbeigehen, oder als würde ihm alles auf die Nerven gehen.

„Wer sagt, dass ich nur der Polizei helfe? Ich verkaufe Informationen an den, der welche haben will und ob es nun ein Cop oder ein Krimineller ist, ist nicht mein Bier. Aber dass ich für die Mason-Familie arbeite, ist korrekt. Seit zwei Jahren schon, wenn du es genau wissen willst.“

Sam konnte es nicht glauben, dass jener Informant, auf den die Bostoner Polizei baute, so gestrickt war und tatsächlich sogar gegen die Polizei arbeitete. Dabei hatten Marco und die anderen immer so positiv von ihm gesprochen und dank seiner Hilfe unzählige Verbrecher schnappen können. Und dann stellte sich jetzt heraus, dass Morphius Black nicht den leisesten Hauch von Prinzipien hatte? Das war in Sams Augen einfach nur unvorstellbar und vor allem unverzeihlich. Wie konnte ein solcher Mensch nur ehrlos sein?

„Und ich habe immer gedacht, du wärst ein Informant mit Prinzipien, weil die Polizei dank dir so viele Verbrechen aufklären konnte. Und jetzt stellt sich heraus, dass du ein ehrloser und geldgeiler Kleinmafioso bist?“

„Willkommen in der Realität“, gab Morph nur zurück und begann sich am Ohr zu kratzen. „Ist doch egal, für wen ich arbeite. Ob nun für die Cops oder die Mafia, keiner von denen hat eine weiße Weste. Die Polizei ist nicht so toll, wie du es dir in deiner naiven Welt ausmalst. Die Realität sieht nun mal so aus, dass sie ziemlich korrupt ist und die meisten von denen ohnehin von der Camorra-Familie und der Yanjingshe bestochen werden. Auch die Mason-Familie hat viele Kontakte. Oder was glaubst du, warum dein bester Freund dir den Job mit der Beschattung aufs Auge gedrückt hat? Ganz einfach: weil er seinen eigenen Arsch retten wollte.“

Ja, das hatte auch schon Araphel gesagt, aber so ganz wollte Sam das einfach nicht glauben. Marco und seine anderen Freunde waren ehrliche Menschen und er wollte einfach nicht glauben, dass sie als Polizisten wirklich so korrupt waren, dass sie ihn einfach an die Mafia verraten würden. Doch dann warf Morphius ihm einen Umschlag aufs Bett mit den Worten „So langsam solltest du der Realität ins Auge sehen. Boston ist ein verdammt heißes Pflaster geworden und so etwas wie Aufrichtigkeit und Prinzipientreue wirst du hier kaum finden. Marco Illes hat hohe Schulden bei illegalen Pokerrunden gemacht und steht seitdem in der Schuld der Mason-Familie. Und dein Bruder macht gemeinsame Geschäfte mit der Yanjingshe, indem er Bestechungsgelder annimmt und er hat dafür vor vier Jahren eine 20-jährige Studentin an die Yanjingshe verkauft. Deine anderen Kumpels Joe Banner, Tyson Dyer und Nigel Bless sind in Drogengeschäfte verwickelt. Das halbe Polizeirevier ist ein einziger korrupter Sauhaufen und du gehörst leider zu denen, die verraten wurden, damit die ihren Arsch retten konnten. Du kannst es noch so oft abstreiten und in deiner heilen Welt leben, oder einfach mal der Realität ins Auge sehen und akzeptieren, dass sie dich verraten haben. Ich mach das hier nur, weil du die Wahrheit wissen solltest und endlich aus deinem Traumland aufwachst. Du hast wirklich tapfer gekämpft, um deine Ideale und Prinzipien zu verteidigen, aber letzten Endes sind dir jene in den Rücken gefallen, denen du vertraut hast und die du für deine Freunde gehalten hast. In der Hinsicht hast du wirklich mein Mitgefühl. Glaub nicht, dass es mir leicht gefallen ist, dir das anzutun. Zu hören, dass die eigenen Freunde und die eigene Familie bereit ist, jemanden zu verraten, um sich selbst zu retten, ist wirklich das Allerletzte und geht sogar mir gegen den Strich.“

„Warum sollten sie mich verraten? Wieso ausgerechnet ich?“

„Das ist eine komplizierte Kiste“, erklärte Morphius und blies nun einen Rauchkringel aus, während er gedankenverloren gegen die Wand zu starren schien. „Dein älterer Bruder Lawrence hat es sich ziemlich mit Araphel verscherzt und aus Rache hat er dich in die Falle gelockt. Du musst wissen: Araphels Schwester war mit deinem Bruder zusammen. Sie waren ein Paar, aber Lawrence hatte Ärger mit der Yanjingshe und hat die Schwester daraufhin an die Yanjingshe verraten. Und die ist durch diese Leute zu Tode gekommen.“

Sam wich das Blut aus dem Kopf und ihm war, als würde er den Halt unter den Füßen verlieren. Sein Bruder sollte den Tod eines Menschen verantwortet haben? Nein, das würde Lawrence doch niemals tun! Zumindest hätte er das noch zu Anfang gesagt. Aber inzwischen begann er selbst zu zweifeln, dass da gar nichts dran war. Morphius Black war ein brillanter Informant und er irrte sich mit seinen Informationen nie. Er musste wissen, was passiert war und welchen Grund sollte er haben, das Ganze hier zu erfinden? Es wäre eine zu schlechte Lüge und er hätte sich jederzeit eine bessere einfallen lassen können. Und nun verstand Sam auch, was der Grund war, wieso es ausgerechnet ihn treffen musste: es war ein Ausgleich. Lawrence hatte Araphel seiner Schwester beraubt und nun nahm er diesem Mann ebenfalls einen Geschwisterteil weg. So war die Vorgehensweise der Mafia. Aber das erklärte nicht, warum er jetzt hier war. Als er Morphius diese Frage stellte, erklärte dieser: „Araphel hat seine Pläne halt geändert. Anstatt, dass er mit dir kurzen Prozess macht, will er dich am Leben lassen, aber dafür wirst du hier bleiben müssen. Und da der Keller wohl auf Dauer keine vernünftige Lösung ist, hat er entschieden, dir ein richtiges Zimmer zur Verfügung zu stellen. Allerdings unter gewissen Bedingungen.“

Damit tippte er auf ein Halsband, das Sam trug. Da dieser aber schon durch die Halsfessel im Keller so sehr daran gewöhnt war, hatte er erst nicht realisiert, dass er immer noch so etwas um den Hals trug.

„Das ist eine andere Halsfessel als die im Keller. Funktioniert eigentlich fast genau nach dem Prinzip einer Fußfessel. Du kannst dich in einem bestimmten Radius bewegen, nämlich innerhalb des Hauses und dem Garten am Festflügel. Da du das äußerste Zimmer im Ostflügel hast, kannst du nicht aus dem Fenster klettern. Wenn du den Radius verlässt, kriegst du ordentlich eine gewischt wie bei einem Hundehalsband. Zudem verfügt die Halsfessel über ein GPS, mit dem man dich orten kann, solltest du dennoch abhauen. Falls du versuchst, die Fessel zu zerstören oder zu beschädigen, wird ein ziemlich lautes Alarmsignal gesendet, das genauso laut und nervtötend ist wie die Alarmanlage eines Autos. Solltest du dennoch das Halsband zerstören und abhauen, wird ein versteckter Sender ein GPS-Signal senden, sodass man dich sofort wiederfindet. Das sind die Rahmenbedingungen, dass du nicht im Keller versauern musst. Dafür hast du wesentlich mehr Bewegungsfreiheiten und vor allem deutlich mehr Komfort. Ach ja, bevor ich es vergesse: Araphel wies mich an, dir eine Zusatzinfo auszurichten.“

Damit holte Morphius noch einen versiegelten Briefumschlag hervor und gab ihn Sam.

„Solltest du Kontakt nach draußen aufnehmen, werden die Bilder im Netz landen und dann wirst du dich nirgendwo mehr blicken lassen können. Das sind seine Worte. Keine Bange, ich hab nicht reingeschaut. Auch ein „ehrloser“ Informant wie ich hat Prinzipien.“

Zögernd öffnete Sam den Umschlag und als er die Fotos sah, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Auf den Fotos war er abgebildet. Nackt, an der Halsfessel gekettet, gefesselt und in einer mehr als eindeutigen Situation. Entsetzt starrte er auf die Bilder. Wenn diese an die Öffentlichkeit gerieten, wäre das sein Ende.

„Was verspricht er sich davon, mich hier gefangen zu halten? Und wieso hat er mich in dieses Zimmer gesteckt und nicht im Keller gelassen?“

„Er hat eben seine Gründe. Eigentlich plaudere ich nicht mehr als nötig über meinen Boss aus, aber Araphel ist nicht der schlechte Mensch, für den man ihn halten mag.“

„Und warum arbeitest du für die Mason-Familie?“

„Tja, das hat verschiedene Gründe. Der Hauptgrund ist der, weil die Mason-Familie mir, meiner Tochter und jenen, die mir nahe stehen, Sicherheit garantieren.“

„Sicherheit vor wem?“

„Na vor wem wohl? Vor der Yanjingshe. Sie haben versucht, mich abzuknallen, indem sie einen gekauften Polizisten mit meiner Ermordung beauftragt hatten. Allerdings bin nicht ich dabei draufgegangen, sondern meine Ex-Frau, mit der ich zu dem Zeitpunkt unterwegs gewesen war. Aus diesem Grund haben sich auch viele andere der Mason-Familie angeschlossen: weil sie entweder aus der Triade ausgestiegen sind oder anderweitig verfolgt werden. Denn da Shens Einfluss sehr weit in der Polizei reicht und er sogar Beziehungen zu Politikern hat und diese auch ausnutzt, wird er das ausnutzen, um seine Feinde zu verfolgen und zu töten. In solchen Zeiten ist auf die Polizei kein Verlass. Aus diesem Grund schließt man sich lieber dem Feind seines Feindes an, weil dieser einen besser beschützen kann. Du solltest dich also vorsehen. Denn es ist weitaus gefährlicher, sich Shen zum Feind zu machen und wenn er schon deinen Bruder im Visier hat und erfährt, dass dieser dich an Araphel verkauft hat, wirst du der nächste sein, den er jagen wird. Überlege dir also, was du tun willst. Ich für meinen Teil kann gerne darauf verzichten, in einer Stadt zu leben, die von einem Psychopathen regiert wird. Natürlich respektiere ich auch deine Ideale und deine Bemühungen, das organisierte Verbrechen in Boston zu bekämpfen. Aber du solltest dein Augenmerk lieber auf die größere Bedrohung richten. Wenn die Yanjingshe erst einmal Araphel gestürzt hat, wird ihm niemand mehr standhalten können. Der Patriarch ist alt und kein Kämpfer mehr, die Polizei ist längst unter Shens Kontrolle und darum würde ich dir anraten: überdenke deine Vorgehensweise. Ist es wirklich sinnvoll, einen Pfeiler einzureißen, wenn über dir dann das gesamte Gebäude zusammenbricht? Unser Ziel ist es, Shen aus dem Weg zu räumen und die Yanjingshe zu zerschlagen, um Rache zu nehmen und seinem Terror ein Ende zu setzen. Jeder in der Mason-Familie hat große Verluste durch die Yanjingshe erlitten. Am meisten Araphel. Naja, ich hab auch erst mal genug gequasselt. Dir raucht sicherlich schon die Birne. Bevor ich mir noch endgültig den Mund fusselig rede, lass ich dich erst mal alleine. Araphel kommt sowieso gleich und da will er sicher nicht, dass ich noch hier bin.“

Bevor Morphius aber ging, holte er noch etwas aus seiner Tasche und warf es Sam zu. Es war eine Tafel Schokolade. Dabei sagte der Informant noch „Sorry übrigens für die linke Tour, betrachte es als kleine Wiedergutmachung“, bevor er ging. Sam sah ihm nach, bis er durch die Tür verschwunden war, dann sah er sich die Schokoladentafel an. Als er sie öffnete, fand er einen Schlüssel, der darin versteckt worden war.

Verwirrt runzelte der Detektiv die Stirn. Wozu der Schlüssel wohl gut war? Jedenfalls nicht der für das kleine Vorhängeschloss am Halsband, das stellte er bei einem Test schnell fest. Nein, es sah aus, als könnte man damit einen Raum aufschließen. Aber was bezweckte Morphius damit? Wollte er ihm irgendetwas Bestimmtes zeigen? Nun, dazu musste er wohl erst mal die passende Tür finden. Doch dazu kam er nicht, denn da betrat auch schon Araphel das Zimmer.

Narben

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Sex mit dem Ex

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Sex mit dem Ex Teil 2

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Lügen über Lügen

„Eine Lüge, die ein Leben erhält, ist besser als eine Wahrheit, die ein Leben zerstört.“
 

Aus Island
 

Da Sam am gestrigen Abend recht früh eingeschlafen war, nachdem er sich das erste Mal seit Tagen endlich mal wieder eine heiße Dusche gönnen durfte (sein Halsband hatte Araphel hierfür abgenommen und es ihm danach wieder angelegt), war er am nächsten Morgen recht früh wach. Das Frühstück konnte er dieses Mal im Esszimmer einnehmen, wobei er Gesellschaft von Dr. Heian hatte, der ein wenig übernächtigt wirkte, als hätte er sich ein wenig übernommen. Es fühlte sich fast schon ungewohnt an, so frei durch ein fremdes Haus zu gehen, wenn man überhaupt von einem Haus sprechen konnte, denn im Grunde war es eine riesige Villa. Viele der Räume waren offenbar Gesprächszimmer, in denen Araphel seine Geschäfte abwickelte, zudem erfuhr er in einem kleinen Gespräch von dem Arzt, dass hier auch ein paar Untergebene von Araphel lebten, die besonders von der Yanjingshe bedroht wurden. So wohnten auch Morphius Black und der Doktor hier, was den Detektiv doch erstaunte und er deshalb auch nach dem Grund fragte, vor allem weil er doch wusste, dass Dr. Heian kein Mitglied der Mafia war, sondern einfach nur Arzt. Dieser wich mit einer ernsten Miene Sams Blick aus und erklärte „Ich bin mit der Yanjingshe in Konflikt gekommen, als sie mich für spezielle ärztliche Dienste in Anspruch nehmen wollten. Da aber die dortigen Methoden mehr als fragwürdig und vor allem gefährlich waren, lehnte ich ab und da sie solche Menschen für gewöhnlich zum Schweigen bringen, hat Mr. Mason mir angeboten, in seinem Anwesen zu wohnen, um so vor der Yanjingshe sicher zu sein.“

„Was für Dienste denn?“

Doch Dr. Heian antwortete nicht darauf und man sah ihm an, dass er auf keinen Fall darüber sprechen wollte. Zumindest nicht mit jenen, die er kaum kannte. Also respektierte Sam vorerst diesen Wunsch und fragte stattdessen nach, wer denn noch hier lebte. Hier zeigte sich der Arzt um einiges gesprächiger.

„Da wäre zum einen Morphius Black, der aber gerade nicht im Haus ist, Mr. Mason selbst, meine Person und dann noch unsere Mechanikerin Christine Cunningham und ihre Assistenten Asha und Yin.“

„Du hast von mir gesprochen?“

Beide wandten sich um und Sam erkannte eine groß gewachsene Frau um die 30 bis 32 Jahre mit feuerrot gefärbtem Haar, die eine weiße Bluse mit hochgekrempelten Ärmeln trug, die ein wenig schmutzig war. Sie trug Handschuhe und hatte einen Werkzeuggürtel dabei. Sie machte einen sehr taffen Eindruck und gehörte nach Sams Ersteinschätzung zu der Sorte Frauen, die sich nicht so leicht von einem Mann unterbuttern ließen. Sie strahlte eine enorme Energie und großes Selbstbewusstsein aus. Sofort wanderten die hellbraunen Augen der Frau zu ihm und ein lebhaftes Lächeln spielte sich auf ihr Gesicht, wobei eine Reihe strahlend weißer Zähne zum Vorschein kam.

„Hey Doc, wer ist der Blonde da? Etwa ein Neuzugang?“

„Er ist ein persönlicher Gast von Mr. Mason“, erklärte Dr. Heian, woraufhin er Sam kurz anstieß und ihm zuflüsterte „Kein Wort dazu, okay?“

„Ein Ehrengast?“ fragte Christine überrascht, wobei sie Sam direkt mit einem Händegruß begrüßte, der aber verdammt fest war, sodass er fast das Gefühl hatte, als würde sie ihm die Hand zerquetschen.

„Freut mich sehr! Ich bin die Mechanikerin hier im Laden. Ich halte den Fuhrpark in Schuss, kümmere mich um alle Geschäfte, die mit Karosserien zusammenhängen und schraube in meiner Freizeit an Oldtimern rum. Hey, hast du Lust, dir mal ein paar alte Schätze anzusehen?“

Nun, eigentlich hatte Sam vor, sich dem mysteriösen Schlüssel zu widmen, den Morphius ihm da gelassen hatte, aber andererseits interessierte es ihn ja doch sehr, was für Schlitten die Nummer eins der Bostoner Unterwelt bei sich hatte. Also nahm er das Angebot an und ließ sich von Christine in die Werkstatt führen. Die Mechanikerin machte einen sehr sympathischen Eindruck und sie schien offenbar zu der lebhaften Sorte Mensch zu zählen. Kaum zu glauben, dass sie für die Mafia arbeitete. Und auch dass sie Mechanikerin war, sah man ihr irgendwie nicht an. Viel eher machte sie den Eindruck eines Rockstars auf ihn. Was ihm zudem auffiel, war ein leichter Südstaatendialekt. Vermutlich kam sie aus Mississippi oder Alabama. Als sie schließlich am Ziel angekommen waren, zeigte Christine ihm mit sichtlich stolzer Miene einen 58er Plymouth Fury in einer sehr eigentümlichen Rotweißlackierung. Sam, der ein klein wenig von Oldtimern verstand, begutachtete das Schmuckstück, welches sich in einem nahezu perfekt restaurierten Zustand befand und fragte nach, warum der Wagen diese seltsame Lackierung habe, denn seines Wissens nach war diese Serie nie in dieser Farbe produziert worden. Hieraufhin lachte die Südstaatlerin laut und erklärte „Das ist ein Nachbau von Christine, dem Fury aus Stephen Kings Roman. Meine Eltern haben mich quasi nach diesem Wagen benannt, darum ist der Wagen mein ganzer Stolz. Hab ihn selbst restauriert, nachdem ich ihn ziemlich angerostet von einem Schrotthändler abgekauft habe. Mein zweites Baby ist ein 54er Hudson Hornet, mit dem ich auch selbst oft unterwegs bin. Derzeit versuche ich, einen Rolls Royce aus dem Baujahr 1934 zu restaurieren. Das wird quasi meine sixtinische Kapelle. Aber ich schraub nicht nur an Motoren rum. Nee, weißt du: ich bastle auch hin und wieder mal technischen Schnickschnack zusammen. Wenn man als einzige Tochter neben drei älteren Brüdern und einem allein erziehenden Vater in einer Werkstatt aufwächst, hat man es quasi im Blut.“

Staunend begutachtete Sam den Fury und den Hornet und musste zugeben, dass das wirklich die Arbeit eines Profis war. Sie sahen fast wie neu aus und gerne würde er damit mal eine Runde drehen, nur um zu wissen, wie es sich anfühle, in so einem Oldtimer zu fahren. Aber darauf würde er wohl erst mal verzichten müssen, solange er dieses Halsband trug. Es war ja schon ein Glück, dass Christine ihn nicht darauf ansprach. Oder aber sie bemerkte es erst gar nicht, was aber doch etwas unwahrscheinlich war, denn so schwer zu erkennen war es nicht.

„Sag mal, wie kommt es eigentlich, dass du für die Mason-Familie arbeitest?“ fragte er schließlich und begann sich das Innenleben des Hornets unter der Motorhaube anzusehen.

„Wieso? Etwa weil Frauen nicht zur Mafia gehören?“ fragte die Rothaarige listig nach, doch er erklärte ganz souverän „Du scheinst mir vom Charakter her nicht der Typ Mensch zu sein, der sich auf kriminelle Geschäfte einlassen würde.“

„Hat sich halt ergeben“, erklärte sie und setzte sich auf einen Stuhl. „Mein Vater ist früh gestorben und meine Brüder versuchen, die Werkstatt am Laufen zu halten, haben dabei aber einen Riesenberg an Schulden gemacht. Louis war blöd genug, sich bei Kredithaien Geld zu pumpen und der Schuldenberg ist zu groß, da muss man halt Opfer bringen.“

„Und wieso hast du Ärger mit der Yanjingshe?“

„Ich hab denen ein paar Autos geklaut, um sie zu verkaufen und die Werkstatt zu retten“, antwortete sie ganz lapidar, wobei sie mit den Schultern zuckte. Ungläubig starrte Sam sie an und fragte sich, wie verrückt man sein musste, um dem gefährlichsten Menschen in Boston einfach so ein paar Autos zu klauen?

„Du… du hast der Triade Autos gestohlen?“

„Jep. Fünfzig Wagen in einer Nacht. Und ich hatte nichts außer einem Kugelschreiber dabei. Ich hab die Wagen schnell wieder verkauft, allerdings haben sie mich dann doch gefunden und Ärger gemacht, aber Araphel hat mich da wieder rausgeboxt.“

„Wo hast du ihn denn kennen gelernt?“

„Wir kennen uns schon seit unserer Jugend“, erklärte Christine mit einem fast schon stolzen Grinsen. „Er hat mit seiner Schwester bei uns in der Nachbarschaft gelebt und wir sind so etwas wie Sandkastenfreunde.“

Ein lautes Krachen hallte durch die Werkstatt und erschrocken zuckte Sam zusammen. Christine wandte sich um und sie sahen einen Jungen von schätzungsweise 20 Jahren. Er hatte ein sehr fein geschnittenes Gesicht mit asiatischen Zügen und hatte sein langes schwarzes Haar zu einem Kopf geflochten. Er hatte offenbar einen Werkzeugkasten fallen lassen und rief laut „Entschuldigung!“ als er sah, dass er den anderen wohl einen ziemlichen Schreck eingejagt hatte. Sofort winkte Christine den Jungen zu sich und erklärte Sam „Das ist Asha. Zwar ist er ein ziemlicher Schussel, aber er hat deutlich was auf dem Kasten. Yin hat heute ihren freien Tag und ist deshalb nicht da. Asha, das ist Sam. Er ist Araphels Ehrengast.“

„Freut mich!“

Mit einem freundlichen Lächeln reichte der Asiate ihm die Hand und erkundigte sich direkt „Hat Christine dir schon ihre Oldtimer gezeigt? Das macht sie mit jedem, der hier neu ist. Mich lässt sie da noch nicht ran.“

Sam bemerkte direkt, dass etwas mit Ashas Bewegungsablauf nicht stimmte. Sein Gang wirkte ein wenig humpelnd, so als könne er seine Beine nicht richtig bewegen. Christine bemerkte das auch und fragte direkt „Klemmt da wieder was?“

„Kann sein“, murmelte der 20-jährige mit einem Schulterzucken. „Irgendwie klappt das linke Bein nicht so wirklich. Kannst du mal drüberschauen?“

„Klaro, setz dich einfach hin.“

Damit stand Christine von ihrem Stuhl auf, damit Asha sich hinsetzen konnte. Dieser krempelte sein linkes Hosenbein hoch und entblößte dabei eine Prothese. Aus ihrem Werkzeuggürtel holte Christine einen Schraubendreher und begann nun an der Prothese zu werkeln. Doch etwas schien nicht so zu funktionieren, wie es sollte und so legte Christine den Schraubendreher beiseite und erklärte „Ich muss eben das Werkzeug holen. Bin gleich wieder da!“

Damit verabschiedete sich die Rothaarige vorerst und ließ Sam und Asha allein. Der Detektiv wandte sich dem Jungen zu und fragte „Wie ist das mit deinem Bein passiert?“

„Ich hab zwei Prothesen“, korrigierte der Asiate und zeigte ihm seine andere, wobei er erklärte „Das passiert, wenn man in die Fänge der falschen Mafia gerät. Christine hat diese Prothesen gebaut und mit denen kann man wirklich gut laufen und darum ist sie auch für die Wartung zuständig. Und? Hat sie dir schon von ihrer Diebeskarriere mit ihrer großen Schwester in Texas erzählt?“

„Hä?“ fragte Sam irritiert. „Schwester? Christine hat erzählt, sie hat drei Brüder.“

Sofort stutzte Asha und sah einen Moment verwirrt aus. Dann aber sagte er „Äh… entschuldige, da muss ich mich vertan haben. Sorry.“

Doch so ganz kaufte Sam ihm das nicht ab. Sein Gefühl verriet ihm, dass etwas ziemlich merkwürdig war. Schließlich aber kam Christine wieder zurück, nachdem sie anscheinend das richtige Werkzeug gefunden hatte und begann nun damit, Ashas Kniegelenk zu reparieren, wo offenbar etwas klemmte.

„Und Sam? Wie gefällt’s dir hier?“ erkundigte sich die Rothaarige, während sie weiter an der Prothese arbeitete. Der Detektiv überlegte sich erst ein paar passende Worte, da er nicht sonderlich Lust dazu hatte, jedem seine Geschichte unter die Nase zu reiben. Das war auch wirklich mehr als peinlich.

„Es ist ganz toll hier und das Haus ist auch ganz schön groß.“

„Ja, aber hier geht es trotzdem immer sehr lebhaft zu, insbesondere hier in der Werkstatt. Den Doc kennst du ja bereits und Morph sicher auch, oder? Die beiden liegen sich ständig in den Haaren, aber ich wette um meine Prothese, dass die beiden da heimlich was am laufen haben.“

„Du hast auch eine Beinprothese?“

Christine nickte und krempelte ihr linkes Hosenbein hoch und zeigte damit eine ähnliche Prothese, wie Asha sie hatte. Zu sehen, dass auch sie ein amputiertes Bein hatte, riss ihn erst mal ziemlich vom Hocker. War auch sie etwa Opfer der Yanjingshe geworden? Bevor er fragen konnte, verdeckte Christine ihre Prothese wieder und erzählte „Ist mir bei einer Reise durch Australien passiert. Ich bin bei einer Wanderung im Outback in eine Schlucht gestürzt und ein herunterfallender Steinbrocken hat mir dann das Bein zerquetscht. Zwei Wochen war ich in der Schlucht gefangen und hab mich von Regenwasser und Insekten ernährt, bis mich ein paar Jäger gefunden haben. Mein Bein haben die Ärzte aber nicht flicken können. Aber die Prothese ist echt klasse. Mit der habe ich Chuck Norris in seiner Kampfsportschule versehentlich mit einem Roundhouse Kick den Kiefer gebrochen.“

Sam konnte sich nicht helfen, aber irgendwie klang diese Geschichte doch sehr ähnlich nach dem Film „127 Stunden“. Und auch sonst klang das, was sie erzählte, ein bisschen hanebüchen. Ob sie gerne prahlte? Irgendwie war er sich nicht ganz so sicher, wie er Christines Charakter einordnen und was er von ihren Geschichten halten sollte. Und irgendwie ließ ihn die Sache mit Asha nicht los. Dieser hatte von einer Schwester in Texas erzählt und es hatte nicht den Eindruck gemacht, als hätte er etwas verwechselt. Er hatte genau gewusst, wovon er da sprach.

„Deine Geschichte erinnert irgendwie ziemlich stark an den Typen, der sich selbst den Arm amputiert hat.“

„Ja, witzig oder?“ Die Rothaarige lachte und legte nun das Werkzeug aus der Hand, nachdem sie mit der Arbeit fertig war. „Manchmal gibt es wirklich witzige Zufälle auf der Welt. Hey, hast du Lust gleich mal eine Runde mit mir in dem Fury zu fahren?“

Sam lehnte das Angebot dankend ab und blieb noch eine Weile bei Christine, da sie trotz ihrer etwas seltsamen Geschichten sehr sympathisch war und eine sehr aufgeschlossene und lustige Art besaß. Er ging ihr bei den Reparaturarbeiten zur Hand und er erzählte ihr von seiner gescheiterten Polizeikarriere und nutzte auch die Gelegenheit, um mal etwas näher über Araphel nachzufragen.

„Wie ist Araphel denn früher so gewesen?“

„Nicht sonderlich anders als heute“, erklärte sie, während sie sich den Restaurationsarbeiten an dem Rolls Royce widmete. „Er war schon immer ein absoluter Kämpfer und keiner hat es gewagt, sich mit ihm anzulegen. Nur seine Schwester durfte ihm die Meinung geigen. Ahava war quasi die wichtigste Person für ihn und die beiden waren ein Herz und eine Seele. Sie hat ihn immer unterstützt und war quasi seine rechte Hand, als sie nach dem Tod des alten Masons die Nachfolge übernommen hatten.“

„Wie ist Ahava gestorben?“

„Schlimme Sache. Sie ist von der Yanjingshe umgebracht worden und ihren Tod hat Araphel nie ganz verkraftet, vor allem weil er sich selbst die Schuld dafür gibt, dass er sie nicht beschützen konnte.“

„Und woher stammen die Narben auf seinem Rücken?“

Hier veränderte sich Christines Gesichtsausdruck schlagartig. Hatte sie vorher noch ein Lächeln auf den Lippen gehabt, war dieses nun endgültig verschwunden und es war schwer zu erkennen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Aber es sah fast danach aus, als hätte sie irgendein Bild vor Augen, das sie eigentlich nicht sehen wollte.

„Was für Narben?“ fragte sie zögernd, woraufhin Sam erklärte, dass er eine Brandnarbe und andere alte Verletzungen bemerkt hätte. Christines Gesicht verlor immer mehr an Farbe. Sie ließ einen Schraubenschlüssel fallen und für einen Moment war es so, als würde sie ins Leere starren. Dann aber schüttelte sie den Kopf und erklärte „Ich weiß nichts von Narben. Zwar hab ich ihn noch nie nackt gesehen, aber ich weiß, dass er keine hat.“

„Aber ich habe doch genau gefühlt, dass er am ganzen Rücken alte Narben hat und eine alte Brandwunde. Und irgendwie fühlte sie sich an, als… als wäre das eine Art Brandzeichen gewesen.“

Christines Hand begann zu zittern. Ihr Blick ging nun völlig ins Leere und das Entsetzen stand ihr für einen Moment ins Gesicht geschrieben. Dieser Zustand dauerte aber überraschenderweise nicht lange an. Sie blinzelte einmal und danach schien sie sich wieder komplett gefangen zu haben. Ihr freches Lächeln kehrte wieder zurück und völlig aus dem Konzept gerissen fing sie plötzlich an „Hab ich dir eigentlich schon erzählt, wie ich Araphel kennen gelernt habe?“

„Äh… wie bitte?“

„Das ist echt eine unglaubliche Geschichte. Ich war mit seiner Schwester Ahava gemeinsam auf der Uni und wir waren auf einer Verbindungsparty eingeladen. Die Feier ist aber ziemlich außer Kontrolle geraten und eigentlich wollten wir gehen, aber die Jungs waren schon stockbesoffen und wollten uns nicht gehen lassen. Ahava hat dann ihren Bruder angerufen, damit er sie abholen kommt und das hat ganz schön zum Streit mit den Jungs geführt. Schließlich gab es eine schlimme Prügelei und in dem Chaos ist dann ein Feuer im Verbindungshaus ausgebrochen. Die Flammen waren überall und es gab keinen Weg raus. Es war wirklich heftig. Es war heiß und überall hat es gebrannt, dann ist die Decke auf uns runtergekracht und dabei hat es auch mein Bein erwischt.“

Hieraufhin zeigte Christine ihm erneut die Prothese und fuhr direkt fort. „Araphel war es, der uns schließlich rausgeholt hat. Allerdings hat er sich dabei selbst einige Verletzungen zugezogen. Ich hab zwar dabei mein linkes Bein verloren, aber ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier.“

Sam starrte sie entgeistert an und wusste nicht, was er von dem ganzen Unsinn halten sollte. Was für eine Story tischte Christine ihm da gerade bloß auf? Wollte sie ihn etwa auf die Schippe nehmen, oder ihn einfach für dumm verkaufen?

„Was soll das jetzt?“ fragte er sie mit fast schon gereizter Stimme. „Und was war mit den geklauten Autos und den drei Brüdern?“

„Hä?“ fragte Christine nun ihrerseits und starrte ihn ratlos an. „Sorry Sam, aber welche drei Brüder und was für geklaute Autos?“

„Na du hast doch erzählt, dass du drei Brüder hast.“

„So ein Quatsch“, rief sie. „Ich hab keine Geschwister, ich bin Einzelkind und bin bei meiner Tante aufgewachsen.“
 

Diese ganze Geschichte war Sam nun doch zu blöd geworden. Er hatte echt keine Ahnung, was der ganze Schwachsinn bedeuten wollte und ob Christine das mit Absicht machte, um ihn zu verarschen. So dreist in einer Tour zu lügen, das musste er sich doch nicht gefallen lassen.

„Hey Sam, jetzt warte mal!“

Er blieb stehen und drehte sich um. Es war Christine, die ihm offenbar hinterhergelaufen war. Dafür, dass sie eine Beinprothese hatte, bewegte sie sich ziemlich schnell und konnte sogar mühelos rennen. Sie ergriff seinen Arm und hielt ihn fest.

„Was ist denn los? Hab ich irgendetwas Falsches gesagt oder deine Gefühle verletzt?“

„Jetzt hör doch auf, mich für blöd zu verkaufen“, gab er gereizt zurück und riss sich von ihr los. „Du tischst mir hier eine Geschichte nach der anderen auf und behauptest zuerst irgendwas, nur um später zu sagen, dass das gar nicht stimmt. Und auf so etwas habe ich keine Lust.“

Doch die Rothaarige blieb hartnäckig und stellte sich ihm in den Weg. Und ihr war anzusehen, dass es ihr sehr ernst war und sie das unbedingt klären wollte. Dieses Verhalten gab Sam nur noch umso mehr Rätsel auf. Warum nur war ihr das so wichtig, nachdem sie ihm nur Märchen aufgetischt hatte wie Baron Münchhausen?

„Ich verstehe nicht, was du damit meinst. Wann soll ich denn irgendwelche Unwahrheiten erzählt haben?“

„Na du hast mir doch erzählt, dass du drei Brüder hast, du die Familienwerkstatt retten willst und du deshalb der Yanjingshe Autos geklaut hast.“

„Wie bitte? Das ist doch kompletter Unsinn. Ich würde mich doch an so etwas erinnern. Wann soll ich das denn gesagt haben?“

„Vorhin erst, als ich dich auf Araphels Verletzung angesprochen habe, von der eine höchstwahrscheinlich ein Brandzeichen ist.“

Dieses seltsame Verhalten gab ihm Rätsel auf. Entweder war Christine wirklich eine absolut dreiste Lügnerin, oder aber sie hatte tatsächlich völlig vergessen, was sie vorhin noch gesagt hatte. Aber wie sollte das denn möglich sein, wenn sie sich doch an ihn selbst erinnern konnte? Irgendetwas schien da wohl mit Christines Gedächtnis nicht ganz zu stimmen. Sie machte wirklich den Eindruck, als könne sie sich nicht daran erinnern, was sie vorhin noch gesagt hatte. Dabei fiel ihm ein, dass sie sich ja sehr seltsam verhalten hatte, als sie auf Araphels Brandnarbe angesprochen und den Verdacht geäußert hatte, dass es ein Brandmal sein könnte. Irgendwie war das doch echt seltsam. Und dass sie ihr Bein bei einem Brand oder bei einem Sturz in die Schlucht verloren hatte, konnte er auch nicht so wirklich glauben. Nein, es musste etwas mit dieser Andeutung von Asha zu tun haben, der erzählt hatte, dass er seine Beine verloren habe, weil er in die Fänge der falschen Mafia geraten sei.

„Jetzt hör mal Christine: Asha hat mir schon angedeutet, dass er wegen der Yanjinshe seine Beine verloren hat. Ist es nicht vielleicht so, dass sie dir dasselbe angetan haben? Ich hab keine Ahnung, was vorgefallen ist, aber…“

Er sprach nicht weiter, denn da regte sich etwas in der Rothaarigen. Ihr Gesicht wurde aschfahl und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sah aus, als hätte sie Todesangst. Und dann plötzlich begann sie zu schreien. Erschrocken wich er vor ihr zurück, als sie plötzlich wie in Panik zu schreien begann und sich völlig verängstigt zusammenkauerte.

„Christine!“

Er versuchte, sie zu beruhigen, doch sie war völlig von der Rolle und ihr Schrei, der von nackter Todesangst zeugte, ging ihm durch Mark und Bein und erinnerte ihn für einen Moment an den Schrei einer Sterbenden. Unfähig, irgendetwas zu machen, blieb er ratlos stehen, bis Christines Augen sich verdrehten und sie bewusstlos zusammenbrach. Kurz darauf eilte Dr. Heian herbei, um Hilfe zu leisten.

Begegnung mit der Schlange

„Vergeltung ist die Angst vor der Folgenlosigkeit. Rache ist die Angst vor der Abwesenheit von Sühne. Abschreckung ist die Angst vor der Machtlosigkeit.“
 

Gerd Peter Bischoff, Schriftsteller
 

Durch den heftigen Schreck nach Christines Zusammenbruch hatte Sam einen Asthmaanfall erlitten und hatte sich erst mal setzen müssen, nachdem er dank seines Sprays wieder vernünftig Luft holen konnte. Da der japanische Arzt Christine ruhig stellen musste, durfte erst mal niemand zu ihr. Wenig später kam Dr. Heian zurück, nachdem er fertig war und sah bei Sam nach dem Rechten. Dabei erkundigte er sich auch danach, was vorgefallen war und als Sam ihm in kurzen und knappen Worten erzählte, was vorgefallen war, fragte er auch direkt nach, was denn mit Christine los sei und wieso sie ohnmächtig geworden war. Der 34-jährige atmete tief durch, nahm seine Brille ab und begann die Gläser zu putzen.

„Um es einfach auszudrücken: Christine ist psychisch krank. Sie leidet an einer speziellen Form der krankhaften Verdrängung. Man kann es spezifisch ausgedrückt als Realitätsverleugnung mit verzerrter Wahrnehmung von realen Ereignissen bezeichnen. In ihrer Vergangenheit hat sie schwere psychische Traumata erlitten, die sie nicht verkraften konnte. Darum begann ihr Verstand systematisch damit, jegliche Erinnerung sofort zu verdrängen, die mit diesen Traumata in Verbindung stehen. Und um diese Lücke in ihrem Gedächtnis zu füllen und zu verhindern, dass sie sich daran erinnern könnte, erfindet sie Lügen. Sie erfindet für sich selbst eine völlig neue Vergangenheit, die nichts als ein Lügenkonstrukt ist, aber sie glaubt daran, als würde sie sich wirklich daran erinnern. Dabei unterscheidet sich ihre Motivation stark von der eines Menschen, der krankhaft lügt. Krankhafte Lügner erzählen Geschichten, weil sie im Mittelpunkt stehen wollen und nach Aufmerksamkeit suchen, Christine hingegen erschafft sich ein Lügengehäuse, was ihre Vergangenheit betrifft, um nicht daran erinnert werden zu müssen, was ihr wirklich passiert ist.“

„Dann… dann hat sie nicht absichtlich gelogen?“

Dr. Heian nickte und setzte sich seine Brille wieder auf, bevor er fortfuhr.

„Christine ist nicht in der Lage, ihre Lügen als solche zu erkennen, stattdessen hält sie die Wahrheit für eine Lüge und sie versteift sich auf ihre Geschichten. Gerät sie jedoch zu sehr in Zweifel und beginnt dann ihre eigene Vergangenheit zu hinterfragen, kommen ihre wahren Erinnerungen offenbar wieder durch, was dann zu einer heftigen Schockreaktion bei ihr kommt. Das hat zur Folge, dass sie einen Nervenzusammenbruch erleidet und schlimmstenfalls das Bewusstsein verliert. Wenn sie mit der Wahrheit konfrontiert wird, kommt es zu einer erneuten Verdrängung. Ihr Verstand verdrängt sofort sämtliche vorherigen Lügen aus ihrem Gedächtnis und erfindet sich neue. Das heißt also: wenn Christine wieder aufwacht, wird sie sich an nichts von dem erinnern, was passiert ist und wenn du sie nach ihrer Vergangenheit fragst, wird sie etwas völlig anderes erzählen als zuvor und sie wird sich nicht daran erinnern können, was sie vorher noch erzählt hat. Sie ist ein Buch, das sich immer und immer wieder selbst neu schreibt, wenn das Lügengebäude in sich zusammenfällt.“

Als Dr. Heian das so alles erklärte, konnte Sam so langsam nachvollziehen, was passiert war. Als er das Brandmal angesprochen hatte, da hatte Christine so seltsam reagiert und das hatte wahrscheinlich schlimme Erinnerungen bei ihr geweckt, woraufhin ihr Verstand als Schutzreaktion alle gefährlichen Erinnerungen sofort wieder verdrängt hatte und sie sich ein neues Lügengebäude aufbaute, an welches sie glauben konnte. Darum hatte sie ihm plötzlich eine völlig andere Geschichte erzählt. Und das war dann wohl auch der Grund, wieso sie plötzlich nicht mehr wusste, was sie vorhin erzählt hatte. Doch eines verstand er bei der ganzen Sache nicht:

„Wenn Christine psychisch krank ist, dann muss sie doch in Behandlung, am besten in eine Klinik, wo man ihr helfen kann.“

„Das wäre längst geschehen, wenn sie nicht in Lebensgefahr schweben würde, so wie fast jeder hier, der in diesem Anwesen lebt. Christine wird von der Yanjingshe verfolgt und wenn sie sie finden, werden sie sie töten. Im schlimmsten Fall wird Christine wieder das gleiche Schicksal erleiden, was sie erst zu dem gemacht hat, was sie jetzt ist.“

„Was meinen Sie damit?“

Dr. Heian schwieg und trank einen Schluck Kaffee. Irgendwie schien es wohl in diesem Haus eine Art Tabuthema zu geben, über das niemand sprechen wollte. Aber was war es denn? Urplötzlich stand Dr. Heian auf, entschuldigte sich und ging einfach, ohne näher auf Sams Frage eingegangen zu sein. Ratlos stand der Detektiv da und wurde nicht schlau aus der Situation. Was war nur los mit allen und wieso die Geheimniskrämerei? Es brachte wohl nichts, da näher nachzufragen. Da ihm offenbar niemand eine Antwort geben wollte, entschloss er sich, lieber weiter wegen seinem Schlüssel nachzuforschen, den Morphius ihm zugesteckt hatte. Vielleicht hatte er ja Glück und er bekam hilfreiche Informationen. Auf dem Weg zu seinem Zimmer hörte er irgendwo Araphel mit einen seiner Untergebenen schimpfen. Er klang ziemlich wütend und darum beschloss Sam, ihm lieber erst mal aus dem Weg zu gehen, bevor er noch derjenige war, der als Prügelknabe herhalten musste. Als die laute Stimme jedoch näher kam, beschloss er, sich erst mal zu verstecken und flüchtete schnell in eines der Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Geräuschvoll atmete er aus und hoffte innerlich, dass Araphel jetzt bloß nicht nach ihm suchte und in dieses Zimmer kam. Doch da hörte er plötzlich eine andere Stimme im Raum, die ihm verriet, dass er nicht alleine war.

„Na sieh mal einer an. Sie machen ja den Eindruck, als wären Sie auf der Flucht.“

Die Stimme hatte einen chinesischen Akzent und klang aalglatt und gefährlich, dass dem Detektiv ein Schauer über den Rücken lief. Als er sich langsam umdrehte, sah er einen Mann auf einem Sofa sitzen, der traditionelle chinesische Kleidung trug. Seine dunklen Augen hatten etwas Lauerndes und eine sehr charismatische Ausstrahlung ging von ihm aus, die andere Menschen in ihren Bann ziehen konnten. Doch es war anders als bei Araphel. Dieser Mensch strahlte keine Kampfstärke aus, sondern man sah ihm sofort an, dass er ein sehr intelligenter und eiskalter Stratege war, der mehr auf Methode als auf bloße Kraft setzte.

Er erinnerte an eine giftige Schlange und mit einem Schlag wurde Sam bewusst, dass er niemand anderem als den Boss der Yanjinshe Triade Shen Yuanxian gegenüberstand. Ein freundliches Lächeln spielte sich auf die blassen Lippen und sogleich erkundigte sich der Chinese „Sind Sie nicht der Detektiv, der es auf Araphel Masons Kopf abgesehen hat? Ich habe von Ihnen des Öfteren mal in der Zeitung gelesen. Sam Leens, richtig? Es freut mich sehr, den Feind meines Feindes kennen zu lernen.“

„E… entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht stören.“

„Das macht nichts. Ich bin geschäftlich hier und Ihr plötzliches Hereinplatzen kommt mir durchaus gelegen. So kann ich die Wartezeit mit netter Gesellschaft überbrücken. Und was führt Sie in die Höhle des Löwen?“

„I… ich…“

Sam blieben mit einem Male die Worte weg und er wusste nicht, was er sagen, geschweige denn, wie er reagieren sollte. Wie denn auch, wenn der gefährlichste Mann von Boston mit ihm sprach, der zudem das Oberhaupt einer internationalen Verbrecherorganisation war? Ganz zu schweigen davon, dass Shens Leute seinen Vater auf dem Gewissen hatten und Lawrence angeblich mit ihnen zu tun hatte.

Als Shen das Halsband an Sam bemerkte, lächelte er amüsiert und schien sich schon seinen Teil denken zu können und das bestätigte sich auch, als er sagte „Ach ich verstehe. Der Löwe von Boston hat seine Beute doch noch in seine Klauen gekriegt und Sie zu seinem Spielzeug gemacht. Das sieht ihm wirklich ähnlich.“ Und als Sam etwas beschämt den Blick abwandte, winkte der Mafiaboss die Sache einfach ab und meinte „Wegen mir brauchen Sie keine Scham zu empfinden, Mr. Leens. Sie können von Glück reden, noch am Leben zu sein. Da Sie aber schon mal hier sind, kann ich auch gleich die Gelegenheit nutzen, um mit Ihnen zu reden, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben. Bitte setzen Sie sich doch.“

Shens Worte waren freundlich und sehr formell. Er hatte etwas an sich, das einen regelrecht hypnotisieren konnte, sodass man, ehe man sich versah, einfach seinem Willen gefolgt war, ohne es wirklich zu wollen. Und so hatte Sam dem Mafiaboss gegenüber Platz genommen, ohne sich recht bewusst darüber zu sein.

„Was genau wollen Sie von mir?“ fragte er zögernd und wieder hörte er da diese Stimme in seinem Kopf, die ihn laut und deutlich warnte: verschwinde von hier und rede nicht mit ihm. Das ist zu gefährlich!

„Ich weiß, dass Sie die Mafia verachten und Ihre Stadt aus den Fängen des organisierten Verbrechens befreien wollen, so wie Ihr Vater. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei insbesondere bei Araphel Mason, der Nummer eins der Bostoner Unterwelt. Alleine werden Sie es nicht mit einem Löwen wie ihm aufnehmen können, aber ich weiß, wie ich dem Löwen seine Krallen stutzen kann. Ich kenne Araphels verwundbare Stellen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis selbst er zu Fall gebracht wird. In Wahrheit ist der stolze Löwe nur noch ein Schatten seiner Selbst, der nur noch brüllen kann. Er wird vernichtet werden, das ist sicher. Die Frage ist nur, wann es soweit sein wird. Sie und ich, wir verfolgen das gleiche Ziel und ich bin gerne bereit, Ihnen meine Unterstützung zuzusichern, um Araphel Mason zu vernichten.“

Das Angebot klang verlockend, doch Sam war skeptisch. Wieso sollte Shen ihm helfen wollen? Da war doch etwas nicht ganz koscher.

„Warum will ein Mafiaboss dem Sohn einer Polizistenfamilie helfen, einen anderen Mafiaboss zu vernichten? Sie wollen mich doch nur benutzen, um selbst zur Nummer eins zu werden.“

„Und wenn es so wäre? Ich könnte Sie aus Ihrer misslichen Lage befreien und Ihnen den Schutz gewähren, den Sie brauchen werden. Und im Gegenzug helfen Sie mir, den Bostoner Löwen zu stürzen. So bekommen Sie was Sie wollen und ich bekomme, was ich will. Ein faires Geschäft.“

„Danke, aber ich lehne ab“, erklärte Sam sofort. „Ich mache keine Geschäfte mit der Mafia. Das ist gegen meine Prinzipien und ich werde sicherlich nicht dabei helfen, dass Sie noch mehr Macht über Boston bekommen, als Sie ohnehin schon haben.“

„Aber eine Entscheidung werden Sie wohl treffen müssen“, erklärte Shen gelassen. „Mein Angebot steht. Wenn Sie mir helfen, garantiere ich Ihnen, dass ich Araphel Mason endgültig vernichten werde und mit ihm auch den Patriarchen, der ohnehin viel zu altmodisch denkt. Und im Gegenzug verspreche ich Ihnen, dass Ihnen und Ihrem Bruder nichts passiert. Darum rate ich Ihnen, es sich noch mal gut zu überlegen. Immerhin hasst niemand auf der Welt die Mafia so sehr wie wir beide.“

Hier änderte sich das freundliche und fast schon warmherzige Lächeln, als ein eiskalter Funke in den Augen zu sehen waren. Die Augen einer Schlange, die ihre Beute anvisiert hatte und sie erbarmungslos umschlungen hatte, um sie zu zerquetschen. Sam hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sein Bruder… Araphel und Morphius hatten erwähnt, dass er Geschäfte mit der Yanjingshe machte und er von ihnen beauftragt worden war, Ahava Mason zu ermorden. Und nun drohte Shen, ihm etwas anzutun? Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und er stand auf, da ging auch schon die Tür auf und Araphel selbst kam herein. Seine Augen weiteten sich, als er Sam und Shen zusammen in dem Raum sah und für einen Moment glaubte der Detektiv, so etwas wie Entsetzen bei ihm zu sehen. Shen hingegen blieb vollkommen gelassen und hob die Hand zum Gruß.

„Ah, schon wieder zurück, mein lieber Araphel? Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich mir die Wartezeit damit vertrieben habe, ein wenig mit deinem Gast zu plaudern.“

Augenblicklich verfinsterte sich Araphels Miene. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er sah aus, als wolle er Shen auf der Stelle kalt machen. In seinen Augen funkelte der blanke Hass.

„Was hattet ihr während meiner Abwesenheit zu besprechen?“

„Ach über nichts Besonderes“, erklärte der Chinese unbeeindruckt von Araphels drohendem Ton. „Nur ein kleiner freundlicher Plausch. Und wie ich sehe, scheint es dir ganz gut zu gehen. Als du nicht zum Treffen kamst, war ich schon fast besorgt um dich. Du hast doch wohl nicht den Termin versäumt, weil du nachlässig wirst. Oder ist es vielleicht Angst?“

„Als ob ich vor jemandem wie dir Angst hätte! Was willst du überhaupt hier?“

„Ein Geschäft, wie ich schon sagte. Soweit ich weiß, hast du mir Ware gestohlen und die hätte ich gerne zurück. Und im Gegenzug bin ich bereit, dir als Ausgleich einen Jungen als Bezahlung da zu lassen, der seine Sache besser versteht, als dein kleiner Lustknabe, den du an der kurzen Leine hältst.“

Es war nichts als pure Bosheit, die Shen von sich gab. Obwohl er seinen freundlichen Ton behielt und nicht einen Moment etwas von seinem Lächeln einbüßte, spürte man dennoch das Gift, das er verschoss. Doch so ganz verstand Sam nicht, was Shen damit meinte, dass man ihm „Ware“ gestohlen haben soll. Araphel schien jedenfalls im Bilde zu sein.

„Als ob ich an einen deiner verkrüppelten Sexsklaven interessiert wäre, geschweige denn mich auf einem Deal mit dir einlassen würde.“

„Ach mein Lieber, du solltest dir wirklich mal angewöhnen, Berufliches und Privates voneinander zu trennen. Der Mord an deinem Vater war rein geschäftlich und ich bin fair und gebe dir die Chance, mein Eigentum zurückzugeben und bin sogar bereit, etwas dafür zu zahlen. Oder ist es so, dass du mir immer noch die Sache mit deiner Schwester vorwerfen willst?“

„Du verdammter…“ Das war nun endgültig genug für Araphel und er zog eine Pistole hervor. Im selben Moment reagierte Shen und holte etwas aus seiner Kleidung hervor. Alles ging so schnell von statten, dass Sam es kaum mit den Augen verfolgen konnte und erst im nächsten Moment sah er, dass Shen die Kugel mit einer Art Stahlfächer abgewehrt hatte. Dann sprang der Chinese auf, packte Araphels Hand, die die Pistole festhielt und drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihm im Anschluss das Gesicht zur Wand. Entsetzt sah Sam, wie leicht es für Shen gewesen war, ihn zu überwältigen und so langsam wurde ihm klar, wie gefährlich das Oberhaupt der Yanjingshe wirklich war. Er brauchte keine Leibwächter zum Schutz, er selbst war ein professioneller Killer.

„Du solltest mal langsam damit beginnen, den Tatsachen ins Auge zu sehen“, sprach Shen weiter und immer noch war sein Tonfall ruhig und gelassen. Es war keine Aggression und kein Hass in seinem Gesicht zu sehen. Selbst seine Augen wirkten vollkommen leer und das Einzige, was Sam sehen konnte, war Shens sadistisches Vergnügen. Ja, er ergötzte sich an Araphels Wut und seinen seelischen Wunden, die er ihm zugefügt hatte.

„Ich habe dir die Chance gelassen, deine Schwester zu retten. Du hast es nicht geschafft, ihr das Leid zu ersparen, was meine Leute ihr angetan haben und ebenso wenig warst du fähig, sie vor dem Tod zu bewahren. Und warst du es nicht, der gesagt hat, dass sie gar nicht deine Schwester ist?“

„Du hast mich damals dazu gezwungen und ein Spiel mit mir gespielt!“

Araphel versuchte sich loszureißen, doch Shen hielt ihn unerbittlich fest und das zeugte von einer enormen Kraft, die man ihm so nicht ansehen würde. Sam sah das Ganze mit Fassungslosigkeit an, wie Shen mit Araphel spielte und dessen Wut nutzte, um ihn immer weiter zu verletzen, weil er dessen wunde Punkte genau kannte.

„Du solltest aufhören, die Schuld immer nur bei anderen zu suchen. Der Einzige, der Schuld an Ahavas Tod hat, bist einzig und allein du. Du hast sie einfach sterben lassen. Und gib doch zu, dass du es insgeheim genossen hast, meinem Willen zu folgen und dich mir mit jeder Faser deines Körpers hinzugeben.“

Hierbei griff Shen ihm spielerisch zwischen die Beine und das war endgültig zu viel für Sam. In einer Kurzschlussreaktion schnappte er sich den auf dem Tisch stehenden Aschenbecher und warf ihn nach dem 42-jährigen. Dieser nahm sofort seine Hand weg, um den Gegenstand abzuwehren. Der Detektiv war selbst erstaunt, dass er so etwas wirklich gerade getan und Shen tatsächlich angegriffen hatte, doch allein zu sehen, dass dieser Araphel in einer so widerlichen Art und Weise anfasste, hatte ihn alle Vernunft vergessen lassen.

„Nehmen Sie gefälligst Ihre Hände von ihm!“

„Oho“, bemerkte Shen und lächelte amüsiert, wobei er sich wieder Araphel zuwandte. „Anscheinend hat dein kleines Betthäschen ja einen richtigen Beschützerinstinkt dir gegenüber. Es erstaunt mich, dass du ihn dir als Haustier hältst. Dabei war sein Bruder doch nicht ganz unschuldig an eurer Misere. Oder wirst du langsam doch weich?“

Araphel warf Sam einen kurzen Blick zu. Es war nicht ganz klar zu erkennen, was er dachte oder fühlte, aber dem Ausdruck in den Augen war so etwas wie Sorge, aber auch Ungläubigkeit und Fassungslosigkeit zu sehen. Und noch etwas anderes, nämlich Schuld. Sam beschlich allmählich das Gefühl, dass er mit seinem Eingreifen nicht sonderlich geholfen, sondern alles nur verschlimmert hatte. Denn nun war er in Shens Visier geraten und ob er es mit diesem Kerl aufnehmen konnte, wagte er zu bezweifeln. Mit einem Mal kam er sich verdammt schwach und klein vor, während Shen schon fast etwas von einem gewaltigen Berg hatte, den er nie und nimmer bezwingen konnte. Dieser Kerl zeigte nicht einen Moment lang Schwäche, keine Blöße, nicht einen winzigen Funken Angriffsfläche. Er erschien nahezu unantastbar zu sein und nun spürte Sam auch die Angst hochkommen. Ja, er hatte verdammt große Angst vor Shen. Hilfesuchend schaute er wieder zu Araphel, der nun auf ihn zukam und zuerst dachte er, dass dieser sich zwischen ihn und Shen stellen würde. Für einen Moment dachte er wirklich, dass Araphel ihn vielleicht tatsächlich in Schutz nehmen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen folgte ein kräftiger Schlag ins Gesicht, der ihn von den Füßen riss. Er stürzte rücklings zu Boden und sah für einen Moment Sterne vor Augen. Hatte Araphel ihn da gerade etwa wirklich geschlagen? Aber wieso?

„Wer hat dir eigentlich erlaubt, dich da einzumischen, du erbärmliches Stück Scheiße?“

Ein Tritt in die Magengrube folgte und vor Schmerz stöhnte Sam auf und krümmte sich auf dem Boden zusammen. Er verstand das nicht. Warum verprügelte Araphel ihn? Er hatte ihm doch nur helfen wollen, auch wenn es für ihn selbst mehr als verrückt klang. Was hatte er denn bloß falsch getan? Doch als ein weiterer Tritt in den Brustkorb folgte und er keuchend nach Atem rang, da dämmerte es ihm so langsam.

Araphel musste das hier tun. Indem er ihm geholfen und ihn beschützt hatte, hatte er Araphel vor Shen schwach erscheinen lassen. Wegen seinem Eingreifen wirkte es nun, als wäre der Bostoner Löwe nicht stark genug, um sich selbst wehren zu können. Und bei einem solchen Gegner wie Shen durfte er sich keine Schwäche erlauben. Darum musste Sam jetzt diese Strafe ertragen.

Schließlich aber raubte ihm ein Tritt gegen den Kopf endgültig das Bewusstsein, sodass ihm der Rest der Strafe erspart blieb.

Neue Gefühle

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Erschreckende Wahrheit

„Meine Hoffnungen schwinden! Auf einen groben Klotz setzen wir einen groben Keil – den Terror bekämpfen wir mit Terror – und den Gotteswahn mit Wahnvorstellungen.“
 

Georg Skrypzak, Restaurator und Aphoristiker
 

Nach einer ausgiebigen Dusche hatte Sam sich noch eine halbe Stunde ausgeruht, bevor er wieder zu seinem Vorhaben zurückkehrte, nach dem passenden Schloss für seinen geheimnisvollen Schlüssel zu suchen. Nachdem Araphel ihm zugesichert hatte, dass er Lawrence warnen lassen würde, konnte er ja erst mal beruhigt sein und sich um andere Dinge Gedanken machen. Um sicherzugehen, dass er dieses Mal ungestört sein würde, wartete er bis nach dem Abendessen, bevor er sich ans Werk machte. Da er zuvor schon große Vorarbeit geleistet hatte, dauerte seine Suche dieses Mal nicht ganz so lang und tatsächlich hatte er nach einer Viertelstunde eine Tür im Ostflügel gefunden, die abgeschlossen war und genau zu seinem Schlüssel passte. Es war eine recht unscheinbare Tür, die so aussah wie jede andere auch. Neugierig, was sich dahinter verbarg, schloss Sam sie auf und betrat den Raum. Zuerst rechnete er natürlich mit einer Art Büro mit vielen interessanten Akten und Dokumenten, doch stattdessen fand man hier ein Zimmer. Es war sehr schön und gemütlich eingerichtet und man sah sofort, dass hier eine junge Frau wohnen musste. Die Wände waren in einer sehr hellen Farbe gestrichen und auch die Einrichtung war sehr liebevoll gewählt worden. Auf dem Bett lag sogar ein Teddybär. In einem Regal fanden sich Bücher. Meist lustige Romanzen und auch bekannte Bestseller. In einem unteren Regalfach waren Fotos aufgereiht. Fotos, die ein hübsches Mädchen von 20 Jahren zeigte, welches fröhlich in die Kamera lächelte und lange blonde Haare und eisblaue Augen hatte. Sie war sehr schön und strahlte etwas Warmherziges und Munteres aus. Bei sich hatte sie einen knapp 27-jährigen jungen Mann, der eindeutig Araphel war und einen älteren Mann, den Sam als Stephen Mason erkannte. Dann war das also Ahava Mason, Araphels Schwester.

Es war wirklich erstaunlich, wie verschieden die beiden waren. Wie Tag und Nacht. Es gab sehr viele Bilder mit ihr und Araphel. Und man konnte wirklich sehen, wie nah sie sich gestanden hatten. Sie wirkten fast unzertrennlich. Aber dann gab es auch Fotos, wo Ahava mit jemand anderem zu sehen war. Ein groß gewachsener junger Mann mit blonden Haaren, die er ordentlich zurückgekämmt hatte. Überall hätte Sam dieses Gesicht wiedererkannt. Das war Lawrence… sein Bruder.

Entsetzt wich er vor dem Foto zurück und konnte es nicht glauben. Es stimmte also wirklich. Lawrence hatte tatsächlich eine Beziehung mit Ahava geführt. Morphius und Araphel hatten wirklich die Wahrheit gesagt. Das konnte doch nicht wahr sein. Wieso war Lawrence damals mit Ahava zusammen, ohne irgendjemandem ein Wort zu erzählen? Fassungslos starrte er auf das Foto, auf welchem die beiden in trauter Zweisamkeit zu sehen waren. Was war nur in Lawrence gefahren, dass er so etwas tat und Araphels Schwester verführte und dann an die Yanjingshe verkaufte? Das konnte doch alles nicht wahr sein…

Sam begann nun den Rest des Zimmers unter die Lupe zu nehmen, um nach mehr Antworten zu suchen. Dabei sah er auch einen Rollstuhl in einer Ecke stehen, was ihn schon verwunderte, denn Ahava hatte auf den Fotos nicht danach ausgesehen, als wäre sie querschnittsgelähmt. Eine Theorie war, dass sie eventuell einen Unfall gehabt hatte oder… hier musste er wieder an Asha denken.
 

„Das passiert, wenn man in die Fänge der falschen Mafia gerät.“
 

Eine schlimme Vorahnung überkam ihn und ihm drehte sich der Magen um. Allein der Gedanke an das, was Ahava eventuell passiert sein konnte, war schrecklich genug. Schnell verdrängte er diesen Gedanken wieder und suchte weiter. Dabei fand er schließlich in der Schreibtischschublade ein Tagebuch, welches zwar ein kleines Vorhängeschloss hatte, allerdings lag der Schlüssel praktischerweise direkt daneben. So konnte Sam das Schloss öffnen und einen Blick in das Tagebuch werfen. Wie sich herausstellte, hatte Ahava wirklich jeden Tag Tagebuch geführt und alles aufgeschrieben. Selbst recht belanglose Dinge waren aufgeschrieben worden und jeden einzelnen Gedanken hatte sie festgehalten. Sam las ihre Einträge, die davon erzählten, wie sie sich um ihren Bruder sorgte, der immer so viel arbeitete und dass sie mit Gewissensbissen kämpfte, weil sie ihn mit der Arbeit alleine ließ, weil sie mit der Mafia nichts zu tun haben wollte. Man konnte deutlich lesen, wie nah sich die beiden Geschwister gestanden hatten, denn sie schrieb sehr viel von Araphel, über ihre Adoptiveltern weniger. Aber zwischendurch schrieb sie auch über Lawrence, schwärmte regelrecht von ihm und erzählte, wie sie gemeinsame Nachmittage miteinander verbracht hatten, er sie oft von der Uni abgeholt und mit ihr was unternommen hatte. Wie es zwischen ihr und ihrer Familie zum Streit gekommen war, weil sie sich in einen Polizisten verliebt hatte. Doch davon hatte sie sich auch nicht beirren lassen und war mit ihm zusammen geblieben. Und dann, als er eine weitere Seite umblätterte, da tauchte plötzlich ein Bild auf. Kein Foto in dem Sinne, sondern eine Ultraschallaufnahme. Sam war, als würde sich ein Abgrund unter seinen Füßen auftun, als er erkannte, was das bedeutete: Ahava war schwanger gewesen… von Lawrence.

„Großer Gott…“, murmelte er leise und starrte fassungslos auf das Ultraschallbild. Ob Araphel gewusst hatte, dass seine Schwester schwanger war, als sie starb? Und hatte Lawrence irgendwelche Kenntnisse davon gehabt? Sam blätterte weiter, doch nach zwei Seiten endeten die Einträge. Knapp eineinhalb Monate fehlten und danach hatte Ahava nichts mehr geschrieben. Stattdessen hatte sie etwas gezeichnet, nämlich Augen. Unzählige weinende Augen, die die nächsten sieben Seiten ausfüllten. Ein Anblick, der fast schon verstörend war. Sam ahnte, dass die leeren Seiten den Zeitraum ihrer Entführung beinhalten mussten. Doch hatte Araphel nicht gesagt, dass die Yanjingshe Ahava ermordet hätte? Wieso hatte sie dann diese Augen in ihr Tagebuch gemalt? Nun, vermutlich hatte Araphel sie befreien können und Ahava hatte, belastet durch ihre Traumata, daraufhin diese unheimlichen Zeichnungen angefertigt. Und dann hatte die Yanjingshe sie wohl aufgespürt und getötet.

Sam blätterte weiter, doch da waren keine Augen mehr. Stattdessen hatte Ahava die Seiten mit einem Permanentmarker die Seiten schwarz gefärbt. Seite um Seite in ihrem Tagebuch. Sie hatte rein gar nichts mehr geschrieben, nur noch die Seiten geschwärzt, bis zur letzten Seite.

Dieser zweite Teil des Tagebuchs nach dieser langen Pause war wirklich verstörend. Das hatte nichts mehr mit der lebensfrohen und fürsorglichen Pädagogikstudentin zu tun. Es war so, als hätte etwas sie seelisch gebrochen. Doch was genau hatte Ahava erleben müssen, dass sie seelisch so gebrochen war?

„Beunruhigend, nicht wahr?“

Erschrocken durch die plötzliche Stimme drehte sich Sam um und sah Morphius, der gerade ins Zimmer kam. Wie immer rauchte er gerade eine Zigarette und sein mürrischer Katzenblick strahlte eine Spur Zynismus und Missmutigkeit aus, was aber recht täuschte. „Morph… was genau ist mit Ahava passiert?“

„Dasselbe, was Christine, Asha und Yin zugestoßen ist. Ist dir der Begriff Deep Web geläufig?“

„Ich hab davon gehört. Dort soll es teilweise viele illegale Foren über Vergewaltigungen, Morden, Pädophilie und sogar Sexsklavenhandel geben, weil es unglaublich schwer ist, diese Seiten zu finden.“

Der Informant nickte und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Sein Gesichtsausdruck wurde sehr ernst.

„Es gibt da eine Organisation, die sich Slave Shipping Services nennt. Gekürzt nennt man sie auch S.S.S. Wie der Name schon sagt, handelt es sich um eine Organisation, die Menschen verschleppt und als Sexsklaven ins Ausland verkauft. China, Thailand, Russland… es sind viele Länder betroffen und der Service betreibt auch eine Seite im Deep Web, die sich Slaves Who Can’t Run nennt. Seit 1991 haben sie bereits 700.000 Menschen als Sexsklaven verkauft. Jedes Jahr rund 21.000 Kinder.“

Jegliche Farbe wich aus Sams Gesicht, als er das hörte. So langsam begriff er nun, was das alles zu bedeuten hatte, doch glauben konnte er es nicht. Das ging weit über sein Fassungsvermögen hinaus und allein der Gedanke daran, dass es so etwas geben könnte, war abscheulich. Doch dann holte Morphius etwas hervor. Es war ein Ausdruck von einer Internetseite, die eine blonde Frau in schwarzer Unterwäsche zeigte, die auf einer Arztliege lag und keine Beine mehr hatte. Ein Mann, dessen Gesicht nicht auf dem Foto war und der einen weißen Kittel trug, stand neben ihr. Auf dem Ausdruck stand:
 

Willkommen bei der führenden Deep Web Seite für Sexsklaven. Sie können nicht laufen! Sie gehören immer Ihnen!

Die Preise lauten wie folgt:

Keine Beine: 4BTC

Zusätzliche Armamputation: 6BTC
 

16-jährige und jünger: 10BTC

Stimmbandentfernung: 0,5BTC
 

Und darunter war noch ein Bild und dieses würde Sam seinen Lebtag nicht vergessen. Es zeigte ein verängstigtes Mädchen, dem das linke Bein fehlte und welches mit einem verstörten Blick in die Kamera sah. Und neben dem Bild standen folgende Daten:
 

Alter: 9 Jahre

Amputationsstatus: Ein fehlendes Bein

Anmerkungen: Weitere Operationen evtl. geplant, um das rechte Bein zu entfernen.
 

Wenn Sie jetzt bestellen, amputieren wir für Sie zusätzlich die Arme.
 

Weitere Angebote:
 

Unter 16 (5,987)

16 – 20 (2,110)

21 – 40 (300)
 

Dem 28-jährigen wurde schlecht und mit Mühe konnte er sich zusammenreißen, doch dieses entsetzliche Bild von dem verängstigten kleinen Mädchen auf dem Bild wollte ihn nicht mehr loslassen.

„Wie… wie kann so etwas existieren, ohne dass die Polizei etwas dagegen unternimmt?“

„Weil das Profis sind“, erklärte Morphius und steckte die Bilder wieder ein. „Der Slave Shipping Service vertreibt eine eigene Software und um überhaupt dorthin zu kommen, braucht es einen tausendstelligen Link ohne Punkt. Und selbst mit normalem Geld wird nicht bezahlt, sondern mit so genannten Bitcoins, mit denen sämtliche illegalen Geschäfte betrieben werden, damit man es nicht zurückverfolgen kann. Das heißt: es ist unfassbar schwer, überhaupt an die Seite zu kommen. Meistens werden auf so genannten Onion Seiten die Links zu Seiten oder Videos gepostet. Teilweise posten die Leute auch Fotos über Tierquälerei. Das alles ist so weit verzweigt und kann nicht mit einer gewöhnlichen Suchmaschine gefunden werden. Es ist also fast unmöglich, die Betreiber der Seite aufzuspüren, weil sie ihre Spuren sehr gut verwischen und selbst sperren lassen sie sich nicht auf Dauer, weil es eben über eine eigene Software läuft. Inzwischen habe ich aber herausfinden können, dass die Yanjingshe zu den Hauptverantwortlichen gehört und auch den Vertrieb über amputierte Sexsklaven kontrolliert. Das heißt also: die Yanjingshe entführt Kinder aus aller Welt, größtenteils aber aus Asien, lässt ihnen von einem eigenen Ärzteteam die Gliedmaßen amputieren und gegen Aufpreis die Stimmbänder entfernen und verkauft sie dann. Christine, Yin und Asha sind ebenfalls Opfer dieser perversen Machenschaften geworden. Und letztendlich auch Ahava. Als die Yanjingshe sie entführte, amputierten sie ihr die Beine und den Rest kannst du dir vorstellen. Ahava wurde mehrfach als Sexsklavin versteigert und ist durch die Hölle gegangen. Araphel wurde ebenfalls von Shen gefangen gehalten, allerdings blieb er von der Prozedur verschont und wurde stattdessen gefoltert und genauso wie Ahava, Christine und die anderen als Ware der Yanjingshe gebrandmarkt. Es gelang ihm zwar, sich zu befreien und mit der Unterstützung der Mason-Familie eines der so genannten „Warenhäuser“ hochzunehmen und Ahava zu befreien, aber er hat nicht verhindern können, dass man ihr diese Dinge antat. Er holte sie wieder nach Hause, nahm Christine und die anderen mit sich und ließ sie in der Villa wohnen, wahrscheinlich weil er das Gefühl hatte, er müsse eine Schuld wieder gut machen, weil er nicht rechtzeitig gekommen war, um das Schlimmste zu verhindern. Er kümmerte sich Tag und Nacht um seine Schwester und versuchte alles, um sie wieder aufzubauen und ihr wieder Kraft zu geben. Doch er zerbrach innerlich selbst fast daran, als er erkannte, dass er seiner Schwester nicht helfen konnte. Sie redete nicht, sie aß und trank nicht, sie reagierte auf rein gar nichts mehr und wirkte mehr wie eine Puppe, als ein lebender Mensch. Sie war eigentlich schon längst tot, als er sie da rausholte. Und dann, als er beschloss, mit ihr ans Meer zu fahren, damit sie auf die Weise vielleicht wieder ins Leben finden konnte, da mobilisierte Ahava ihre letzte Willenskraft, nahm sich die Pistole ihres Bruders aus dem Safe und erschoss sich selbst, als er gerade außer Haus war.“

Der Abgrund unter Sam schien sich noch tiefer und schwärzer zu werden. Er hatte zwar einige schlimme Details erwartet, aber so etwas… Allein der Gedanke daran, dass Kindern Gliedmaßen amputiert wurden und man sie dann als Sexsklaven verkaufte, so etwas hätte er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen ausgemalt. Das war ein einziger verstörender Horror. Und nun begriff er das wahre Ausmaß dieser ganzen Fehde und welche Motivation Araphel vorantrieb. Er wollte eine Mafia-Familie aufbauen, die mächtig genug war, um diesen Wahnsinn zu beenden, wenn es schon die Polizei nicht vermochte, weil sie entweder unfähig oder korrupt war. Er wollte Rache an jenen nehmen, die seine Schwester gebrochen und in den Selbstmord getrieben hatten und die Yanjingshe zerschlagen, die maßgeblich an diesem abartigen Sklavenhandel beteiligt war und den Slave Shipping Service unterstützte und Kinder verstümmeln ließ. Solange er nicht in der festen Gewissheit war, dass diese kranken Geschäfte beendet hatte, würde er niemals seinen seelischen Frieden finden. Er würde immer und immer wieder das Bild seiner Schwester vor Augen haben, die beide Beine verloren hatte und mehrfach vergewaltigt worden war, bis sie nur noch eine leere Hülle war. Und nun verstand er auch, warum Christine so geworden war. Sie war das kleine Mädchen auf dem Foto. Ihre ganze Kindheit hatte sie in den Fängen dieser Organisation verbringen müssen und um überhaupt noch damit irgendwie weiterleben zu können, hatte sie damit begonnen, ihre Erinnerungen zu verdrängen und sich Lügenmärchen auszudenken, die sie selbst zu glauben begann. Es war der einzige Weg für sie gewesen, um nicht verrückt zu werden.

„Sind… sind alle hier in diesem Haus Opfer dieser Leute?“

„Ja“, antwortete Morphius und blies eine Nikotinwolke aus. „Yu… Dr. Heian wurde vor ein paar Jahren vom Service unter einem falschen Vorwand kontaktiert. Er wurde um die ärztliche Betreuung verwaister Kinder gebeten, die aus dem Ausland stammten und Opfer von Gewalt und Kriegen waren. Da er dies für eine Kinderhilfsorganisation hielt, willigte er ein und versorgte die Kinder. Doch als er hinter die Machenschaften dieser Leute kam, wollte er aussteigen und die Sache publik machen. Allerdings lassen diese Leute niemanden am Leben. Sie spüren gnadenlos jeden auf, der ihnen davonlaufen sollte und bringen diesen zum Schweigen. Entweder töten sie die Person, oder sie verkaufen diese als Sexsklaven, nachdem sie die Stimmbänder entfernt haben. Ich kenne Dr. Heian schon seit meiner Studienzeit und als ich hörte, dass er sich in den Fängen dieser Leute befand, nahm ich Kontakt zu Araphel auf, der mir dabei half, ihn zu befreien. Seitdem arbeite ich für die Mason-Familie, indem ich meine Fähigkeiten als Hacker und Informant zur Verfügung stelle, um gegen diese Organisation anzukämpfen. Dr. Heian betreut die geretteten Opfer und Christine fertigt Prothesen an, um den Opfern wenigstens ein bisschen Lebensqualität wiederzugeben.“

Sam stand da und starrte ins Leere. In seinem Kopf war alles leer und innerlich begann eine Welt in sich zusammenzufallen.

„Warum zeigst du mir das alles?“

„Weil wir uns in gewisser Weise ähnlich sind. Ich verachte das organisierte Verbrechen, aber ich habe mich mit dem Feind verbündet, um eine größere Bedrohung zu bekämpfen und um jene zu beschützen, die mir lieb sind. Weißt du, ich bin genauso wie du ein Opfer korrupter Cops geworden. Als die Organisation mich aufspürte, beauftragten sie einen Cop mit meiner Ermordung, allerdings erschoss dieser lediglich meine Ex-Frau. Ich zeige dir diese Dinge, damit du auch mal eine neue Perspektive gewinnst. Ich verlange nicht von dir, dass du dich der Mafia anschließt, aber du solltest ernsthaft darüber nachdenken, ob deine naiven Ideale und Prinzipien wirklich effektiv genug sind, um einen so mächtigen Feind in die Knie zu zwingen. Denn wenn du nicht aufpasst, wirst du ebenfalls in die Fänge dieser Leute geraten.“

„Das weiß ich doch auch“, rief Sam. „Und mein Entschluss steht ohnehin fest, dass ich mich erst um die Yanjingshe kümmere, bevor ich mir Araphel vorknöpfe. Aber bei dieser ganzen Sache verstehe ich eines nicht…“

„Was denn?“

„Shen hat mich um meine Unterstützung gebeten, weil er die Mafia ebenso sehr hasse wie ich. Mag sein, dass er das erzählt hat, um mich um den Finger zu wickeln, aber das war definitiv nicht gelogen. Aber wie kann er die Mafia hassen, wenn er solch schreckliche Dinge tut?“

„Du hast ihm den Schwachsinn echt abgekauft?“ fragte der Informant in einem ungläubigen Ton und schüttelte den Kopf. „Shen redet sich selbst ein, dass er die Mafia hasst. Aber in Wahrheit hasst er die Menschen. Um genau zu sein: er verachtet jeden Menschen auf dieser Welt. Und das hat mit seiner Vergangenheit zu tun. Weißt du, ich habe mich während meiner Nachforschungen auch mit Shens Vergangenheit beschäftigt und dabei interessante Details erfahren: Shen wuchs mit seinem älteren Bruder Zhou und seinen Eltern in einem Armutsviertel in Shanghai auf, das von dieser Triade kontrolliert wurde. Als die Eltern in Schwierigkeiten mit der Triade gerieten, verkauften diese ihre Kinder an die Triade und die steckte die beiden ins Bordell. Zhou starb im Alter von 12 Jahren, als ein betrunkener Freier ihm ein Messer in den Anus rammte und er während des Geschlechtsverkehrs verblutete. Shen sah das mit an. Als er an das Bordell verkauft wurde, war er erst sechs Jahre alt. Einer der Angestellten hatte Mitleid mit ihm und lehrte ihn ein paar Griffe aus dem Kampfsport, damit Shen sich gegen seine gewalttätigen Freier zur Wehr setzen konnte. Im Alter von 13 Jahren bekam er ein Schwert in die Hand, welches zu einer Showeinlage gehörte und richtete ein Blutbad an, in dem er zehn Menschen tötete und weitere fünf schwer verletzte. Danach wurde es ruhig um ihn, aber ich habe erfahren können, dass er in den Norden Chinas reiste und seine Kampfkunst perfektionierte. Mit 18 Jahren kehrte er zurück und begann damit, Mitglieder der Yanjingshe-Triade zu jagen und zu töten und schlich sich schließlich als Sexjunge ein. Als das Oberhaupt der Triade ihn kaufte, tötete Shen ihn und seine Leibwächter und schlachtete weitere 30 Mitglieder ab, bevor er endgültig die Kontrolle über die Triade an sich riss. Als er die Macht an sich riss, starben weitere 50 Mitglieder, doch es gelang ihm, in kürzester Zeit die Anzahl der Triade-Anhänger zu verdreifachen und ihre Macht zu verdoppeln, bis er schließlich in die USA nach Boston kam und dort Chinatown unter seine Kontrolle brachte.“

Verständnislos starrte Sam ihn an. Er konnte es nicht verstehen und so fragte er Morphius „Warum hat Shen sich der Triade angeschlossen, wenn ihn als Kind an ein Bordell verkauft hat?“

„Weil er kein Mensch mehr in dem Sinne ist. Er ist ein Psychopath, ansonsten hätte er nicht so viele Menschen auf so brutale Art und Weise abgeschlachtet. Und die Denkweise eines Psychopathen zu verstehen, das gelingt nur zwei Sorten von Menschen: nämlich jenen, die die Begabung dafür besitzen oder jenen, die selber krank im Kopf sind. Der Patriarch gehört zur ersten Sorte Mensch und er hatte sofort erkannt, was Shen wirklich vorhat: er benutzt die Mafia als Deckmantel, um seinen sadistischen Gelüsten freien Lauf zu lassen. Und Araphel hat er sich als sein Lieblingsopfer auserkoren. Er will ihn durch dieselbe Hölle gehen lassen, die er damals als Kind erleiden musste.“

„Warum?“

„Weil Shen etwas erschaffen will. Er sieht sich als Schöpfer und nicht als Zerstörer an. Der Zerstörer ist in seinen Augen Araphel. Und er will Araphel zu einen wahren Zerstörer machen, um sich einen Feind zu erschaffen, der ihm ebenbürtig ist und ihn eines Tages töten kann. Für Shen ist es ein Spiel. Er will Araphel zu einem Monster machen, das ihn unsterblich macht. Zumindest ist es das, was der Patriarch mir erzählt hat.“

„Welche Rolle spielt der Patriarch?“

„Er ist ein enger Freund von Stephen Mason. Dieser hatte ihm vor einigen Jahren das Leben gerettet und der Patriarch versprach ihm, sich um Araphel zu kümmern, sollte Stephen etwas zustoßen. Zwar macht er Geschäfte mit Shen, allerdings unterstützt er Araphel auch in seinem Rachefeldzug, weil er genauso großes Interesse daran hat, die Triade zu zerschlagen. Immerhin ist auch sein Leben bedroht. Und? Was wirst du tun?“

„Na was wohl?“ Sam atmete tief durch, um diese ganzen Informationen erst einmal sacken zu lassen, die ihn zum Teil wirklich erschüttert hatten.

„Ich werde auf meine Art und Weise kämpfen. Wenn ich es schaffe, die Korruption innerhalb der Polizei zu beenden, dann wird auch endlich mal was gegen die Mafia unternommen werden. Und wenn mein Bruder gewusst hat, an wen er Ahava verraten hat, dann werde ich schon dafür sorgen, dass das öffentlich wird. Auch das mit dieser abartigen Sexsklavenorganisation, die Kinder verstümmeln lässt.“

Morphius schwieg und sah ihn lange an. Es war schwer festzustellen, was ihm durch den Kopf ging und was er vorhatte. Ebenso ließ sich kaum sagen, was er von Sams Vorhaben hielt. Natürlich wusste Sam, dass es nicht leicht werden würde, aber er wollte es auf legale Art und Weise schaffen. Wenn die Vendetta zwischen den beiden Mafiaclans noch weiter eskalierte, würde es nur noch mehr unschuldige Opfer fordern und vor allem musste so eine abscheuliche Sache an die Öffentlichkeit. Schließlich seufzte der Informant und nahm noch einen Zug von seiner Zigarette.

„Alleine kämpfst du auf verlorenem Posten“, erklärte er. „Araphel bat mich übrigens, dir ein wenig bei deinem Vorhaben unter die Arme zu greifen. Ich kenne da ein paar Informanten, die weiterhelfen könnten. Es gibt da einen, der sich insbesondere auf korrupte Polizisten spezialisiert hat. Ich werde ihn kontaktieren und sehen, was ich tun kann.“

Nun war Sam wirklich überrascht. Er hätte nicht damit gerechnet, dass Araphel ihm wirklich helfen wollte. Dabei hatte er doch alles getan, um ihm das Leben schwer zu machen. Und auf einmal kam so etwas. Sollte mal einer Araphel verstehen. Oder konnte es sein, dass dieser tatsächlich Vertrauen in Sam hatte?

Killerkommando

„Vergeltung ist der natürliche Fels, auf dem der Tempel des Rechts errichtet ist.“
 

Ambrose Gwinnet Bierce, amerikanischer Journalist
 

Nachdem er Ahavas Zimmer wieder verlassen hatte, stand Sams Entscheidung fest. Er würde von hier verschwinden, um seinen Bruder zur Rede zu stellen. Wenn Lawrence wirklich etwas über den Service wusste, dann musste er mit ihm unbedingt sprechen, Hausarrest hin oder her und in dem Moment war ihm auch das dämliche Halsband egal. Natürlich gefiel es ihm nicht, Araphel zu enttäuschen und er wusste, dass dieser ihn hart bestrafen würde, aber er würde es trotzdem tun. Er konnte nicht untätig herumsitzen und Däumchen drehen, während er mit dem Gedanken leben musste, dass sein Bruder eventuell gemeinsame Sachen mit Leuten machte, die Kinder verstümmelten und als Sexsklaven verkauften. Aber rausgehen konnte er so wie jetzt nicht, das war ihm klar. Er musste das Halsband irgendwie aufbekommen und dann die Beine in die Hand nehmen und abhauen. Da er keine entsprechenden Werkzeuge hatte, schlich er sich in die Werkstatt, nachdem es Abend geworden war und kaum noch jemand da war. Hastig begann er in den Werkzeugkästen und Werkbänken zu suchen in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, womit er dieses Schockerhalsband aufbekam.

„Willst du stiften gehen?“

Erschrocken drehte er sich um, als er die Stimme hörte und sah, dass es Christine war, die sich gerade mit einem Lappen ihre ölverschmierten Hände säuberte. Sie lächelte wissend und man sah ihr gar nicht an, dass sie erst kürzlich noch eine heftige Panikattacke erlitten hatte und ohnmächtig zusammengebrochen war. Sicherlich deswegen, weil sie sich nicht mehr daran erinnerte. Sam sah sie an und hatte wieder dieses schreckliche Bild des verstörten kleinen Mädchens vor Augen, das auf dem Boden gekauert hatte und dem ein Bein fehlte. Das kleine Mädchen, das später Christine wurde.

„Ich… ich…“

Sam wusste, dass er ihr nicht erzählen konnte, was er erfahren hatte. Es würde zu viel für sie sein und wieder zu einer heftigen Reaktion führen. Er konnte ihr das nicht antun. Diese ganzen Lügen, die sie erfand, waren das Einzige, was ihr halbwegs Normalität im Leben gab. Am besten war es, ihr so wenig wie möglich zu sagen, um kein Risiko einzugehen.

„Ich hab da ein paar Dinge bezüglich Ahavas Tod erfahren und ich will meinen Bruder zur Rede stellen, weil dieser etwas damit zu tun hatte.“

„Und was willst du ihm sagen?“

„Ich werde ihn fragen, was er sich dabei gedacht hat, die Frau zu verkaufen, die ein Kind von ihm erwartet hat.“

Einen Augenblick schwieg Christine und es war schwer zu erkennen, ob ihre Erinnerungen zurückkamen und sie gleich wieder alles verdrängen würde, was sie gehört hatte. Doch diese Sorge sollte sich als unbegründet herausstellen, als sie nach einer Weile nickte und meinte „Ich glaube, ich habe dafür genau das richtige Werkzeug.“

Und damit ging sie zu einem der Werkzeugschränke und kam tatsächlich mit einem Dietrichset zurück. Sam war überrascht und fragte „Wieso machst du das?“

„Hey, ich helfe immer, wenn ich kann. Das war früher mein Job.“

Hier konnte er sich ein erleichtertes Lächeln nicht verkneifen und fragte „Ach echt?“, auch wenn er wusste, dass das, was Christine erzählen würde, nicht wahr sein konnte. Aber wenn diese Lügen ihr halfen, einfach lachen zu können und ihr Leben so leben zu können wie sie wollte, dann war es das Beste, einfach mitzuspielen und sie in ihrer Welt leben zu lassen. Und so hörte er sich ihre Geschichte an, wie sie als Rettungsschwimmerin in Kalifornien einen Surfer gerettet hatte, der von Haien attackiert wurde und sie dabei ihr Bein verlor. Und während sie munter erzählte, brach sie das kleine Schloss auf und konnte schließlich Sams Halsband entfernen. Egal welche Lügengeschichten sie auch erfand, ihr Charakter änderte sich nie.

„So, damit hätten wir es. Und wo genau wohnt dein Bruder?“

„In der 58. Straße, wieso?“

Sofort ging Christine zu ihrem Fury, öffnete dabei mittels einer Fernbedienung das Garagentor und stieg dann in den Wagen.

„Steig ein, ich fahr dich hin.“

Dieses Angebot nahm er gerne an, vor allem weil es so viel schneller ging und er dann nicht Gefahr lief, dass Araphel ihn so schnell finden wieder finden würde. Und bei der Gelegenheit konnte er in einem echten Oldtimer mitfahren. Mit einem stolzen Grinsen, wie es nur von einem leidenschaftlichen Oldtimerrestaurator stammen konnte, startete Christine den Motor und fuhr los. Es war bereits dunkel draußen und wie er von der Mechanikerin erfuhr, war es bereits neun Uhr abends. Nun, um die Zeit müsste Lawrence eigentlich längst zuhause sein, solange er nicht in einem wichtigen Fall steckte.

„Sag mal, Christine“, begann er schließlich und blickte zu der rothaarigen Fahrerin, die sich ihrerseits auf die Straße konzentrierte. „Wieso hilfst du mir eigentlich abzuhauen, wenn du doch für Araphel arbeitest?“

„Weil ich denke, dass du ein anständiger Kerl bist“, erklärte sie. „Und irgendwie erinnerst du mich an Ahava. Ich hab sie damals während eines Urlaubs kennen gelernt, als sie mit ihrem Bruder in Kalifornien am Meer war. Sie hatte die gleichen blauen Augen wie du und hat immer an ihren Prinzipien festgehalten. Meist pflegte sie zu sagen, dass unsere Ideale und Prinzipien das Wertvollste sind, was wir haben. Zwar hab ich keine Ahnung, was du bei Araphel zu suchen hast, aber ich hab gemerkt, dass da zwischen euch beiden eine ganz besondere Chemie zu sein scheint. Weiß auch nicht, das sagt mir halt meine Menschenkenntnis. Und ich denke, Araphel wäre wütender, wenn ich dich einfach so gehen lasse. Nicht, dass dir noch was passiert.“

Nach einer knapp zwanzigminütigen Fahrt erreichten sie die 58. Straße und Sam stieg aus dem Wagen. Zwar bot sich Christine an, dass sie mitkommen könne, aber er lehnte ab, denn er wollte lieber nicht, dass sie mitbekam, was da gleich erzählt werden würde und dass sie dann noch schlimmstenfalls ohnmächtig wurde. Also ging er alleine und klingelte direkt bei Lawrence an. Tatsächlich wurde die Tür geöffnet und so stieg er die Treppen des Hausflurs hoch bis in die zweite Etage und sah auch schon seinen älteren Bruder, der aussah, als wäre er gerade erst von seiner Schicht zurückgekommen. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er seinen jüngeren Bruder sah.

„Sammy, was machst du denn hier und wo bist du die letzten drei Wochen gewesen? Mum ist ganz krank vor Sorge und ich hab schon befürchtet, dir ist etwas zugestoßen.“

„Es ist einiges passiert“, erklärte Sam knapp. „Kann ich reinkommen?“

Lawrence, der offenbar gar nicht gewusst hatte, was passiert war, ließ seinen jüngeren Bruder in die Wohnung und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Lawrence, der ziemlich erschöpft von der Arbeit war, nahm auf der Couch Platz und Sam setzte sich ihm gegenüber hin und begann von dem Hinterhalt zu erzählen, der ihm gestellt worden war und dass er sich in der Gewalt von Araphel befunden hatte. Den Teil mit der Vergewaltigung ließ er aber aus.

„Araphel hat mich entführt, weil er weiß, dass du vor vier Jahren seine Schwester an die Yanjingshe verkauft hast.“

„Das ist doch lächerlich“, rief Lawrence sofort. „Du glaubst diesem Schwerstkriminellen doch wohl nicht so eine Geschichte.“

„Ich habe Beweise!“ entgegnete Sam energisch und zeigte ihm das Foto, welches ihn und Ahava zeigte, was er vorsorglich mitgenommen hatte.

„Du hattest ein Verhältnis mit ihr, während du undercover gearbeitet hast und ich habe ebenso Beweise, dass du enorme Spielschulden bei Araphel Mason hast, genauso wie Marco, der mich in die Falle gelockt hat, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Dieselbe Tour, die du damals abgezogen hast. Du hast Ahava an die Yanjingshe ausgeliefert, weil Araphel dir das Messer an die Kehle gehalten hat, weil du deine Spielsucht nicht im Griff hast. Wahrscheinlich hat Shen dir angeboten, dir aus der Patsche zu helfen, wenn du ihm dafür Ahava auslieferst, ist es nicht so? Und wag es ja nicht, das alles abzustreiten. Ich mag dein jüngerer Bruder sein, aber ich bin nicht blöd!“

Lawrence schwieg eine Weile und sah fassungslos aus. Doch man sah auch etwas anderes: Reue. Ja, man sah ihm deutlich die Reue an, die er für das Verbrechen empfand, welches er begangen hatte.

„Lawrence“, sprach Sam eindringlich. „Jetzt rück mit der Sprache raus.“

„Verdammt noch mal! Mir stand das Wasser bis am Hals“, rief der 33-jährige Polizist in einem plötzlichen Gefühlsausbruch. „Araphel hat es halt nicht gepasst, dass seine Schwester mit einem Polizisten zusammen war, der undercover gearbeitet hat, um sich in die Mason-Familie einzuschleusen. Er hat mich erpresst und ich hatte keinen anderen Ausweg gesehen. Er hätte ansonsten auffliegen lassen, dass ich in bestimmten Fällen Beweise verschwinden ließ, um ihm Gefälligkeiten zu erweisen, weil ich in seiner Schuld stand. Ich hätte nicht nur meinen Posten verloren, sondern auch ein Verfahren an den Hals gekriegt. Aber dann kam so ein Kerl von der Triade und bot mir an, mir helfend unter die Arme zu greifen, wenn ich ihnen bei Ahavas Entführung helfe. Ich habe das unter der Voraussetzung gemacht, dass sie sie nicht töten werden.“

„Sie haben sie auch nicht getötet“, rief Sam und verspürte den Wunsch, seinem Bruder eine reinzuhauen, so wütend war er, dass sich Lawrence so hatte gehen lassen, obwohl er ein Polizist war. „Sie haben ihr beide Beine amputiert und sie knapp zwei Monate vergewaltigen lassen, bis sie endgültig gebrochen war und sie sich das Leben genommen hat.“

„Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie gleich so drastisch vorgehen.“

„Das ist die Mafia, verdammt! Was glaubst du denn, was sie mit ihr machen? Etwa ein Kaffeekränzchen abhalten oder Schwangerenbetreuung leisten? Ja du hörst richtig. Ahava war schwanger gewesen von dir und sie wollte, dass ihr eine Fa… ah…“

Sam blieb mit einem Male die Luft weg und er schaffte es nicht, vernünftig zu atmen. Verdammt noch mal. In seiner Wut hatte er einen weiteren Anfall gekriegt. Schnell griff er in seine Hosentasche, wo er sein Spray für alle Fälle dabei hatte und rettete sich damit. Er sollte sich wirklich nicht zu sehr aufregen, das war nicht gesund für ihn. Aber im Moment war er einfach nur wütend und enttäuscht. Er hätte wirklich mehr von seinem Bruder erwartet, als solch eine feige Aktion. Und dass dieser durch die Nachricht, dass Ahava schwanger von ihm gewesen war, am Boden zerstört war, änderte auch nichts daran.

„Du hast genau gewusst, wie gefährlich die Yanjingshe ist und du hast Ahava verkauft, um deinen eigenen Arsch zu retten. Hauptsache du kannst deine Marke behalten. Weißt du was? Du widerst mich an. In solchen Momenten bin ich froh, dass ich kein Polizist geworden bin. Wenn es bedeutet, dass man all die Ideale und Prinzipien über Bord wirft, die man als solcher haben sollte, nur weil man meint, sich auf Kriminelle einlassen zu müssen, dann würde ich auch keiner sein wollen. Du bist wirklich das Letzte, weißt du das?“

Lawrence, der etwas darauf erwidern wollte, wurde von der Türklingel abgelenkt. Er stand auf, doch Sam wollte ihn nicht so einfach gehen lassen.

„Hey, willst du einfach so abhauen?“

„Ich bin gleich wieder da. Kann sein, dass es die alte Nachbarin ist, die Hilfe braucht.“

Damit ging der Polizist und ließ Sam allein. Dieser wartete mit einer deutlichen Wut im Bauch und für ihn stand fest, dass seine Schimpftirade gleich weitergehen würde. Er würde schon dafür sorgen, dass sein Bruder für seine Verbrechen bezahlen würde und wenn er ihn persönlich zur Polizei schleifen musste. Innerlich begann er sich schon die nächsten Worte zurechtzulegen, da rissen ihn plötzlich drei kurz nacheinander folgende Schüsse aus seinen Gedanken. Erschrocken fuhr er hoch, als er kurz hörte, wie jemand zusammenbrach.

„Lawrence?“

Keine Antwort, dafür hörte er Stimmen und Schritte näherkommen. Ohne weiter zu zögern nahm Sam die Beine in die Hand und flüchtete durch die Tür, die direkt in die Küche führte, wo eine Feuertreppe nach unten führte. Wer auch immer da geschossen hatte, es war nicht Lawrence gewesen. Und da er unbewaffnet war, war es die einzig vernünftige Alternative, schnellstmöglich zu flüchten, bevor er noch in Schwierigkeiten geriet. Er hörte Schritte näher kommen und öffnete hastig das Fenster. Als er schon auf die Feuertreppe rausklettern wollte, wurde auch schon die Tür aufgestoßen und er sah zwei Männer in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen. Dennoch erkannte er sofort, dass es sich um Chinesen handelte. Die Triade, schoss es Sam durch den Kopf.

Weitere Schüsse sausten dicht an ihm vorbei und Sam eilte die Stufen der Feuertreppe herunter, während ihm die Mafiosi dicht auf den Fersen waren. Doch wieso waren die auf einmal hier? Waren sie hinter ihm her gewesen, oder hatte Shen seine Drohung wahr machen wollen? War es letzten Endes seine Schuld, dass sie seinen Bruder erschossen hatten?

Eine Kugel streifte ihn haarscharf an der Schulter und die beiden Chinesen verfolgten ihn erbarmungslos. Dann endlich hatte Sam das Ende der Feuertreppe erreicht und rannte zur Hauptstraße, wo er Christine zurückgelassen hatte. Als diese sah, was los war, öffnete sie ihm die Wagentür, startete den Motor und rief „Los Sam, komm schon!“ Weitere Schüsse ertönten und einer davon durchschlug die hintere Scheibe des Wagens. Sam stieg ein und kaum, dass die Tür geschlossen war, drückte Christine das Gaspedal durch und fuhr los. Keuchend und nach Luft ringend schnallte Sam sich an, denn Christine raste in einer mörderischen Geschwindigkeit um die Kurven und hinter ihnen und weitere Schüsse trafen die Heckscheibe. Offenbar hatten die beiden Chinesen einen Wagen und nahmen nun die Verfolgung auf.

„Verdammt noch mal was war das? Was ist los?“

„Shens Leute… sie haben Lawrence erschossen und mich verfolgt.“

„Und was wollen die von dir?“

„Mich wahrscheinlich aus dem Weg räumen, nachdem ich Shen angegriffen habe, als er Araphel zu nahe gekommen ist.“

„Ach du heilige Scheiße!“

Christine überholte mehrere Autos, raste bei Rot über eine Kreuzung und wurde beinahe von einem LKW gerammt. Ihr Fahrstil war halsbrecherisch und nicht selten wurde Sam in seinem Sitz hin und her geschleudert.

„Und das Dumme ist, dass der Wagen nicht schnell genug fährt, um sie abzuschütteln. Ich hab ne Idee: im Handschuhfach liegen eine Waffe und ein Handy. Araphels Nummer ist unter „Lion“ eingespeichert. Ruf ihn an und wenn möglich, versuch die Reifen zu zerschießen oder zumindest dafür zu sorgen, dass wir diese beiden Schießbudenfiguren abschütteln können.“

Als Sam das Handschuhfach öffnete, fand er tatsächlich ein Handy und eine Pistole. Sofort begann er nach der Nummer zu suchen und als er „Lion“ gefunden hatte, versuchte er die Nummer anzurufen. Es dauerte eine Weile, bis er endlich Araphels Stimme hörte und er klang ziemlich sauer. Wahrscheinlich war ihm schon aufgefallen, dass Sam sich aus dem Staub gemacht hatte.

„Ja, was gibt’s?“

„Araphel? Hier ist Sam. Ich hab keine Zeit für lange Erklärungen. Wir sind hier auf der Main Street und werden von zwei Killern der Yanjingshe verfolgt. Christine versucht gerade, sie abzuschütteln, aber es wird eng bei uns. Wir brauchen Hilfe.“

„Ich schick meine Leute los. Und danach sprechen wir uns noch!“

Da das erledigt was, nahm Sam die Waffe, drehte sich um und schoss durch die zersprungene Heckscheibe auf den Wagen hinter ihnen. Gleich beim zweiten Versuch traf er den Fahrer, woraufhin der Wagen ins Schleudern geriet und gegen ein Auto von der Gegenfahrbahn raste. Doch das sollte noch lange nicht das Ende sein, denn zwei weitere Wagen holten dicht auf.

„Shit“, fluchte Christine. „Das könnte noch echt eng werden. Ich fahr uns zum Hafen hin.“

„Bist du verrückt? Dort kriegen sie uns!“

„Vertrau mir. Das klappt schon. Halt dich nur fest.“

Damit bog Christine nach rechts ab und fuhr in Richtung Hafen, während Sam versuchte, die Verfolger auszuschalten. Doch bei dem halsbrecherischen Fahrstil war das so gut wie unmöglich. Vor allem weil es dunkel war. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als auf Christine zu vertrauen. Aber was wollte sie am Hafen? Dort gab es doch kaum Versteckmöglichkeiten und dort waren sie ein leichtes Ziel.

„Wieso zum Teufel fahren wir eigentlich zum Hafen?“

„Ein Notfallplan, den Araphel entwickelt hat, sollten Yin, Asha oder ich verfolgt werden. Wenn wir dort ankommen, wird das Empfangskomitee warten.“

Ach so. Dann war Christine also für den Fall der Fälle vorbereitet. Na hoffentlich schafften sie es auch zum Hafen, ansonsten würde es noch echt düster aussehen.

„Diese verdammten Hurensöhne“, fluchte die Rothaarige und raste wieder in einer halsbrecherischen Geschwindigkeit um die Kurve. „Die sind ja noch schlimmer als Hämorrhoiden!“

„Glaubst du, wir schaffen das?“

„Klar, ich bin nicht das erste Mal in so einer Situation. Letzten Monat haben diese Schweinepriester mich überfallen, als ich dabei war, die geklauten Wagen wegzubringen. Knapp ein Viertel der Wagen haben sie zerschossen.“

Laut kreischten die Reifen des Wagens und die Drehzahl des Motors schoss immer weiter hoch. Der Motor war an seinen Belastungsgrenzen und wenn das so weiterging, würde ihnen dieser noch um die Ohren fliegen. Sams Nerven waren zum Zerreißen gespannt, seine Atmung ging immer flacher und er musste sich zusammenreißen, um nicht schon wieder einen Asthmaanfall zu erleiden. Einer reichte ihm schon und es war ohnehin der denkbar schlechteste Zeitpunkt für so etwas. Stattdessen hielt er sich fest, um nicht allzu sehr in seinem Sitz hin und her geschleudert zu werden, während Christine den Kugeln auszuweichen versuchte. Dann schließlich, als sie eines der Piers erreichten, betätigte sie die Hupe und das in einer Art und Weise, als wolle sie einen ganzen Häuserblock aus dem Schlaf reißen. Kurz darauf leuchteten mehrere Autoscheinwerfer an und eine Gewehrsalve wurde abgefeuert, als wären sie auf einem Schlachtfeld inmitten eines Krieges. Christine trat das Bremspedal durch und riss das Steuer herum. Die Reifen kreischten auf, als sie über den Boden schlitterte und kurz darauf zum Halt kam. Keuchend lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

„Heilige Scheiße“, murmelte sie. „Das nenne ich mal einen Ausflug.“

Auch Sam ließ sich in seinem Sitz zurücksinken und spürte, wie seine Hände zitterten. Shen hatte also wirklich Killer auf ihn und Lawrence angesetzt… Nun war auch sein Leben in ernster Gefahr. Nie hätte er gedacht, dass es mal so weit kommen würde und er sich von einem anderen Mafia-Clan retten lassen musste. Und er hätte nie geglaubt, dass er mal so dankbar dafür sein würde, dass ausgerechnet sein Erzfeind ihn retten würde. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Er stand jetzt auf Shens persönlicher Abschussliste und die Yanjingshe würde erneut versuchen, ihn zu töten. Seine Alternativen waren also ein Leben auf der Flucht, oder aber zu Araphel zurückzukehren, selbst auf das Risiko hin, dass er für seine Flucht bestraft werden würde.

Doch wenn er so darüber nachdachte, was Araphel für ihn getan hatte… dass er Christine und die anderen vor der Yanjingshe beschützte… was für eine schreckliche Geschichte sich hinter Araphels Vendetta verbarg und was Sam für ihn empfand… tja, da fiel ihm die Wahl nicht sonderlich schwer.

Rückkehr

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Ein Zugeständnis

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Sergejs Bitte

„Solange man sich nicht gerächt hat, bleibt immer eine Bitterkeit im Herzen zurück.“
 

Heinrich Heine, deutscher Dichter
 

Als Sam wieder zu Sinnen kam, war es schon helllichter Tag und er konnte sich nicht so wirklich daran erinnern, was nach seinem Geständnis gestern Nacht passiert war. Irgendwie war ihm da schwarz vor Augen geworden und wahrscheinlich war er zusammengeklappt und daraufhin eingeschlafen. Nun, der gestrige Tag war auch ziemlich ereignisreich und aufreibend gewesen, wenn man bedachte, was passiert war. Aber es ärgerte ihn trotzdem, dass er ausgerechnet kurz nach seinem Geständnis das Bewusstsein verlieren musste. Schlechter hätte das Timing wirklich nicht sein können. Naja, es half alles nichts.

Als er sich langsam aufsetzte, spürte er plötzlich etwas Haariges und hörte ein leises Schnurren. Und als er zur Seite blickte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung, als er seinen über alles geliebten Hauskater sah.

„Sokrates!“ rief er und kraulte ihm zärtlich den Hals, woraufhin der knapp sechs Jahre alte Kater ein zufriedenes Schnurren von sich gab. Das gab es ja nicht. Sokrates war tatsächlich hier? Aber wie konnte das sein? Hatte er ihn von alleine gefunden, oder hatte jemand ihn hergebracht? Auch sonst entdeckte Sam einige Umzugskartons, in denen, wie sich herausstellte, seine Klamotten und ein paar persönliche Sachen von ihm waren. Jemand musste seine Wohnung ausgeräumt haben. Nun, es war ja klar gewesen, dass er wohl oder übel hier bleiben musste. Die Yanjingshe hatte es auf sein Leben abgesehen, darum konnte er auch nicht in sein altes Leben zurück. Hatte Araphel das Ganze organisiert? Nun, es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Nachdem er ins Bad gegangen und eine ausgiebige Dusche genommen hatte, konnte er endlich mal wieder frische Klamotten anziehen, was für ihn wirklich eine Wohltat war. Aber als „Geisel“ hatte man nun mal nicht so viel Luxus. Und nun hatte man tatsächlich seine Klamotten hierher gebracht, was ihm damit auch wirklich das Gefühl gab, als wäre er hier nicht mehr bloß gefangen, sondern als würde er aus freien Stücken hier wohnen.

Sokrates, der ihn offenbar ziemlich vermisst hatte (immerhin war Sam knapp drei Wochen nicht mehr zuhause gewesen), kuschelte sich die meiste Zeit schnurrend an ihn und schien offenbar nicht wirklich böse zu sein, dass sein Besitzer so lange verschwunden gewesen war. Aber Sokrates gehörte auch nicht zu der Sorte Hauskatzen, die schnell beleidigt war, wenn ihr Besitzer über einen längeren Zeitraum weg war. Er war ein sehr anhänglicher, fauler Stubentiger, der seine Streicheleinheiten eben genoss.

Als er sich auf den Weg zur Küche machte, da sein Magen ganz schön knurrte und er eine Stärkung gut gebrauchen konnte, begegnete er Christine, die gerade einen Karton schleppte.

„Tagchen Sam!“ grüßte die Rothaarige gut gelaunt und stellte den Karton ab. „Alles fit bei dir, oder hat dich Araphel gestern ein wenig zu hart rangenommen?“

„Es geht. Äh sag mal, hast du die Kartons in mein Zimmer gestellt und Sokrates hergeholt?“

„Jep, zusammen mit ein paar anderen. Araphel meinte, dass du ab jetzt hier fest wohnen wirst und ein paar Sachen brauchst. Hier drin sind noch ein paar Bücher, DVDs und Fotos. Wenn du nach Araphel suchst, der ist gerade mit dem Patriarchen im Gespräch, da darf keiner stören. Der Doc hat sich schon um deinen Kater gekümmert.“

Damit ging Christine mit dem Karton in Richtung seines Zimmers und versprach, später noch mal vorbei zu kommen, Sam hingegen ging in die Küche und fand dort Morphius vor, der gerade am Tisch saß, rauchte und ein Foto anstarrte. Er wirkte ein wenig in Gedanken versunken und bemerkte den Detektiv erst nicht. Erst als sich dieser hinsetzte, hob er den Blick.

„Tag, Morph. Was hast du da für ein Foto?“

Sam beugte sich zu ihm herüber und sah, dass es ein kleines Mädchen war mit schwarzem Haar und einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Sie schien nicht älter als zwei oder drei Jahre alt zu sein.

„Das ist meine Tochter Kaguya“, erklärte der Informant mit einem stolzen Lächeln. „Sie wird morgen drei Jahre alt.“

„Sie sieht wirklich bezaubernd aus“, bemerkte Sam und war überrascht, denn er hätte Morphius nicht direkt als Vater gesehen. Aber offenbar konnte man sich auch irren.

Da es schon Mittagszeit war, aßen sie zusammen und kurz darauf kamen auch Christine, Dr. Heian, Asha und eine sehr zierliche junge Frau mit einem herzlichen Lächeln dazu, die sich als Yin vorstellte und zum Werkstattteam dazugehörte. Es wurde viel geredet und gelacht und Christine gab eine ihrer Geschichten zum Besten, die wie immer nur ihrer Fantasie entsprangen und sie neckte Dr. Heian ein wenig, der zu den Ernsten in der Gruppe gehörte, die nicht allzu viel lachte. Nicht selten stimmte Morphius gleich mit ein, ihn zu ärgern. Es war ungewohnt, mit so vielen verschiedenen Menschen zusammen zu sitzen, noch dazu wo sie doch eigentlich wissen mussten, wer er war. Doch es kamen keine Anfeindungen, kein Misstrauen und keine Feindseligkeit. Nein, es schien so, als hätten sie ihn als einen der ihren akzeptiert, nachdem er ins Visier der Yanjingshe geraten war und nun bei Araphel lebte.

Dann schließlich aber stellte Yin, die Sam vorher noch nicht gesehen hatte, eine Frage an ihn.

„Sag mal Sam, stimmt es wirklich, dass du dich mit Shen angelegt hast?“

„Hat sich das so schnell herumgesprochen?“ fragte er überrascht und die Chinesin nickte, woraufhin sie erklärte „Shen ist der Todfeind von uns allen und alle haben Angst vor ihm. Und dann heißt es plötzlich, dass jemand es gewagt hat, ihn anzugreifen.“

„Ich hab ihn nicht so direkt angegriffen“, erklärte der Detektiv, der durch diesen zweifelhaften Ruhm ein wenig verlegen wurde. „Ich hab einen Aschenbecher nach ihm geworfen, als er Araphel provoziert hat.“

„Wow, dann bist du wohl entweder verdammt mutig, oder ganz schön verrückt.“

Wahrscheinlich ist es beides, dachte sich Sam und wieder tauchte diese Szene vor seinem geistigen Auge auf, wie Shen Araphel gegen die Wand gedrückt und ihn angefasst hatte. Es war eine reine Kurzschlussreaktion gewesen, weil er diesen Anblick nicht ertragen konnte. Und er bereute diese Entscheidung auch nicht, insbesondere nicht nach dem, was er erfahren hatte. Und doch… das Einzige, was er bereute war, dass seinetwegen Lawrence hatte sterben müssen. Etwas niedergeschlagen ließ er die Gabel sinken und fragte sich, ob sein Bruder vielleicht noch am Leben wäre, wenn er ihn nicht aufgesucht hätte.

„Oi Sam, was ist los?“

Der Angesprochene hob den Blick und sah zu Morphius, der gerade dabei war, sich ordentlich Chiliflocken über sein Essen zu kippen, da er es offenbar ziemlich scharf mochte.

„Es ist wegen meinem Bruder“, erklärte Sam. „Das, was er getan hat, war einfach nur verachtenswert, das sehe ich genauso wie Araphel. Aber… wenn ich nicht zu ihm gegangen wäre und ihn zur Rede gestellt hätte, dann wäre er vielleicht noch am Leben. Ich fühle mich halt dafür verantwortlich, dass er erschossen wurde.“

„Er stand ohnehin auf der Abschussliste der Triade, das hatte mit dir nichts zu tun“, erklärte der Informant und aß weiter. „Soweit ich gehört habe, soll er wohl ein paar Mitglieder der Triade abgezockt haben, um seine Spielschulden zu bezahlen.“

„Ich dachte, die Yanjingshe hätte das längst getan.“

„Ja, das war aber mit den Schulden von vor vier Jahren. Glaubst du echt, er hat danach aufgehört? Nee, er hat erst Ahava „zurückkaufen“ wollen, indem er das Geld an die Triade zurückzahlt, nachdem er wohl eingesehen hat, dass das wohl nicht die beste Entscheidung war. Aber anstatt, dass er bei einer Bank einen Kredit aufnimmt so wie ein vernünftiger Mensch, hat er gleich die nächste Pokerrunde aufgesucht, um schnelles Geld zu machen. Mit dem traurigen Ergebnis, dass er am Ende doppelt so viele Schulden hatte wie zuvor. Nur dieses Mal nicht bei Araphel, sondern bei Shen. Eine Zeit lang hat die Schlange noch gewartet, weil Polizisten eben auch Vorteile mit sich bringen, wenn man sie in der Hand hat. Aber offenbar war dein Bruder denen nicht mehr von Nutzen und in dem Fall ist er auf der Abschussliste gelandet.“

Fassungslos schüttelte Sam den Kopf und konnte nicht glauben, dass sein Bruder wirklich noch mit dem Glücksspiel weitergemacht hatte nach dem, was passiert war. Als hätte es nicht schon gereicht, dass er seine Verlobte an die Yanjingshe verkauft hatte, um sich selbst aus dem Schlamassel zu retten. Jetzt erfuhr er auch noch, dass selbst das nicht gereicht hatte, um ihn zur Vernunft zu bringen. Etwas niedergeschlagen ließ er den Kopf sinken und schwieg, bis dann Christine aufmunternd eine Hand auf seine Schulter legte.

„Mach dir mal keine Sorgen, hier bist du sicher und hier passiert dir schon nichts. Und wir sind eigentlich eine ganz lustige Truppe, oder nicht?“

„Jep“, stimmte Asha zu. „Insbesondere mit Christine wird es nicht langweilig. Pass bloß auf, dass sie dich nicht auch noch zu unserer Runde einlädt. Wenn am nächsten Tag nichts zu tun ist, veranstaltet sie ein Trinkspiel oder irgendwas anderes, um Party zu machen.“

„Hey, ich lass mir den Spaß sicher nicht verbieten“, rief die Rothaarige und lachte. „Aber erst mal überlegen wir uns ein hübsches Geschenk für Morphs kleine Prinzessin.“

„Ach ich beneide dich wirklich“, seufzte Yin und lächelte glückselig vor sich hin. „Ich wünschte, ich hätte auch so eine süße Kleine.“
 

Nach dem Mittagessen kehrten die meisten wieder an ihre Arbeit zurück. Christine und Asha wollten den Fury reparieren, der bei der rasanten Flucht erhebliche Schäden davongetragen hatte und Yin wollte die Limousine überprüfen, die offenbar ein Problem mit dem Vergaser hatte. Sam hingegen ging wieder zu seinem Zimmer, um die Kartons auszupacken. Doch dazu kam er nicht, denn als er gerade um die Ecke bog, stieß er fast mit jemandem zusammen. Es war ein Mann mit einer sehr charismatischen Ausstrahlung, der einen teuren Anzug trug und schon im fortgeschrittenen Alter war. Vermutlich um die 50 Jahre.

„Entschuldigen Sie“, rief Sam und trat beiseite. „Ich habe Sie nicht bemerkt.“

„Schon gut, es ist ja nichts passiert.“

Sam bemerkte plötzlich Araphel, der hinter dem Mann auftauchte. Überrascht runzelte er die Stirn und schaltete einen Moment später, wen er da eigentlich vor sich hatte: der Patriarch höchstpersönlich, Sergej Camorra. Oh Mann, dachte sich der Detektiv. Irgendwie hab ich aber auch ein verdammtes Talent darin, ausgerechnet den gefährlichsten Mafiosi über den Weg zu laufen.

Das Oberhaupt der Camorrafamilie musterte ihn aufmerksam und fragte „Sie sind also Sam Leens, der Sohn von Detective Henry Leens? Das trifft sich sehr gut. Araphel, würdest du mir deinen Gast kurz ausleihen?“

Der jüngere Mafiaboss zögerte und verschränkte die Arme, wobei er Sergej mit einem Blick ansah, als wolle er ihm nicht über den Weg trauen. Aber dann sagte er sehr zu Sams Überraschung „Mach ruhig, wenn es nicht zu lange dauert.“

Das verunsicherte den Detektiv ein wenig. Hatte Araphel ihm nicht gesagt, er solle sich von gefährlichen Individuen fernhalten? Wieso ließ er dann zu, dass er mit diesem Sergej Camorra alleine war? Aber andererseits… irgendwie kam es ihm so vor, als würde Sergej sehr vertraut mit Araphel reden, so als würden sie einander gut kennen. Als er zu Araphel sah, nickte dieser, als wolle er sagen, dass es in Ordnung war und so ging Sam mit dem Bostoner Patriarchen mit. Sie gingen in ein Zimmer, welches ähnlich dem war, in welchem er schon Shen begegnet war. Nachdem sich Sergej gesetzt hatte, nahm auch er Platz und fragte zögernd „Was genau wollen Sie von mir, Mr. Camorra?“

„Nun, ich wollte den Mann kennen lernen, der genug Mut besessen hat, um Shen Yuanxian anzugreifen.“

Offenbar weiß es schon die halbe Welt, dachte sich Sam und wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte oder nicht. Wie um alles in der Welt hatte sich das alles nur so schnell herumsprechen können?

„Jedenfalls“, fuhr Sergej fort „habe ich gehört, dass du Araphel in Schutz genommen hast und auch über seine Vergangenheit in Kenntnis gesetzt worden bist.“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich bin ein sehr enger Freund der Familie Mason“, erklärte der Patriarch. „Nach dem Tod von Stephen Mason habe ich ein wachsames Auge auf Araphel und helfe ihm des Öfteren. Außerdem ist Shen unser beider eingeschworener Feind. Er ist nicht nur eine Gefahr für die Menschen in dieser Stadt, sondern vor allem auch für die Bostoner Unterwelt und es ist kein Geheimnis, dass er es auf mein Leben abgesehen hat. Und leider werde ich nicht mehr allzu lange gegen ihn bestehen können, so gerne ich auch wollte.“

„Wieso?“

„Weil ich bald sterben werde.“

Selbst als er diese Worte sagte, verlor Sergej nicht einen einzigen Funken seines Charismas und selbst sein Lächeln schwand nicht. Überrascht sah Sam ihn an und fragte „Wie bitte?“

„Mein Arzt hat bei mir Lungenkrebs festgestellt und seiner Diagnose nach habe ich nur noch knapp acht Monate zu leben. Mit einer Chemotherapie könnte ich es vielleicht noch ein ganzes Jahr schaffen, aber das kommt für mich nicht infrage. Wenn schon, dann will ich lieber eines würdevollen Todes sterben. Und eben weil mir nicht allzu viel Zeit bleibt, will ich wenigstens sicher gehen, dass Araphel in guten Händen ist. Immerhin ist er schon fast wie ein Sohn für mich.“

„Warum fragen Sie ausgerechnet mich und nicht einen von den anderen?“

„Weil sie einen besonderen Einfluss auf Araphel haben“, erklärte Sergej. „Seit dem Tod seiner Schwester ist er sehr schwierig geworden und vertraut niemandem mehr. Ich hatte zwischendurch schon ernste Sorge, dass er sich völlig in seinem Verlangen nach Rache verliert und keinen anderen Lebensinhalt mehr sieht. Und noch mehr Sorgen mache ich mir für die Zeit, nachdem er seine Rache bekommen hat, verstehen Sie? Araphel steckt seine gesamte Energie in seinen Rachefeldzug gegen die Triade und in den Schutz ihrer Opfer, die er gerettet hat. Sein ganzes Leben hat er der Rache gewidmet, nachdem sich Ahava das Leben nahm. Seine Schwester war sein wichtigster Lebensinhalt gewesen, das war schon immer so. Und was soll aus ihm werden, wenn er erst mal seine Rache vollendet hat und am Ziel angelangt ist? Dann hat er nichts mehr. Kein Ziel, keinen Antrieb… Die Leere wird ihn wieder einholen und er wird sich in ihr verlieren. Keiner kann ihm die Familie ersetzen, die ihm genommen wurde und es ist ein unfassbarer Kraftakt, danach einen Neuanfang zu machen, wenn man nichts hat. Ich weiß es selbst, immerhin habe ich selbst meinen Bruder verloren, nachdem sich dieser seit dem Tod unserer Eltern um mich gekümmert hat. Ich habe zwei Ehefrauen verloren und meine jetzige Verlobte werde ich dann wohl bald für immer zurücklassen müssen, genauso wie meine Kinder. Aber damit kann ich leben. Ich habe dafür Sorge getragen, dass sie gut versorgt sind, wenn ich nicht mehr da bin. Und bis es soweit ist, wenn ich sterbe, werde ich Araphel beistehen, so gut ich kann. Aber es wird nicht genügen. Seine Gefolgsleute können ihm nicht das geben, was er wirklich braucht. Das ist nämlich jemand, der mit ihm fühlt, der ihm Halt gibt und der ihm das Gefühl gibt, dass er nicht ganz so alleine ist. Das können nur Sie. Wissen Sie, ich habe schon immer ein sehr gutes Gespür für den wahren Charakter anderer Menschen gehabt und ich glaube, Sie sind der Einzige, der Araphel ein neues Licht in seiner Finsternis geben kann. Er braucht Sie, um nach der Vollendung seiner Rache ein neues Ziel für sich selbst zu finden.“

Ein neues Ziel… ein Licht in der Finsternis… Diese Worte stimmten Sam schon sehr nachdenklich. Natürlich war es auch sein Wunsch, dass Araphel nicht an dieser schrecklichen Sache, die Shen ihm und seiner Schwester angetan hatte, zugrunde ging. Er wollte ihn nicht unglücklich oder wütend sehen. Aber würde er das wirklich schaffen können? Nach allem, was er erfahren hatte, glaubte er nicht so wirklich daran.

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich der Richtige wäre“, sagte er schließlich. „Mein Bruder war dafür verantwortlich, dass Ahava in die Fänge der Yanjingshe geraten ist und er hasst mich dafür. Er hat mich deshalb auch töten wollen. Ich als der Bruder jener Person, die für Ahavas Tod mitverantwortlich ist, kann ihn nicht glücklich machen.“

„Ich glaube, dass diese Sorge unbegründet ist“, meinte Sergej und nahm sich aus seinem kleinen Metallkistchen eine Zigarre heraus und zündete sie sich an. „Araphel sieht Sie gar nicht mehr als Feind in dem Sinne an, dass Sie der Bruder von Lawrence sind. Er sieht Sie als Sam Leens an und er will Sie beschützen, weil Sie dieselbe aufrichtige und gutherzige Art wie Ahava haben. Sie tragen das gleiche Licht in sich wie sie und dieses Licht ist es auch, das Araphel selbst in den dunkelsten Zeiten nicht aufgeben lässt. Denken Sie daran: ein Löwe ist nur so lange so stark, wie er ein Rudel hat, für das er kämpfen kann. Das ist seine Motivation. Araphel hat die Familie und die befreiten Sexsklaven, die er zusammen mit Ahava damals gerettet hat sowie der Arzt und der Informant, sind inzwischen seine richtige Familie geworden. Aber er hält sie auf Abstand, weil er genau weiß, dass sie seinetwegen in Gefahr geraten. Denn Shen wird nicht zulassen, dass das Licht in Araphels Herz zurückkehrt. Er will ihn zu sich in die absolute Finsternis hinabziehen und darum wird er jeden vernichten, der ihm wichtig ist. Aber Sie waren kein Feind der Triade, als Araphel Sie zu sich geholt hat. Sie haben sich freiwillig zu einem solchen gemacht, weil Sie den Mut oder vielleicht auch den Wahnsinn aufgebracht haben, Araphel zu beschützen und ihm zu zeigen, dass er nicht alleine kämpft. Sie haben sich Shen in den Weg gestellt und ich denke, dass das Araphel die Augen geöffnet hat. Vielleicht kann er es nicht in Worten ausdrücken, weil er nicht weiß wie, oder weil er nicht schwach erscheinen will. Aber Sie sind für ihn eine sehr wichtige Person in seinem Leben geworden und darum wird er Sie genauso beschützen wie die anderen und für Sie kämpfen, wenn er es mit der Triade aufnimmt. Das liegt eben in seiner Natur. Sie müssen keine Kämpfe gegen Shen bestreiten oder sich die Hände schmutzig machen. Ich glaube, das würde Araphel genauso wenig wollen, weil er alles daran setzen wird, dass das Licht in Ihrem Herzen nicht getrübt wird. Nein, Sie sollen ihm einfach in den Momenten beistehen, in denen es ihm an Kraft fehlt und wo er jemanden braucht, der ihm Halt gibt, wenn er ins Wanken gerät. Ich weiß, dass Sie niemals einem Mafioso helfen werden, das sind Ihre festen Prinzipien und die respektiere ich. Deshalb will ich Sie nicht als Patriarch bitten, sich um den Bostoner Löwen zu kümmern. Nein, ich bitte Sie als besorgter Familienfreund, sich um meinen Schützling zu kümmern. Würden Sie mir diesen Gefallen erweisen?“

Sergejs lange Worte hatten Sam sehr zum Nachdenken gebracht und er sah wieder das Bild von Araphel vor sich, wenn er erschöpft und bedrückt gewirkt hatte, sah seinen von unzähligen Narben entstellten Rücken. Er dachte daran, wie viel er durchgemacht hatte und trotzdem noch weiterkämpfte, obwohl er selber innerlich litt. Er war ein Löwe und kämpfte selbst dann noch weiter, wenn man ihm die Achillessehnen durchtrennt hatte und er nicht mehr laufen konnte. Vielleicht war es ja irgendwie Schicksal, dass es so gekommen war wie jetzt. Dass Sam Leens in diese Falle gelockt und bei seiner Flucht von einem Auto angefahren worden war, damit er ähnliches durchmachte wie Araphel und ihn somit am besten verstehen konnte. Vielleicht war es Fügung gewesen, dass es so gekommen war wie jetzt, dass er nun mit der Aufgabe betraut wurde, Araphel beizustehen, damit er weiterhin die Kraft aufbringen konnte, Shen die Stirn zu bieten.

„Tut mir leid, Mr. Camorra, aber es ist nicht meine Art, einfach nur untätig da zu sitzen und Araphel den Kopf zu tätscheln und ihn alles alleine machen zu lassen und mich auf ihn zu verlassen“, erklärte der Detektiv schließlich. „Ich werde Shen auf meine Weise bekämpfen. Ich werde die Korruption innerhalb der Polizei bekämpfen und dafür sorgen, dass diese Vendetta endlich ein Ende findet und Shen seine gerechte Strafe erhält. Damit ist nicht nur Araphel, sondern allen besser geholfen. Ich werde für Araphel da sein, aber ich werde meine Zeit hier sicher nicht bloß damit verbringen, ihm den Kopf zu tätscheln und ihm mein Bedauern ausdrücken für das, was passiert ist.“

Er rechnete erst damit, dass Sergej entweder verärgert oder spöttisch darauf reagieren würde. Doch stattdessen schmunzelte der Mafiaboss und rückte seine Brille zurecht. Er sah zufrieden aus.

„Sie kommen wirklich nach Ihrem Vater“, meinte der 51-jährige schließlich und erhob sich. „Dann verlasse ich mich darauf, dass Sie sich dennoch gut um meinen Schützling kümmern werden. Und seien Sie bitte so gut und erzählen ihm nichts von der Diagnose. Er braucht es noch nicht zu wissen und ich hätte gerne selbst den Zeitpunkt bestimmt, an dem er es erfährt.“

Damit verabschiedete Sergej sich mit einem kräftigen Händedruck und ließ Sam allein.

Vorübergehende Ruhe

„Die Welt mag untergehen, wenn ich mich nur rächen kann.“
 

Cyrano de Bergerac, Vorreiter der französischen Aufklärung
 

Sergej war direkt nach Hause gefahren und hatte direkt seinen Sohn Victor zu sich gebeten. Victor Camorra, der 24 Jahre alt und zugelassener Anwalt war, kam äußerlich ganz nach seinem Vater und selbst die Ausstrahlung eines abgebrühten Geschäftsmannes hatte er geerbt. Er war ein ambitionierter junger Mann mit demselben Geschäftssinn wie sein alter Herr. Obwohl Victor Jura studiert hatte und das Gesetz vertrat, sah er sehr zu seinem Vater auf und wusste um die Opfer, die dieser für ihn gebracht hatte und zwischen den beiden herrschte ein sehr enges familiäres Verhältnis. Als Victor das Arbeitszimmer seines Vaters betrat (er selbst trug wie immer einen Anzug), war ihm die Besorgnis anzusehen und nachdem er kurz seine Brille zurechtgerückt hatte, fragte er „Du wolltest mich sprechen, Dad?“

Victor wusste bereits von der Diagnose und es war für ihn ein schwerer Schlag gewesen, genauso wie für seine Stiefschwester Lucy, die derzeit noch im Ausland studierte. Diese Idee hatte sie nicht direkt selbst gehabt, sondern war viel mehr von Sergej darauf gebracht worden. Nach dem Tod seiner zweiten Frau, die auch Lucys Mutter war, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu beschützen und dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht in die Mafiageschäfte reingezogen wurde. Und seit er wusste, dass Shen es auf ihn abgesehen hatte und er ihn nicht mehr lange durch Geschäftsbeziehungen im Schach halten konnte, hatte er Lucy ein Studium in Italien ermöglicht, wo sie Verwandte in der Nähe hatte und wo sie sich möglichst weit entfernt von der Triade befand. Er war eben auch ein besorgter Vater, dem das Wohl seiner Kinder am Herzen lag. Seinen Sohn hatte er erst vor sechs Jahren gefragt, ob er bereit wäre, eines Tages das Mafiageschäft zu übernehmen. Nun, da er sonst keine eigenen Kinder hatte, wäre es so oder so dazu gekommen, dass dieser die Nachfolge übernehmen würde, aber Sergej wollte seinem Sohn auch die Chance geben, die Entscheidung selbst zu treffen. Als guter Vater konnte er ihn nicht dazu zwingen, ins Mafiageschäft einzusteigen, wenn er es nicht wollte. Doch Victor war fest entschlossen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und hatte, bis es mit dem „Amtswechsel“ so weit sein würde, Jura studiert, um Strafverteidiger zu werden. Seine Begründung: wenn sein Vater in Schwierigkeiten geraten sollte, würde Victor ihn schon wieder rausboxen. In solchen Momenten war Sergej wirklich stolz auf seinen Sohn.

„Victor, ich möchte, dass du offen und ehrlich zu mir bist.“

Sergej wies seinen Sohn an, sich zu setzen und dieser Aufforderung kam der 24-jährige auch nach.

„Ich habe mich stets bemüht, mir trotz meiner zeitintensiven Arbeit genug Zeit für dich und auch für deine Stiefschwester zu nehmen, um euch ein guter Vater zu sein. Und ich habe immer dafür gesorgt, dass es euch an nichts mangelt und euch nichts passiert. Du weißt, das Mafiageschäft ist hart und grausam. Es ist ein rücksichtsloses Geschäft, in dem nur die Rücksichtslosen überleben können. Ich frage dich deshalb, Victor: bist du wirklich bereit dafür, meinen Platz einzunehmen, wenn ich nicht mehr da bin?“

Es geschah selten, dass Victor solche Worte von seinem Vater hörte. Er kannte ihn als unbeugsamen Geschäftsmann, der nie zögerte und nie etwas bereute. Und doch wirkte er jetzt sehr nachdenklich und sein Blick ließ vermuten, dass ihn die ganze Sache belastete. Immerhin würde er bald sterben und seinen Sohn zurücklassen, genauso wie seine Stieftochter, um die er sich seit dem Tod seiner zweiten Frau liebevoll gekümmert hatte. Es tat ihm weh, daran zu denken, doch es war die bittere Realität. Doch Victor wusste, dass es nicht nur das war, was seinen Vater belastete.

„Natürlich will ich das“, sagte er sofort. „Und ich habe nie schlecht von dir gedacht, Dad. Nun gut, es hat mich damals ganz schön vom Hocker gehauen, als du mir erzählt hast, womit du dein Geld verdienst und ehrlich gesagt würde ich viel lieber etwas anderes nehmen als den Menschenhandel.“

„Es steht dir auch frei, die Familie neu zu gestalten, wie du es für richtig hältst, wenn du der neue Boss bist. Der Grund, warum ich mich mit diesem Milieu befasse, ist der, dass…“

„Ich weiß schon“, unterbrach Victor ihn. „Du hast Geschäfte mit Shen gemacht, damit Lucy und ich in Sicherheit sind und damit du Araphel helfen kannst. Sei ehrlich, du machst dir wegen ihm Sorgen, nicht wahr?“

Das leugnete der Boss der Camorra-Familie durchaus nicht und er gab es auch zu. Victor wusste, dass Sergej Araphel als sein drittes Kind ansah und dass er auf ihn aufpasste. Doch helfen konnte er ihm nicht, denn Sergej konnte die Sicherheit seiner eigenen Kinder nicht aufs Spiel setzen. Und solange es keine berechtigten Gründe gab, wäre Shens Ermordung gleichzeitig der Todesstoß für die Camorra-Familie. Dann würde die Triade unbarmherzig Jagd auf die Camorras machen, um sie für den Tod ihres Bosses bluten zu lassen. Sergej hatte sich lange darüber Gedanken gemacht und überlegt, was er tun konnte und ob er überhaupt etwas tun konnte. Und seit er seine Diagnose hatte, wusste er nun, was zu tun war.

„Ja, ich mache mir wirklich Gedanken. Zwar hat er jemanden an seiner Seite, der ihm an Ahavas Stelle Halt gibt, aber ich glaube nicht, dass er es trotzdem schaffen wird, es alleine mit Shen aufzunehmen.“

„Und was genau hast du vor?“

„Ich werde tun, was nötig ist, um die Camorras und die Masons zu einer Einheit zusammenzuschließen, damit sie gemeinsam gegen die Triade vorgehen können. Ich werde einen Grund für solch ein Bündnis liefern und dafür sorgen, dass dieser gierigen Schlange ein für alle Mal das Maul gestopft wird. Victor, ich werde dir für den Ernstfall genaue Anweisungen hinterlassen, die du zu befolgen hast. Ich werde sie dir aber noch in Ruhe erklären, also hör zu: ich habe einen Umschlag mit wichtigen Unterlagen in meinem Schließfach bei der Bank hinterlegt. Diesen gibst du Araphel. Ich möchte dich bitten, ihn so gut es geht zu unterstützen.“

„Ja aber…“, warf Victor ein. „Wenn ich Araphel direkt unterstütze, wird das aussehen, als würden wir mit den Masons sympathisieren und das Geschäftliche mit Persönlichem mischen!“

„Da mach dir mal keine Gedanken drum“, beruhigte Sergej ihn. „Ich werde dafür Sorge tragen, dass es eine rein geschäftliche Sache bleiben wird und du Araphel problemlos unterstützen kannst. Es ist nur wichtig, dass du dich an die Anweisungen hältst, die ich dir noch genauer erläutern werde. Aber…“ und hier legte er seine Hände auf Victors Schultern und sah ihm tief in die Augen. Es lag nichts Kaltes und Berechnendes mehr in seinem Blick, sondern einzig und allein väterliche Besorgnis.

„Pass gut auf deine Schwester auf, Victor. Und versprich mir, nicht denselben Fehler zu machen wie ich und zu leichtsinnig zu sein. Dein Großvater als auch dein Onkel sind an derselben Krankheit gestorben, wie ich es bald werde. Ich habe mich zu sicher gefühlt und die Warnungen ignoriert. Mach nicht den gleichen Fehler und achte auf deine Gesundheit. Es ist leider so, dass der Petrow-Familienzweig dieses gewisse Risiko hat und insbesondere so eine Krankheit wird oft viel zu spät erkannt. Darum möchte ich dir wirklich ans Herz legen: behalte das im Hinterkopf und lass dich untersuchen.“

„Versprochen, Dad.“

Sergej breitete seine Arme aus und umarmte seinen Sohn. Es tat ihm weh, seine Kinder zurücklassen zu müssen und sie so früh zu verlassen. Er hätte gerne noch länger gelebt, um mitzuerleben, wie sein Sohn Victor ein nettes Mädchen kennen lernen und heiraten würde. Er würde nicht miterleben, wenn Victor oder Lucy eine Familie gründen würden und natürlich machte er sich auch Sorgen. Zwar sagte er oft genug, dass er erst Unternehmer und dann ein Mensch war, aber das war nur die halbe Wahrheit. Bevor er überhaupt Unternehmer war, war er nämlich Vater. Und das Wohl seiner Kinder lag ihm da mehr am Herzen als die Zukunft seiner Mafia-Familie. Auch wenn er ein Schwerverbrecher war, so hatte er sich immer bemüht, sich die Zeit zu nehmen, um für seine Kinder da zu sein. Er hatte ihnen bei den Hausaufgaben geholfen, war mit ihnen in den Zoo gegangen und er hatte sie ihr unbeschwertes Leben leben lassen so gut es ging. Natürlich hatte er auch gewusst, dass sie eine Zielscheibe für andere Mafiagruppen waren und hatte aus diesem Grund Leute engagiert, die auf seine Kinder aufpassten, sie aber nicht in ihrem Alltag einschränkten. Wenn sein Sohn nachts als kleiner Junge Angst gehabt hatte, da hatte er ihn in den Arm genommen, nachdem die Mutter kurz nach seiner Geburt verstorben war. Jahrelang war er allein erziehend gewesen, doch es war ihm gelungen, sowohl seinen Job als Boss als auch seine Vaterpflichten unter einem Hut zu bringen. Zurückblickend konnte er sagen, dass er seine Sache gut gemacht hatte und er auf ein Leben zurückblicken konnte, in welchem er die meisten seiner Entscheidungen richtig getroffen hatte. Und nachdem er auch sein Testament bereits gemacht hatte, waren sowohl Victor als auch Lucy finanziell abgesichert. Lucy würde ihr Studium über Anthropologie weiterführen können und sie hätte ein Zuhause, in welches sie zurückkehren konnte. Und auf seine Verlobte konnte er sich verlassen, dass diese sich gut um Lucy und Victor kümmern würde, immerhin hatte sie einen sehr guten Draht zu ihnen. Victor hatte er längst in seine Geschäfte eingewiesen und er hatte auch mehr als oft unter Beweis gestellt, dass er es konnte, da machte sich Sergej keine Sorgen. Und Victor würde schon ein gutes Auge auf Lucy haben. Schließlich löste er sich wieder von seinem Sohn und ein warmherziges Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

„Ich bin wirklich stolz auf euch beide. Ihr werdet das schon schaffen und du weißt, dass Rachel da ist, wenn ihr Schwierigkeiten habt. Und wenn du mit der Familie Probleme hast, wende dich am besten an Dimitrij, meinen Berater. Er ist schon seit der Schulzeit ein enger Freund und ich vertraue ihm. Ich werde auch mit ihm sprechen, dass er dir unter die Arme greifen soll. Finanziell habe ich auch genug zur Seite gelegt, dass ihr alle gut versorgt seid.“

„Dad…“

Sergej atmete tief durch und fing sich wieder. Insbesondere als er den traurigen Blick seines Sohnes sah, der fast schon wirkte, als würde er in Tränen ausbrechen.

„Hey, ein Mann weint nicht so einfach. Noch bin ich nicht fort, also gibt es keinen Grund zum Weinen. Ich habe mit Dimitrij geredet. Für die nächsten zehn Tage wird er die Geschäfte weiterführen und ich brauche auch mal eine Auszeit. Ich habe mir überlegt, dass wir in die Toskana fliegen könnten und Lucy überraschen. Wir könnten wieder einen gemeinsamen Familienurlaub verbringen und für eine Zeit lang diese ganzen Sorgen vergessen. Was hältst du davon?“

Überrascht sah Victor ihn an. Für gewöhnlich machten sie nur ein Mal im Jahr einen Familienurlaub und dieser war bereits. Außerdem hatten sie schon länger keinen mehr gemacht, seit Lucy im Ausland studierte und sowohl sie als auch Victor erwachsen waren. Aber der 24-jährige verstand, was es mit dieser Idee auf sich hatte. Sein Vater wollte wenigstens noch einen letzten Urlaub mit seiner Familie verbringen.
 

Sam hatte den ganzen Tag damit verbracht, seine Sachen auszupacken, sich um Sokrates zu kümmern und mit den anderen Bewohnern wie zum Beispiel Asha oder Yin warm zu werden. Er half Christine ein wenig in der Werkstatt, während Araphel arbeitete und so verging der Tag recht entspannt und am nächsten bemerkte er, dass allgemein eine recht gelöste Stimmung herrschte und es sogar kein Problem darstellte, das Haus zu verlassen. Selbst Araphel schien kein Problem darin zu sehen, dass auch Sam mal rausging und da fragte der Detektiv natürlich auch nach. Wie er erfuhr, war etwas Ruhe in Boston eingekehrt, weil Shen und seine wichtigsten Berater nach Shanghai abgereist seien, weil dort dringende Angelegenheiten zu klären seien. Und da er weg war, gab es auch deutlich weniger Bedrohung durch die Triade, was für eine deutliche Erleichterung sorgte. Morphius teilte schließlich mit, dass Shen knapp drei Wochen weg bleiben würde und dass Sergej auch überraschend einen Urlaub mit seiner Familie plane. Keiner konnte sich erklären, warum auch noch der Patriarch verreisen wollte, doch Sam wusste Bescheid, sagte aber nichts dazu. Immerhin hatte er Sergej versprochen, über seine Diagnose Stillschweigen zu bewahren.

Schließlich aber, als Araphel am nächsten Tag recht früh mit seiner Arbeit fertig war, bestellte er Sam zu sich. Dieser war zu dem Zeitpunkt in der Werkstatt und ließ sich von Christine ein paar Tricks bei der Reparatur zeigen und erfuhr durch Asha, dass der Mafiaboss nach ihm verlangte. Er wurde von dem etwas tollpatschigen aber dennoch herzensguten Mechaniker in Araphels Privatzimmer gebracht. Dort gab es ein großes Bücherregal mit mehrsprachiger Literatur, es fanden sich ein paar Fotos wieder, die ihn, seinen Adoptivvater und seine Schwester zeigten. Auf manchen war auch noch eine Frau zu sehen, die wahrscheinlich Mrs. Mason war. Araphel selbst hatte sich gegen den Billardtisch gelehnt und betrachtete gedankenversunken ein Foto.

„Du wolltest mich sehen?“ fragte er, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Langsam trat er näher heran und fragte sich, was Araphel wohl von ihm wollte. Der Mafiaboss betrachtete immer noch das Foto, welches ihn und seine Schwester als Kinder zeigte. Er selbst sah da nicht älter als zehn aus.

„Was denkst du über mich?“ fragte Araphel schließlich und legte das Foto beiseite. „Was siehst du in mir, dass du darauf kommst, Gefühle für mich zu entwickeln?“

Tja, das war eine gute Frage und ganz sicher war sich Sam auch nicht. Aber dennoch versuchte er, die passenden Worte zu finden und erklärte „Ich glaube nicht, dass du durch und durch ein schlechter Mensch bist. Du hast auch eine sanfte Seite und ich weiß, dass du deine Schwester sehr geliebt hast und du unbedingt Gerechtigkeit für ihren Tod willst. Du nimmst so viel auf dich, um Christine und die anderen zu beschützen und sogar mich hast du beschützt.“

Araphel schwieg und er wirkte sehr nachdenklich. Sam erklärte „Ich glaube, dass du tief in deinem Herzen ein Beschützer bist. Und das ist es, was ich an dir mag.“

Wieder ein längeres Schweigen, während Araphel tief nachdachte. Schließlich aber fragte er „Kann ich dir genug vertrauen, wenn ich dir eine persönliche Geschichte erzähle?“

„Klar!“ versicherte Sam. „Momentan bin ich eh mehr ein Gast als ein Detektiv.“

Wieder schaute er auf das Foto, auf dem er und Ahava zu sehen waren. Seine Schwester musste auf dem Foto drei Jahre alt sein. Sie war als kleines Mädchen wirklich bezaubernd gewesen, während ihr Bruder hingegen den Eindruck erweckte, als würde er niemanden an sie heranlassen wollen.

„Ich verlor meine Eltern durch einen Bombenanschlag der Palästinenser, als ich vier Jahre alt war. Danach kam ich in ein Waisenhaus in einem Vorort von Jerusalem. Dort waren die Kinder aber mehr billige Arbeitskräfte und wir wurden oft geschlagen, wenn wir ungehorsam waren. Ich lief weg, als ich sechs war und lebte auf der Straße. Irgendwie konnte ich durch Betteln und kleine Diebstähle gut überleben. Schließlich kam es zu einem offenen Feuergefecht radikaler Muslime, die der Ansicht waren, dass das Land ihnen gehöre und ich war zu dem Zeitpunkt ebenfalls vor Ort. Ich war knapp sieben Jahre alt, als ich in diesen Schusswechsel geriet und es war auf einem öffentlichen Marktplatz. Es gab mehrere Tote und Verletzte, ich war mitten in diesem Chaos und wusste nicht wohin. In dem Gedränge wäre ich fast gestürzt und totgetrampelt worden. Ein Ehepaar hat mir hochgeholfen und mich gerettet. Sie kannten mich nicht, genauso wenig wie ich sie kannte und doch halfen sie mir ohne zu zögern und nahmen mich zu ihrem Auto mit, um mich aus der Gefahrenzone zu holen. Als wir drin waren, schoss einer der Radikalen und tötete die beiden. Ich hatte mich hinten auf der Rückbank versteckt und mich hingelegt, was mir letzten Endes das Leben gerettet hatte. Ich blieb dort liegen und hatte Angst um mein Leben. Dann aber bemerkte ich das Baby neben mir. Es schrie und weinte, weil es durch den Lärm aufgeschreckt wurde und Angst hatte. Mir wurde klar, dass es das Baby des Ehepaares war, das mich gerettet hatte und ich nahm es daraufhin mit, stieg aus dem Wagen und rannte davon. Diese Menschen hatten mir das Leben gerettet, obwohl sie mich nicht kannten und sie hätten vielleicht überlebt, wenn sie es nicht getan hätten. Ich sah es deshalb ein Stück weit als meine Pflicht an, mich wenigstens um das zu kümmern, was sie zurückgelassen haben. Ich wollte dieses Baby beschützen, so wie sie mich beschützt hatten und ihnen auf dieses Weise meine Schuld zurückzuzahlen.“

Araphel sprach nicht weiter, doch Sam konnte sich so langsam denken, was das bedeutete. Und umso unglaublicher war die Story, dass er sie nicht zu glauben vermochte.

„Das… das Baby war… Ahava? Dann war sie gar nicht deine leibliche Schwester?“

„Nein und ich habe ihr es auch nie gesagt“, gestand der Mafiaboss und ihm war anzusehen, dass er diese Geschichte schon sehr lange mit sich herumtrug und sie wahrscheinlich nie jemandem erzählt hatte. Für Sam war das alles kaum vorstellbar. Wie hatte es ein Siebenjähriger geschafft, sich um ein fremdes Kind zu kümmern? Als er das fragte, erfuhr er, dass Araphel durchaus Hilfe bekommen hatte. Nämlich von ein paar älteren Straßenkindern. Er hatte eine Zeit lang mit ihnen zusammengelebt und sie hatten sich gemeinsam um das Baby gekümmert. Und da Araphel es nie aus den Augen gelassen hatte und sich mit Leib und Seele darum kümmerte, hatten sie dem Baby den Namen Ahava gegeben. Denn das bedeutete im Hebräischen „Liebe“.

„Zwischen Ahava und mir hat schon von Anfang an eine Bindung existiert, die weitaus tiefer war als bei normalen leiblichen Geschwistern, eben weil ich mich schon seit meiner Geburt um sie gekümmert habe. Als der Krieg damals immer schlimmer wurde, beschloss ich, dass es an der Zeit war, Israel zu verlassen und einen Ort zu suchen, an dem wir eine bessere Zukunft hatten. Als ich zehn war, stahl ich einem Soldaten eine Pistole und schlich mich mit Ahava zusammen an Bord eines Flugzeugs. Mein Plan war es, unentdeckt mitzufliegen und dann ebenso unentdeckt wieder auszusteigen. Und um zu verhindern, dass sie wieder umkehren und uns nach Israel zurückbringen könnten, hatte ich die Waffe dabei. Als wir also damals an Bord waren und uns versteckt hatten, fanden uns die Insassen der Maschine und ich richtete die Waffe auf sie wobei ich versuchte, ihnen klar zu machen, dass ich Israel verlassen wollte. Mein Englisch war noch sehr dürftig, reichte aber aus, um mich sehr grob zu verständigen. Die Männer wollten mich erschießen und die Situation wäre eskaliert, wenn da nicht ein Mann gekommen wäre, der das alles diplomatisch regelte und Verständnis für uns hatte. Er war beeindruckt, dass ich es geschafft hatte, zusammen mit Ahava an Bord der Maschine zu gelangen, ohne entdeckt zu werden und versprach mir, sich um uns zu kümmern und uns ein Zuhause zu geben. Das war Stephen Mason.“

Sam betrachtete Araphel schweigend und versuchte sich das alles vorzustellen. Und so langsam erkannte er auch den wahren Charakter des Mafiabosses und verstand ihn auch endlich. Er hatte mit seinen Ansichten Recht gehabt: Araphel war ein Beschützer. Er kämpfte für andere, auch wenn er behauptete, dass es allein für ihn selbst war. Er legte unglaublich großen Wert darauf, seine Schuld zurückzuzahlen und sein Wort zu halten. Die Rolle des Mafiabosses hatte er angenommen, weil er Stephen Mason dankbar war, dass dieser ihn und Ahava adoptiert hatte und er wollte sowohl seine als auch Ahavas Zukunft sichern, indem er für Stephen der Sohn wurde, den dieser brauchte. Er war bereit, alles zu tun, um jene zu beschützen, die ihm wichtig waren. Und dafür war er auch bereit, mit all seiner Kraft zu kämpfen und zu tun, was nötig war.

Er war wirklich in jeder Hinsicht ein Löwe.

Nadeln, Knebel und Fesseln

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Geständnisse

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das Treffen der Informanten

„Das Wasser haftet nicht an den Bergen, die Rache nicht an einem großen Herzen.“
 

Konfuzius, chinesischer Philosoph
 

Am nächsten Tag, nachdem Sam allein im Bett aufgewacht war, da Araphel früh raus musste, hatte er beim Frühstück von Morphius die Adresse zu einem Theater bekommen, in welchem das Treffen der Informanten stattfinden würde, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen konnten. Der Informant, der nach der letzten Nacht wohl immer noch was am Rücken hatte, wollte später nachkommen. Christine bot sich sogleich daraufhin an, dass sie ihn hinfahren könnte, da sie mit Yin eh shoppen gehen wollte und ihn genauso gut vor dem Theater absetzen konnte. Das Angebot nahm der Detektiv gerne an und so kam es, dass er gegen 11 Uhr vor dem Theater stand. Es war von der Bauart her ein wenig der Antike nachempfunden und gehörte zu den erfolgreichen, in denen oft klassische Stücke aus aller Welt gespielt wurden. In allen Sprachen verstand sich. Nur wunderte er sich, warum das Treffen an so einem Ort stattfinden sollte. Naja, vielleicht weil niemand so einen Ort erwarten würde…

Sam ging also rein und fand das Theater verlassen vor, da die Vorstellungen sowieso erst im Nachmittagsbereich anfingen. Als er aber den großen Zuschauerraum betrat, sah er, dass offenbar geprobt wurde. Ein Mann mit ernster Miene, der wie ein schottischer König gekleidet war, empfing soeben die Nachricht, dass die Königin verstorben sei. Bedächtig und mit unbeschreiblicher Würde und Erhabenheit trat er vor. Sam, der gebannt auf das Schauspiel sah, setzte sich und bemerkte erst einen Moment später, dass da noch jemand saß. Ein Mädchen mit türkisfarbenem Haar, roten Augen (wahrscheinlich trug sie farbige Kontaktlinsen), schwarzer Gothic Lolita-Kleidung und Totenkopfspangen. Auch sie schien das Spiel auf der Bühne mit Interesse zu verfolgen.
 

„Sie hätte später sterben können; – es hätte

Die Zeit sich für ein solches Wort gefunden. –

Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,

Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,

Zur letzten Silb' auf unserm Lebensblatt;

Und alle unsre Gestern führten Narr'n

Den Pfad des stäub'gen Tods. – Aus! kleines Licht! –

Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;

Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht

Sein Stündchen auf der Bühn', und dann nicht mehr

Vernommen wird: ein Märchen ist's, erzählt

Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,

Das nichts bedeutet.“
 

Mit einer unbeschreiblichen Leidenschaft und mit solcher Überzeugungskraft hatte der König seine Worte geäußert und obwohl es nur eine Rede war, hatte sie Sam sofort in ihren Bann gezogen. Der Schauspieler war verdammt gut. Zwar hatte er schon öfter Shakespeares „MacBeth“ gesehen, aber selten einen so großartigen MacBeth gesehen wie diesen, so viel stand fest. Das Mädchen neben ihm stand auf und begann zu klatschen.

„Bravo, wirklich klasse“, rief sie und ein freches Lächeln lag auf ihren schwarz geschminkten Lippen. „Wirklich reif für den Oscar.“

Sam sah zu ihr und fragte sich, was das Mädchen wohl hier wollte. Äußerlich schien sie nicht älter als 13 Jahre alt zu sein, was aber auch an ihrem Outfit und der Tatsache liegen konnte, dass sie ohne die Plateausohlen an ihrem Schuhen nur knapp 1,40m groß war. Und so wie sie aussah, war es ihr nur schwer zuzutrauen, dass sie sonderlich auf klassische Stücke stand. Jedenfalls sorgte ihr Ausruf dafür, dass der König und sein Diener sich verbeugten und danach hinter die Bühne verschwanden. So langsam fragte sich Sam, ob er sich nicht vielleicht geirrt hatte und es hier noch einen anderen Raum gab, wo das Treffen stattfinden könnte. Wahrscheinlich war er hier falsch. Als er sich deshalb erheben und gehen wollte, wandte sich das Mädchen ihm zu und fragte überrascht „Du willst gehen? Dabei haben wir extra gewartet.“

Nun stutzte er.

„Wie bitte?“

„Na Morph hat uns kontaktiert und jetzt sind wir hier. Mein Name ist übrigens Bonnie B.“

Damit reichte ihm das klein geratene Gothic Lolita Mädchen ihm die Hand zum Gruß und etwas überrascht erwiderte Sam diese Geste. Diese Bonnie war eine Hackerin? Damit hätte er jetzt nicht gerechnet, vor allem, weil sie so jung aussah. Kurz darauf kamen die beiden Schauspieler, die vorhin noch auf der Bühne gestanden und sich nun umgezogen hatten. Der MacBeth war ein etwas rebellisch aussehender 30-jähriger mit brünettem Haar und rotschwarzer Lederjacke. Er wirkte wie jemand, der gerne in der Gegend unterwegs war und zu den Coolen gehörte. Sein Begleiter war da eher zierlich, hatte schwarzes Haar und türkisfarbene Augen. Ein freundliches, aber auch zerbrechliches Lächeln lag auf seinen Lippen und er war sehr androgyn. Wahrscheinlich spielte er sogar Frauenrollen. Zum Gruß hob der MacBeth die Hand und sämtliche Leidenschaft war aus seinem Gesicht verschwunden. Stattdessen wirkte sein Gesichtsausdruck leicht melancholisch und eine Spur weit gelangweilt. Und seine Augen hatten etwas von einem toten Fisch angenommen, anders konnte Sam es nicht beschreiben.

„Ich bin Harvey“, grüßte er Sam und reichte ihm die Hand. „Harvey Charles Dullahan und das ist mein Ehemann Chris.“

Die beiden waren verheiratet? Der Detektiv erwiderte auch hier den Gruß, war aber dennoch sehr überrascht zu hören, dass die beiden tatsächlich ein Ehepaar waren. Aber andererseits war die Homoehe in Boston schon längst kein Thema mehr. Und der Name sagte ihm auch sogleich etwas. Chris Dullahan, der gebürtiger Ire war, wurde vor ein paar Jahren von einem Polizisten in den Kopf geschossen und hatte im Koma gelegen. Grund dafür war ein Irrtum gewesen, da damals eigentlich Jagd auf das Killerehepaar Jake und Jill Dungaree gemacht wurde. Der damalige Lebensgefährte des Opfers war ebenfalls niedergeschossen worden und danach zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt worden wegen Verleumdung und Widerstand gegen die Polizei. Der Name des damals Verurteilten lautete Harvey Charles Dahmer. Offenbar hatte dieser nach der Heirat den Namen seines Partners angenommen. Die beiden waren also Schauspieler und Hacker? Irgendwie wurde das alles immer merkwürdiger.

„Kommt Morphius gar nicht?“

„Er sagt, er will nachkommen.“

„Ah verstehe“, murmelte Harvey tonlos und es schien, als wäre das nicht mehr der lebhafte Schauspieler auf der Bühne, sondern nur noch ein freudloser Einzelgänger. Harvey führte sie in einen Raum, der wahrscheinlich während der Pausen von den Schauspielern benutzt wurde und alle nahmen sie auf den Sofas Platz. Als alle sich gesetzt hatten, erhob Harvey das Wort.

„Also da wir nicht extra auf Morphius warten müssen, würde ich vorschlagen, wir stellen uns kurz vor. Mein Name ist Harvey Charles Dullahan und das ist mein Ehemann Chris. Ich bin außerdem Psychologe und seit knapp vier Jahren als Informant tätig. Mein Fachgebiet ist Korruption und Vertuschung von Verbrechen innerhalb der Polizei und Chris unterstützt mich bei der Tätigkeit. Wir haben Kontakte zur Bostoner Polizei und zum FBI und vertrauenswürdige Ansprechpartner, die die Ermittlungen im Fall einer Korruption oder krimineller Aktivitäten von Polizisten aufnehmen würden. Ansonsten ist zu sagen, dass ich mir während meines Studiums die Fähigkeiten der Analyse von Mikroexpressionen angeeignet habe und Chris kann sich in jeder Rolle perfekt tarnen, auch als Frau.“

So langsam verstand Sam das Ganze. Offenbar hatte sich Harvey auf so etwas spezialisiert, nachdem er und Chris selbst Opfer geworden waren. Nämlich als die Polizei sie beide niederschoss und Harvey als Schuldigen anprangerte und dafür sorgte, dass er sogar ins Gefängnis kam. Seine Motivation war da sehr verständlich, aber was war dann mit dem Mädchen? Als er sich ihr zuwandte, schien sie das als Aufforderung zu sehen, sich nun selber in aller Ausführlichkeit vorzustellen.

„Mein Name ist Bonnie B., allerdings ist das nur mein Deckname. Man findet mich auch unter den Decknamen Hecatia Bright in sozialen Netzwerken und ich hab da meinen eigenen Youtube Kanal. Ich bin 16 Jahre alt und seit drei Jahren professionelle Hackerin, die sich auf das Deep Web spezialisiert hat. Ich arbeite meist mit der Polizei zusammen und konzentriere mich auf das Aufspüren von Usern von illegalen Seiten, Uploadern von Kinderpornografie und SNUFF-Videos sowie Pädophilen in Chatrooms. Außerdem ist es mein Ziel, sämtliche Charter Webs zu infiltrieren und die so genannten Closed Shell Systems zu knacken, um damit die wohl größten Ringe der Welt hochgehen zu lassen. Das heißt im Klartext: auf der ganzen Welt wirst du keinen besseren Spezialisten für das Deep Web finden als mich.“

Ungläubig starrte Sam sie an. Das Mädchen war erst 16 Jahre alt und machte solche Sachen? Sie wollte ihn doch wohl auf den Arm nehmen.

„Bist du nicht etwas jung für so etwas?“

„Ich komm klar damit“, meinte Bonnie nur. „Bei mir wurde schon recht früh etwas Ähnliches wie eine Inselbegabung festgestellt und das nutze ich, um mich im Deep Web auszutoben. Ist ein besserer Zeitvertreib als Ponys und es kommt den Opfern solcher Seiten zugute, wenn ich so ein paar Kinderschänder an die Polizei verrate.“

„Bonnie ist in der Tat die Beste auf ihrem Gebiet“, bestätigte Harvey. „Sie hat es geschafft, in zwölf Monaten Arbeit den Betreiber der Lolita Sex Toys Seite zu identifizieren und sämtliche Daten aller Kunden und Mitverantwortlichen zu sammeln.“

„Aber wenn du so gut bist, wieso ist nie etwas wegen diesem Slave Shipping Service passiert?“

„Ich arbeite quasi alleine und ich gehe noch zur Schule“, erklärte Bonnie ein wenig beleidigt. „Ich hab erstens noch ein eigenes Leben und zweitens ist es gar nicht so einfach, ein Closed Shell System zu knacken und sämtliche Daten auszulesen.“

Da Sam mit diesem Begriff nichts anfangen konnte, musste Bonnie es ihm erklären.

„Das Internet hat verschiedene Webarten, die alle eigene Bezeichnungen haben. Moment, ich hab hier eine Übersicht…“

Damit kramte sie aus ihrer Tasche einen Ausdruck hervor, auf dem ein Eisberg zu sehen war, der an der Wasseroberfläche trieb. Dabei war auch der untere Teil unterhalb der Wasseroberfläche zu sehen und groß aufgelistet standen dort die verschiedenen Level des Internets:
 

Level S „Clearnet“: Soziale Netzwerke, Suchmaschinen, „Wiki“ Enzyklopädien, E-Mail Service, gewöhnliche Internetinhalte
 

Level 1 „Surface Web“: Blogs & Essays, Hosting Services, Forums, Amazon & Ebay, simple AI, geschlossene soziale Netzwerke, Tumblr., Reddit
 

Level 2 „Bergie Web“: 4chan, Torrents, Antivirus Datenbank, Wikileaks, Streaming Services, Cleverbot, Ad Pop-Ups, Webarchive
 

Level 3 „Deep Web“: Spambots, Celebrity Skandale, virtuelle Realität, Gore, Computersicherheit, sensible Inhalte, Microsoft Datenbank, Hackeranleitungen, DDoS
 

Level 4 „Darknet“: Gesperrte Medien, Hacking Gruppen, meiste .onion Adressen, Drogendealer, Shell Netzwerke, extreme illegale Inhalte, Hidden Wikis, Handel mit seltenen Tieren, illegale Dienstleistungen, Menschenhandel
 

Level 4B „Private Web“ (Geschlossene Shell Systeme): Hyperintelligente Bots, FBI-Archive, geometrisch-algorithmische Forschungen, Partikelstrahlenwaffen, Supercomputer, Softwares mit illegalen Inhalten, SNUFF, Hardcore Vergewaltigungsvideos, Josef Mengele Experimente
 

Level 5 „Marianas Web“: Auch bekannt als „letzte Barriere des Internets“. Kein Hacker hat es je geschafft, darauf zuzugreifen. Es wird vermutet, dass hier Daten der NSA, CIA und anderweitige Daten zu finden sind. Militär- und Raketenstützpunkte und Informationen, die einen Krieg auslösen könnten.
 

„Diese Seite, von der du da sprichst, gehört in Level 4B und ist damit extrem schwer aufzuspüren. Ich habe allein einen Monat gebraucht, um den Zugang zu erhalten. Selbst danach habe ich elf Monate gebraucht, um jemanden zu finden, der ausgepackt hat. Ansonsten wäre ich heute noch kein Stück weiter. Wenn man keinen Anhaltspunkt hat, wer dahinter stecken könnte, ist es schwer, den Betreiber zu finden und es ihm auch zu beweisen. Hier liegt der Fall ein wenig anders. Ich…“

Bonnie unterbrach ihre Erklärung, als die Tür aufging. Es war Morphius, der sie alle kurz mit einem „Moin“ grüßte und sich direkt zu Sam setzte, wobei er nur meinte „Erzähl ruhig weiter, ich wollte nicht stören.“

Hieraufhin räusperte sich die 16-jährige und versuchte, den Faden wiederzufinden. Dann aber schien sie wieder zu wissen, wo sie aufgehört hatte.

„Beim Slave Shipping Service weiß ich inzwischen, dass die Hauptverantwortlichen sowohl aus Russland als auch aus China kommen: einmal die russischen Familien Ivanow, Andrejew und Sacharow und dann die chinesische Yanjingshe-Triade. Die russischen Familien verkaufen meist Prostituierte und Kinder aus Waisenhäusern, die nicht vermittelt wurden. Die Triade aber bietet noch zusätzlich diesen Verstümmelungsservice an. Um so einen Verein hochzunehmen, braucht es einen Hacker, der an Informationen kommt und entsprechende Kontakte zur Polizei, die die Ermittlungen aufnimmt. Nun ist es aber leider so, dass die Triade das Bostoner Police Department unter Kontrolle hat und somit niemand gegen den Slave Shipping Service ermitteln wird. Ohne Unterstützung seitens der Polizei kann ich also nichts machen.“

„Und hier kommt Harvey ins Spiel“, erklärte Morphius daraufhin und wies mit einer Handbewegung auf den Schauspieler. „Er kennt jemanden persönlich vom FBI, der sich mit korrupten Cops befasst und wenn du das Ganze auf legaler Ebene beenden willst, musst du jemanden haben, dem du vertrauen kannst. Harvey kennt diese Leute und ihn kann niemand belügen. Er kann dir die Mittel an die Hand geben, um die Kooperation innerhalb der Bostoner Polizei zu beenden und er kann gleichzeitig dafür sorgen, dass Bonnie einen Ansprechpartner bekommt, der die Ermittlungen in Sachen Slave Shipping Service durchführt. Allerdings müssen einige Dinge beachtet werden.“

„Und die wären?“ hakte Sam nach.

„Als Informanten gehen wir ein hohes Risiko ein, insbesondere Bonnie. Wenn ihre wahre Identität enthüllt wird oder man sie als Hackerin identifiziert, wird sie auf die Abschussliste der Betreiber gesetzt und schlimmstenfalls getötet oder als Sexsklavin verkauft. Um das zu vermeiden, wird der Kontakt nur über ein Deep Web Chatportal laufen. Da Bonnie erst 16 Jahre alt ist, wird es das Beste sein, wenn sie so wenig wie möglich persönlich in Erscheinung treten muss.“

Ja, das leuchtete Sam auch ein und er wollte auch lieber vermeiden, dass Bonnie noch irgendetwas passierte und sie noch ernsthaft in Gefahr geriet. Doch dann aber meldete sich die Hackerin selbst zu Wort.

„Hey!“ rief sie und wirkte etwas beleidigt. „Bevor ich hier auch nur einen Finger krumm mache, will ich erst mal bezahlt werden! Immerhin mach ich mir ziemlich viel Arbeit neben der Schule.“

„Wie viel willst du denn?“

Ein freches und unheilvoll anmutendes Grinsen zog sich über das Gesicht der 16-jährigen und ließ nichts Gutes erahnen.

„Nicht wie viel, sondern was“, korrigierte sie und holte ein Handy hervor. „Ja nachdem, wie schwer der Auftrag ist, kann ich auch mal ein hübsches Sümmchen verlangen, immerhin muss ich auch von etwas leben und mein Taschengeld aufbessern. Aber wenn ich so hübsche Typen sehe, verlange ich auch mal gerne was anderes. Morph, du weißt genau was ich will.“

Der Informant mit dem Hut seufzte und schüttelte den Kopf, wobei er murmelte „Du bist wirklich durch und durch verdorben.“

„Ich weiß eben, was ich will“, konterte sie und grinste selbstbewusst und frech. „Von ihm will ich auch eines, immerhin hab ich es mit einem Level 4B Auftrag zu tun.“

Sam, der nicht wirklich verstand, was das alles bedeuten sollte, beobachtete, wie Morphius plötzlich seinen Hut ablegte und begann, sein Shirt auszuziehen. Dann wandte sich dieser an den Detektiv und meinte „Du auch.“

„Und wofür bitteschön?“

„Bonnie nimmt von Typen, die ihr gefallen, als Bezahlung Fotos an. Aber nur oben ohne. Also zieh dein Hemd aus und bring es hinter dich, ansonsten sitzen wir hier noch den ganzen Tag rum.“

Ein Foto als Bezahlung? Irgendwie konnte der 28-jährige nicht sagen, ob Bonnies Verhalten entweder exzentrisch oder einfach nur ziemlich pubertär war. Naja, wenn sie dann wenigstens ihre Unterstützung zusagte, war es auch in Ordnung. Nur dummerweise hatte er überall noch diese hässlichen blauen Flecken und das würde Bonnie sicherlich nicht gefallen. Als er ihr das erklärte, schien sie ein wenig beleidigt zu sein und meinte „Nur Bilder von Morph sind mir ehrlich gesagt den ganzen Aufwand nicht wert.“

„Und wie wäre es mit Bildern von mir?“ fragte Harvey, woraufhin Bonnie kurz überlegte und meinte „Wenn deine Augen dann nicht so dreinglotzen wie ein toter Fisch, dann okay.“

Daraufhin legte Harvey seine Jacke ab und entkleidete seinen Oberkörper. Sam bemerkte sofort, dass er gut durchtrainiert war und offenbar trainierte. Bonnie hielt ihr Handy hoch und fotografierte erst Morphius und dann Harvey.

„Sehr gut“, meinte sie und wirkte zufrieden. „Sieht doch wunderbar aus. Okay, die Bezahlung hätten wir und ich halte mein Wort. Ihr kriegt von mir alles, was ihr braucht. Morph, du gibst mir am besten die Informationen zum Boss der Triade und all jener, die eine wichtige Position innehaben. Je mehr ich über diese Penner weiß, desto schneller kann ich erste Ergebnisse liefern.“

„Okay, wird gemacht!“

„Und ich werde Supervisory Agent Sadie James und Special Agent Steve Kazan vom FBI benachrichtigen und sie um Hilfe bitten. Es kann sein, dass Sie dich auch noch persönlich sprechen wollen, Sam. Wenn ihr uns entschuldigt, Chris und ich haben noch zu tun. Wir melden uns dann, wenn es Neues gibt.“

Damit verabschiedeten sich Chris und Harvey von ihnen und gingen. Es war ja ohnehin das Nötigste gesagt worden. Schließlich blieben nur noch Bonnie, Morphius und Sam. Bonnie ihrerseits schaute sich mit einem fröhlichen Lächeln die Fotos an, die sie geschossen hatte.

„Sag mal, Bonnie“, begann Sam zögernd. „Was für Dinge findest du da manchmal im Deep Web?“

„Nun, ich treibe mich die meiste Zeit im Darknet rum, was ja streng genommen nicht ganz dasselbe ist. Meist hab ich eher mit Pädophilen zu tun, manchmal auch mit bizarren Sachen wie Experimente aus dem zweiten Weltkrieg, die heute noch durchgeführt werden und so.“

„Und wie schaffst du das, so etwas überhaupt zu machen, wenn du doch selber so jung bist?“

„Ich denke einfach daran, dass ich alles in meiner Macht stehende tue, damit es solche Menschen schwerer haben, diese Dinge zu tun. Außerdem kann ich mich sehr gut von solchen Sachen abgrenzen, solange ich nur am PC sitze. Zugegeben, es macht mir auch Spaß, so etwas zu machen. Nicht, dass ich Freude daran habe, mit Kinderschändern zu chatten, sondern einfach diese schwierigen Seiten zu knacken und das zu schaffen, was andere nicht können. Es ist, als würde man eine schwere Matheaufgabe in der Schule lösen. Und das Marianas Web ist sozusagen das Millionenrätsel, an dem sich bisher alle die Zähne ausgebissen haben. Allein der Gedanke daran, dass in diesem Web Informationen sind, die einen Weltkrieg auslösen könnten, ist doch der ultimative Nervenkitzel.“

„Und was würde geschehen, wenn dir das gelingen würde?“

Hier zuckte Bonnie mit den Schultern und meinte „Dann wird mich die Regierung wahrscheinlich umbringen wollen.“

„Trotzdem willst du das tun?“ fragte Sam und war sich nicht sicher, ob Bonnie eigentlich klar war, in was für eine Gefahr sie sich da begab. Doch sie schien sich nicht so wirklich darum zu kümmern und erwiderte „Wieso denn nicht? Immerhin liegt da doch der größte Nervernkitzel drin. Und wenn diese Informationen im Marianas Web einen Krieg auslösen könnten, würde das doch ein lustiges Chaos geben, wenn eine einzelne Person sie in die Hände bekommt.“

Es war eindeutig… Bonnie war nicht ganz normal im Kopf. So viel stand fest.

„Und wieso ist es so wichtig für dich, in das Marianas Web zu kommen?“

„Weil ich die Wahrheit aufdecken will. Egal wie sie aussehen mag und egal was für Konsequenzen sie nach sich ziehen wird. Wir werden doch eh alle nur von der Regierung verarscht und blöken alles nach wie eine Herde strunzdummer Schafe. Ich weiß genau, dass die Regierung so einiges auf dem Kerbholz hat und auch wenn ich nicht wirklich daran glaube, dass man im Marianas Web die Koordinaten von Atlantis oder Informationen zu Außerirdischen finden wird, so bin ich mir dennoch sicher, dass sie irgendetwas verschweigen. Und wenn es die Tatsache ist, dass sie Testmedikamente als vermeintlichen Impfstoff nehmen und uns als Versuchskaninchen missbrauchen. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, ob er sie nun hören will oder nicht. Und wenn ich mit dem, was ich im Marianas Web finde, einen Krieg auslöse oder nicht… dann ist mir das auch recht, denn letzten Endes bin nicht ich Schuld daran, sondern die Regierung, dass sie solch gefährliche Geheimnisse überhaupt hat.“

Sam und Bonnie

„Jedes Unrecht erregt das Gefühl der Rache, Sühne, Vergeltung und sie bleibt nicht aus. Früher oder später findet jede Tat ihren Lohn durch die in der Menschheit wirkenden Kräfte selbst.“
 

Moritz Carrière, deutscher Philosoph
 

Nachdem das Informantentreffen vorbei war, hatte Morphius sich verabschiedet, da er sich noch um ein paar wichtige Dinge kümmern wollte. Sam seinerseits wollte die Zeit nutzen, um nach einer gefühlten Ewigkeit wieder mal durch die Stadt zu gehen und die Freiheit zu genießen. Solange Shen nicht im Lande war, stellte die Yanjingshe ohnehin keine allzu große Bedrohung dar und da musste er auch nicht den ganzen Tag lang in der Villa festsitzen. Insbesondere nicht, seitdem er dieses erniedrigende Schockerhalsband losgeworden war. Mit einem zufriedenen Lächeln streckte er sich und hatte das Gefühl, als würde alles besser werden und als würde sich endlich was tun. Das hatte er wirklich gebraucht.

„Hey Süßer!“

Da ihm die Stimme bekannt vorkam, drehte er sich um und sah Bonnie, die ihm fröhlich grinsend zuwinkte. Sie hatte einen schwarzen Sonnenschirm bei sich, der sehr extravagant aussah und auch gewissermaßen zu ihrem Gothic Lolita Look passte. Durch ihre Stiefel mit den hohen Plateausohlen wirkte sie etwas größer als sonst, machte aber dennoch einen viel zu kurz geratenen Eindruck. Sam blieb stehen und sogleich ergriff Bonnie seinen Arm und hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein und lächelte fröhlich.

„Bonnie“, rief er überrascht. „Ich dachte, du wolltest nach Hause.“

„Ach weißt du, ich genieße auch mal ganz gerne die Anwesenheit eines süßen Mannes. Außerdem macht mich wahnsinnig neugierig, wie lang das schon mit dir und Morph läuft. Er hat zwar mal erwähnt, dass er schwul ist, jemanden sehr liebt und auch eine kleine Tochter hat, aber ich hätte nicht gedacht, dass er auf so niedliche Typen wie dich steht.“

Sam starrte sie an und konnte nicht glauben, was sie da gesagt hatte. Er und Morphius ein Verhältnis? Offenbar schien sie irgendetwas ziemlich falsch interpretiert zu haben.

„Äh Moment mal“, sagte Sam. „Morph und ich haben nichts miteinander. Er ist nur ein guter Freund und soweit ich weiß, ist er mit jemand anderem zusammen. Mit einem Arzt.“

„Oh“, rief Bonnie und bemerkte ihren Fauxpas. „Das wusste ich nicht. Sorry deswegen. Ich war nur so verwundert, weil Morph mir geschrieben hat, dass er dringend meine Hilfe braucht und ein Freund von ihm mich persönlich sprechen will. Du musst wissen, solche Informantentreffen finden für gewöhnlich nur in Chatrooms auf einer von mir angelegten Deep Web Seite statt. Wir treffen uns nur dann persönlich, wenn es sehr wichtig ist. Und offenbar vertraut Morph dir genug, um seine allerwichtigsten Kontakte preiszugeben. Da liegt der Verdacht doch nahe, dass du sein kleiner Schatz bist. Oder bist du noch zu haben?“

Was sollte das denn gerade werden? Stand Bonnie etwa auf ihn? Er war doch knapp zwölf Jahre älter als sie. Na die hatte ja Nerven, aber wahrscheinlich waren solche Teenager eben.

„Ich bin vergeben“, antwortete er ausweichend und räusperte sich. „Und ich glaube, du solltest dir jemanden in deiner Altersklasse suchen.“

„So? Machst du dir etwa meinetwegen Sorgen?“

Diese Bonnie hatte es wirklich faustdick hinter den Ohren, das merkte er sofort. Da es etwas schwierig war, auf der Straße miteinander zu reden, gingen sie in ein Café, wo Sam sich einen Kaffee und Bonnie einen Milchshake bestellte. Sie setzten sich in eine ruhige Ecke, um miteinander zu reden. Bonnie wurde von einigen Gästen neugierig beäugt, was aber größtenteils an ihrem Outfit lag, aber sie schien das auch ein wenig zu genießen. Schließlich, als sie ihre Getränke erhalten hatten, fragte Sam ein wenig nach.

„Wie bist du eigentlich darauf gekommen, Hacker zu werden?“

„Tja, bei mir wurde ja vor fünf Jahren ja eine Art Inselbegabung festgestellt“, begann sie zu erklären. „Das heißt, man ist zwar in den meisten Bereich durchschnittlich, aber auf einem Gebiet so dermaßen begabt, dass es nicht mit den Fähigkeiten eines anderen Menschen messbar wäre. Bei mir war es eben der IT-Bereich. Ich hab schon mit zwölf erste Programme geschrieben und auch so einigen Unfug angestellt. Mal hab ich die Online-Konten manipuliert, Passwörter geklaut oder halt auch sämtliche Ampeln in Boston durcheinandergebracht.“

„Und wie bist du darauf gekommen, für die Polizei zu arbeiten?“

„Das war Cells Idee. Er ist ebenfalls Hacker und hat mir alles beigebracht. Er hat auch im Deep Web geforscht und der Polizei geholfen. Ehrlich gesagt ist er sogar noch besser als ich und er ist eine Legende unter den erfahrenen Hackern. Vielleicht hast du ihn ja schon mal irgendwo gesehen.“

Damit holte Bonnie ein Foto heraus und zeigte es ihm. Darauf zu sehen war ein junger Mann von vielleicht 20 Jahren. Er hatte eine recht blasse Haut, als hätte er selten die Sonne gesehen und sein platinblondes Haar hatte er zu einem Zopf gebunden. Ein freundliches Lächeln lag auf seinen Lippen. Doch Sam konnte mit diesem Gesicht nichts anfangen.

„Nein, tut mir leid. Den habe ich noch nie gesehen.“

Die Enttäuschung war der 16-jährigen mehr als deutlich anzusehen und natürlich wollte der Detektiv mehr wissen, denn er wusste genau, dass sie irgendwelche Hintergedanken hatte.

„Erzähl schon, Bonnie. Was ist los?“

„Ich dachte nur… weil du Detektiv bist und viel mit Leuten zu tun hast, hättest du ihn vielleicht gesehen.“

„Warum? Ist ihm etwas zugestoßen?“

„Ich weiß es nicht. Es fing damit an, als Cell davon sprach, ins Marianas Web einzudringen und endlich aufzudecken, was die Regierung vor uns geheim hält. Er sprach davon, dass wir wohl alle nur belogen und hinters Licht geführt werden. Ich wollte ihm helfen, aber er meinte, dass es zu gefährlich sei. Und als er dann endlich das schaffte, wozu eigentlich nur ein Quantencomputer in der Lage wäre, ist er spurlos verschwunden und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Ich befürchte, dass die Regierung ihn verschleppt hat, um ihn zum Schweigen zu bringen.“

„Ach so“, meinte Sam schließlich. „Dann willst du also ebenfalls das Marianas Web knacken, um diesen Cell zu finden.“

Bonnie nickte und man sah ihr an, dass es sie schon sehr beschäftigte.

„Ich habe das gesamte Deep Web nach einem Zeichen von ihm abgesucht. Als das nicht klappte, habe ich in meiner Identität als Hecatia Bright in öffentlichen Netzwerken umgehört, aber nichts erfahren. Es ist, als wäre er gänzlich verschwunden und ich hab keine Ahnung, wie ich ihn noch finden kann.“

Nun, das klang in der Tat sehr merkwürdig. Sam betrachtete nachdenklich das Foto und fragte, wie lange dieser Cell eigentlich verschwunden war. Von Bonnie erfuhr er, dass es inzwischen acht Monate waren. Und da sie seinen Namen nicht wusste, hatte sie nicht allzu viele Möglichkeiten.

„Hast du schon mal daran gedacht, dich in den Polizeicomputer einzuhacken und da nachzusehen?“

„Oh, daran habe ich wohl nicht gedacht“, murmelte Bonnie. Tja, sie war eben trotz ihres Talents noch ein 16-jähriges Mädchen, das nicht immer auf alle Probleme eine Lösung hatte. Und vielleicht konnte sie einen Ratschlag gut gebrauchen.

„Wenn du am Computer bist, kannst du dich in den Zentralcomputer einhacken und über ein Identifizierungsprogramm Cells Foto mit denen in der Datenbank abgleichen. Wenn du seinen Namen hast, kannst du dort sehen, ob er vielleicht irgendwo im Gefängnis sitzt. Wenn dem nicht der Fall sein sollte, such in den Datenbänken der umliegenden Krankenhäuser nach.“

„Und wozu das denn?“

„Es kann ja sein, dass er nicht von der Regierung verschleppt wurde, sondern vielleicht einen Unfall hatte und zum Beispiel im Koma liegt und deshalb nicht übers Internet zu finden ist. Wenn sein Name dort nicht auftaucht, kannst du ja nachprüfen, ob er ins Ausland geflogen ist.“

Bonnie nickte und ihr war anzusehen, dass sie diesen Schritt als nächstes tun würde. Offenbar schien ihr dieser Cell sehr viel zu bedeuten. Nun ja… wenn man bedachte, dass er ihr so viel beigebracht und ihrer Gabe eine sinnvolle Tätigkeit gegeben hatte…

„Danke für den Tipp, Sam. Du bist echt schwer in Ordnung. Und dein Pseudonym ist übrigens auch echt cool.“

„Pseudonym?“

„Klar. Sam Leens bedeutet doch „Nameless“. Wahrscheinlich hast du ihn dir zugelegt, weil deine Arbeit so gefährlich ist, oder?“

„Äh nein. Das ist schon mein richtiger Name.“

Bonnie lachte verlegen. Nun gut, sonderlich übel nehmen konnte er es ihr nicht. Tatsächlich gab es so einige, die schon gedacht hatten, dass sein Name ein Pseudonym war, wenn man dahinter kam, dass es auch ein Anagramm sein konnte. Um das Thema zu wechseln, begann er nun zu fragen.

„Wissen eigentlich deine Eltern von deiner Tätigkeit?“

„Du gehst aber ganz schön ran, was?“ bemerkte die 16-jährige und grinste frech. „Bin ich denn so interessant für dich, dass du so viel über mich wissen willst?“

Der Detektiv räusperte sich und erklärte seine Neugier damit, dass er sich eben wunderte, dass ein so junges Mädchen eine so gefährliche Tätigkeit machte. Trotzdem blieb das freche Grinsen bei Bonnie.

„Ja, meine Eltern wissen von meiner Arbeit. Zugegeben, sie waren überhaupt nicht begeistert davon, aber weil die Polizei auch ein Auge auf mich hat und ich auch meist einen Ansprechpartner habe, der im Notfall sofort da ist, haben sie sich damit arrangiert. Außerdem ist es ja für einen guten Zweck und das Geld, was ich verdiene, spare ich für das College.“

„Verdienst du viel?“

„Nun… Vater Staat bezahlt mich schon großzügig pro Pädophilen, den sie mit meiner Hilfe hinter Gittern bringen und für alle Infos, die ich ihnen liefere. Zudem wird er nach meinem Abschluss an der High School ein Stipendium für ein Studium ausstellen. Wenn ich einen ganz dicken Fisch an Land ziehe, krieg ich einen Bonus, den ich dann aber lieber an eine Stiftung für Missbrauchsopfer spende. Geld krieg ich ja sowieso und mein Studium ist mir sicher, da kann ich ja auch die Opfer dieser perversen Säcke unterstützen, die ich enttarnt habe.“

So langsam merkte Sam, dass Bonnie trotz ihrer frechen und pubertären Art wirklich sehr reif in manchen Dingen war und sich auch Gedanken um die Kinder machte, die durch ihre Mithilfe gerettet werden konnten.

„So“, sagte sie und beugte sich etwas weiter vor. „Und bevor du noch weiter fragst: ich habe Körbchengröße C, bin 1,41m groß, hab Sternzeichen Löwe und ich bin noch Jungfrau. Und da du so ein großes Interesse an mir zu haben scheinst, ist es ja nur fair, wenn du mir auch ein paar beantwortest.“

„Und was willst du wissen?“

„Wie ist dein Macker so?“

Sam verschluckte sich bei dieser direkten Frage und er musste husten.

„Wie… wie kommst du darauf, dass ich mit einem Mann zusammen bin?“

Bonnie kicherte amüsiert über seine Reaktion und erklärte „Als ich die Frage stellte, ob du mit Morph zusammen bist, hast du zwar gesagt, du wärst mit einer anderen Person in einer Beziehung, allerdings hast du nichts davon gesagt, dass du mit einer Frau zusammen bist. Alle Hetero-Männer würden sofort betonen, dass sie mit einer Frau zusammen sind, aber du nicht. Also lässt das den Schluss zu, dass du entweder schwul oder bi bist.“

Die Kleine ist ist wirklich verdammt scharfsinnig, dachte sich Sam. Bei ihr muss ich noch echt aufpassen.

„Du bist ganz schön frech für eine 16-jährige.“

„Und du hast erstaunlich viel Interesse an mir, obwohl ich noch 16 bin und du selbst „Torpedo nach Achtern versenken“ spielst.“

Schlagfertig war sie auch noch. Eine strenge Erziehung hatte sie offenbar nicht so wirklich genossen. Sie war ganz schön dreist und normalerweise hätte er sich so etwas nicht gefallen lassen. Aber andererseits… Es stimmte schon, dass er sie ganz schön ausgefragt hatte und es war eben nur gerecht, wenn sie auch etwas über ihn erfuhr.

„Also schön. Mein „Macker“ gehört eher zu der Sorte, die ziemlich ruppig sein kann, aber dennoch ein gutes Herz besitzt.“

„Uh, die Sorte kenne ich sehr gut“, meinte Bonnie und ihr Grinsen nahm etwas ziemlich anzügliches an. „Da soll der Sex richtig Hammer sein.“

Die Kleine macht mich echt fertig, schoss es dem Detektiv durch den Kopf.

„Und wie habt ihr euch kennen gelernt?“

„Während eines Falls, den ich bekommen hatte. Ich sollte ihn beschatten, er durchschaute mich und dann ist das eine zum anderen gekommen.“

„Und du bist der Untere?“

Wieder verschluckte sich Sam an seinem Kaffee und musste husten. Irgendwie gefiel ihm das nicht, wie das Gespräch hier verlief. So langsam aber sicher rückte Bonnie ihm mit ihren Fragen ganz schön auf die Pelle und sie stellte ganz schön persönliche Fragen. Und als er deshalb fragte, warum Bonnie all diese Dinge wissen wollte, war die Antwort nur noch unglaublicher:

„Ich finde schwule Männer eben ziemlich scharf und ich schreib selbst seit seinem Jahr Erotikromane mit schwulen Paaren und wenn ich sage Erotikroman, dann nicht bloß mit Händchen halten und Bussi-Bussi. Ich rede von Fifty Shades of Gay.“

„Wie bitte?“ fragte Sam fast schon entgeistert. „Du… aber… du warst da erst 15!“

„Ich bin eben ein verdorbenes Luder.“

„Du machst mich echt fertig.“

„Das sagen Morph und Harvey irgendwie auch jedes Mal, wenn ich sie ärgern will. Aber ich liebe es einfach, Schwule zu ärgern. Die sind einfach so süß.“

Sam schüttelte den Kopf und fragte sich ernsthaft, was bloß im Kopf dieses Mädchens vor sich ging. Zwar waren Teenagerinnen provokant und machten sich nichts aus Regeln oder Anstand, sie gingen einfach ihren eigenen Weg. Und das lebte auch Bonnie aus. Sie führte ein Leben als normales Mädchen, das wie alle anderen zur Schule ging und die ganz normalen Teenagerprobleme hatte. Und dann gab es diese Zeit, wo sie zum Gothic Lolita Bonnie Bride wurde und in eine rabenschwarze Welt eintauchte, vor der andere einen großen Bogen machten. Wahrscheinlich hatte sie bei ihrer Arbeit auch Dinge gesehen, die schrecklich waren und die sie vielleicht auch verfolgen würden. Doch sie nahm all dies auf sich, weil sie ihre Fähigkeiten sinnvoll einsetzen und gegen die Verbrechen im Darknet ankämpfen wollte.
 

Harvey war recht still geblieben und Chris war nicht entgangen, dass ihn etwas beschäftigte. Er hakte sich daraufhin bei seinem Begleiter ein und sah ihn besorgt mit seinen türkisfarbenen Augen an.

„Jetzt sag schon, Harvey. Was ist denn los mit dir? Ich sehe dir doch an, dass du mal wieder über irgendetwas nachdenkst. Machst du dir wegen Bonnie oder Morph Sorgen?“

Der Schauspieler mit dem vollkommen freudlos wirkendem Blick betrachtete schweigend den wolkenverhangenen Himmel und dachte tatsächlich gerade nach. Das alles gefiel ihm nicht, das sagte ihm allein schon sein Gefühl. Und auf seine Intuition hatte er sich bislang immer verlassen können.

„Ich habe ein ungutes Gefühl“, erklärte er. „Sieh dir doch mal an, in was für eine Richtung sich das alles entwickelt. Boston steht früher oder später vor dem unvermeidlichen Untergang und versinkt in einem immer tieferen Sumpf aus Korruption und Kriminalität. Wie weit soll das noch reichen, wenn Leute Schutz bei der Mafia suchen müssen, weil die Polizei versagt?“

„Also ist es doch wegen Morph?“

„Nicht nur wegen ihm, sondern auch wegen seinem Begleiter. Sam Leens ist der Sohn eines Polizisten und sein Bruder wurde, soweit ich erfahren habe, von Auftragskillern der Yanjingshe erschossen. Morph kann nicht einmal seine Tochter sehen, weil er Angst hat, dass sie in Gefahr geraten könnte und dass der Sohn eines Polizisten, der die Mafia hasst, Schutz bei eben jener sucht, ist doch der beste Beweis dafür, dass hier etwas falsch läuft. Ich hab es dir ja gesagt, Chris: wir hätten Boston verlassen sollen, als wir noch die Chance hatten. Wir hätten schon direkt nach der Uni fortziehen sollen, dann wäre so vieles nicht passiert.“

Chris seufzte und lehnte seinen Kopf gegen Harveys Schulter. Offenbar machte er sich wegen dieser einen Sache immer noch schwere Vorwürfe. Dabei konnte keiner von ihnen etwas für das, was geschehen war. Es war ein tragischer Vorfall gewesen und sie konnten von Glück reden, mit dem Leben davongekommen zu sein. Sie hätten beide genauso gut tot sein können.

„Hey, jetzt denk nicht wieder darüber nach. Wir beide leben und wir sollten dafür dankbar sein. Dass du dir um deinen alten Freund von der Uni Sorgen machst, das kann ich verstehen, aber glaub mir: Morph weiß sich zu helfen und Bonnie hat auch genug Leute, die ein wachsames Auge auf sie haben. Mach dich doch einfach mal etwas locker und denk nicht immer an so düstere Dinge. Na komm, wir gehen jetzt erst mal nach Hause, dann koche ich uns was Feines und danach spielen wir unsere Lieblingsszenen aus Goethes „Faust“, so wie früher. Du als Mephistopheles und ich als Johann Faustus.“

Und tatsächlich stahl sich ein kleines Lächeln auf Harveys Lippen.

„Ja“, murmelte dieser schließlich. „Wie in den guten alten Zeiten.“

Auszeit

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Auszeit Teil 2

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Christines Opfer

„Für blutigen Mord sei blutiger Mord! Wer tat, muss leiden! So heißt das Gesetz in den heiligen Sprüchen der Väter.“
 

Aischylos, griechischer Tragödiendichter
 

Die Tage waren irgendwie ziemlich schnell an Sam vorübergegangen und auch die Arbeit lief wunderbar voran. Er chattete ab und zu mit Bonnie, traf sich mit Harvey und besprach mit ihm die weiteren Schritte. Und wenn er mal etwas Freizeit hatte, half er in der Werkstatt aus, da Araphel bis zum Hals in Arbeit steckte und kaum Zeit hatte. Christine hatte immer was zu tun für ihn und mit ihr machte es auch wirklich Spaß. Inzwischen war sie eine wirklich gute Freundin geworden und war so ziemlich für jeden Spaß zu haben. So zum Beispiel als sie eines Abends vorgeschlagen hatte, eine Strippokerrunde zu machen, wobei als Bedingung gesetzt wurde, dass Prothesen als Kleidungsstück gezählt werden. Hinterher war es dann aber doch beim normalen Pokern geblieben und die Rothaarige zockte einen nach dem anderen erbarmungslos ab. Schließlich aber, als sie alle gemeinsam am Freitagmorgen beim Frühstück zusammensaßen und sogar Araphel dabei war, hatte Christine eine Idee, die sie den anderen sogleich auch mitteilte.

„Heute findet eine Oldtimerausstellung statt. Da würde ich wahnsinnig gerne hin und ich werde bei der Gelegenheit auch Yin und Asha mitnehmen. Hat jemand Lust, vielleicht mitzukommen?“

Erwartungsvoll ließ sie den Blick durch die Runde schweifen, doch so wirklich schien niemand Lust darauf zu haben. Zumindest galt das für Morphius und Dr. Heian, die mit so etwas nichts am Hut hatten. Morphius erklärte direkt, dass er anderes zu tun habe und der Arzt betonte, dass er sich eine „besser geeignete Art der Zerstreuung vorstellen konnte als sich auf einer überfüllten Veranstaltung Fahrzeuge aus längst vergangener Zeit anzusehen“. Araphel steckte bis zum Hals in Arbeit und musste passen, dafür aber meldete sich Sam gerne, der sich das schon vorstellen konnte. So etwas klang schon sehr interessant und es würde sicherlich ein toller Ausflug werden. Nun aber meldete sich Araphel zu Wort, der da wohl gewisse Bedenken hatte.

„Wenn ihr auf so eine öffentliche Veranstaltung geht, will ich, dass jemand zusätzlich zu eurer Sicherheit mitkommt.“

„Och nee“, kam es von Christine, die alles andere als begeistert war. „Wir gehen auf eine Oldtimerausstellung und nicht nach Chinatown.“

„Trotzdem will ich, dass jemand mitgeht“, erklärte Araphel dieses Mal mit deutlich mehr Nachdruck in der Stimme. „Es besteht immer noch eine gewisse Gefahr, auch wenn Shen immer noch in Shanghai ist. Darum will ich, dass Owen euch begleitet.“

„Was?“ platzte es aus Christine heraus. „Du willst allen Ernstes, dass wir Owen mitnehmen? Der Typ ist ein Arsch!“

„Er wird zu eurer Sicherheit mitkommen und damit basta“, erklärte Araphel, der keinerlei Diskussion zuließ. „Und wenn er nicht mitgeht, dann geht keiner von euch zu der Ausstellung.“

„Wir sind doch keine Gruppe Kleinkinder“, protestierte die Rothaarige energisch und zog plötzlich eine geladene Beretta hervor, die sie auf den Tisch knallte, wobei sie erklärte „Ich kann mich sehr gut selbst zur Wehr setzen.“

Morphius und Dr. Heian, die diese Diskussion eher unfreiwillig mitverfolgten, schüttelten nur schweigend den Kopf darüber und sagten nichts weiter dazu. Sam sah abwechselnd zwischen den beiden Streithähnen und kam sich irgendwie vor wie in einer typischen Familienszene, wo der Vater seiner rebellischen 16-jährigen Tochter sagte, sie dürfe abends nicht allein auf eine Party, weil es zu gefährlich für sie war. Ja, das Bild passte eindeutig besser als das eines großen Bruders, der um seine Schwester besorgt war. Und irgendwie war die Vorstellung doch recht amüsant, vor allem weil Christine ein Jahr älter als Araphel war. Er konnte beide Seiten gut verstehen. Araphel war besorgt, dass ihnen etwas passieren konnte. Und Christine, die auch mal ein freies Leben führen wollte und keine Lust hatte, immer nur eingeengt und bewacht zu werden, konnte er genauso gut verstehen. Tja, letztendlich würde es wohl an ihm liegen, zwischen den beiden zu vermitteln.

„Hey, jetzt ist doch mal gut“, meldete er sich. „Ihr beide habt ja Recht. Warum belassen wir es nicht dabei, dass wir einen Aufpasser mitnehmen, der zurückhaltend ist und uns unseren Spaß lässt? Dann haben beide was davon und die Sache ist geregelt.“

„Eigentlich ein guter Vorschlag“, stimmte Asha kopfnickend zu. „Es nützt doch eh nichts, die ganze Zeit herumzudiskutieren und zu zanken, wer denn jetzt Recht bekommt und wer nicht. Wenn Owen verspricht, sich nicht wie die absolute Spaßbremse aufzuführen, dann können wir ihn mitnehmen. Ich würde so eine Ausstellung echt ungern verpassen.“

„Wer ist denn eigentlich Owen?“ fragte Sam schließlich und bekam sogleich eine Antwort von Morphius.

„Das ist einer von Araphels Leibwächtern. Wenn extern Treffen oder Geschäftsabwicklungen stattfinden, haben die Bosse und Unterbosse mindestens einen Bodyguard bei sich. Immerhin sind sie ganz hohe Tiere und müssen immer mit Mordanschlägen rechnen. Owen ist einer von der knallharten Sorte und war früher mal MMA-Champion.“

„Und er ist ein Arsch“, fügte Christine hinzu, die ziemlich in ihrer Meinung festgefahren war, dass sie keinen Bodyguard benötigten. Aber letzten Endes wurde dann doch entschieden, dass sie diesen Owen mitnehmen mussten.
 

Nach dem Frühstück machten sie sich fertig für die Abfahrt. Bevor es losging, musste Christine noch mal Yins Beinprothesen nachjustieren, da diese ein wenig klemmten und sie deshalb beim Gehen humpelte. Während sie an dem Kniegelenk schraubte, stand Araphel dabei, der ihr direkt in die Werkstatt gefolgt war.

„Es ist nicht so, dass ich dir etwas Böses will“, erklärte er. „Aber ich habe ein ungutes Gefühl.“

„Du machst dir zu viele Sorgen“, wandte Christine ein. „Ich bin schon oft genug alleine unterwegs gewesen, wenn Shen in Shanghai war und da hattest du nie so einen Aufstand gemacht.“

„Das weiß ich. Aber ich habe mich bisher immer auf mein Gefühl verlassen können. Schon als Ahava entführt wurde, hatte ich ein mieses Gefühl und ich will einfach Gewissheit haben, dass dieses Mal nichts passiert.“

Christine seufzte und wusste nicht, was sie am besten dazu sagen sollte. Auf der einen Seite rührte es sie ja, dass Araphel sich so um sie sorgte. Aber andererseits tat es ihr auch weh, weil sie wusste, dass er sich nur deshalb so um sie sorgte, weil er in ihr seine verstorbene Schwester sah. Auch wenn sie ihn wirklich gern hatte und nicht mit ihm streiten wollte, sie musste ihn von sich stoßen, weil sie ihm sonst nur wehtun würde. Doch egal wie sehr sie ihm auch zuredete und versuchte, ihm klar zu machen, dass sie nicht wie seine Schwester war, es würde nichts bringen. Araphel hatte diese Tragödie nie verkraftet und versuchte immer noch, Ahava zu retten, auch wenn sie schon lange tot war.

Der Mafiaboss schien zu ahnen, was in ihrem Kopf vor sich ging und sprach sie direkt darauf an.

„Was genau ist mit dir los? Bist du wegen irgendetwas wütend oder ist es wegen mir?“

„Nein, ich bin nicht wütend auf dich“, erklärte Christine und begann nun die Schrauben festzudrehen. „Im Gegenteil. Ich… ich mag dich wirklich, Araphel. Du und die anderen seid meine Familie. Ihr bedeutet mir alles, aber… ich kann nicht mit ansehen, wie du leidest, vor allem meinetwegen. Ich brauche keinen Beschützer oder großen Bruder, ich brauche einen guten Freund, der für mich da ist und mit dem ich mal abends am Auto schrauben, mit dem ich ab und an Pokern oder einfach nur zusammen mit ihm da sitzen und ein Bier trinken kann. Aber du kannst in mir keine Freundin sehen. Du siehst immer nur den Spiegel deiner Fehler und eine Tragödie, die du ungeschehen machen willst. Glaubst du wirklich, Ahava hätte gewollt, dass du so leidest?“

Als Christine diese Worte sprach, drängte sich ein Bild in ihr Gedächtnis zurück. Ein sehr unscharfes und unvollständiges Fragment einer Erinnerung, die sie tief in ihrem Unterbewusstsein verborgen gehalten und ins Vergessen gedrängt hatte. Ein schreckliches Bild verbunden mit einer schmerzlichen Erkenntnis, welche Schuld sie sich da aufgeladen hatte.

„Ahava wollte dir nicht noch mehr Kummer bereiten und sie wusste genau, dass du allein wegen ihr so leidest.“

„Was?“

Nun ließ Christine ihr Werkzeug sinken und richtete sich wieder auf. Sie wich Araphels Blick aus und man sah deutlich, dass ihr etwas auf der Seele lastete. Doch sie schwieg und wollte gehen, aber Araphel ließ das nicht zu und hielt sie fest.

„Was meinst du damit?“ fragte er. „Hat Ahava dir etwas gesagt, bevor sie gestorben ist?“

„Sie wusste, wie schlecht es dir geht und sie hatte sich schon längst aufgegeben. Sie wollte sich nicht mehr helfen lassen und sie wollte sterben, weil sie sich selbst und auch dich von diesem Leid erlösen wollte. Was glaubst du wohl, wie Ahava in ihrem Zustand überhaupt Selbstmord begehen konnte, so schwach und ausgemergelt wie sie war?“

Nun war die Rothaarige laut geworden und riss sich von Araphel los. Ihre Unterlippe begann zu zittern und sie wurde blass. „Ich konnte nicht mit ansehen, wie sie jeden Tag litt und zugrunde ging. Sie war doch schon innerlich tot und sie wollte mit diesen Erinnerungen nicht mehr leben.“

„Was hast du getan, Christine?“ fragte Araphel und ihm war anzusehen, wie sehr ihn das vor allem emotional mitnahm. Doch Christine nahm darauf keine Rücksicht. Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie wusste, dass sie es tun musste, um diesem ganzen Elend endlich ein Ende zu bereiten.

„Ich habe sie nur von dem erlöst, was sie so gequält hat und sie von dieser Hölle gerettet, in der sie innerlich gefangen war. Ich habe sie er…“

Eine Sicherung brannte in Araphel durch und die Ohrfeige traf Christine ins Gesicht. Die Kraft, die dahintersteckte, war so groß, dass sie zurückstolperte und fast zu Boden fiel.

„Du hast was?“ rief Araphel fassungslos. „Du hast meine Schwester erschossen? All die Jahre hast du mich in dem Glauben gelassen, sie hätte sich das Leben genommen und darüber geschwiegen? Wie kannst du mir das antun? Ich dachte, ich könnte dir vertrauen!“

Christine kämpfte innerlich mit sich und versuchte die entsetzliche Angst die sie vor diesen schrecklichen Erinnerungen verspürte, zu verdrängen und bei der Sache zu bleiben. Sie durfte sich nicht von diesen furchtbaren Bildern beherrschen lassen, geschweige denn in Tränen ausbrechen. Auch wenn Araphel sie von nun an bis an ihr Lebensende hassen würde, sie musste das jetzt durchziehen, um ihn endlich von dieser Qual zu befreien. Und wenn sie ihm diese Geschichte erzählen musste… dass sie Mitschuld an Ahavas Tod trug, war ja nicht gelogen, auch wenn sie sie nicht erschossen hatte. Aber lieber erzählte sie ihm das, als wenn sie ihn noch weiter in den Glauben ließ, dass Ahavas Tod seine Schuld war.

„Ahava hätte es nie übers Herz gebracht, jemanden zu bitten, sie von ihrem Leid zu erlösen, besonders nicht dich. Und da sie meine beste Freundin war, da war es nun mal meine Aufgabe, ihr zu helfen.“

„Du…“ Araphel erhob erneut die Hand, als wollte er noch mal zuschlagen. Christine stand da, wartete und bereitete sich auf den Schlag vor, doch dieser folgte nicht. Stattdessen ließ der Mafiaboss die Hand sinken, wandte sich ab und sagte nur „Wag es bloß nicht, mir noch mal unter die Augen zu treten. Du bist für mich gestorben“, bevor er die Werkstatt verließ. Als er gegangen war, presste Christine eine Hand auf ihre schmerzende Wange und unaufhörlich flossen Tränen ihre Wange hinunter. Viel mehr als der Schlag schmerzte der Stich in ihrem Herzen, dass sie Araphel so etwas hatte antun müssen. Aber es war besser, dass er sie von nun an hasste, als dass sie ihn immer wieder aufs Neue an Ahava erinnerte, die er nicht retten konnte. Manchmal war eine Lüge, die ein Leben erhielt, eben besser als eine Wahrheit, die ein Leben zerstörte.

Doch dieser Schmerz hielt nicht lange an. Denn schon breitete sich wieder der trügerische Nebel des Vergessens in ihrem Bewusstsein aus und verbarg all diese schlimmen Bilder und das Gespräch, das sie mit Araphel geführt hatte, hinter einem dichten Schleier. Und so kam es, dass Christine, als sie die Werkstatt zusammen mit Yin verließ, alles vergessen hatte, was gerade eben noch passiert war und wieder ein fröhliches Lächeln auf den Lippen hatte, als sie zusammen mit Yin zu den anderen zurückkehrte, um sie für die Ausstellung abzuholen.
 

Es war ein sonniger und warmer Tag und kein Wölkchen vermochte den Himmel zu trüben. Ein perfektes Wetter für einen Oldtimertreff. Christine hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren heiß geliebten Plymouth Fury, den sie in tagelanger und intensiver Arbeit von den letzten Schäden repariert hatte, aus der Garage zu holen und damit zur Ausstellung zu fahren. Da der Platz im Fury begrenzt war, fuhr Asha zusammen mit Sam im Hudson Hornet. Dabei fragte der Detektiv verwundert, wie Asha es denn schaffte, mit zwei Beinprothesen Auto zu fahren.

„Das sind hochmoderne Prothesen“, erklärte der Chinese. „Sie reagieren auf die elektrischen Impulse im Nervensystem und so können sogar die Zehen in einem gewissen Grad bewegt werden. Diese Prothesen sind verdammt teuer und stecken noch in den Kinderschuhen, aber Christine hat mit Dr. Heians Hilfe die entsprechenden Materialien besorgt und sie quasi selbst gebastelt. Sie funktionieren wirklich gut, fast schon wie richtige Gliedmaßen, nur mit dem Unterschied, dass sie ab und zu mal klemmen. Deshalb müssen sie regelmäßig nachjustiert werden. Aber zumindest können wir vernünftig damit laufen.“

Als sie nach einer knapp viertelstündigen Fahrt die Ausstellung erreichten, mussten sie schnell feststellen, dass die Ausstellung recht gut besucht war und da sie selbst mit restaurierten Oldtimern da waren, konnten sie auf einen Extraparkplatz fahren. Als sie ausstiegen, war bereits ziemlich viel los und vor allem Christine war anzusehen, wie sehr sie sich freute, hier zu sein und da schien es ihr auch im Moment auch vollkommen egal zu sein, dass sie einen Aufpasser dabei hatten. Dieser war im Fury mitgefahren und dieser Owen war wirklich ein Mordskerl. Mit knapp 1,90m Körpergröße und Armen wie Baumstämme sah er so aus, als hätte er eine Zeit lang als Profi-Wrestler gearbeitet. Und seine Miene verriet, dass er nicht einmal einen Grund brauchte, um jemanden zu Brei zu schlagen. Sam empfand wirklich Respekt vor diesem Kerl und mit Sicherheit machte dieser Owen einen ziemlich guten Job. Mit ihm würde sich Sam sicher nicht anlegen wollen. Naja, zum Glück war Owen ja zu ihrem Schutz da.

„Oh mein Gott!“ hörte er Christine rufen, die, kaum dass sie den Parkplatz verlassen hatte, sofort zu einem der Wagen hinrannte, so schnell wie es ihre Prothese zuließ. Ihr Ziel war ein Ferrari 250GT California Spider SWB aus dem Jahre 1962. Ein wirklich prachtvolles Cabriolet, dessen rote Farbe in einem wunderschönen Rot leuchtete, wie man es von Autos aus dieser Zeit kannte. Fast dasselbe leuchtende Rot wie Christines Fury, der auch von einigen Oldtimerbegeisterten bewundert wurde, ebenso wie der Hudson Hornet. Sams Interesse hingegen galt einem deutlich älteren Modell, das eigentlich schon als Antiquität durchgehen konnte, nämlich ein waschechter „Corgi“. Ein Silver Ghost von Rolls Royce, der stolze 100 Jahre auf dem Buckel hatte. Allein daran zu denken, wie viel dieser Wagen erlebt haben musste, ließ Sam wirklich staunen. Zwei Weltkriege hatte das Gefährt überstanden und war in liebevoller Arbeit perfekt restauriert worden. Das waren wirklich wahre Schätze, die hier zu sehen waren. Es war fast schon eine gewisse Ehrfurcht, die er vor diesem Wagen empfand.

„Ein echtes Juwel, nicht wahr?“ Sam hob den Blick und sah einen Mann um die vierzig mit platinblondem Haar und Anzug, der direkt zu ihm kam. Sie schüttelten einander zum Gruß die Hand und dabei stellte sich der Mann ihm als Robert Wilson vor.

„Ich bin ein Laie, was solche Oldtimer betrifft“, musste Sam mit einem verlegenen Lächeln gestehen. „Aber sie sind jedes Mal wirklich ein beeindruckender Anblick. Es ist kaum zu glauben, wie viel Arbeit in der Restauration stecken muss.“

„Nun, Oldtimer sind sowohl eine Leidenschaft, als auch eine gute Investition. Je älter sie werden, desto mehr steigt auch ihr Wert. Je nachdem wie gut die Restaurationen sind, wie selten der Oldtimer ist und an welche Interessenten man sich wendet, kann man sogar reich werden.“

„Echt? Wie…“

„Sam!“

Christine und die anderen kamen zu ihm herüber und schienen sich wohl auch für den Wagen zu interessieren. Sogleich erkundigte sich Mr. Wilson bei Sam „Ihre Begleitung?“

„So kann man das sagen“, gestand Sam und lachte. „Christine Cunningham repariert leidenschaftlich Oldtimer und hat unter anderem einen Plymouth Fury Baujahr 58 und einen 54er Hudson Hornet.

„Ach echt?“ fragte der Besitzer des Corgis erstaunt. „Es ist recht selten, dass Damen für solch ein Hobby zu begeistern sind.“

„Na aber hallo“, rief Christine sogleich und grinste stolz. „Das ist mein Leben. Als KFZ-Mechanikerin weiß man solche Prachtstücke halt zu schätzen und ich muss sagen, der Corgi hier ist wirklich in einem grandiosen Zustand. Ich habe noch nie zuvor einen aus nächster Nähe gesehen. Darf ich?“

Nachdem der Besitzer sein Einverständnis gegeben hatte, begann Christine den Wagen nun gründlich zu inspizieren. Sie setzte sich hinters Steuer und untersuchte sowohl die Armaturen als auch den Fußraum, die Sitzpolster und im Anschluss sah sie sich im Anschluss den Motor des Wagens an. Dabei fragte sie immer wieder ein paar technische Sachen nach, die der Mann ausführlich beantwortete und ab und zu gab es für Sam, Asha und Yin eine kleine Unterrichtsstunde in Sachen KFZ-Mechanik. Schließlich aber hatte der Besitzer des Corgis noch ein interessantes Detail.

„Ein Freund von mir ist im Besitz eines Hispania Suiza Alfonso XIII, Baujahr 1913. Allerdings verfügt er nicht über das technische Know-How und hat keine finanziellen Mittel, um ihn zu restaurieren. Der Wagen ist zwar nicht im besten Zustand, ist aber aufgrund der Tatsache, dass es eine Luxuskarosserie ist, eine sehr gute Investition. Ich suche im Auftrag meines Freundes einen Abnehmer für den Wagen, der seinen Wert zu schätzen weiß.“

Allein mit dem Namen des Wagens hatte er Christine schon längst überzeugt. Denn diese hatte so große Augen wie ein Kind, das zur Weihnachtszeit vor einem riesigen Spielzeuggeschäft stand. Ein lebhaftes Funkeln in den Augen verriet, dass sie sich schon längst entschieden hatte, den Wagen zu nehmen, ohne dass es weiterer Diskussionen bedurft hätte. Sie bekam schon fast Schnappatmungen. „Ein Alfonso XIII Baujahr 1913? Wie viel stellt sich Ihr Freund denn als Verkaufssumme vor?“

„Nun, gemäß des unschätzbaren Wertes, den der Wagen besitzt, stellt er sich 10.000$ vor. Sie können sich den Wagen aber gerne ansehen, wenn Sie möchten. Dann können Sie persönlich eine Einschätzung vornehmen.“

Sam schluckte bei dem Preis. Der Wagen war nicht mal restauriert und sollte zehn Riesen kosten? Dann musste es sich entweder um einen Wagen handeln, der noch halbwegs in einem guten Zustand war, oder aber er musste wirklich so wertvoll sein, dass er restauriert einen deutlich höheren Preis erzielen konnte. Auch für Christine war das eine stolze Summe und natürlich bestand sie darauf, dass sie den Wagen vorher genau unter die Lupe nehmen durfte, damit sie wenigstens wusste, wie viel Arbeit und was für Kosten da alles anfallen würden. Denn fest stand, dass so eine Restauration zeitaufwendig und vor allem kostspielig war. Je nachdem welche Teile man benötigte und wie alt der Wagen war. Je älter sie wurden, desto schwieriger wurde es dementsprechend, Ersatzteile zu finden. Darum waren Oldtimer eine sehr gute Anlage, wenn man sie pfleglich behandelte. Natürlich willigte Christine sofort ein, sich den Wagen anzusehen und während sie sich mit dem Corgi-Besitzer unterhielt, bemerkte Sam, dass Yin ein wenig bedrückt aussah. Die hübsche Chinesin war schon die ganze Zeit zurückhaltend und wirkte sehr nachdenklich. Da Asha sich dem Gespräch angeschlossen hatte, ging der Detektiv zu der Chinesin hin.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Yin?“ erkundigte er sich bei ihr. Die hübsche Asiatin strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, wirkte aber nicht danach, als wäre ihr nach Reden zumute. Sie schüttelte nur den Kopf und murmelte „Es ist nichts.“

„Jetzt erzähl mir doch nichts.“

„Ach es ist nur…“ Yin seufzte und entfernte sich zusammen ein Stück mit Sam. „Araphel und Christine haben sich gestritten und es war dieses Mal schlimmer gewesen als sonst und es ist etwas ausgeufert.“

„Wieso haben sie sich gestritten? Etwa wieder wegen der üblichen Geschichte?“

„Unter anderem“, gab Yin zu. „Sie kamen wieder auf das Thema Ahava zu sprechen und dabei hat Christine Araphel ziemlich vor den Kopf gestoßen. Eigentlich würde ich das ja nicht erzählen, aber da du so eine enge Bindung zu Araphel hast, denke ich, dass du es wissen solltest. Christine hat Araphel gesagt, dass sie Ahava vor vier Jahren erschossen hat, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Und du kannst dir sicher vorstellen, wie Araphel reagiert hat.“

Sam sah zu Christine herüber, die ihren Spaß mit dem Besitzer des Oldtimers hatte und fröhlich lachte. Ungläubig schüttelte er den Kopf.

„So etwas soll sie getan haben? Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Kann es nicht vielleicht wieder eine ihrer Lügengeschichten sein?“

„Nein, sie war in dem Moment wieder völlig klar gewesen. Manchmal kommen diese Erinnerungen wieder durch, besonders wenn sie Araphel ins Gewissen redet. Und was Ahavas Tod angeht, so gibt es da ein paar Ungereimtheiten“, erklärte Yin. „Weißt du, vor vier Jahren war Ahava ziemlich abgemagert und entkräftet und da sie nichts essen wollte, hat man sie künstlich ernähren müssen. Sie hatte eigentlich nicht die Kraft gehabt, sich selbst im Rollstuhl vorwärts zu bewegen. Es muss sie also jemand damals ins Arbeitszimmer geschoben haben und Fakt ist, dass damals, als der Schuss ertönte und wir nachsehen kamen, Christine ebenfalls dort war. Sie lag bewusstlos auf dem Boden und konnte sich an nichts erinnern, als sie aufgewacht war. Aber Ahava hatte damals die Waffe noch in der Hand, als sie sich erschossen hatte. Da frage ich mich halt, ob Christine nicht vielleicht…“

„So etwas würde Christine nie machen“, unterbrach Sam sie sofort. „Ganz egal ob Christine Gedächtnisprobleme hat oder nicht. Ich kenne sie nicht so lange wie du, aber ich glaube nicht, dass sie so etwas tun würde.“

„Aber warum sollte sie so etwas erzählen?“

„Weil sie Araphel helfen will. Er kann nicht über Ahavas Tod hinwegkommen, solange er in Christine einen Schwesternersatz sieht. Ich denke nicht, dass Christine Ahava getötet hat, das würde ihr nicht ähnlich sehen. Sie hat ihm halt so heftig vor den Kopf gestoßen, weil sie der Ansicht war, dass es besser ist, wenn er sie hasst, anstatt immer nur an seine tote Schwester erinnert zu werden.“

Etwas niedergeschlagen senkte Yin den Kopf.

„Ich kenne sie schon so lange, aber offenbar nicht gut genug. Christine, Asha und ich kennen uns schon seit über zehn Jahren und haben viel erleben müssen. Und doch zweifle ich an ihr. Ich bin eine furchtbare Freundin…“

Aufmunternd legte Sam ihr eine Hand auf die Schulter und sprach ihr gut zu. Er konnte verstehen, dass sie unsicher wurde, wenn Christine Araphel ins Gesicht sagte, sie hätte Ahava erschossen und sozusagen aktive Sterbehilfe geleistet. Wenn einer seiner besten Freunde so etwas gesagt hätte, wäre er auch in Zweifel geraten.

„Hey ihr beiden!“ rief Christine zu ihnen herüber. „Wir fahren gleich los, um den Alfons anzusehen. Wollt ihr noch hier bleiben, oder…“

„Das geht nicht“, unterbrach Owen der hünenhafte Bodyguard. „Entweder sie kommen mit, oder wir bleiben auf der Ausstellung.“

Christine funkelte den ehemaligen MMA-Champion giftig an und musste sich einen bissigen Kommentar verkneifen. Noch nie hatte Sam erlebt, wie Christine mal gegen jemanden eine Abneigung zeigte, aber Owen hatte sie anscheinend wirklich gefressen. Nun, sie war halt ein Freigeist, der sich nur sehr ungern einengen ließ und das ließ sie andere auch spüren. Bevor sie aber noch einen Streit mit dem Bodyguard anfangen konnte, entschärfte Sam die Situation.

„Kein Problem, wir kommen gerne mit. Wo ist der Wagen denn?“

„Ich habe ihn im Lager hinten unterbringen lassen. Dort werden die wertvollen Stücke untergebracht, die einzig und allein nur zum Verkauf und nicht zur Ausstellung dienen.“

Sie gingen gemeinsam quer durch die Ausstellung, bewunderten den einen oder anderen Bugatti und Maserati im Vorbeigehen und drängten sich durch die Massen. In der Nähe der Lagerhallen wurde es deutlich ruhiger, da sich die Menschenmengen hauptsächlich auf das Zentrum der Ausstellung konzentrierten.

Asha und Yin, die aufgrund ihrer Prothesen mit dem Lauftempo der anderen nicht wirklich mithalten konnten, fielen dabei ein wenig zurück. Sam und die anderen warteten daraufhin auf sie und standen dann schließlich vor der Scheune. Mr. Wilson öffnete die Tür, Owen ging als erstes rein. In der Lagerhalle war das Licht etwas gedämpft, doch man sah tatsächlich einen alten Hispania Suiza Alfons XIII nicht weit weg stehen. Christine wollte schon vorgehen, um sich den Wagen aus der Nähe anzusehen, da fiel plötzlich ein Schuss und Blut spritzte, als eine Kugel Owen direkt in den Kopf getroffen hatte. Entsetzt schrie Yin auf und viel zu spät realisierte Sam, dass Mr. Wilson eine Pistole in der Hand hatte, mit der er den Bodyguard niedergeschossen hatte. Christine reagierte als erstes. Ohne Vorwarnung schlug sie ihm ins Gesicht und versuchte, ihm die Pistole aus der Hand zu reißen.

„Lauft!“ rief sie und stieß Mr. Wilson gegen die Wand. „Los, haut ab!“

Doch sie saßen bereits in der Falle. Von allen Seiten kamen bewaffnete Männer herbei, die den Gesichtszügen nach zu urteilen Asiaten waren. Mitglieder der Yanjingshe.

Yin und Asha wurden ohne Probleme überwältigt, Christine hingegen schaffte es, zwei Männer in Schach zu halten und versuchte noch, wenigstens Sam die Flucht zu ermöglichen, bekam aber einen Streifschuss ins Bein, stürzte daraufhin zu Boden und ein Tritt ins Gesicht raubte ihr endgültig das Bewusstsein. Das Letzte, was Sam spürte, bevor er dann auch ohnmächtig wurde, war ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf.

Der Selbstmord

„Jedes Lebewesen stirbt für sich allein.“
 

Donnie Darko
 

Es regnete draußen in Strömen und Donner grollte so laut, dass es sogar zu spüren war. Blitze erhellten den finsteren Himmel und draußen herrschte ein unvorstellbares Unwetter. Ein solches hatte es schon lange nicht mehr in Boston gegeben und als Christine aus dem Fenster schaute, fragte sie sich, was Araphel wohl gerade machte und ob er bei de Unwetter wohl unterwegs war. Erst gestern war er abgereist, nachdem er wichtige Geschäfte erledigen musste und voraussichtlich würde er auch erst in zwei Tagen wieder zurück sein. Für die Zeit seiner Abwesenheit hatte er sie gebeten, sich derweil um Ahava zu kümmern, der es selbst nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus kein bisschen besser ging. Im Gegenteil. Sie war entsetzlich abgemagert, musste zwangsernährt werden, weil sie nichts aß, sie regte sich kein bisschen und hatte auch kein Wort mehr gesprochen. Natürlich war es ein Schock, keine Beine mehr zu haben. Ihr selbst fehlte ja auch ein Bein, nachdem sich dieser tragische Autounfall ereignet hatte, bei dem sie beide fast verunglückt werden. Zumindest war sich Christine sicher, dass es so passiert war, denn so richtig daran erinnern konnte sie sich nicht, wie das passieren konnte. Aber es klang ihr am plausibelsten, dass es ein Autounfall war und sie war sich da auch sicher. Sie selbst hatte den Verlust ihres Beines ganz gut weggesteckt, doch Ahava litt sehr unter der ganzen Situation. Kein Wunder. Sie hatte gar keine Beine mehr und sie war für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Für sie, die sowieso schon ein sehr sensibler Mensch gewesen war, war es endgültig zu viel gewesen und es würde wohl noch eine Weile brauchen, bis es ihr besser ging. Wichtig war halt nur, dass sie jemanden hatte, der ihr beistand. Araphel kümmerte sich ja schon tagein tagaus um sie, wich kaum von ihrer Seite und redete immer und immer wieder mit ihr. Beteuerte, dass alles besser werden würde und er sich immer um sie kümmern würde, egal was passierte. Doch er selbst litt ebenfalls sehr unter dieser Situation. Kein Wunder, denn er und Ahava hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander und sie bedeutete ihm alles. Sie war die einzige Familie, die ihm geblieben war. Darum war es für Christine eine besondere Herzensangelegenheit, so gut es ging zu helfen und sich um Ahavas Pflege zu kümmern, solange Araphel nicht da war. Eigentlich wäre er nie und nimmer weggefahren, doch Christine war der Meinung gewesen, dass es das Beste war, wenn er mal kurz Abstand bekam und neue Kraft sammeln konnte. Zwar konnte sie mit ihrer Prothese, die sie von einem Arzt verordnet bekommen hatte, noch nicht allzu gut laufen, aber sie war der festen Überzeugung, dass sie es ganz gut schaffen konnte. Eigentlich war sie der Meinung, dass es ohnehin besser wäre, eine gelernte Pflegekraft für Ahava einzustellen, doch mit Araphel war ja nicht zu reden gewesen. Er hatte klipp und klar gesagt, dass er keinen Menschen auch nur in die Nähe seiner Schwester lassen wollte, den er nicht gut genug kannte und dem er nicht vertrauen konnte. Nun, auf der einen Seite war es verständlich, aber andererseits hielt Christine es ja wohl doch für reichlich übertrieben, dass er so dermaßen überfürsorglich war. Ahava war sicher nicht damit geholfen, wenn sie keinen ausgebildeten Pfleger zur Seite gestellt bekam. Vielleicht konnte sie Araphel ja zur Vernunft bringen, wenn er wieder zurück war und bis es so weit war, würde sie sich um Ahava kümmern. Vielleicht konnte sie sie ja aufmuntern, wenn sie sich einen schnulzigen Frauenfilm ansahen oder vielleicht eine Runde Karten spielten. Yin und Asha würden da sicher gerne mitmachen und die beiden bekamen ja bald auch ihre speziellen Prothesen, mit denen sie bald eigenständig laufen konnten. Und eines Tages würde auch Ahava wieder laufen können, auch mit Prothesen.
 

Vorsichtig klopfte sie an die Tür und öffnete dann schließlich. Sie sah Ahava in ihrem Rollstuhl sitzen und zum Fenster hinausstarren. Das tat sie fast jeden Tag. Sie saß unbewegt da wie eine Puppe, sagte nichts, regte sich nicht und wenn sie nicht zwischendurch blinzeln würde, hätte man wirklich meinen können, sie wäre eine leblose Puppe. Sie war blass und ihre Augen wirkten matt und leer und wirkten wie eingefallen. Ihre Lippen waren farblos und spröde. Zudem war sie ziemlich abgemagert in der kurzen Zeit und im Großen und Ganzen machte sie den Eindruck, als würde sie bereits mit einem Bein im Grab stehen. Für viele Menschen wäre es ein wirklich erschreckender Anblick gewesen, aber Christine ließ sich davon nicht abschrecken. Sie war sich sicher, dass sie es schon irgendwie schaffen konnte, eine Regung aus der 20-jährigen herauszukitzeln.

„Ein echtes Scheißwetter, was?“ fragte Christine, als sie hereinkam. Da es doch recht dunkel im Zimmer war, schaltete sie das Licht an und gesellte sich zu der Schweigsamen und betrachtete das Gewitter, was da draußen wütete. „Mensch, da wird man aber auch echt trübsinnig. Weißt du was? Da Araphel ja unterwegs ist, können wir zwei doch die Chance nutzen und uns eine richtig tolle Mädelszeit zu machen. Ich könnte dir mal die Haare hübsch frisieren und wir machen das ganze Programm: Gurkenmaske, Maniküre, dann machen wir es uns bequem und gucken uns so einen richtig schnulzigen Herzschmerzfilm an. Und wenn du nicht auf Romanzen stehst, können wir uns ja Hell’s Kitchen mit Gordon Ramsay anschauen und jedes Mal einen Kurzen heben, wenn er das F-Wort benutzt. Und dann können wir ja stockbesoffen deinen Bruder anrufen und ihm Telefonstreiche spielen.“

Keine Reaktion kam. Ahava starrte weiter aus dem Fenster und ihr Blick wirkte leer und es war nicht ein Funken Leben darin zu sehen.

„Oder weißt du was? Wir gehen einfach mal raus. Wir können ins Schwimmbad fahren, da kriegen wir ohnehin ermäßigten Eintritt und dann fühlst du dich auch gleich viel besser in dieser Schwerelosigkeit, glaub mir. Und vielleicht können wir in einem Whirlpool heiße Typen aufreißen.“

Christine zwinkerte ihr scherzhaft zu und ließ sich auch nicht beirren, als selbst hier keine Reaktion kam. Auch wenn es ihr selber immer schwerer fiel, die Fröhliche zu spielen und zu lachen, während da eine gerade mal 20-jährige Studentin ohne Beine in einem Rollstuhl saß und wirkte, als wäre ihr Leben vorbei. Christine spürte diese Kälte, die von ihr ausging. Zwar besaß Ahava Körperwärme, aber sie strahlte dennoch eine Kälte aus wie der Tod selbst. Und es war nur allzu deutlich, dass sie nicht aufgemuntert werden wollte. Sie wollte keine tröstenden Worte, kein Mitleid, keine Pläne. Sie hatte aufgegeben und vegetierte nur noch vor sich hin. Still in sich gekehrt, niemanden an sich heranlassend. Und es schien, als konnte niemand ihr mehr wirklich helfen. Und obwohl etwas tief in Christines Herzen wusste, dass es für die 20-jährige kein Licht mehr in ihrem Leben gab, kein Hoffnungsschimmer und keine Freude in ihrem Leben, wollte sie nicht aufgeben. Ein Teil von ihr hoffte noch, dass sie noch etwas ausrichten konnte und das Leid der beiden Geschwister beenden konnte. Sie wollte Araphel diesen Schmerz und die Schuldgefühle nehmen, die ihn innerlich zerfraßen und sie wollte Ahava wieder Hoffnung machen. Araphel schaffte das nicht, sondern machte sich jedes Mal schwere Vorwürfe, wenn er bei ihr war und fühlte sich jedes Mal genauso elend. Wie sollte Ahava da bloß neuen Mut fassen, wenn Araphel selbst vor die Hunde ging, wenn er sie in diesem Zustand sah? Damit war wirklich niemandem geholfen. Ahava brauchte einfach wieder etwas Alltag, anstatt ständig wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Dann würde es ihr auch bald wieder besser gehen. Spätestens, wenn sie genauso wie Yin und Asha die Spezialprothesen bekam, würde sie wieder selber laufen können wie ein normaler Mensch. Und spätestens dann würde sie auch wieder lachen können. Zumindest hoffte Christine das, doch sie zweifelte auch daran. Nichts deutete bis jetzt darauf hin, dass Ahava überhaupt Hilfe wollte. Sie wies jeden durch ihr Schweigen ab, wollte ganz für sich alleine sein und sprach mit niemandem. Immer mehr kapselte sie sich von der gesamten Welt ab, weil etwas in ihr beschlossen hatte, dass es nicht mehr weitergehen würde. Es war, als würde sie eigentlich nur noch auf ihren Tod warten und das war für Christine einfach nur schmerzhaft und sie musste Kraft aufwenden, um nicht selbst in diese hilflose Verzweiflung zu geraten wie Araphel. Sie musste stark sein für die beiden. Wenn sie es nicht war, dann kein anderer. Ahava brauchte jemanden, der in ihr einen winzigen Hoffnungsschimmer wecken konnte und Araphel brauchte jemanden, der in dieser so schweren Zeit für ihn stark war und ihm Halt gab. Es war eine unsagbar schwere Last und Christine war sich nicht sicher, ob sie diese überhaupt stemmen konnte. Aber sie wollte es dennoch tun. Beide lagen ihr so sehr am Herzen. Sie waren ihre Familie und sie leiden zu sehen, schmerzte sie mehr als alles andere auf der Welt. Sie wollte, dass beide wieder glücklich wurden. Egal, was es dafür benötigte.
 

„Erinnerst du dich daran, wie das hier passiert ist?“

Erstaunt hielt Christine inne. Es war das erste Mal seit Wochen, dass Ahava gesprochen hatte. Zuerst glaubte sie, dass sie sich das nur einbildete, aber es war tatsächlich passiert. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Ahava zum allerersten Mal ihr Schweigen gebrochen und das Wort an sie gerichtet. War das ein gutes Zeichen? War sie auf dem richtigen Weg?

„Du meinst den Autounfall?“ fragte sie verwundert und hatte immer noch nicht so ganz realisiert, dass das gerade wirklich passierte. „Wieso? Was ist damit?“

„Verstehe…“, murmelte Ahava leise. Ihre Stimme klang rau und heiser und man konnte hören, dass sie schon länger kein Wort mehr gesprochen hatte. Aber für Christine war es ein positives Zeichen, dass endlich mal wieder etwas Leben in die 20-jährige zurückkehrte. Und jetzt durfte sie bloß nicht nachlassen. Das war immerhin der erste Durchbruch! Allein der Gedanke daran, wie glücklich Araphel dann sein würde, wenn er sie wieder reden hörte, motivierte Christine dazu, weiterhin stark zu bleiben und an dieser Stelle weiterzumachen.

„Wie geht es Araphel eigentlich?“ fragte die 20-jährige mit müder Stimme.

„Nun, er macht sich halt sehr große Sorgen um dich und es nimmt ihn schon sehr mit. Er will doch nur, dass du wieder lachen kannst, ich und die anderen ebenso. Natürlich ist es schlimm, wenn man ein Bein oder sogar beide Beine verliert, aber das ist nicht das Ende der Welt. Asha und Yin hatten auch keine Beine und dank der Spezialprothesen, an denen ich zurzeit arbeite, werden sie bald wieder laufen können. Und du kriegst bald auch welche und kannst dann wieder laufen, wenn du mit der Reha durch bist. Es wird schon besser werden. Du weißt ja, du kannst dich auf mich verlassen und wir können auch so viel Spaß haben. Immerhin bin ich doch fast so was wie deine große Schwester. Und hey: es gibt genug Menschen, die mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben und ich denke…“

„Hör auf damit.“

Christine blieb still und sah, dass selbst diese Worte Ahava nicht aufbauen konnten. Die Rothaarige seufzte und ihr Blick nahm etwas Trauriges an. Es tat ihr genauso weh wie Araphel, Ahava so sehr leiden zu sehen und sie wünschte sich nichts Sehnlicheres, als sowohl sie als auch Araphel glücklich zu sehen. Doch egal was sie alle auch taten, Ahava wollte sich nicht helfen lassen. Sie hatte sich aufgegeben und solange sie sich nicht helfen lassen wollte, würde sich auch nichts ändern. Hilflosigkeit überkam die Rothaarige, die sich für einen Moment fragte, ob es nicht vielleicht schon zu spät für Ahava war und es keine Rettung mehr für sie gab. Sie wünschte sich wirklich, ihrer besten Freundin helfen zu können, die für sie genauso eine Familie war wie Araphel, Yin und Asha. Sie war es gewohnt, zu kämpfen und nicht einfach so aufzugeben. Notfalls würde sie bis an ihre äußerste Belastungsgrenze gehen, um ihrer Familie zu helfen. Aber zu wissen, dass sie Ahava nicht helfen konnte, ließ in ihr Verzweiflung aufkommen. Und sie fragte sich, wie lange sie noch so stark sein konnte für beide Mason-Geschwister. Denn auch eine Kämpferin wie sie hatte ihre Grenzen. Und sie sah sich, nüchtern gesehen, nicht in der Lage, beide gleichzeitig zu retten, das schaffte sie unmöglich.
 

„Könntest du mir einen Gefallen tun?“ fragte Ahava schließlich, ohne Christine auch nur anzusehen. Stattdessen starrte sie immer noch aus dem Fenster.

„Klar“, antwortete die Rothaarige. „Was kann ich für dich tun?“

„Bring mich bitte in Araphels Arbeitszimmer.“

„Wozu?“

„Ich wollte dort etwas holen und ich möchte es gerne selbst tun.“

„Kein Problem“, meinte die Rothaarige und schob Ahavas Rollstuhl in Richtung Tür. Zwar konnte sie sich keinen wirklichen Reim darauf machen, was Ahava in dem Arbeitszimmer wollte, aber wenn diese schon eine Bitte äußerte, erfüllte sie ihr diese natürlich gerne. Normalerweise wäre Ahava selbst im Rollstuhl ins Arbeitszimmer gefahren, doch da sie sich kaum bewegte und so abgemagert war, hatte sie für so etwas kaum Kraft, weshalb sie sich entsprechend helfen lassen musste. Und vielleicht tat es auch mal ganz gut, wenn sie aus ihrem Zimmer herauskam. Ansonsten lag sie die ganze Zeit nur im Bett oder saß im Rollstuhl, weil sie nicht raus wollte und Araphel so besorgt um sie war, dass er regelecht Angst hatte, sie vor die Tür zu lassen, selbst für einen Spaziergang. Er hatte Angst, sie zu verlieren und dass ihr noch mehr zustoßen konnte. Er engte sie ein, was im Grunde wie Gift auf Ahavas Zustand wirkte. So hatte Christine nicht selten Marco gerufen, einer von Araphels Leuten, der für Ahavas persönlichen Schutz zuständig war. Dann war sie mit ihm zusammen mit Ahava rausgegangen, um wenigstens ein bisschen im Garten zu sitzen und die Sonne zu genießen oder um einen kleinen Spaziergang zu machen. Hauptsache, Ahava kam mal vor die Tür und merkte für sich, dass es diese Welt außerhalb ihres Zimmers immer noch gab und sie nach wie vor in greifbarer Nähe war, selbst ohne Beine. Es sollte eine Art heilsame Therapie sein und Christine hatte auch überlegt, ob es nicht ratsam war, wenn Ahava vielleicht mal eine Wassertherapie machte. Während Araphel kaum von der Seite seiner Schwester gewichen war, hatte Christine unermüdlich im Internet nachgeforscht, was es alles für Angebote gab, damit es Ahava nicht nur körperlich, sondern vor allem auch seelisch besser ging. Es gab sogar Delfintherapien und Musik- oder Kunsttherapien könnten vielleicht auch infrage kommen. Stundenlang hatte sich Christine durch die Kliniken durchtelefoniert, Ärzte und Psychologen abgeklappert und Broschüren gesammelt und unermüdlich gesucht, um Hilfe für Ahava zu finden. Denn sie dachte realistischer als Araphel. Nämlich dass es professionelle Hilfe brauchte und weder sie, noch Araphel oder sonst irgendjemand in diesem Haus wirklich helfen konnte. Sie waren dieser Situation nicht gewachsen und auch wenn ein Teil von ihr für sich bereits wusste, dass die Studentin schon aufgegeben hatte und sich auch nicht mehr helfen lassen wollte, so wollte sie nicht so ohne Weiteres aufgeben. Einfach aus dem Grund, weil sie eine Kämpfernatur besaß. Sie wollte nicht eher aufgeben, bevor sie nicht wirklich alles versucht hatten. Und erst dann, wenn sie wirklich alles versucht hatten und es rein gar nichts gebracht hatte, dann würde sie einsehen, dass es vielleicht besser war, Ahava gehen zu lassen, wenn sie es wollte. Denn niemand konnte sie zwingen, dieses Dasein weiter zu ertragen, wenn es für sie eine solche Qual bedeutete. Auch wenn es der wohl schlimmste Moment in Christines Leben sein würde und sie für sich wusste, dass sie sich das wohl niemals verzeihen würde… Sie würde die Kraft aufbringen, wenn sie dann wusste, dass Ahava dann nicht mehr leiden musste. Doch es war noch zu früh dafür, so etwas zu denken. Noch bestand Hoffnung. Vielleicht konnte man ja noch etwas machen und ihr helfen.

Es war noch zu früh, sie aufzugeben. Und aus diesem Grund würde Christine weiterhin stark bleiben und versuchen, Ahava ein Stückchen Alltag zurückzugeben, damit sie aus ihrer Lethargie herauskam.
 

Als sie das Arbeitszimmer erreicht hatten, ließ Ahava sich bis zum Schreibtisch schieben und immer noch war Christine tief in Gedanken versunken und überlegte angestrengt, was sie am besten tun konnte. Vielleicht konnte sie Ahava noch mal die Idee mit dem Mädelsabend schmackhaft machen. So etwas war für jede Frau ein verlockendes Angebot und es war zumindest besser, als die ganze Zeit in diesem Zimmer eingesperrt zu sein und den ganzen Tag nur aus dem Fenster zu starren. Das tat ihr einfach nicht gut. Sie musste da raus und wenn sie halt in irgendwo feiern gingen und sich wenn nötig volllaufen lassen würden. Ahava hatte ja Marco als Bodyguard und Christine spekulierte darauf, dass sie vielleicht einen Rabatt bekamen. Entweder als Behindertenbonus (denn sie wusste auch ihr Handicap zum Positiven einzusetzen), oder aber sie ließ den Barkeeper halt auf ihren Ausschnitt glotzen. Auch wenn sie nur ein Bein hatte, hieß das nicht, dass sie keine vollwertige Frau war. Wer etwas anderes behauptete, der durfte sich warm anziehen.

Ahava musste einfach mal wieder unter Leute kommen, dann würde sie auch diese ganzen Dinge vergessen, die sie so sehr quälten.

Schließlich wandte sich die 20-jährige an Christine, schaute sie mit ihren eisblauen Augen an, die erschreckenderweise sehr matt und leer wirkten und sagte „Ich möchte, dass du gehst und mich alleine lässt.“

Doch so leicht wollte sich die 28-jährige sich nicht abwimmeln lassen. Sie wollte Ahava nicht alleine lassen, denn irgendeine seltsame Vorahnung ergriff von ihr Besitz. Ein böser Verdacht, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn sie jetzt ging.

„Ach was, ich kann auch warten“, sagte sie und winkte ab. „In deiner jetzigen Verfassung kannst du dich sowieso kaum fortbewegen, das wäre doch Quatsch. Ich warte hier.“

Ahava hielt einen Moment lang inne und schien nachzudenken. Aber dann schob sie den Rollstuhl zum Tresor, der sich nicht weit vom Schreibtisch entfernt befand und öffnete ihn. Da Christine auf der anderen Seite des Schreibtisches stand, konnte sie nicht genau erkennen, was Ahava da machte und was sie da herausholte. Sie ahnte auch nichts Genaueres, doch sie war besorgt und das sah man ihr an.

„Ich hätte es lieber gehabt, wenn mich niemand dabei sieht“, murmelte Ahava und senkte traurig und hoffnungslos zugleich den Blick. „Aber da du es eh vergessen wirst, muss ich kein allzu schlechtes Gewissen haben. Ich möchte aber trotzdem, dass du weißt, dass es mir leid tut, dass du das miterleben musst.“

Nun sah Ahava sie direkt an. Mit einem Mal war diese leblose Mattigkeit aus ihrem Blick verschwunden. Stattdessen sah man jetzt allzu deutlich die unendliche Verzweiflung, der tiefe Schmerz und die Hoffnungslosigkeit in diesen eisblauen Augen, die sonst wie Kristalle funkelten. Tränen glänzten in ihren Augenwinkeln und nun sah Christine auch, dass Ahava sich eine geladene Pistole an den Kopf hielt. Ihre Hand zitterte und unaufhörlich rannen Tränen ihre kreidebleichen Wangen hinab.

„Ich will das nicht mehr und ich will meinem Bruder nicht noch mehr Kummer bereiten. Bitte kümmere dich gut um ihn, ja?“

Christines Augen weiteten sich vor Entsetzen als sie erkannte, was Ahava da vorhatte. Sie rief noch „Nein, nicht!!!“ Doch als sie zu der Studentin eilen und ihr die Waffe aus der Hand reißen wollte, fiel der Schuss und Blut spritzte, als die Kugel Ahavas Kopf durchbohrte und sie tötete.
 

Christine stand da und sah das Grauen vor ihren Augen. Sie war wie gelähmt, konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Und dann realisierte sie es: es war ihre Schuld… Sie war schuld daran, dass das passiert war und Ahava gestorben ist. Sie hatte ihr geholfen, an die Waffe zu gelangen und hatte sie auf dem Gewissen. Ihre beste Freundin, die sie doch retten wollte. Es war ihre Schuld… Ihretwegen war Ahava tot. Sie hatte die Familie zerstört.

Ein Schrei des Entsetzens und der Verzweiflung entwich der 28-jährigen. Sie wich vor dem Anblick zurück, rang mit der Fassung und den Tränen, durch den Schock setzte dann aber der Verstand bei ihr aus und sie verlor das Bewusstsein. Und als sie wenig später erwachte, als Asha, Yin und ein paar andere von Araphels Leuten herbeikamen, die von dem Schuss alarmiert waren, war die Szene bereits wieder aus Christines Gedächtnis gelöscht worden. Sie erinnerte sich schon gar nicht mehr daran, was gerade eben noch passiert war. Und doch blieb ein spürbarer Schmerz in ihrem Herzen zurück, den sie nicht vergessen konnte. Ein Schmerz, der ihr verriet, dass es allein ihre Schuld war, dass Ahava sich das Leben genommen hatte.

Die Augen eines Opfers, die Hände eines Täters

„Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.“
 

Bibel 1. Mose 9.6
 

Araphel war in seine Arbeit vertieft und versuchte sich zumindest darauf zu konzentrieren, doch leicht fiel es ihm nicht. Seine Gedanken kreisten um das, was Christine ihm erzählt hatte und als er wieder an ihre Worte dachte, dass sie Ahava damals erschossen hatte, überkam ihn blinde Wut und er warf die Tasse an die Wand. Warum nur hatte sie ihm so etwas antun müssen? Er hatte ihr immer vertraut, sie war wie eine Schwester für ihn und nach Ahavas Tod die Einzige, zu der er einen engeren Bezug hatte. Und sie belog ihn einfach vier Jahre lang. Wie hatte er sich nur so in ihr täuschen können? Christine war diejenige gewesen, die ihn nach Ahavas Tod aufgefangen und ihm Halt gegeben hatte. Auch wenn sie oft Meinungsverschiedenheiten hatten und es wegen ihrer Krankheit nicht immer leicht war, sie war immer die gute Seele im Haus gewesen, wusste immer für gute Stimmung zu sorgen und ließ sich von nichts und niemandem unterkriegen. Er hatte ihr blind vertraut und sie hinterging ihn. Wie sollte er da überhaupt noch jemandem vertrauen? Am liebsten hätte er ihr noch eine reingehauen und sie auf die Straße gejagt und sich nicht weiter darum geschert, was aus ihr wurde. Und wenn sie halt an die Yanjingshe geriet, was sollte es ihn schon kümmern, nachdem sie ihn so verraten hatte? Doch er konnte es nicht. Egal wie wütend er auch auf sie war, er konnte sie einfach nicht fortschicken und riskieren, dass sie wieder als Sexsklavin des Slave Shipping Services endete und durch dieselbe Hölle ging, die seine Schwester erleiden musste. Das konnte er ihr selbst nach diesem Verrat nicht antun. Doch Fakt war, dass es nie wieder so wie früher sein würde. Er würde ihr niemals verzeihen können, dass sie ihm seine Schwester genommen hatte, selbst wenn sie es getan hatte, weil sie Ahava helfen wollte. Sie hatte ihm das Wertvollste genommen, was er besaß und das würde er ihr nie im Leben vergeben. Er wollte sie weitestgehend aus seinem Leben streichen, sie aber dennoch hier leben lassen, damit sie wenigstens vor der Yanjingshe sicher war. Das war die einzige Geste, die er ihr noch zuteil kommen ließ.

Die Tür würde aufgerissen und Araphel, der seinen Leuten mehr als oft genug eingebläut hatte, ihn nicht bei der Arbeit zu stören, schaute auf um festzustellen, wer der Störenfried war. Es war Morphius, der ziemlich gehetzt wirkte und Sergej Camorra in Begleitung hatte. Und das war mehr als seltsam, denn der Bostoner Patriarch kam niemals unangekündigt zu Besuch. Da achtete er sehr penibel darauf.

„Schlechte Nachrichten“, keuchte Morphius und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich habe von Bonnie erfahren, dass Shen seit drei Tagen bereits wieder im Land ist. Er ist unerkannt aus Shanghai wieder zurück.“

„Was?“ rief Araphel fassungslos und stand auf. „Shen ist… Was ist mit Sam und den anderen? Hast du sie schon angerufen?“

„Keiner von ihnen geht ans Telefon. Ich hab erfahren, dass Owen erschossen wurde und ich fürchte, sie sind von der Triade verschleppt worden.“

Araphel war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Er hatte schon die ganze Zeit so ein ungutes Gefühl gehabt, doch er hatte gehofft, dass er sich irrt. Doch der schlimmste Fall war eingetreten. Shen war unerkannt wieder ins Land zurückgekehrt und hatte Sam, Christine, Asha und Yin entführt. Und er wusste nur zu gut, dass ihnen noch Schlimmes blühen würde, wenn sie sich in Shens Gewalt befanden. Das würden sie nicht überstehen. Dieses Monster würde sie seelisch brechen so wie er es mit Ahava getan hatte.

„Verdammt, ich muss sie finden und da sofort rausholen. Morph, Sam trägt noch einen implantierten Peilsender für den Notfall. Orte ihn für mich und ruf meine besten Leute zusammen.“

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden“, beschwichtigte Sergej ihn. „Ich habe da schon einen Plan.“

„Wie bitte?“ fragte Araphel und war für einen Moment irritiert. „Du und einen Plan? Wie lange weißt du schon davon?“

„Seit vorhin, als ich durch zuverlässige Quellen erfahren habe, dass die Schlange in ihr Nest zurückgekehrt ist. Wir müssen die Sache taktisch angehen, mein Junge. Du weißt, dass Shen sie gefangen hält, um dich aus der Reserve zu locken und weil er genau weiß, wie er dich am besten treffen kann. Wenn du unvorsichtig wirst, dann wirst du nur in seine Falle tappen. Also sei vernünftig und…“

„Ich sitze doch nicht untätig hier rum, während Sam und die anderen gefoltert werden und wer weiß was durchmachen müssen. Du weißt, was Shen für ein Monster ist.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen“, sagte Sergej ruhig, aber mit deutlichem Nachdruck in der Stimme. „Aber wenn du einfach so da reinspazierst, wird es in einem Desaster enden und das wissen wir beide. Er wird dich wieder in die gleiche Situation wie damals bringen und dann wird er dich so lange quälen, bis er dich zu seinem Spielzeug gemacht hat. Alleine kommst du gegen ihn nicht an und das musst du langsam mal akzeptieren. Keiner von uns kann allein gegen ihn gewinnen.“

„Und was schlägst du dann vor?“ fragte Araphel aufgebracht. „Soll ich sie im Stich lassen?“

„Das habe ich nicht von dir verlangt“, erklärte der Patriarch und nahm auf einem Stuhl gegenüber vom Schreibtisch Platz. „Ich kann dich persönlich nicht unterstützen, weil es unsere Gesetze verbieten. Aber ich werde dich indirekt unterstützen. Ich habe nämlich mit Shen ein kurzfristiges Treffen ausmachen können und ihm erzählt, es würde um dringende Angelegenheiten gehen, die sich nicht aufschieben lassen. Er kann deshalb nicht einfach seinen Berater hinschicken, vor allem weil wir Geschäftspartner sind. Ich bin dein Ablenkungsmanöver und während ich mit ihm im Gespräch bin, stürmst du mit deinen Leuten das Gebäude und holst sie da raus. Das ist vernünftiger, als Shen einfach in die Arme zu laufen. Vor allem weil du genau weißt, worauf es dann hinausläuft.“

Araphel schwieg und war innerlich hin und her gerissen. Einerseits hatte Sergej Recht und er würde nur blindlings in Shens Falle tappen, wenn er da einfach so reinging. Aber wenn er zu lange wartete, würde er weiß der Teufel noch was mit den anderen anstellen. Was, wenn er sie alle schon längst getötet hatte? Was, wenn er vorhatte, Sam die Beine zu amputieren? Wie konnte er da so ruhig bleiben?

Schließlich aber legte Sergej ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn fest an.

„Überlass Shen mir, ja? Ich werde schon dafür sorgen, dass du früh genug Unterstützung für deine Vendetta bekommst und dass du die anderen rausholen kannst. Aber lass dich nicht von deinen Emotionen beherrschen, denn dann wirst du unvorsichtig und das wird er ausnutzen. Er kennt deine Schwächen und spielt mit dir. Ich kann nichts versprechen, aber ich werde ihn in ein Gespräch verwickeln, damit du die Möglichkeit hast, Sam und die anderen zu befreien.“

„Aber wird er nicht misstrauisch werden?“ fragte der Informant nach. „Shen ist zu intelligent, um so etwas nicht zu bemerken.“

„Natürlich wird er das, aber er wird sich darauf einlassen, weil es ihm auch eine gute Gelegenheit bietet, mal wieder einen Mordanschlag auf mich zu verüben. Für ihn ist es die perfekte Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und so etwas lässt er sich garantiert nicht entgehen. Darum setzen wir alles auf eine Karte und wagen es trotzdem. Das Treffen findet in knapp zweieinhalb Stunden statt. Natürlich ist es viel Zeit wenn man bedenkt, wie Shens Charakter ist. Aber es ist nicht genug Zeit, um sie ins Ausland zu schaffen oder einen so schweren medizinischen Eingriff vornehmen zu lassen. Und es ist besser als nichts. Wenn du einfach so reinspazieren würdest, würdest auch du in Gefangenschaft geraten und könntest gar nichts mehr ausrichten. Dann gäbe es für alle keine Rettung mehr. Ich werde sehen, dass ich ihn so lange wie möglich beschäftigt bekomme und ich verlasse mich darauf, dass du das Beste daraus machst.“

„Sergej…“

„Ich habe deinem Vater versprochen, mich um euch zu kümmern, sollte ihm etwas zustoßen. Ich konnte deiner Schwester nicht helfen, aber ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass du in Shens Fänge gerätst. Nicht solange ich noch was zu sagen habe. Zwar habe ich eigene Kinder, aber du bist für mich auch fast wie ein eigener Sohn und darum werde ich auch sicher nicht mit ansehen, wie du in so eine Falle rennst. Wir kriegen das hin, okay? Lass dich nicht von deinen Emotionen beherrschen und konzentriere dich auf dein Ziel.“

Daraufhin legte Sergej einen Arm um ihn und gab ihm eine väterliche Umarmung, die Araphel Kraft spenden sollte. Doch gleichzeitig wirkte sie auch wie ein endgültiger Abschied.
 

Sam wurde auf eine ziemlich grobe Art und Weise aufgeweckt, als ihm eiskaltes Wasser ins Gesicht gespritzt wurde. Schlagartig wurde er wach und bemerkte, dass er an den Handgelenken gefesselt war und die Fesseln an einer Kette befestigt waren, die von der Decke hing. Sein Oberkörper war nackt und er sah Yin und Asha auf dem Boden liegen. Beiden hatte man die Prothesen abgenommen, sodass ein Fortlaufen für sie unmöglich war. Auch Christine fehlte die Prothese, wodurch sie deutlich eingeschränkt war. Sie blutete an der Stirn und hatte einen ziemlich heftigen Schlag abbekommen. Sowohl sie als auch die anderen beiden waren schon wach und direkt vor Sam stand eine Person, deren Anblick allein ihm schon einen Schauer über den Rücken jagte. Es war Shen Yuanxian, der Boss der Yanjingshe und einer der führenden Kräfte des Slave Shipping Services. So ein verdammter Mist, dachte er sich als ihm klar wurde, in welch eine Situation sie geraten waren. Ich war viel zu unvorsichtig. Ich hätte eigentlich schon bei der Sache mit dem Wagen in der Lagerhalle Verdacht schöpfen müssen. Aber da er dachte, Shen sei nicht im Land und der Mann wäre, nur weil er kein Chinese war, ganz harmlos. Er hatte sich zu sicher gefühlt und das war ihm jetzt teuer zu stehen gekommen.

„Beehren Sie uns also auch mit Ihrer Aufmerksamkeit, Mr. Leens?“ fragte er und ein Lächeln, welches an Falschheit nicht zu überbieten war, spielte sich auf seine Lippen, während in seinen Augen nichts als eiskalte Leere zu sehen war, als wären es die Augen eines Toten. Sam wusste, wie gefährlich dieser Mensch war und dass es einem Todesurteil gleich kam, sich in Gefangenschaft bei ihm zu befinden.

„Es ist mir wirklich eine Freude, Sie als mein persönlicher Gast begrüßen zu können.“

„Was wollen Sie von uns?“ fragte der Detektiv gerade heraus und sah ihn fest an, wobei er versuchte, sich seine Angst vor diesem Menschen nicht anmerken zu lassen. Er wollte ihm nicht noch mehr Angriffsfläche bieten und er musste diesen Kerl irgendwie beschäftigt kriegen, damit dieser nicht noch auf die Idee kam, den anderen etwas anzutun. Immer noch lächelte Shen, doch das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Es lagen tiefe Abgründe darin und sie spiegelten die Finsternis wieder, in der er aufgewachsen war.

„Ich habe mir mein Eigentum zurückgeholt“, erklärte er ruhig. „Araphel hat mir vor vier Jahren Ware gestohlen und die hole ich mir eben zurück. Ich habe ihm angeboten, ihm eine Entschädigung zu zahlen, wenn er sie mir freiwillig zurückgibt, aber er hat abgelehnt, also habe ich mein Recht eingefordert und sie selbst zurückgeholt.“

„Um sie dann wieder als Sexsklaven zu verkaufen?“ fragte Sam direkt. Auch wenn er wusste, dass er sich damit selbst in Gefahr brachte, er musste ihn so lange es ging beschäftigen, damit er sich bloß nicht an Christine und den anderen vergriff. Er musste Zeit schinden, denn er wusste, dass Araphel nach ihnen suchen würde, wenn er etwas bemerkt hat. „Wieso tun Sie so etwas, wenn Sie doch genauso ein Opfer der Triade sind und Ähnliches durchgemacht haben?“

„Sie scheinen offenbar über meine Vergangenheit Bescheid zu wissen“, bemerkte Shen, dessen Gesichtszüge unverändert blieben. Er strahlte nichts als Kälte und Gefahr aus und nun sah der Detektiv auch mehr als deutlich, dass das kein Mafiaboss in dem Sinne war, sondern ein extrem sadistischer Psychopath. „Wissen Sie, Mr. Leens… das alles hier ist nur die Konsequenz der Dinge. Die Triade machte mich zu ihrem Spielzeug, nun mache ich sie zu meinem. Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu meinem Bordell. Die Menschen machten mich zu einem Monster, dementsprechend werde ich sie die Folgen spüren lassen.“

„Mit anderen Worten: Sie wollen Rache an der Menschheit üben.“

„Rache klingt ein wenig zu banal ausgedrückt. Ich befriedige lediglich die dunkelsten Begierden der Menschen und gebe ihnen das, was sie gleichzeitig verlangen und verabscheuen. Die Menschen haben diese Hölle selber erschaffen, nicht ich. Was glauben Sie wohl, warum es solche Dinge gibt, die Sie gesehen haben? Weil die Menschen von Grund auf verdorben sind. Sie sind das Gift dieser Welt und sie leben ihr ganzes Leben lang mit einer Doppelmoral, um ihre Falschheit zu verbergen. Sie haben keine Ahnung, Mr. Leens. Sie wissen nicht, wie es ist, von den eigenen Eltern im Alter von sechs Jahren an ein Bordell verkauft zu werden und tagtäglich den Tod vor Augen zu haben. Sie haben nicht sehen müssen, wie Ihr Bruder vor Ihren Augen verblutet ist und wie es ein sadistischer Freier stundenlang mit seiner Leiche getrieben hat, während Sie zuschauen mussten. Sie haben keine Vorstellungen, wie verdorben und falsch die Menschen wirklich sind. Glauben Sie wirklich, dass es eine Tugend ist, für Dinge wie Gerechtigkeit einzustehen? Gerechtigkeit ist nur die Rechtfertigung dafür, über andere urteilen zu können und die Menschen urteilen über andere, weil sie sich nicht selbst eingestehen wollen, dass es sie tief in ihrem Herzen danach lüstet, genauso solche Dinge zu tun. Ein Kind zu missbrauchen, einer Frau den Schädel einzuschlagen und sich an der Leiche zu vergehen, einen Menschen zu foltern und ihn in den Wahnsinn zu treiben. Dieser destruktive Trieb steckt in uns allen, auch in ihnen. Ich bin hier nicht der Schuldige, sondern allein die Menschen, die ihre kranken Fantasien ausleben und es den Himmel auf Erden nennen. Und ich weiß, dass auch Sie tief in Ihrem Herzen bei der Vorstellung erregt werden, ein junges und unschuldiges Kind zu haben, das Ihre tiefsten Gelüste dadurch befriedigt, indem es Ihnen allein zur Verfügung steht und nicht fortlaufen kann.“

„Das ist krank!“ rief Christine angewidert. „Was Sie sich in Ihrem Kopf zusammenspinnen, das ist Ihre Sache. Aber wir müssen uns ja wohl nicht unterstellen lassen, dass wir so etwas tun würden.“

„Christine!“ rief Sam ermahnend, doch es war schon zu spät. Sie war in Shens Visier geraten und er würde sich so etwas garantiert nicht gefallen lassen. Dazu war er einfach zu stolz. Er duldete keine Widerworte. Mit langsamen aber sehr erhabenen Schritten kam er näher und blieb einen Moment vor Christine stehen. Dann aber trat er ihr direkt ins Gesicht und als sie für einen Moment benommen und regungslos auf dem Boden lag, trat er auf ihre Hand. Es gab ein hässliches Knirschen, als die Knochen brachen und vor Schmerz schrie die Rothaarige auf. Es war ein entsetzlicher Schrei, der Sam einen Schauer über den Rücken jagte. Denn es war ein Schrei, der nicht nur von Schmerzen zeugte. Er mischte sich mit einer schrecklichen Erinnerung an eine Zeit, an die sich niemand würde erinnern wollen. Christine lag vor Schmerz schreiend auf dem Boden und hielt sich ihre gebrochene Hand. Shen genoss diesen Anblick, das sah Sam sofort. Er genoss es, Macht über andere zu haben, sie zu quälen und sie das fühlen zu lassen, was sie ihm damals angetan hatten. Er wollte sie seinen kalten Zorn spüren lassen und dabei war es ihm völlig egal, wen er damit traf. Sam erkannte, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihm und Araphel gab. Doch Araphels Zorn war ein heißer Zorn. Er verlor dann die Beherrschung, entäußerte sich seiner Wut und trug sie nach außen. Doch Shens Zorn war eiskalter Natur. Er lebte seinen Hass gegen die Menschen auf eine vollkommen gefühlskalte Ebene aus, lebte seinen Sadismus an ihnen aus und wurde dennoch nicht emotional. Wahrscheinlich war dieser Mensch auch gar nicht mehr zu Emotionen fähig. Nach alldem, was er als kleiner Junge hatte erleiden müssen, hätte man auch nicht erwarten können, dass er dazu noch imstande war. Er hatte diese Gefühle abgelegt, weil sie ihn sonst getötet hätten. Er fühlte nur Hass und Verachtung.

„Offenbar hast du vergessen, dass Abschaum wie du nicht in solch einem Ton mit mir zu reden hat. Wie es scheint, hast du zu viel Freiheiten genossen, als du bei Araphel warst.“

„Hören Sie auf damit!“ rief Sam, woraufhin er noch ein „Bitte!“ hinzufügte, um die Situation nicht noch weiter zu verschlimmern. Es wäre absolut nicht förderlich gewesen, wenn er Shen noch weiter provozierte. Shen wollte, dass man sich ihm unterordnete und ihm das Gefühl von Macht gab. Wenn er ihm das gab und auf ihn diese Weise milder stimmte, würde es hoffentlich nur bei der gebrochenen Hand bleiben. Yin und Asha sagten gar nichts. Sie hatten zu viel Angst, als dass sie auch nur einen Ton hätten hervorbringen können. Vielleicht war dies ja auch besser so. Ansonsten wäre die ganze Situation noch völlig unüberschaubar und chaotisch geworden.

Shen wandte sich wieder ihm zu und damit hatte Sam erreicht, was er wollte. Solange dieser Kerl Christine vorerst keine Aufmerksamkeit schenkte, reichte das völlig.

„Du bittest mich?“ stellte er fest und wieder war da dieses eiskalte Lächeln. Selten hatte ein Mensch Sam solch eine Angst eingejagt wie Shen, doch er hielt seinem Blick stand.

„Ja“, bestätigte der Detektiv kleinlaut. „Bitte tun Sie ihr nichts.“

„Da gibt es nur einen Haken“, erklärte Shen. „Sie ist mein Eigentum, genauso wie diese anderen beiden. Ich habe Reesa von den Kinderhändlern gekauft und damit gehört sie allein mir. Sie sind Ware, nicht mehr und nicht weniger. So funktioniert nun mal die Welt der Mafia. Wer mittellos ist, der gerät in ihre Fänge und wird als ihr Eigentum gekennzeichnet.“

Sam sagte nichts, sondern sah Shen nur an. Es musste für Araphel wirklich die Hölle gewesen sein, es wochenlang bei ihm aushalten zu müssen, weil er dachte, seine Schwester auf diese Art und Weise retten zu können. Allein der Gedanke an diese Narben ließ ihn aufs Neue erschaudern. So etwas wollte er weder selbst erleben, noch wollte er es den anderen zumuten.

„Ein weiteres Problem ist, dass ich mit ihnen nichts mehr anfangen kann. Weißt du, meine Kunden stehen auf junge Ware. Maximal 28 Jahre, danach mache ich nur Verlust mit meiner Ware.“

„Und warum haben Sie sie dann entführt?“

„Es geht mir ums Prinzip“, erklärte Shen mit eiskalter Stimme. „Was mir gehört, das hole ich mir zurück.“

Sam wusste noch einen Grund. Shen nutzte sie als Köder, um Araphel in eine Falle zu locken, weil er genau wusste, dass dieser sofort kommen würde.

„Es geht Ihnen um Araphel, nicht um uns“, sagte er deshalb. „Es ist Ihnen immer schon um Araphel gegangen.“

„Und wenn dem so wäre?“ fragte der 42-jährige daraufhin mit einer unheimlichen Selbstüberzeugung.

Christine, die sich halbwegs von den Schmerzen erholt hatte, schrie schon längst nicht mehr, hielt sich aber immer noch die lädierte Hand. Sie setzte sich auf und ihr Gesicht war blass. Ernst lag in ihrer Miene und sie wirkte in diesem Moment viel älter als sie eigentlich war.

„Er wird nicht kommen“, erklärte sie. Natürlich erregte das wieder Shens Aufmerksamkeit und er wollte wissen, warum sie sich da so sicher war.

„Weil ich seine Schwester getötet und ihn hintergangen habe. Meinetwegen wird er ganz sicher nicht kommen, darauf können Sie lange warten.“

Nun lachte Shen. Sam gefiel dieses Lachen nicht, es bedeutete nichts Gutes.

„Ach wirklich? Na das ist ja eine nette Geschichte. Hattest du seine Schwester etwa von ihrem Leid erlösen wollen? Oder war dein Wunsch nach einer Familie so stark, dass du ihren Platz einnehmen wolltest, weil du dachtest, du könntest ihn glücklich machen? Ich glaube du irrst dich, meine liebe Reesa. Er wird ganz gewiss kommen. Während mich der so geschätzte Patriarch in ein Gespräch verwickeln will, wird Araphel kommen, um euch zurückzuholen.“

„Ich bin nicht mehr Reesa!“ rief Christine. „Und ich bin auch nicht mehr dein Spielzeug, deine Ware oder die Sexsklavin von irgendjemandem. Genauso wenig wie die anderen und ich werde nicht zulassen, dass du irgendjemandem etwas antun wirst. Selbst wenn du mir beide Arme brechen und mir das andere Bein nehmen solltest, dann werde ich dir den Schwanz abbeißen, damit du dich nie wieder an irgendjemandem vergehen kannst!“

Was macht sie da, fragte sich Sam und spürte Angst. Wenn sie so weitermacht, wird er ihr etwas antun. Sie wird doch nicht etwa das Gleiche vorhaben wie ich und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, um mich zu beschützen?

„Christine, hör auf!“ rief er und versuchte an seinen Fesseln zu zerren, doch es brachte nichts. „Sei still!“

„Ach wie rührend“, meinte Shen und schmunzelte. „Jeder will den anderen beschützen und stellt sich dafür als Zielscheibe zur Verfügung. Wirklich reizend. Macht ihr das vielleicht, weil ihr Zeit schinden wollt? In dem Fall muss ich euch enttäuschen. Von euch wird nur einer hier lebend herauskommen. Nämlich ohne Arme und Beine.“

Und dabei schaute er Sam an, dem das Blut in den Adern gefror. Dieses Bild tauchte vor seinen Augen auf. Er in derselben Lage wie Ahava vor vier Jahren. Verstümmelt und gebrochen. Doch er würde auch seine Arme verlieren. Shen bluffte nicht, er meinte es todernst. Entsetzt sah er zu Yin und Asha, die völlig verängstigt in der Ecke kauerten und sich klein machten, um bloß nicht in Shens Blickfeld zu geraten. Sie mussten Todesangst vor ihm haben, Christine sicherlich auch. Doch sie versuchte zumindest stark zu bleiben und Shen möglichst davon abzuhalten, irgendjemandem von ihnen etwas anzutun. Und wenn sie sich dann eben opfern musste.

Schließlich machte der Chinese einen kleinen Schritt rückwärts und breitete die Arme aus.

„Nun? Wollt ihr mich denn nicht länger hinhalten? Warum machen wir nicht gleich ein kleines Spiel daraus? Wer will denn anfangen und sich heldenhaft für die anderen opfern?“

Sam biss sich auf die Unterlippe. Wenn er nichts unternahm, dann würde einer von den anderen sterben, so viel stand fest. Und wenn er erst mal ein Bein verlor, er würde es verkraften. Yin und Asha lebten immerhin gänzlich ohne Beine. Es würde schlimm sein, aber er konnte dann vielleicht den dreien das Leben retten. Doch gerade, als er den Mund aufmachen wollte, um etwas zu sagen, da kam Christine ihm zuvor, die fest entschlossen war, nicht zuzulassen, dass ihm etwas passierte. Denn sie wusste, dass er Araphel wichtiger war. Wenn er Sam verlor, würde es ihn endgültig brechen und das durfte sie nicht zulassen.

„Dann fang mit mir an, wenn du es nicht lassen kannst, du kranker Scheißkerl!“

Wortlos ging Shen daraufhin zur Tür raus und verschloss sie hinter sich. Keiner konnte sich so wirklich erklären, was das zu bedeuten hatte. Doch Sam ahnte nichts Gutes. Und tatsächlich kam Shen kurz darauf wieder zurück. Er hatte etwas bei sich, was der Detektiv schon mal auf Farmen gesehen hatte, nämlich ein Glüheisen, welches bei Tieren benutzt wurde, um ihnen ein Brandzeichen zu verpassen. Doch wen würde es treffen? Wen hatte er im Visier?

„Tja meine liebe Reesa… Dein Engagement für diesen jungen Mann ist durchaus löblich, aber mir gefällt dein Ton nicht.“

Christines Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie wusste, was der 42-jährige vorhatte und versuchte ihn daraufhin mit ihrem gesunden Arm festzuhalten, um ihn daran zu hindern.

„Nein! Lass Sam in Ruhe! Fass ihn nicht an!“

Sam sah mit Entsetzen das glühende Eisen, welches leicht qualmte. Auf dem Siegel war eine Schlange zu sehen, das Zeichen der Yanjingshe. Mit so einem Eisen war auch Araphel vor vier Jahren gebrandmarkt worden. Der Detektiv bekam Angst, vor allem weil er wusste, dass es unumgänglich war. Er versuchte ruhig zu atmen und nicht in Angst zu verfallen. Araphel hatte das auch durchstehen müssen und wenn er das nicht ertrug, würde Shen stattdessen die anderen foltern. Auch wenn dieser verdammte Psychopath längst seinen Plan durchschaut hatte, Zeit zu schinden und dies zu seinem Vergnügen ausnutzte, er musste es den anderen zuliebe durchstehen.

Einen Moment lang geschah nichts, wahrscheinlich wollte Shen ihn noch ein klein wenig zappeln lassen. Dann aber spürte er, wie sein Shirt hochgezogen wurde und dann brannte sich auch schon das glühende Eisen in seinen Rücken. Ein infernalischer Schmerz durchfuhr seinen Körper und er schaffte es nicht, seine Stimme zu unterdrücken, um Shen diese Genugtuung nicht zu gönnen. Er schrie laut auf, als das glühend heiße Metall seine Haut versenkte und die Luft vom beißenden Gestank von verbrennendem Fleisch erfüllt wurde. Dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu jenem, den er zu Anfang von Araphel zu spüren bekommen hatte. Dieser hier war bei weitem schlimmer. Für einen Moment hatte er sogar das Gefühl, durch diesen höllischen Schmerz das Bewusstsein zu verlieren. Tränen sammelten sich in seinen Augen und für eine Weile nahm er nichts anderes wahr außer dem Schmerz und diesem widerlichen Geruch nach verbranntem Fleisch. Und er glaubte, auch Christine schreien zu hören, wie sie Shen anflehte, damit aufzuhören. Ihre Stimme klang verzweifelt und flehend, er sah die Angst in ihren Augen Doch es war nicht die Angst vor Shen, sondern die Angst um ihre Freunde… ihre Familie.

Schließlich wurde das glühende Eisen von Sams Haut genommen, doch der Schmerz pochte immer noch nach. Er war wie benommen und schaffte es nicht, seine Konzentration zusammenzuraffen. Immer noch war ihm, als würde sein ganzer Körper lodern und es tat so unendlich weh. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und er war kreidebleich. Durch den Schmerz befand sich sein Körper momentan in einer Art Schockzustand, wodurch seine Wahrnehmung betäubt wurde, aber gleichzeitig sank auch seine Fähigkeit, klar und vernünftig denken zu können. Ein widerlicher Kupfergeschmack lag auf seiner Zunge, der ihm Übelkeit bereitete.

Benommen sah er zu Shen, der sich an diesem Anblick regelrecht weidete. In diesem Moment fragte er sich wie viel ein Mensch in seiner Kindheit hatte ertragen müssen, um zu solch einem Monster zu werden, das nur davon lebte, anderen wehzutun.

„So und nun bin ich an der Reihe, zu entscheiden“, sprach der Chinese und ein eiskaltes Lächeln spielte sich auf seine Lippen. „Da Reesa die Entscheidung gefällt hat, dich zu retten, wird dafür ein anderer den Preis zahlen müssen.“

Und damit ging Shen auf Yin und Asha zu, die verängstigt da in der Ecke kauerten und nicht fliehen konnten. Sie waren vollkommen wehrlos und wussten, dass sie Shen nichts entgegensetzen konnten. Angsterfüllt hielten sie einander im Arm, zitterten am ganzen Körper und nackte Todesangst spiegelte sich in ihren Augen. Dann aber packte Shen Yin an den Haaren und zerrte sie von Asha weg. Als Christine das sah, mobilisierte sie ihre ganze Kraft und versuchte, irgendwie zu ihnen zu gelangen, doch mit nur einem Bein und einem gebrochenen Arm war das eigentlich vollkommen sinnlos. Sie schrie sich fast die Seele aus dem Leib und rief immer „Lass sie los! Nein bitte! Lass sie los!“

Noch nie hatte Sam sie so verzweifelt gesehen. Sie war eine Kämpferin, die sich nicht so leicht einschüchtern ließ, aber diese Situation war für sie die Hölle. Zu wissen, dass jemand gleich vor ihren Augen sterben würde und sie nichts tun konnte, um das zu verhindern, war mehr als sie ertragen konnte. Sie konnte nichts tun, um Yin zu retten und das nur, weil ihr dieses eine gottverdammte Bein fehlen musste und man ihr den Arm gebrochen hatte. Sam erkannte nun trotz seiner Benommenheit, wie Shen seine Gegner wirklich vernichtete: er hielt ihnen ihre eigene Unfähigkeit und Machtlosigkeit vor Augen, während er ihnen das nahm, was ihnen am wichtigsten waren. Er ließ sie das alles mit ansehen, um sie somit zu brechen.

Sam, durch Christines verzweifelte Schreie wieder einigermaßen bei klarem Verstand, begann wieder an seinen Fesseln zu zerren. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht rein, doch das Einzige, was er erreichte, war nur, dass er sich die Handgelenke aufscheuerte, doch seine Fesseln gaben nicht nach. Und so blieb ihm nur hilflos mit anzusehen, wie Shen ein Schwert aus einer vergoldeten Scheide hervorholte, Yin an den Haaren hochzerrte und ihr dann die Kehle durchschnitt, die Klinge immer tiefer ins Fleisch schnitt und ihr dann schließlich den Kopf abtrennte.
 

Blut… überall war da Blut… Sam kam sich für einen Moment vor wie in einem schrecklichen Alptraum. Das alles konnte nie und nimmer wahr sein. Ja, wahrscheinlich war das alles bloß ein schrecklicher Alptraum, der so real erschien und doch nur ein Traum war. Er wünschte sich, dass er schweißgebadet und mit rasendem Herzen in seinem Bett aufwachen würde und alles in Ordnung wäre. Doch es war kein Traum, es war Realität. Genauso real wie die enthauptete Leiche von Yin, die reglos in einer Blutlache lag, die sich weiter ausbreitete. Shens Hand war immer noch in ihre Haare verkrallt, ihre Augen waren leer und tot, ihr Mund geöffnet, als hätte sie noch um Gnade flehen wollen.

Christine schrie und weinte und hielt immer noch ihre gesunde Hand nach ihrer Freundin ausgestreckt. Tränen flossen ihre Wangen hinunter, doch Sam weinte nicht. Er war wie in eine Schockstarre verfallen, in der er nicht zu Emotionen fähig war. Das alles kam ihm so unwirklich und schrecklich vor, dass sein Verstand es nicht als reales Geschehen einordnen konnte. Seine Augen ruhten auf Yins Kopf, den Shen achtlos wie ein Stück Abfall zu Boden fallen ließ. Es gab ein leises, dumpfes Geräusch, als er auf dem Boden aufschlug und er rollte ein klein wenig weiter, bis er reglos liegen blieb und die toten Augen ruhten auf Christine, die sich fassungslos eine Hand auf den Mund presste und versuchte, gegen die Tränen anzukämpfen.

„Und?“ fragte Shen und wischte sich mit einem Taschentuch das Blut von der Klinge und seiner besudelten Hand. „Wer möchte sich als nächstes freiwillig opfern?“

Lauernd ruhten Shens Augen auf Sam. Offenbar erwartete er eine Antwort von ihm. Der Detektiv schluckte, doch seine Kehle fühlte sich trocken an und sein Kopf fühlte sich leer an. Was sollte er ihm antworten? So langsam beschlich ihm das Gefühl, dass es, egal was er auch sagte, darauf hinauslaufen würde, dass es nicht ihn, sondern die anderen erwischte. Die Schlange spielte mit ihrer Beute und trieb sie zur Verzweiflung, indem sie diese in ein teuflisches Spiel hineinzog, in welchem der Gewinner schon von Anfang an feststand. Egal was er sagte, es würde auf das Gleiche hinauslaufen. Wenn er ihn bat, Christine und Asha zu verschonen und stattdessen ihn zu foltern, würde Shen es nicht tun und wenn er sagte, er könne den anderen ruhig etwas antun, dann würde es ebenfalls geschehen. In beiden Fällen würden Christine und Asha leiden und bei ihm würden die Schuldgefühle bleiben.

„Es ist doch egal, was wir sagen“, murmelte er und war erschrocken, wie gleichgültig und tonlos seine Stimme klang. So als hätte er schon längst aufgegeben. „Sie spielen doch nur Ihre abartigen Spielchen mit uns. Egal was ich sage, Sie werden doch sowieso nur das machen, was Sie wollen. Und ich spiele dieses Spiel sicher nicht mit.“

„Wie schade“, meinte Shen mit hochmütiger Stimme. „So schnell geben Sie auf? Keine sehr lobenswerte Eigenschaft für einen Detektiv. Wenn Ihnen das Leben Ihrer Freunde so egal ist, dann kann ich ja gleich weitermachen.“

Christines Augen wanderten zu Sam und sahen ihn fassungslos an. Als könnte sie nicht glauben, dass er einfach so kampflos aufgab uns sie quasi auslieferte. Doch dem war nicht so. Aber er wollte sich nicht mehr diesem Psychoterror aussetzen. Nun sah er Shen mit einer festen Entschlossenheit an und irgendwie schaffte er es, neue Kraft zu schöpfen.

„Was bringt es Ihnen eigentlich, so etwas zu tun? Macht das Ihre Vergangenheit ungeschehen, oder bringt es Ihnen Ihre Familie oder Ihre Kindheit zurück? Als jemand, der genau weiß, wie schrecklich so etwas ist, sollten Sie doch eigentlich der Letzte sein, der so etwas anderen antun will.“

Damit hatte er scheinbar einen wunden Punkt bei Shen getroffen, denn nun verfinsterte sich der Blick des 42-jährigen. Seine lächelnde Fassade bröckelte und für einen Moment konnte er hinter diese Maske schauen. Und was er sah, hatte er damals im Keller bei Araphel gesehen. Diesen eiskalten und unbändigen Zorn, der wie ein schleichendes Gift seinen Verstand befallen und vollständig verschlungen hatte.

„Sie haben doch keine Ahnung, Mr. Leens“, sprach Shen ruhig, doch man konnte den Zorn und den Hass in seiner Stimme hören. Den Hass gegen jene, die ihm seine Kindheit gestohlen, seine Familie genommen und seine Seele für immer verdorben hatten. Wie Morphius damals richtig erkannt hatte: Shens Hass galt nicht der Mafia, sondern der gesamten Welt. Und die Menschen waren für ihn schon lange keine Menschen mehr, sondern Ungeziefer, dass er zertreten konnte. Er war wie ein Kind, das einem Insekt zum Spaß die Flügel und Beine ausriss um zu sehen, oder das einen Wurm zerhackte um zu sehen, wie lange diese armen Geschöpfe noch weiterleben wollten. Nur besaß Shen nicht die naive Unschuld eines Kindes, das nicht wusste, was es da für eine schreckliche Sache tat. Er war sich im vollen Bewusstsein darüber, doch es war ihm egal. Er sah sich nicht als Mensch wie die anderen und da ihm jegliches Mitgefühl fehlte, war es ihm auch egal.

„Sie wissen nicht, wie es ist, in diese Welt hineingezerrt und auf ein einfaches Objekt reduziert zu werden. Sie wurden nicht von ihren eigenen Eltern an die Mafia verkauft, damit diese sich selbst retten konnten. Sie sind in einer gewöhnlichen Familie aufgewachsen in einer behüteten Welt, in der Sie sich darüber beschweren, wenn Sie als Schüler eine Klausur schlechter als gut geschrieben haben. Und genauso wie alle anderen halten Sie sich für ein vorbildliches Exemplar des Homo Sapiens und verleugnen Ihre kranken Fantasien und ihre Neugier. Sie wissen genauso gut wie ich, dass auch Sie ab und zu diese Neugier haben. Die Neugier, wie es ist, jemanden gewaltsam zu nehmen, vielleicht auch ein Kind. Vielleicht haben Sie sich auch schon mal solche Videos angesehen, einfach nur um Ihre Neugier zu befriedigen. Es steckt in uns allen, sowohl in Ihren Genen, als auch in meinen und allen anderen. Vielleicht haben Sie sogar mal mit dem Gedanken daran gespielt, sich auch so eine Frau wie Reesa zu besorgen. Eine Frau, die nicht weglaufen kann und die immer zur Stelle ist, um Ihre Gelüste zu erfüllen. Warum sollten wir das leugnen und bekämpfen? Weil es unmoralisch oder pervers ist? Wir leben unser ganzes Leben in diesem Zwiespalt, dass wir diese Fantasien und Veranlagungen haben, die andere als krank und abartig empfinden und sie unbedingt ausleben wollen. Doch gleichzeitig verdammen wir sie, weil es den ethischen und moralischen Grundsätzen einer intakten Gesellschaft widerspricht. Man hat mir damals keine Wahl gelassen, ich wurde einfach in diese Welt hineingezogen und bin zu einem Teil von ihr geworden.“

„Wir treffen alle unsere Entscheidungen!“ rief Sam. „Jeder entscheidet selbst, was er tut und was nicht. Wenn ein Mann die Veranlagung hat, ein Kind zu missbrauchen, dann liegt es immer noch in seiner Entscheidung, ob er diesem Drang nachgibt oder nicht. Genauso wie sich ein Missbrauchsopfer entscheidet, selbst irgendwann als Erwachsener Kinder zu missbrauchen. Was Sie da von sich geben, ist doch nur zynisches und selbstgerechtes Gerede. Sie sind selbstgerecht und spielen mit anderen, nur um sich überlegen zu fühlen und damit Sie aus dieser Rolle von damals rauskommen.“

„Da mögen Sie vielleicht Recht haben“, gab Shen ohne weiteres zu. „Doch was kümmern mich die Belange der anderen? Was kümmern mich die?“

Damit verwies er auf Christine und Asha und die tote Yin.

„Die Menschen sind von Grund auf verdorben und ich bilde da keine Ausnahme. Sie haben mich zu dem gemacht, der ich wurde. Ich bin kein Monster, ich bin die Konsequenz der Dinge.“

Damit holte er mit dem Schwert aus und schlug zu. Noch ehe einer von ihnen hätte reagieren oder protestieren können, spritzte erneut Blut, als Ashas Kopf vom Hals fiel und sein Körper leblos zusammensank wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Christines verzweifelter Schrei durchhallte den Keller, verwandelte sich dann aber in einen entsetzlichen Schmerzensschrei, als die Klinge des Schwertes ihr Bein abtrennte.

Verzweiflung

„Weder die Toten noch ein Gott verlangen nach Blutrache.“
 

Torsten Marold, Spieleautor
 

Es roch dezent nach Räucherstäbchen und vermittelte dem Zimmer eine fernöstliche Atmosphäre. In dem Stil waren Shens Räume auch gestaltet worden und auch wenn Sergej kein Freund dieses Stils war, musste er zugeben, dass dieser Kerl Geschmack hatte. Er selbst würde sich hier nicht wohlfühlen. Er hatte diesem asiatischen Flair nie etwas abgewinnen können. Mochte es an der Vietnamgeschichte liegen, mit der er aufgewachsen war und durch die er einige Freunde der Familie verloren hatte. Mit Asiaten hatte er nie etwas am Hut gehabt. Er hasste sie nicht, konnte aber auf ihre Gesellschaft verzichten, da dieses Völkchen ihm schon immer ein Rätsel war. Während er wartete, zündete er sich eine Zigarre an. Diese verdammten Sargnägel, die ihm erst diesen Ärger mit dem Lungenkrebs eingebrockt hatten, der ihn in ein paar Monaten töten würde. Er hatte Araphel selbst jetzt noch nichts erzählt und dabei sollte es auch bleiben. Denn wenn seine Einschätzungen richtig lagen, würde dies hier eh seine letzte Zigarre sein. Seine letzte schlechte Angewohnheit, die ihm so viele Scherereien gemacht hatte. Er wusste, dass von ihm alles abhing. Wenn er einen Fehler machte, würde das nicht nur Sam, Christine und den beiden anderen das Leben kosten. Dann würde auch Araphel wieder in Shens Fänge geraten und er würde dann nicht da sein, um ihm helfen zu können. Es stand viel auf dem Spiel und es lag an ihm, alles zu tun, damit Araphels Befreiungsaktion erfolgreich war.

Schließlich öffnete sich die Tür und Shen trat herein. Obwohl er wie immer sehr vornehm gekleidet war und eine sehr erhabene Erscheinung wie die eines ehrwürdigen antiken Kaisers hatte, nahm Sergej etwas wahr. Der Geruch von Blut haftete an Shen. Ganz unverkennbar. Selbst mit den Räucherstäbchen roch er es ganz deutlich, dazu war dieser Geruch ihm einfach zu vertraut. Offenbar hatte Shen sich bereits um seine „Gäste“ gekümmert und Sergej hoffte insgeheim, dass es noch nicht zu spät war. Er erhob sich, grüßte seinen Gastgeber mit einem Nicken und setzte sich dann wieder. Es war ein leichtes für ihn, sich nichts anmerken zu lassen. Schon seit seiner Jugend war er ein hervorragender Schauspieler und gewissermaßen auch abgebrüht genug.

„Es überrascht mich, dass Sie sich so plötzlich bei mir gemeldet haben und sagten, es gäbe dringende Angelegenheiten zu besprechen, Mr. Camorra.“

Shen nahm ihm gegenüber Platz und goss sich eine Tasse Tee ein. Sergej beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und erklärte dann schließlich „Nun, wir machen immerhin Geschäfte zusammen und im Falle einer besonderen Entwicklung ist es natürlich von enormer Wichtigkeit, wenn man seinen Geschäftspartner so früh wie möglich informiert. Wissen Sie, ich hatte während der letzten Zeit, in der Sie in Shanghai waren, ein wenig Zeit mit meiner Familie verbracht. Wie Sie wissen, habe ich einen Sohn und eine Stieftochter. Es ist immer wieder unfassbar, wie schnell die eigenen Kinder erwachsen werden. Gestern wechselt man ihnen noch die Windel und heute studieren sie schon und stehen im Berufsleben. Kinder sind wirklich etwas Wunderbares, aber man merkt an ihnen auch, dass man selbst alt wird.“

Sergej lachte und über Shens Lippen zog sich ein kleines Lächeln, welches wohl ein Schmunzeln andeuten sollte, aber sie wussten beide, dass es nur gespielt war, genauso wie das Lachen.

„Ich bin schon 51 Jahre alt und zähle in spätestens sieben Jahren bereits zum alten Eisen. Wir beide haben sehr viel erlebt, mein sehr verehrter Mr. Yuanxian und ich denke, Sie sehen das auch so, wenn ich sage, dass man in unserem Alter auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen an, nicht wahr?“

Dem stimmte Shen in der Tat zu und sogleich fragte er auch nach dem Grund, warum Sergej ihn sprechen wollte. Der Mafiaboss mit den italienisch-russischen Wurzeln blies den Rauch seiner Zigarre aus und betrachtete den Rauch, wie er in der Luft tanzte.

„Ich konnte mich in meiner jahrelangen „Berufserfahrung“ stets auf gewisse Dinge verlassen. Und das sind meine schlechte Angewohnheit zum Rauchen, mein Geschäftssinn und meine gute Einschätzung. Ich habe da einiges über Sie erfahren, Mr. Yuanxian. Von der Geschichte, wie Sie an die Yanjingshe geraten sind und von dem Massaker, das Sie im Kindesalter in diesem Bordell angerichtet haben. Sie haben im sehr jungen Alter die Macht über die Triade an sich gerissen und eine Säuberung nach der anderen durchgeführt. Aber wissen Sie, aus einer Sache bin ich nie ganz schlau geworden. Und das ist die Tatsache, wie Sie in Ihrer Rolle als Boss einer Mafiaorganisation vorgehen.“

Shen verlor sein Lächeln nicht für eine Sekunde und blieb souverän wie immer. Man hätte ihm nicht angesehen, dass er gerade eben noch zwei Menschen eiskalt enthauptet, einen gebrandmarkt und einem anderen den Arm gebrochen und ein Bein abgetrennt hätte. Er war die Ruhe selbst und das allein war erschreckend, doch Sergej hatte noch keine Vorstellung davon, was sich vor wenigen Minuten noch im Keller abgespielt hatte. Er ahnte es zumindest. Allein anhand des Geruchs von Blut und seinem Wissen, wie brutal und sadistisch Shen war.

„Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Mr. Camorra“, erklärte der Chinese schließlich. „Inwiefern soll mein Handeln als Boss denn für Ungereimtheiten sorgen? Alles, was ich tue, ist rein geschäftlich.“

„Ach ja?“ fragte der Patriarch herausfordernd und sein Ton war nun nicht mehr so locker wie zuvor, als würde man mit einem alten Freund reden. Sergejs Augen wurden ernst und auch sein Ton verhärtete sich. Nun sah man, wie der Patriarch hinter seiner Maske wirklich war.

„Sie haben den Polizeipräsidenten ermordet, mehrere Menschen getötet, die nicht in Verbindung zur Mafia oder zu Ihrer Triade standen, Sie stacheln die Mason-Familie zu einer Vendetta an und provozieren einen Mafiakrieg. Was Sie da tun, ist irrational für unser Gewerbe. Und es ist vor allem gefährlich. Wir führen unsere Geschäfte im Verborgenen aus, meiden den Ärger mit der Polizei und töten niemals hochrangige Polizisten und Politiker, weil es zu gefährlich ist. Die meisten Ihrer Morde hatten nichts Geschäftliches an sich und ich erkenne sehr gut, wann jemand die Mafia als Deckmantel für seine persönlichen Ziele missbraucht. Ihnen geht es nicht um Geschäfte und das wissen wir beide. Es geht Ihnen lediglich darum, Ihre Macht gegen andere auszuspielen und einen Mafiakrieg anzuzetteln, damit sich die großen Familien gegenseitig vernichten und eine Blutfehde heraufbeschwören. Denn wir beide kennen die Heimtücke der Vendetta: sie ist ein Fass ohne Boden. Eine Rache zieht eine weitere nach und es entwickelt sich zu einem einzigen Rattenschwanz. Und das Ergebnis wird ein Blutbad auf internationaler Ebene werden, wenn die Mason-Familie ihre Vendetta an der Triade vollbringt. Denn diese wird zurückschlagen, um wiederum Rache für ihr Oberhaupt zu nehmen. Ich mag vielleicht ein alter Hase sein, der nicht mehr die modernsten Ansichten einer Mafia hat. Vielleicht sind meine Vorstellungen in dieser Hinsicht auch ein wenig romantisch. Aber ich erkenne sehr gut, wenn jemand eine Gefahr für das eigene Gewerbe wird.“

Sergej griff in die Innenseite seiner Jacke, wo er eine geladene Tokarev aufbewahrte. Doch er war nicht schnell genug und war nicht in der Lage, mit Shens Reaktionsgeschwindigkeit mitzuhalten. Noch ehe er die Waffe auf den 42-jährigen richten konnte, zog dieser ein Messer aus seinem Ärmel hervor, warf es mit gefährlicher Präzision und dann bohrte sich die Klinge in Sergejs Brust. Doch er war nicht sofort tot. Nein, er schaffte es noch, die Waffe auf Shen zu richten und zu schießen. Er schoss drei Male. Der erste Schuss streifte Shens Seite, der zweite ging daneben, doch der dritte Schuss traf sein Knie. Mehr brauchte es auch nicht. Er hatte getan, was getan werden musste und konnte nun sterben. Nun, es war gewiss nicht sein Lebensziel gewesen, durch einen solchen Psychopathen sterben zu müssen, aber es war immer noch besser, als krank ans Bett gefesselt und nach Luft röchelnd an diesem verdammten Lungenkrebs zu verrecken. Doch eigentlich war dieser Tod auch ganz gut so. Denn er hatte getan, was getan werden musste. Sein Tod würde es seinem Sohn Victor ermöglichen, Araphel in der Art und Weise zu unterstützen, die von Nöten war, wenn sie diesem psychopathischen Monster Einhalt gebieten wollten. Und dieser Schuss ins Knie würde Shen daran hindern, nach seinem Mord zu Araphel zu eilen und ihn wieder gefangen zu nehmen und seine Geiseln vor dessen Augen zu Tode zu foltern. Selbst wenn er keinen Lungenkrebs im Endstadium gehabt hätte, wäre er zu diesem Opfer bereit gewesen. Denn er war zwar ein Geschäftsmann, aber davor war er in erster Linie Vater und er hatte seinem alten Freund Stephen versprochen, auf Araphel aufzupassen und für ihn da zu sein. Er kannte Araphel schon seit dem Tag, an dieser mit seiner kleinen Schwester im Arm in die USA kam und kaum ein Wort Englisch sprechen konnte. Verdreckt, abgemagert und krank. Er war wie ein Sohn für Sergej und er hatte ihm auch als väterlicher Freund und Mentor zur Seite gestanden. Ein Stück weit bedauerte er es wirklich, dass er sich nicht mal von ihm verabschieden konnte, aber das war vielleicht auch besser so. Denn so konnte sich sein Schützling auf das konzentrieren, was wichtig war.

Sergej spürte, wie das Leben aus seinem Körper wich und die Welt um ihn herum dunkel wurde. Und seine letzten Gedanken, die er noch formulieren konnte, als er sein Leben aushauchte, waren: es ist gut so… Und so starb er mit einem schwachen Lächeln, während Shen vor Schmerz stöhnte und eine Hand auf sein blutendes Knie presste.
 

Sam keuchte und hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, Übelkeit überkam ihn und in seinem Kopf drehte sich alles. Immer schwerer wurde es für ihn, Luft zu holen und er schaffte es kaum, sich so ruhig zu halten, dass er nicht gleich einen Asthmaanfall bekam. Doch er kündigte sich bereits an. Er konnte es nicht mehr aufhalten, nur hinauszögern. Und wenn er nicht bald Hilfe bekam, würde ihm die Luft ganz wegbleiben und er würde ersticken. In seiner Hosentasche musste er noch sein Asthmaspray haben, doch er konnte es nicht erreichen. Wieder zerrte er an seinen Fesseln, dieses Mal umso verzweifelter, als er Christines schmerzgeplagte Schreie hörte. Ihr Bein war sauber am Oberschenkel abgetrennt worden und sie verlor Blut. Viel sogar. Sie musste das Bein abbinden, um den Blutverlust zu regulieren, doch mit nur einer Hand war dies kaum möglich, vor allem da sie so schlimme Schmerzen hatte, dass sie kaum fähig war, geistesgegenwärtig genug zu reagieren. Doch es war noch ein anderer Schmerz, der sie lähmte. Sie hatte es nicht geschafft, Yin und Asha zu retten. Sie waren vor ihren Augen gestorben und Christine hatte es nicht verhindern können, obwohl sie keine Fesseln trug. Nur weil ihr ein gottverdammtes Bein fehlen musste, hatte sie ihre Freunde nicht vor dem Tod bewahren können. Genauso wenig wie sie damals vor vier Jahren Ahava nicht vor dem Selbstmord bewahren konnte. Und nun war sie weder fähig zu fliehen, noch war sie in der Lage, Sam zu helfen. Es gab nichts, was sie noch tun konnte.

Sam versuchte, ruhig zu bleiben und sich zu konzentrieren. Er musste sich irgendwie von den Fesseln befreien und Christine helfen. Wenn sie weiter so viel Blut verlor, würde es noch gefährlich für sie werden. Wieder zerrt er an seinen Fesseln. Seine Haut war inzwischen aufgescheuert und seine Handgelenke blutig. Sie schmerzten höllisch, doch durch das Blut hatte er das Gefühl, als würde er ein wenig mehr durch die Fesseln rutschen. Das war seine Chance. Also biss er die Zähne zusammen, mobilisierte all seine Kraftreserven und zog erneut. Es schmerzte höllisch, als würde ihm die Haut gleich mit abgerissen werden, doch er schaffte es tatsächlich, sich von seinen Fesseln zu befreien. Er verlor den Halt und stürzte zu Boden, wobei er nicht dazu kam, rechtzeitig zu reagieren und seinen Sturz abzufedern. Er schlug hart mit dem Kopf auf dem Boden auf und war für einen Moment bewusstlos. Als er zu sich kam, lag er in einer Blutlache. Doch es war nicht sein Blut, sondern das von Yin. Ihr Kopf lag direkt neben ihm und ihre toten Augen starrten ihn an. Dieses Bild wirkte so unwirklich, als wäre es der Kopf einer Puppe. Doch das war es nicht. Sein Magen verkrampfte sich und die Übelkeit übermannte ihn endgültig. Er schaffte es, seine Kräfte zu mobilisieren und sich in eine Ecke zu schleppen, wo er sich unter heftigem Würgen erbrach. Und als er sich seines Mageninhaltes entledigt hatte, blieb ihm endgültig die Luft weg. Er rang nach Atem, griff instinktiv in seine Tasche, doch zu seinem Entsetzen fand er nichts. Es war nicht mehr da. Sein Asthmaspray war nicht mehr da. Aber warum? Hatte er es vielleicht verloren, als er niedergeschlagen worden war, oder hatte Shen es ihm abgenommen? Das war nicht gut, gar nicht gut.

„Sam…“

Er rang immer verzweifelter nach Luft und spürte, wie seine Lungen vor Schmerz zu pochen begannen. Sein Drang nach Sauerstoff wurde immer stärker und alles, was er hervorbrachte, war ein ersticktes Röcheln. Er wankte durch den Raum und stützte sich an der Wand ab. Christine, die kreidebleich im Gesicht war und sah, dass er in Panik verfiel und schlimmstenfalls zu ersticken drohte, rief nach ihm.

„Sam, bleib ruhig. Sam!“

Als sie wie durch ein Wunder seine Aufmerksamkeit bekam, wies sie ihn mit lauter Stimme an, er möge die Lippen zusammenpressen, vorbei er aber die Oberlippe nach vorne stülpen sollte, während er die Unterlippe zurückstellen sollte. Es war die so genannte Lippenbremse. Sam versuchte, ihre Anweisungen zu befolgen, doch je mehr seine Lungen nach Sauerstoff schrieen, desto schwerer wurde es, nicht in Angst zu verfallen. Es gab nichts Schrecklicheres als das Gefühl, jeden Moment zu ersticken. Es fühlte sich so beklemmend an, dass ein Mensch instinktiv in Panik geraten musste, wenn er in diese Lage kam. Doch Christine schaffte es trotz der entsetzlichen Schmerzen und dem bedrohlichen Blutverlust, ihm beizustehen und wenigstens ihm helfen zu können. Sam wandte seine ganze Kraft auf, sich allein auf diese einfache Übung zu konzentrieren, die vielleicht sein Leben retten konnte. Immer schlimmer wurde der Schmerz in seiner Lunge und sein Verlangen nach Sauerstoff wurde zu einer unendlichen Qual. Seine Brust tat ihm weh, doch es zeigte langsam Wirkung. Er spürte, wie dieser immense Druck wich, der ihm die Luft abschnürte. Und als schon Sterne vor seinen Augen zu tanzen begannen, weil der Sauerstoffmangel langsam gefährlich wurde, wich dieser Druck wieder. Und auch wenn sein Atem immer noch laut rasselnd war und er spürte, dass er jeden Moment wieder einen Anfall erleiden konnte, bekam er wieder Luft. Er sog die Luft ein und kam sich entsetzlich kraftlos vor. Seine Handgelenke bluteten, seine Brandwunde schmerzte und seine Lungen pochten schmerzvoll.

Keuchend schleppte er sich zu Christine, deren Gesicht fast schneeweiß war. Ihr Blutverlust war bereits gefährlich und wenn nicht schnellstens Hilfe kam, dann würde es schlecht aussehen. Er nahm seinen Gürtel ab, kniete sich neben sie hin und sah, wie ihre Augenlider schwer wurden.

„Das wird jetzt sehr wehtun“, warnte er sie. „Halt durch, okay? Bleib bei mir!“

„Ich kann mein Bein nicht spüren“, keuchte sie und ihr Blick wirkte leicht desorientiert. Offenbar hatte sie ihre ganze Kraft mobilisieren müssen, um ihm zu helfen und nun zeigte sich das Ausmaß ihres Blutverlustes.

Sofort begann Sam mit der rettenden Maßnahme und band eine Schlaufe um ihren blutenden Beinstumpf, dann schnürte er den Gürtel so fest er konnte zu, woraufhin Christines Bewusstsein wieder zurückkehrte und sie vor Schmerz aufschrie, als würde man ihr noch etwas abschneiden. Es tat ihm weh, sie so schreien zu hören und es kostete ihn Mühe, bei der Sache zu bleiben, denn sein Atem ging wieder schwerer und kürzer, während seine Lungen immer noch schmerzten.

„Christine, bleib bei mir!“

Während sie schrie, sammelten sich Tränen in ihren Augen. Es war ein schrecklicher Anblick und es tat ihm weh, sie so sehen zu müssen. Dann beobachtete er, wie sich ihre Augen in den Höhlen verdrehten und wie ihr Körper erschlaffte. Der Schmerz hatte ihr endgültig das Bewusstsein geraubt und sie lag regungslos da.

„Christine!“

Die Tür wurde aufgestoßen. Zuerst fürchtete Sam, es könnte Shen sein, doch unendliche Erleichterung überkam ihn, als er sah, dass es Araphel war. Es war tatsächlich Araphel. Und bei ihm waren ein paar seiner Leute, auch Dr. Heian, der einen Koffer bei sich trug. Sie sahen das Bild, das sich ihnen bot und Sam sah, wie sich Entsetzen und Fassungslosigkeit auf Araphels Gesicht zeichneten.

„Sam, Christine!“ Er wollte zu ihnen eilen, doch Dr. Heian drängte ihn weg und lief zu der Schwerverletzten, deren Lippen fast genauso schneeweiß waren wie ihre Haut. Sam, der nichts für sie tun konnte, eilte zu Araphel und umarmte ihn erleichtert. Und kaum, dass er in seinen Armen lag, brach er in Tränen aus, während er Gott dafür dankte, dass endlich Rettung gekommen war. Sie waren gerettet…
 

Da Sam einigermaßen laufen konnte, lief er neben Araphel her, der Christine auf dem Arm trug, deren Bewusstsein zumindest teilweise wieder zurückgekehrt war. Doch so ganz bei Sinnen schien sie nicht mehr zu sein. Ihre Augen schafften es nicht, einen bestimmten Punkt zu fixieren und wahrscheinlich war auch alles, was sie erkennen konnte, verschwommene Konturen. Ihr Puls war sehr schwach und sie musste dringend behandelt werden. Dr. Heian hatte ihr zwar etwas gespritzt, doch es würde bei weitem nicht reichen. Fakt war, dass sie sie schnell in ein Krankenhaus bringen mussten.

„Araphel…“, brachte sie mit schwacher Stimme hervor, während ihr Atem immer langsamer ging. Ihr Blutverlust musste bereits über den kritischen Punkt hinaus sein. Der Mafiaboss rannte so schnell er konnte durch das Haus, um sie auf dem schnellsten Weg behandeln zu lassen. Jede Sekunde zählte, das wusste er. Und als er sah, in was für einem Zustand sie war und dass sie mit dem Leben rang, vergaß er schlagartig seine Wut auf sie. Er konnte sie nicht hassen, nicht wütend auf sie sein. Das Einzige, was er empfand, war Angst. Er hatte Angst, sie zu verlieren. Allein der Anblick der beiden enthaupteten Leichen war entsetzlich gewesen und hatte ihn bis ins Mark erschüttert. Und nun rang auch noch Christine mit dem Tod.

„Bleib bei mir“, sprach er immer wieder zu ihr, damit sie bei Bewusstsein blieb. Egal wie schlimm ihre Schmerzen auch gerade waren, egal wie schwach sie war, sie durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren. Wenn sie ihm jetzt wegstarb, nachdem er ihr solch schlimme Dinge gesagt und sie sogar geohrfeigt hatte, würde er sich das niemals verzeihen können. „Christine, bitte bleib bei mir.“

„Es tut… mir leid“, brachte sie mit schwacher Stimme hervor. Sie versuchte sein Gesicht zu erkennen, doch die erkannte kaum noch etwas. Ihr Körper befand sich durch die Schmerzen und dem hohen Blutverlust in einem kritischen Schockzustand. Kaum, dass sie im Wagen Platz genommen hatten, fuhren sie los und Dr. Heian, der zusammen mit Araphel bei Christine auf der Rückbank saß, während Sam vorne neben dem Chauffeur saß, versuchte alles erdenkliche, um Christines Kreislauf einigermaßen zu stabilisieren. Er bereitete eine Infusion vor, die er für absolute Notfälle im Koffer dabei hatte, doch er bezweifelte, dass das ausreichte. Es sah nicht gut aus. Es sah ganz und gar nicht gut aus, das wusste er. Solche Fälle sah er nicht zum ersten Mal und er konnte inzwischen ganz gut abschätzen, wann ein Fall gut aussah und wann keine Hoffnung mehr bestand. Und in Christines Fall standen die Chancen sehr schlecht. Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie nicht lange durchhalten würde. Selbst wenn sie das Krankenhaus erreichten, war die Chance sehr gering, dass sie noch bis zur Operation durchhielt. Doch seine Ehre als Arzt verbot es ihm, einfach so aufzugeben, denn es konnte durchaus medizinische Wunder geben, auch wenn sie extrem selten war. Er würde tun was in seiner Macht stand, um sie zu retten. So gab er ihr erst mal ein Schmerzmittel, um wenigstens ihre Qualen zu lindern, die sie litt. Dann legte er die Zufuhr für die Kochsalzlösung an, auch wenn das herzlich wenig brachte. Damit ließ sich zwar der Kreislauf stabilisieren, aber nicht in solch einem Zustand. Eigentlich konnte nur eine Bluttransfusion helfen, doch das war nicht möglich, solange ihre Wunde nicht geschlossen wurde. Außerdem war eine wichtige Arterie verletzt, wodurch sie unfassbar schnell Blut verlor und bei so einer Wunde würde sie sich auch nicht so leicht schließen lassen. Wieder fühlte er Christines Puls, doch er war kaum noch vorhanden. Auch ihr Atem wurde immer schwächer. Sie lag bereits im Sterben.

Araphel hielt ihre Hand fest und rang mit den Emotionen. Er hatte Angst um sie. Trotz der Dinge, die an diesem Morgen passiert waren, hatte er entsetzliche Angst davor, dass er sie nicht retten konnte. Sie durfte nicht sterben, nicht nachdem er schon seine Schwester, Yin und Asha verloren hatte.

„Christine“, sprach er und hielt ihre totenblasse Hand fest. „Bitte bleib bei mir.“

Es war ein so herzzerreißendes und verzweifeltes Flehen, das selbst dem Arzt die Brust zuschnürte. Es war so unsagbar schrecklich, dass das hier geschah. Er kannte sie beide seit zwei Jahren, lebte mit ihnen zusammen und schätzte sie als gute Freunde. Er hatte sich immer um Christine gekümmert, wenn sie ihre Anfälle hatte und sie lag ihm aufgrund ihrer Krankheit sehr am Herzen. Und umso schrecklicher war es nun, dass er nichts tun konnte, um ihr zu helfen.
 

Endlich erreichten sie nach einer gefühlten Ewigkeit das Krankenhaus und Christine wurde sofort in den OP-Saal gebracht. Sam, dem es inzwischen wieder etwas besser ging, nachdem Dr. Heian ihm das benötigte Asthmaspray gegeben hatte, wartete zusammen mit Araphel vor dem OP-Saal, nachdem seine aufgeschürften Handgelenke und seine Brandwunde behandelt worden waren. Als er in den Wartebereich kam, sah er bereits einen der Chirurgen auf Araphel zukommen. Er eilte zu dem Mafiaboss hin, um zu hören, was es Neues gab. Doch er ahnte nichts Gutes. Der Chirurg kam viel zu früh aus dem Saal und sein Gesicht sah ernst und gefasst aus. Dieser Blick verriet bereits alles.

„Mr. Mason“, begann der Chirurg und blieb vor ihm stehen. Araphel erhob sich und fragte „Ja?“

Der Chirurg schwieg einen Moment, dann holte er tief Luft und teilte mit, was Sam bereits befürchtet hatte.

Danach kamen die Ereignisse ihm wie eine entfernte und unwirkliche Erinnerung vor. Es war, als wäre er ab diesem Zeitpunkt in einem schrecklichen Alptraum gefangen. Er wusste nur noch, wie er Araphel am Arm festhielt und mit ihm zusammen in einen kalten und sterilen Raum ging, der nur spärlich beleuchtet war. Auf einem Tisch lag Christine. Ihre Augen waren geschlossen und sie sah aus, als würde sie friedlich schlafen. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und sie wirkte auf ihn wie eine Puppe. Es war so unwirklich für ihn, dass sein Verstand es nicht schaffte, es als Realität zu akzeptieren. Doch für Araphel war es weitaus schlimmer. Als er vor ihr stand und durch ihr feuerrotes Haar strich, da zerbrach etwas in ihm. Seine Kraft, sein Wille und sein Stolz waren endgültig zerstört und was übrig blieb, war ein gebrochener Mann. Er sank auf die Knie und brach in Tränen aus. Es war das allererste Mal, dass Sam ihn weinen sah. Und ihn so zu sehen, machte für ihn nur allzu deutlich klar, wie schrecklich das alles für ihn sein musste. Araphel hielt Christines leblose Hand fest, wie er es die ganze Zeit im Auto getan hatte und ließ seiner Trauer und seiner unendlichen Verzweiflung freien Lauf, während er weinte und Tränen vergoss. Sam, der seinerseits emotional unter Schock stand und für sich selbst gar nicht realisiert bekam, was da passiert war, weinte nicht. Er konnte es nicht, selbst wenn er es gewollt hätte. Und doch fühlte er einen unendlich tiefen Schmerz in seiner Brust, gefolgt von einer entsetzlichen Leere und Verzweiflung. Er kniete sich neben Araphel hin und nahm ihn in den Arm. Er hielt ihn im Arm, um ihm wenigstens etwas Halt geben zu können. Doch er selbst kam sich so verloren vor in diesem Moment.

Yin und Asha waren tot… und nun auch Christine…

Der Plan

„Und da sah er einen Schädel auf dem Wasser treiben, redete er ihn an und sprach: Weil du ertränkt hast, ertränke man dich, und die dich ertränkten, werden ertrinken.“
 

Talmud
 

Sam befand sich wie in einer Art apathischen Zustand, in der die Geschehnisse einfach an ihm vorbeirauschten, ohne dass er sie wirklich direkt wahrnahm. Die Beerdigung war ihm so unwirklich vorgekommen, als wäre dies gar nicht real, sondern eine düstere Theateraufführung, in der er mittendrin war. Die Worte des Pfarrers, der ein paar tröstende Worte aus der Bibel zitierte, klangen wie aus einer weiten Ferne und die ganze Zeit starrte Sam auf die Grabsteine, auf denen die Namen der jüngst Verstorbenen standen. Asha Luan, Yin Wong, Christine Cunningham und Sergej Camorra. Es waren erstaunlich viele zur Beerdigung gekommen, wahrscheinlich aber deswegen, weil sie dem Patriarchen die Ehre erweisen wollten. Der Sohn war anwesend und nahm die Beileidsbekundungen mit einer erschreckenden Fassung entgegen, so als wäre er längst darauf vorbereitet gewesen, was geschehen würde. Die Verlobte des Patriarchen, die eine hübsche Frau mit roten Locken war, weinte schluchzend in ihr Taschentuch und litt wohl am meisten. Zumindest war es ihr am deutlichsten anzusehen, wie sehr dieser Verlust sie traf. Doch Sam wusste, dass Araphel, obwohl sein Gesicht unbewegt blieb, wohl am meisten von allen Anwesenden litt. Er hatte den wohl schlimmsten Verlust erlitten, nachdem er schon seine Adoptivfamilie und seine Schwester verlor. Sergej, der für ihn wie eine Art zweiter Vater war, starb durch dieselbe Hand, die jene Frau getötet hatte, die für ihn wie eine Schwester war. Seit er Christines Leichnam im Operationssaal gesehen hatte und weinend zusammengebrochen war, war er nicht mehr derselbe. Etwas in ihm war zerbrochen und er war kraftlos geworden. Seine Augen wirkten leer und hoffnungslos, er trank viel und weinte. Sam war der Einzige, der dann bei ihm war, denn sowohl Morphius als auch Dr. Heian respektierten Araphels Wunsch, dass niemand ihn so schwach erleben durfte. Das hätte es nur noch schlimmer gemacht. Sam selbst hatte nicht getrauert. Er hatte es sich nicht gestattet zu trauern, denn wenn er nicht stark für Araphel war, wer war es dann? Araphel war die ganze Zeit stark für sie alle gewesen, um gegen ein Monster anzukämpfen, das ihr aller Leben bedrohte. Er hatte zu viel erleiden müssen, als dass er noch länger kämpfen konnte. Nach Christines Tod war wirklich alles über ihn hereingebrochen und damit auch wieder der Schmerz, den er vor vier Jahren zuletzt empfunden hatte, als Ahava sich für den Selbstmord entschieden hatte. Sam dachte immer wieder daran zurück, dass Christine ihn gerettet hatte, als er fast an seinem Asthmaanfall gestorben wäre. Sie, die grausam zugerichtet worden war, hatte dennoch die Kraft aufgebracht, um ihn zu beschützen, weil sie wusste, dass es Araphel endgültig getötet hätte, wenn er den Menschen verloren hätte, den er noch mehr liebte als er seine Schwester geliebt hatte. Sie hatte den Tod in Kauf genommen, weil sie darin die einzige Möglichkeit sah, um Araphel vor den endgültigen Zusammenbruch zu bewahren.
 

Als die Beerdigung vorbei war, kehrten sie schweigend wieder in die Villa zurück. Dr. Heian sah niedergeschlagen aus, Morphius hatte seinerseits den Hut so heruntergezogen, dass niemand sein Gesicht sah. Wahrscheinlich wollte er auch nicht, dass man ihm seine Trauer ansah. Als sie wieder zurück in die Villa fuhren, saßen sie am Tisch und aßen schweigend zu Mittag. Es war zu ruhig. Es fehlte diese fröhliche und leichtherzige Unbeschwertheit, die lauten Stimmen, das Gelächter und der Humor. Diese Stille schnürte Sam die Brust zu. Sie war viel schlimmer als die bedrückten Gespräche und es war einfach unerträglich. Vor allem, weil diese Stille ihn unerbittlich in die harte und grausame Realität zurückwarf.

Nach dem Essen verschwand Araphel in sein Büro, da er nachher geschäftliche Gespräche mit Victor Camorra hatte, der nun die Nachfolge des seligen Sergej Camorra übernommen hatte. Und da er niemanden sehen wollte, streifte Sam alleine durchs Haus und ging schließlich in die Werkstatt. Er schaltete das Licht an und sah die Autos da stehen. Der leuchtend rot lackierte 58er Plymouth Fury wie aus Stephen Kings Roman, der schwarze 54er Hudson Hornet und der Rolls Royce, der noch nicht fertig restauriert war. Für einen Moment war ihm, als würde er das Geräusch der Schraubenschlüssel hören, den Lärm der Maschinen Christines laute Stimme, die versuchte, den Lärm zu übertönen. Er war immer gerne in die Werkstatt gegangen, wenn Araphel keine Zeit hatte. Sie war der lebhafteste Ort in der gesamten Villa und er hatte nicht selten Spaß mit den anderen gehabt. Als er sich an das Steuer des Furys setzte, tauchten all die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Christine, Asha und Yin vor seinem geistigen Auge auf. Wie sie abends gepokert und gemeinsam Restaurationen durchgeführt hatten. Wie Asha in seiner ungeschickten Art und Weise immer irgendetwas fallen ließ und Christine ihn daraufhin neckte. Das Gelächter, die Witze… Christines Lächeln und ihre feuerroten Haare. Ihre lebhafte und direkte Art, ihre gelegentlichen Wutausbrüche, wo sie dann ihre Schraubenschlüssel durch die Gegend warf. Das alles würde er nie wieder miterleben. Stattdessen würde die Werkstatt leer bleiben, die drei Oldtimer verstauben und verrosten. Nie wieder würde er zusammen mit den dreien Poker spielen, mit ihnen lachen und von Christine erfahren, was für Tricks man anwenden konnte, wenn der Motor versagen sollte. Er würde nie wieder unter ihrer Anleitung Sachen ausbauen und nie wieder ihre Geschichten hören können. Als er tief einatmete und sogar noch Christines Parfüm wahrnehmen konnte, da schnürte sich seine Brust schmerzhaft zusammen und mit einem Mal überkam ihn tiefste Verzweiflung. Sein Körper zitterte und ungehindert flossen Tränen seine Wangen hinunter. Mit einem Mal brachen all die Gefühle, die er mit eiserner Willenskraft und Entschlossenheit zurückgehalten hatte, über ihn herein. Er konnte nicht aufhören, selbst wenn er gewollt hätte. Mit einem Mal war dieser gewaltige Damm gebrochen und wie eine gewaltige Flut war die Trauer über ihn hereingebrochen. Er hielt das Lenkrad fest, legte den Kopf darauf und schluchzte. Warum nur, fragte er sich in diesem Moment. Warum nur hatte er nichts tun können, um das zu verhindern? Wieso hatte er es nicht geschafft, sie zu retten? So ein Ende hatte sie einfach nicht verdient, Asha und Yin genauso wenig. Welcher Wahnsinn war nötig gewesen, um so viele Leben einzufordern? Hätte er rechtzeitig gemerkt, dass es eine Falle war. Es war so verdammt offensichtlich gewesen und trotzdem hatte er keinen Verdacht geschöpft, weil er sich zu sicher gefühlt hatte. Er war Detektiv, er hätte es merken müssen! Wenn er aufgepasst hätte, dann hätte es nicht passieren müssen und dann wären Christine und die anderen noch am Leben. Genauso wie sein Bruder noch am Leben wäre, wenn er ihn nicht zur Rede gestellt hätte. Es war allein seine Schuld…
 

Araphel hatte seine ganze Willenskraft zusammengenommen, um sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Schwäche zu zeigen war in seinen Augen undenkbar. Niemand hätte ihn in einem trauernden Zustand sehen dürfen und dass Sam ihn so schwach erlebt hatte, blieb die einzige Ausnahme. Als Victor Camorra hereinkam, hatte dieser den ernsten und sachlichen Gesichtsausdruck eines Staatsanwalts, auch wenn er noch sehr jung war. Doch das täuschte, denn Araphel hatte erlebt, dass Victor trotz seines jungen Alters überaus intelligent war und mit Ernst die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte. Der Händedruck war fest und sogleich begaben sie sich in eines der Besprechungszimmer, wo sie Platz nahmen. Victor rückte seine Brille zurecht und als Araphel ihm sein Beileid ausdrückte, schüttelte dieser nur den Kopf und erklärte „Wir haben beide einen Vater verloren.“

Der 31-jährige nickte und für einen kurzen Augenblick wich sein düsterer Gesichtsausdruck einem traurigen Glanz, der Victor durchaus nicht verborgen blieb. Doch er sagte nichts und tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Er trank einen Schluck Kaffee, der serviert worden war und kam dann auf das Wesentliche zu sprechen. Anders als sein seliger Vater zählte er nicht sonderlich zu den redseligen Menschen, die sich durch eine außerordentliche Redegewandtheit und den verbundenen Charme eines erfahrenen und kulant wirkenden Geschäftsmannes auszeichnete. Nein, er war von einer wesentlich ernsteren Natur, wirkte entschlossener und strahlte Professionalität, fast schon verbissenen Ehrgeiz und die kalte Strenge eines Staatsanwalts aus. Er war vollkommen anders als sein Vater, was nicht unbedingt zum Nachteil war.

„Wie du ja weißt, habe ich die Nachfolge als Boss der Camorra-Familie übernommen und ich bin deshalb zu dir gekommen, weil sich gewisse Dinge mit dem Tod meines Vaters geändert haben.“

„Soso“, murmelte Araphel. „Und welche Dinge wären das?“

„Der Tod meines Vaters war ein persönliches Motiv von Shen“, erklärte Victor und er sprach so kühl und sachlich darüber, als hätte diese Geschichte rein gar nichts mit ihm zu tun, was aber nichts heißen mochte. Denn Victor ähnelte Araphel genauso in der Ansicht, dass er sich seine persönlichen Gefühle nicht anmerken ließ. Doch er schaffte es wesentlich besser, weil er gewusst hatte, was passieren würde. „Mein Vater hatte Geschäfte mit ihm und die Tötung eines wichtigen Geschäftspartners fällt nicht in die geschäftlichen Begründungen. Er wusste, dass Shen die Mafia nur für sein persönliches Vergnügen benutzt, weil sie ein guter Deckmantel ist, um seinem Sadismus zu frönen. Es gibt genug Indizien und Beweise, die klar belegen, dass Shen ein berechnender Psychopath ist und als solcher eine ernsthafte Bedrohung für unser Geschäft darstellt. Mein Vater hat davon gewusst und er hat ebenso gewusst, dass die Mason-Familie alleine keine Chance gegen ihn hat. Aus diesem Grund hat er einen Plan geschmiedet, um beide großen Familien auf legitime Weise zu vereinen. Aus diesem Grund ist er alleine zu dem Treffen gegangen.“

Araphel zog die Augenbrauen zusammen, als er das hörte und ein schlimmer Verdacht überkam ihn. „Soll das etwa heißen…“

Victor nickte. „Er hat sich wissentlich töten lassen, weil dies der einzige Weg war, dass wir uns gegen Shen verbünden können. Denn die Gesetze der Vendetta sind eindeutig. Die Camorra-Familie wird an ihm Rache nehmen für den Mord an meinen Vater und du wirst Rache für den Mord an deiner Schwester nehmen.“

„Warum?“ fragte Araphel und verlor fast die Fassung als er hörte, was Sergej für ihn getan hatte. „Warum ist er so weit gegangen?“

„Er war schwer krank“, gestand Victor und senkte unmerklich ein wenig den Blick.

„Krank? Was hatte er?“

„Er hatte Lungenkrebs im Endstadium“, erklärte der junge Anwalt. „Er hatte nur noch wenige Monate zum Leben. Darum ist er auch diesen Schritt gegangen. Hätte er sich schon viel früher mit der Mason-Familie gegen die Yanjingshe verbündet, dann wäre nicht nur sein Leben, sondern auch meines und das meiner Stiefschwester in Gefahr gewesen. Aus diesem Grund hat er arrangiert, dass sie im Ausland studiert, damit sie in Sicherheit ist. Er hat dich vorsorglich im Unwissen gelassen, weil er genau wusste, dass du ihn aufhalten würdest. Und er bat mich auch, die jegliche Hilfe an die Hand zu geben, die du brauchen wirst.“

Araphel schüttelte den Kopf und konnte es einfach nicht glauben, dass Sergej das alles getan hatte. Dieser verdammte Idiot, dachte er und biss sich auf die Unterlippe. Selbst nach seinem Tod muss er sich noch um mich kümmern, indem er Victor mit der Aufgabe betraut, mir zu helfen.

Ein trauriges Lächeln zog sich über seine Lippen. „Das sieht ihm ähnlich, dass er sogar seinen eigenen Tod genauestens durchplant.“

„Und nicht nur das“, fuhr Victor fort. „Er gab mir genaue Anweisungen, wie wir gegen Shen vorgehen sollen und wie wir der Yanjingshe erheblichen Schaden zufügen können. Er nannte diese Operation das Corleone-Manöver. Allerdings lässt sich dies nur durchführen, wenn wir zusammenarbeiten und als ein Team agieren. Ich werde dir den Plan in aller Ruhe und Ausführlichkeit erläutern und dann schlage ich vor, dass wir uns eine Strategie zurechtlegen.“

„Corleone-Manöver“, murmelte Araphel und dachte nach. Der Begriff sagte ihm was. Es war eine Taktik, die auch schon sein Adoptivvater angewandt hatte. Sie war überaus effektiv, erforderte aber eine absolut minutiös genaue Planung. Namensgeber war die Figur des Michael Corleone aus dem Film „Der Pate“. Als dieser nach dem Tod seines Vaters zum Gegenschlag gegen seine Feinde ausholte, ließ er die Oberhäupter der anderen Familien zeitgleich hinrichten, während er selbst der Taufe seines Neffen beiwohnte. Das Corleone-Manöver bedeutete also: an mehreren Orten zur gleichen Zeit zuschlagen und den damit verbundenen Überraschungseffekt für sich nutzen. Diese Strategie hatte den Vorteil, dass sich die Erfolgsrate erhöhte, wenn an verschiedenen Orten gleichzeitig zugeschlagen wurde. Dem Feind blieben dann keine Möglichkeiten, Alarm zu geben. Voraussetzung war allerdings eine perfekte Planung und dass der Plan nicht aufflog. Denn dann war alles zum Scheitern verurteilt.

Araphel ging alle Möglichkeiten durch und schöpfte neuen Mut. Allein der Gedanke daran, dass sie mithilfe des Corleone-Manövers tatsächlich eine Chance hatten, Shen einen erheblichen Schlag zu versetzen, ließ ihn wieder hoffen und ließ ihn seine Trauer für eine Weile vergessen. Er war wieder voller Tatendrang und wollte alles Menschenmögliche tun, um diesen Plan erfolgreich durchzuführen. Das Corleone-Manöver war natürlich sehr riskant, aber Shen würde garantiert nicht damit rechnen, dass sie so eine Strategie ausführten. Er konnte höchstens voraussehen, dass sich die Camorra-Familie und die Mason-Familie gegen ihn verbündeten, um gemeinsam eine Vendetta durchzuführen.

„Also gut, dann brauchen wir die Namen aller wichtigen Mitglieder der Yanjingshe in Boston. Wenn wir uns mit den kleinen Fischen aufhalten, ist der Plan für die Katz. Wenn wir die führenden Unterbosse ausschalten, während wir selber Shen stellen, wird die Ordnung innerhalb der Triade zerfallen und wir haben den Überraschungseffekt auf unserer Seite.“

„Ich habe schon vorgesorgt“, erklärte Victor und holte eine Liste mit Namen heraus. „Das sind die Namen der wichtigsten Mitglieder der Triade hier in Boston, deren Tod uns einen strategischen Vorteil verschaffen könnte. Darunter sind Shens Berater, die Unterbosse sowie Stellvertreter, die einen großen Einfluss haben. Was wir auch tun könnten, wäre, diese „Warenhäuser“ zu finden, wo der Slave Shipping Service die Sexsklaven hält. Das wird ihm einen zusätzlichen Schlag versetzen und die Triade wird einen beträchtlichen Teil ihres Einflusses einbüßen.“

Araphel nickte und dachte darüber nach. „Ich glaube, es ist besser, wenn wir diesen Teil Sam überlassen.“

„Sam?“

„Der Detektiv Sam Leens, den ich entführt hatte. Inzwischen konnte ich ihn überzeugen, uns gegen Shen zu helfen und er hat momentan wichtige Kontakte zu den besten Informanten. Ich denke, dass es vorteilhafter wäre, wenn sich die Cops um diese Warenhäuser kümmert. Auf diese Weise konzentrieren sich die nämlich verstärkt auf die Triade. Ja ich weiß, es gehört zu unseren Gesetzen, keine gemeinsame Sache mit Cops zu machen. Aber wir könnten sie zumindest nutzen, um der Yanjingshe nachhaltig das Leben in Boston schwer zu machen. Denn wenn sich die Polizei und vielleicht auch noch das FBI auf diesen Fall einschießen, dann wird die Triade kaum noch eine ruhige Minute haben.“

Doch Victor schien immer noch ein wenig skeptisch, was aber an etwas anderem lag.

„Du willst also einen Schnüffler in unsere Pläne einweihen?“

„Nein, er wird von unserem Plan nicht das Geringste erfahren. Glaub mir, ich krieg ihn schon rum, dass er sich um diese Sache kümmert, ohne großartig Fragen zu stellen. Inzwischen habe ich ihn ziemlich gut im Griff, dass er bei sämtlichen Kommandos gleich kuscht. Er vertraut mir und da er selbst in den Fängen der Triade war, wird er ebenfalls großes Interesse daran haben, bei der Zerschlagung der Bostoner Yanjingshe zu helfen. Glaub mir ruhig, mir wird er blind vertrauen. Ich brauche ihn nur in dem Glauben zu lassen, dass ich ihm ohne Hintergedanken helfe, dann wird er es tun ohne Fragen zu stellen.“

„Du bist ganz schön abgebrüht“, bemerkte Victor mit einem etwas ironisch andeutenden Lächeln. „Du benutzt seine Gefühle zu deinen Vorteilen.“

„Es ist besser für alle Beteiligten. Ich habe schon genug Verluste gemacht, als dass ich noch in irgendeiner Art und Weise Rücksicht walten lassen könnte. Sam kann eine nützliche Schachfigur in unserem Spiel sein, wenn er nur den richtigen Ansprechpartner bekommt. Fakt ist, dass er die Mafia hasst und sowohl sein Vater als auch sein Bruder wurden von Shens Leuten getötet. Sein naiver Sinn für Gerechtigkeit ist genau das, was wir brauchen, um die Warenhäuser ein für alle Male dichtzumachen.“

Damit schien Victor nun überzeugt zu sein. Er war einverstanden mit diesem Plan und begann sich sogleich Notizen zu machen. Auf Araphels Frage hin, was er sich da notiere, antwortete der Jung-Anwalt „Ich mache mir Notizen zu unserem Vorgehen. Keine Sorge, der Text codiert. Weißt du, mein Vater hat mir viel über die Gesetze der Mafia beigebracht, die Vorangehensweise der Familien und auch was die Vendetta betrifft. Eine Vendetta ist nicht nur ein Racheakt, sie dient auch der Wiederherstellung der Ehre einer Familie, die sich behaupten muss. Die Tötung eines Oberhauptes bedeutet immer eine Schmach für die jeweilige Familie und um ihr Ansehen wiederherzustellen, begeht sie Rache in Form einer Vendetta. Allerdings ist das Fatale daran, dass es in einen Teufelskreis hineinsteuert. Denn wer eine Vendetta begeht, wird daraufhin selbst zum Opfer einer Vendetta. Mein Vater wusste das und hat mir alles erzählt, was er wusste oder zumindest geahnt hat, was Shens Pläne betrifft.“

„Was für Pläne?“

„Es geht ihm nicht darum, seine Macht in Boston zu festigen, sondern sich persönlich einen Namen zu machen. Shen ist nicht nur ein sadistischer Psychopath, sondern auch extrem narzisstisch. Er hält sich für unantastbar und allen anderen überlegen. Psychopathen wie er suchen die Aufmerksamkeit und wollen in die Geschichte eingehen, weil sie sich für mächtiger halten als andere. Sie wollen unsterblich werden und darum suchen sie für gewöhnlich Kontakt zur Polizei, um das Gefühl der Macht auszukosten und sich überlegen zu fühlen. Shen hingegen nutzt dafür die Mafia. Er kennt die Gesetze der Vendetta bestens und er weiß, dass im Falle seines Todes der Krieg zwischen den Familien endgültig eskalieren wird.“

Araphel starrte Victor mit seinen dunklen Augen an und für einen Moment war etwas wie Schrecken in seinen Augen abzulesen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.

„Dann heißt das also“, murmelte der 31-jährige „Wenn wir Shen töten, wird die Triade in Shanghai auf Rache sinnen und unsere Familien ebenfalls vernichten, um Rache zu nehmen.“

Victor nickte. „Ja, das würde einen internationalen Mafiakrieg bedeuten, der das reinste Blutbad nach sich ziehen wird. Kurzum wird Boston in absehbarer Zeit ein genauso heißes Pflaster werden wie beispielsweise Kolumbien und El Salvador.“

„Das heißt also, wenn wir Shen töten, werden unsere Familien vernichtet werden.“

Araphels Magen drehte sich um, als er daran dachte. Wenn es wirklich so weit kommen sollte, würde nicht nur er sterben, auch Sam, Dr. Heian und Morphius mussten dann daran glauben. Dieser elende Mistkerl Shen nutzte diese Umstände schamlos aus, um sich zu schützen. Mit anderen Worten also: wenn sie Shen töteten, wäre dies auch gleichzeitig ihr eigener Tod und der ihrer Familien.

Araphels Hirn begann nun auf Hochtouren zu arbeiten und er durchdachte alles genauestens. Es musste doch einen Weg geben, um eine Vendetta seitens der Yanjingshe zu verhindern. Irgendein toter Winkel in diesem teuflischen Plan. Dass Shen sterben musste, stand ganz außer Frage. Er war viel zu gefährlich, um am Leben zu bleiben. Solange er nicht tot war, würde der Terror sicher nicht aufhören. Nein, er würde nur schlimmer werden und mit jedem Tag wuchsen seine Macht und sein Einfluss. Doch egal wie er es auch drehte und wendete, es gab nur zwei Möglichkeiten, einer Vendetta seitens der Yanjingshe zu entgehen. Erstens: Shen starb eines natürlichen Todes, zweitens: er starb so, dass weder eine Verbindung zu der Mason-Familie oder zur Camorra-Familie hergestellt werden konnte.

Nummer eins war ausgeschlossen. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Shen so leicht starb und dann noch eines natürlichen Todes. Nein, darauf konnten sie noch lange warten. Und ebenso unwahrscheinlich war es auch, dass die Triade keine Zusammenhänge erkannte. Immerhin hatten sowohl die Camorras als auch die Masons Motive, die nur allzu offensichtlich waren. Und dann gab es noch eine dritte Option: wessen Familie Shen tötete, dessen Oberhaupt musste ebenfalls getötet werden. Denn nur so war ein Ausgleich gewährleistet, der die Gesetze der Vendetta aufhob, weil beide Seiten gleichermaßen Verluste gemacht hatten.
 

Hieß also im Klartext: entweder Victor oder Araphel würden bei der Ausführung der Vendetta mit dem Leben bezahlen müssen. Schlimmstenfalls sogar beide.

Harveys Überlegungen

„Rache kann ein edleres Gemüt nur verwunden, nicht heilen. Sie ist der Stachel einer Biene, welche sich selbst tötet, wenn sie es mit ihrem Feind zu tun glaubt.“
 

Unbekannt
 

Sam hatte die ganze Zeit in der Werkstatt verbracht und seiner Trauer freien Lauf gelassen. Er fühlte sich kraftlos und müde und glaubte nicht, dass er es wirklich schaffen konnte, sich alsbald wieder aufzuraffen. Schließlich aber hörte er Schritte in der Werkstatt, die langsam näher kamen. Er blieb sitzen und regte sich nicht. Dann schließlich wurde die Tür an der Beifahrerseite des Furys geöffnet und jemand setzte sich neben ihn. Er schaute nicht einmal hin, wer sich da neben ihn gesetzt hatte, aber dann erkannte er an der Stimme, wer es war.

„Es ist immer schlimm, jemanden zu verlieren, der einem nahe steht. Schlimmer ist es, ihn unter tragischen Umständen zu verlieren. Glaub mir, ich kenne das.“

Es war Harvey, der Schauspieler und Informant, mit dem er derweil in Kontakt stand. Doch warum war er hier? Das verwunderte Sam ein wenig. Als er nachfragte, bekam er die Erklärung „Ich hatte mit Morphius einige Dinge zu besprechen. Er macht sich Sorgen um dich, weil du seit Tagen so apathisch und teilnahmslos wirkst und nicht ein einziges Mal geweint hast. Darum wollte ich nach dem Rechten sehen. Aber wie ich sehe, hat sich der letztere Teil bereits erledigt. Willst du reden?“

Sam sah zu Harvey, der wie immer diesen hoffnungslos und leeren Blick hatte und dessen Augen wie die eines toten Fisches wirkten. Er sah selbst aus, als würde er selbst gerade trauern, doch das hatte bei ihm nichts zu bedeuten. Wie Morphius mal sagte, war Harvey schon in diesem Zustand, seit er und Chris von der Polizei angegriffen worden waren und er unschuldig ins Gefängnis kam. Es waren die Augen eines Mannes, der das schlimmste Unrecht erfahren hatte und niemanden mehr an seinen Gefühlen teilhaben lassen wollte.

„Es geht schon“, wehrte Sam mit müder Stimme ab. „Ich wollte halt für Araphel stark sein. Immerhin hat es ihn am allerschlimmsten getroffen.“

„Und dich nicht?“ hakte der Schauspieler nach. „Ich sehe dir zumindest an, dass dich etwas verfolgt. Schuldgefühle, nehme ich an. Du fühlst dich machtlos und machst dir Vorwürfe, dass du nicht in der Lage warst, es zu verhindern.“

„Stimmt es denn nicht?“ fragte Sam und spürte, wie sich erneut Tränen in seinen Augen sammelten und wie sich ein dicker Kloß in seinem Hals bildete. „Es war eine so offensichtliche Falle, dass ich eigentlich etwas hätte merken müssen. Nur weil ich so unvorsichtig war, sind wir erst in diese Lage geraten und Christine, Asha, Yin und der Patriarch sind tot. Und Shen lebt immer noch. Wie viele Menschen müssen denn noch sterben, bis es endlich aufhört?“

Sam wurde wieder aufs Neue von seiner Trauer übermannt und weinte. Harvey saß neben ihm, blieb ruhig und hörte sich alles in Ruhe an. Er wirkte, als säße er nur deshalb neben Sam, um all seinen Schmerz und seine Trauer in sich aufnehmen zu können. Zwischendurch nickte er mit einem ernsten Blick, während er sich von Sam erzählen ließ, was passiert war. Nachdem der 28-jährige mit seinem Bericht fertig war, setzte nun Harvey zum Reden an.

„Wahrscheinlich hörst du nichts Neues, wenn ich dir sage, dass es nicht deine Schuld ist. Aber lass uns erst mal folgende Fakten beleuchten: Shen ist zurückgekehrt, ohne dass jemand davon gewusst hat. Er ist heimlich ins Land zurückgekommen und hat die Umstände genutzt, dass Christine sich für Oldtimer interessiert und es eine Ausstellung gab. Der Mann, der euch in die Falle gelockt hat, war nicht asiatischer Herkunft, weshalb natürlich niemand sofort darauf kommen würde, dass er mit der chinesischen Mafia in Verbindung steht. Denn die bleibt für gewöhnlich unter sich. Der Bodyguard hat euch reingehen lassen, ohne die Lage vollständig zu prüfen und die Halle zu sichern. Er hätte eigentlich der allererste sein müssen, der aufpassen sollte. Aber weil er nur oberflächlich abgesichert hat, hat er euch fahrlässigerweise in Gefahr gebracht. Und was diese Geschichte bei Shen betrifft, so hättest du so oder so nichts tun können, selbst wenn du nicht gefesselt gewesen wärst. Er hätte dich sofort getötet, wenn du versucht hättest, dich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Auch wenn es hart klingt, aber du hättest nichts tun können, egal wie sehr du es auch gewollt hättest.“

Doch Sam wollte sich damit nicht zufrieden geben.

„Soll ich mich jetzt besser fühlen?“ fragte er ihn. „Soll ich dir vielleicht jetzt danken? Ich lebe, während Christine qualvoll sterben musste und Asha und Yin enthauptet wurden.“

„Sei dankbar dafür“, sagte Harvey mit klaren und festen Worten. „Was glaubst du, wie viele Menschen durch die Hände von Serienmördern sterben und das auf eine so erschreckend leichte Weise? Shen ist ein Killer und er hätte dich ohne zu zögern töten können.“

„Aber Christine…“

„Sie ist gestorben, weil sie dein Leben retten wollte. Und solange du lebst, war ihr Tod und der der anderen nicht umsonst. Es liegt in deiner Verantwortung, weiterzuleben. Denn wenn du aufgibst und weiterhin glaubst, dass du hättest sterben sollen, dann hat sich Christine umsonst für dich geopfert und ihr Tod war dann vollkommen sinnlos gewesen. Wenn du aber weiterlebst und deinem Leben ein wertvolles Ziel gibst, dann war der Tod deiner Freunde doch zu etwas gut. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Menschen, als einen sinnlosen Tod zu erleiden. Wenn sich Menschen bereit erklären, ihr Leben für jemanden hinzugeben und sich für sie zu opfern, dann tun sie es in der festen Überzeugung, dass sie das Richtige tun und damit diese Person weiterleben kann. Willst du, dass Christines, Ashas und Yins Tod keine Bedeutung hat?“

Sam ließ den Blick noch weiter seinen und antwortete mit nein.

„Dann lebe nicht in der Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt. Shakespeare sagte einst Bedaure nicht, was nicht zu ändern ist, sondern ändere, was zu bedauern ist. Anstatt die Schuld für den Tod deiner Freunde bei irgendjemanden zu suchen, solltest du dich viel eher auf den Weg vor dir konzentrieren und dein Leben umso mehr wertschätzen. Eben weil Menschen ihr Leben für deines geopfert haben, ist es deshalb umso wertvoller, verstehst du? Wenn du den Tod deiner Freunde in Ehren halten willst, darfst du dich nicht gehen lassen, sondern musst nach vorne blicken und dir überlegen, was du tun kannst. Ich weiß, dass es schwer ist. So eine Tragödie vergisst man nicht und es ist auch ganz normal, dass man trauert. Aber wenn man sich von seiner Trauer zerfressen lässt, dann passiert es schnell, dass man entweder sein Leben verwirft, oder dass man zu einem Menschen wird, der man eigentlich nicht werden wollte.“

Während seiner Rede war ein wenig Leben in Harvey zurückgekehrt. Es war so, als wäre die dicke Eisschicht, die seine Persönlichkeit und sein Herz umgab, gebröckelt, als er Sam wieder aufbauen wollte.

„Harvey…“

„Hör mal, es ist vollkommen in Ordnung, wenn man trauert. Es ist ein Zeichen dafür, dass dir diese Person auch am Herzen lag. Aber seine Trauer zurückzuhalten und sich selbst zu verbieten, zu trauern, macht alles nur schlimmer. Denn wer kann Trauer verarbeiten, wenn er sie nicht zulässt? Dann wird es dich verfolgen und quälen.“

Hier musste Sam an Araphel denken und wie dieser sich seit vier Jahren mit dem Tod seiner Schwester herumquälte. Welche Szenen es mit Christine gegeben hatte, die er wie einen Ersatz für Ahava behandelt hatte. Wollte er genauso enden und sich jahrelang immer wieder aufs Neue Vorwürfe machen und sich von diesen Ereignissen beherrschen lassen? Nein, das wäre keine Lösung. Es würde ihn nur innerlich zerfressen und zu nichts führen. Er würde nur als seelisches Wrack enden und das wollte er auf keinen Fall.

„Du hast ja Recht“, seufzte er niedergeschlagen. „Aber… es ist einfach nur ungerecht. Christine, Asha und Yin haben so viel erleiden müssen. Sie hätten etwas Besseres verdient.“

„Das bestreitet niemand. Aber wenn man es sachlich betrachtet, gibt es überall auf der Welt Menschen, die etwas Besseres verdient hätten. Das soll sicherlich kein Trost sein, aber so sieht die Realität nun einmal aus. Wie sieht’s aus? Wollen wir woanders hingehen und weiterreden? Bonnie wartet auch schon.“

„Bonnie ist hier?“ fragte Sam. „Was will sie denn hier? Weiß sie denn nicht, dass das hier ein Mafia-Anwesen ist?“

„Sie sagte, dass sie dich sehen will und wollte deshalb, dass ich sie mitnehme. Außerdem ist es viel sicherer als draußen, wo wir von der Yanjingshe angegriffen werden könnten. Ich sagte ihr ja, sie solle lieber zuhause bleiben, aber sie wollte dich unbedingt sehen. Offenbar hast du es ihr angetan.“

Ein schwaches und ungläubiges Lächeln spielte sich auf Sams Lippen, als er das hörte.

„Sie ist wirklich ein typischer Teenager. Ich habe echt keine Ahnung, was mit ihr los ist.“

„Tja, Bonnie ist halt in dem Alter, wo sie über die Stränge schlägt. Aber keine Sorge, sie ist nicht direkt in dich verliebt, sie flirtet halt gerne in ihrer Rolle als Bonnie.“

„Dann ist sie normalerweise nicht so?“

„Nicht direkt“, gab Harvey zu und ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „In ihrem normalen Leben würdest du sie nicht wieder erkennen. Sie ist… eher „langweilig“ und bei weitem nicht so lebhaft wie als Bonnie B. oder Hecatia Bride. Außerdem ist sie bereits verliebt.“

„Darf ich raten? In diesen Cell, den sie sucht.“

Sie verließen gemeinsam die Werkstatt und gingen in eines der Besprechungszimmer, wo sie von Bonnie begrüßt wurden. Sie hatte wie schon bei ihrem ersten Treffen ein auffälliges Gothic Lolita Outfit an und kaum, dass sie Sam sah, sprang sie von ihrem Platz auf und lief zu ihm hin.

„Hi Sammy“, grüßte sie ihn fröhlich. „Schön, dich wiederzusehen. Du siehst gut aus.“

„Bonnie“, sprach Harvey in einem ermahnenden Ton. „Ich habe dir gesagt, du sollst dich bitte zurückhalten. Das ist nicht sonderlich taktvoll von dir.“

Sofort entschuldigte sich Bonnie und um Sam ein wenig aufzumuntern, begannen sie von ihren Zwischenergebnissen zu berichten. Während Sam sich von seinen Verletzungen und dem schweren Schock erholt hatte, waren Harvey und Bonnie nicht untätig geblieben und hatten erfolgreich Kontakt zum FBI herstellen können und es waren bereits erste Festnahmen von korrupten Polizisten erfolgt. Auch Marco Illes, der Sam an die Mason-Familie verraten hatte, wurde wegen diverser Delikte verhaftet und würde bald verurteilt werden. Insgesamt wurden 13 weitere Polizeibeamte verhaftet und es wurden interne Ermittlungen durchgeführt.

„Summa summarum geht es also richtig voran“, rief Bonnie und war sichtlich stolz darauf. „Und bald werden sich diese Polizistentorfköpfe endlich mal um den Saustall kümmern.“

Sie unterhielten sich eine Weile, um das weitere Vorgehen zu besprechen, da kam Bonnie schließlich auf eine Idee.

„Warum nehmen wir uns als nächstes nicht den Big Boss der ganzen Organisation vor?“

„Du meinst Shen?“

Die 16-jährige mit den türkisfarbenen Haaren nickte und erklärte „Wenn wir schon mal dabei sind, hier in Boston aufzuräumen, dann können wir doch auch was gegen diesen Penner tun. Ich meine, er ist der Grund, wieso es diesen abartigen Slave Shipping Service überhaupt gibt und wenn wir ihm die Polizei auf den Hals hetzen, dann räumen die mal ordentlich auf.“

„Der Gedanke ist nicht schlecht“, gab Harvey zu. „Allerdings gibt es da folgende Dinge, die wir auch noch beachten müssen: es existieren keine festen Beweise, dass Shen oder die Triade mit dem Service etwas zu tun hat. Wir bräuchten Zeugen und diese werden von der Yanjingshe beseitigt. Ohne klare Beweise kann die Polizei nichts gegen ihn unternehmen.“

„Aber es gibt Zeugen“, wandte Sam sofort ein. „Ich habe gesehen, wie er Asha und Yin ermordet hat und dass er Christine so verstümmelt hat, dass sie an ihren Verletzungen starb.“

„Darum habe ich mich bereits gekümmert gehabt“, seufzte der Schauspieler und man sah direkt, dass er keine guten Nachrichten hatte. „Als du im Krankenhaus warst, habe ich meine Kontaktleute beim FBI gebeten, in dem Fall zu ermitteln. Doch es gibt dutzende Zeugen, die bestätigen, dass Shen zu dem Zeitpunkt, als die Mason-Familie in das Anwesen eingedrungen ist, bei einem geschäftlichen Treffen war. Es wurden insgesamt 13 Zeugen befragt und sie alle sagen aus, dass er da war. Und wenn das FBI jemanden befragt, dann nehmen sie ihn wirklich in die Mangel. Aber keiner ist von seiner Aussage abgewichen, egal wie sehr sie die Leute ausgequetscht haben. Die haben alle viel zu große Angst vor der Yanjingshe, als dass sie sie hintergehen würden.“

Sam starrte Harvey fassungslos an und konnte es nicht glauben. Shen hatte ein so überzeugendes Alibi, dass er damit einfach durchkam und die Polizei nichts unternehmen konnte? Das konnte doch nicht wahr sein.

„Und das haben sie einfach geglaubt?“

„Nein“, seufzte Harvey und rieb sich die Augen. „Natürlich wissen sie, dass die Zeugen alle nur gekauft sind oder unter Druck gesetzt werden. Aber wie will man das beweisen? Deine Aussage als Detektiv und Sohn eines Polizisten ist vielleicht überzeugend, aber vor Gericht würde die Jury dir nicht glauben, wenn 13 Menschen dir widersprechen.“

„Aber Morphius und Dr. Heian können auch…“

„Und außerdem“, unterbrach Harvey ihn sofort „vergisst du den Fakt, in welch einem Verhältnis du zu Araphel Mason stehst. Was glaubst du wohl, wie es um deine Glaubwürdigkeit stehen wird, wenn ans Tageslicht kommt, dass du eine Beziehung mit einem Mafiaboss hast, der übrigens mit Shen verfeindet ist? Deine Aussage wäre bei aller Liebe keinen Pfifferling mehr wert.“

„Man kann es doch wenigstens versuchen.“

„Das schon, aber es wird zu nichts führen. Glaub mir, ich spreche da aus Erfahrung. Immerhin habe ich monatelang unschuldig im Gefängnis gesessen, weil vier Polizisten einstimmig gegen mich ausgesagt haben, obwohl sie es waren, die mich zusammengeschlagen und Chris fast getötet hätten. Vielleicht hast du Glück und du kannst zumindest eine Verhaftung bewirken, aber spätestens nach 48 Stunden ist Shen wieder frei und das erste, was er tun wird, ist Rache nehmen. Er wird jeden töten, der es gewagt hat, sich mit ihm anzulegen und das bedeutet, dass noch mehr Menschen sterben müssen. Solange wir keine Beweise haben, die ihn auch ganz eindeutig mit all diesen Verbrechen direkt in Verbindung bringen, ist die Polizei machtlos, weil sie sich an die Gesetze halten muss.“

Bedrückt ließ Sam den Blick sinken und schwieg. Er konnte nicht glauben, dass es trotz seiner Zeugenaussage nicht mal dazu führen würde, dass Shen verurteilt wurde. Nein, stattdessen würde er nur vorgeführt werden, weil er nicht mal leugnen durfte, dass er eine Beziehung mit Araphel hatte und das war es, was die ganze Sache erst zum Scheitern verurteilte. Allein dadurch, dass er mit einem Schwerkriminellen zusammen war und bei ihm lebte, war seine Glaubwürdigkeit vor Gericht gleich null. Und Shen, der sich ein sicheres Alibi verschafft hatte, würde einfach davonkommen.

„Also dann gibt es gar nichts, was wir gegen ihn tun können? Obwohl ihr beide Informanten seid?“

Das ließ Bonnie nicht auf sich sitzen. Sie, die sehr stolz auf ihre Arbeit war und einen guten Ruf als eine der besten Informantinnen im Internet genoss, fühlte sich in eben jenen Stolz gekränkt. Hier setzte sie eine Miene auf, die teils verärgert, teils schmollend war und sie ballte die Hände zu Fäusten, wobei sie rief „Das lasse ich mir ganz sicher nicht anhängen! Ich bin die beste Netzwerkinformantin und ich werde mir garantiert nicht unterstellen lassen, ich könnte diesen Penner nicht drankriegen. Warte es nur ab, ich werde schon noch die Leichen in seinem Keller finden und dann schleife ich ihn persönlich zur Polizei!“

„Bonnie, komm wieder runter“, ermahnte Harvey sie, doch das Mädchen war nicht mehr zu bremsen. Sie hatte sich in Rage geredet und würde sich sicher nicht so leicht wieder beruhigen. Nicht nachdem man sie an ihrem wunden Punkt getroffen hatte.

„Nein, ich werde mich nicht beruhigen“, rief sie und war nun richtig sauer. „Ich lasse mir doch von so einem dahergelaufenen Psycho-Chinesen nicht meinen Ruf ruinieren.“

Es war nichts zu machen, Bonnie war nicht mehr zu halten. Sogleich stand sie auf und sagte „Ich krieg diesen Motherfucker dran, darauf könnt ihr euch verlassen!“

Sam wusste nicht, ob er froh oder beunruhigt sein sollte, als Bonnie ihm das sagte. Sie hatte also tatsächlich vor, sich persönlich darum zu kümmern, Beweise zu liefern, die Shen ans Messer lieferten?

„Bonnie…“

„Dafür will ich aber was!“ sagte sie sofort und deutete auf Sam, wobei sie ihn mit einem ernsten Blick ansah. „Du schuldest mir immer noch ein Foto!“

Nun, das ließ sich ja zum Glück leicht arrangieren und so zog Sam sein Hemd aus und ließ sich bereitwillig von Bonnie fotografieren, die dabei natürlich sichtlich Spaß hatte und zufrieden lächelte. „Super“, rief sie. „Damit steht der Deal. Ich werde mich zuhause gleich an die Arbeit machen.“

„Und was hast du vor?“ wollte der Detektiv selbstverständlich wissen. Hier zwinkerte ihm die 16-jährige zu, die erklärte „Ich werde mich in sein System hacken und seine ganzen Festplatten durchstöbern. Irgendwo wird er schon etwas haben, wofür ich ihn drankriege. Und wenn es Videoaufnahmen von Kameras sind, wo er jemanden umbringt. Niemand ist vorsichtig genug, dass er gar keine Spuren hinterlässt. Es gibt immer welche, man muss nur gründlich suchen.“

Und damit war es beschlossene Sache, was als nächstes geschehen würde. Von Araphels Plänen hatte Sam bis dato noch keine Ahnung.
 

Shen lag in seinem Bett und war sehr schweigsam gewesen, was aber nicht bedeutete, dass er weniger gefährlich war als sonst. Nein, für gewöhnlich bedeutete es eher das Gegenteil, wenn er ruhig war. In ihm kochte es vor Wut. Dieser elende alte Narr hatte es doch tatsächlich gewagt, ihm ins Knie zu schießen und ihn somit daran zu hindern, Sam zu töten und Araphel den damit wohl schlimmsten Schmerz zu bereiten. Sein Plan war zunichte gemacht worden und nun war er durch sein kaputtes Bein nicht mehr imstande, sich persönlich dafür zu rächen. Was für eine Schmach… Hätte er diesen elenden Patriarchen schon viel früher getötet.

„Boss…“ Liu Cheng, sein Berater und seine rechte Hand war an sein Bett getreten, um ihn über die neuesten Informationen in Kenntnis zu setzen. Seit Sam Leens befreit worden war, hatte er das Mason-Anwesen beschatten lassen, um eine perfekte Gelegenheit zu finden, um blutige Rache für die Schmach zu nehmen, die man ihm angetan hatte. Ihm, den Schrecken der Bostoner Unterwelt, der als unantastbar und unverwundbar galt und doch von einem altmodischen Mafioso verletzt worden war. „Es wurden zwei Personen gesehen, die das Mason-Anwesen betreten haben. Wir haben sie identifizieren lassen.“

„Sprich schon!“

„Es waren ein Mann und ein Mädchen. Das Mädchen haben wir nicht identifizieren können und es ist ausgeschlossen, dass sie eine Verwandte oder Nahestehende von einem der Bewohner ist. Der Mann, der bei ihr war, ist ein gewisser Dr. Harvey Charles Dullahan, ein Schauspieler.“

„Ein Schauspieler und ein fremdes Mädchen in Araphels Haus?“ fragte Shen in einem Ton, als würde sein Berater ihn einen Esel für ein Pferd verkaufen wollen. „Was haben ein Schauspieler und ein Mädchen dort zu suchen? Hm… da steckt mit Sicherheit etwas dahinter. Wir gehen kein Risiko ein, Liu. Sobald sie aus dem Haus sind, beseitigt ihr sie sofort.“

„Aber Boss… Sollten wir nicht erst…“

„Hast du mir zu widersprechen?“ rief Shen wütend und erschrocken wich Liu Cheng vor ihm zurück. So hatte er den Boss noch nie erlebt gehabt. Für gewöhnlich wahrte er immer die Contenance, doch nun war er völlig außer sich vor Wut und das schon, seit der Patriarch ihm ins Knie geschossen hatte. „Ich sagte, ihr sollt sie beseitigen! Wie ihr das macht, ist mir völlig egal!“

„Ja, Boss“, sprach der Berater hastig und gab den Befehl durch. Doch er fragte sich, ob das wirklich eine vernünftige Entscheidung war. Für gewöhnlich wog Shen alles sorgfältig ab und traf nie überstürzt irgendwelche Entscheidungen. Doch hier war es anders. Es schien so, als würde er unvorsichtig werden und das Schlimme war, dass er sich nicht einmal belehren ließ.

Zeugenschutz

„In blinder Wut ruft der Mob schnell nach Vergeltung, wenn er Gerechtigkeit fordert.“
 

Marcell Jähner, Inhaber des webbook-verlags Berlin
 

Kaum, dass der erste Schock über den Tod von Asha, Christine und Yin überwunden war, überfiel Sam kurz darauf die nächste Schreckensnachricht. Harvey und Bonnie waren in einen Autounfall geraten und schwer verletzt worden. Sie waren auf dem Highway abgedrängt worden und der Wagen hatte sich überschlagen und war dann von einem anderen Wagen gerammt und mitgeschleift worden. Harvey schwebte in Lebensgefahr und wurde über mehrere Stunden operiert, sein Zustand war aber nach wie vor kritisch. Bonnie hatte schwere Kopfverletzungen und Knochenbrüche erlitten. Durch ein Blutgerinnsel im Gehirn war sie ins Koma gefallen und es stand noch nicht fest, ob und wann sie wieder aufwachen würde. Kaum, dass Sam die Nachricht erfahren hatte, war er zum Krankenhaus gefahren, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Chris, Harveys Ehemann, war ebenfalls da und war vollkommen aufgelöst. Er weinte herzzerreißend, während er Harveys Hand hielt.

„Chris“, rief Sam und eilte zu ihm. „Wie geht es ihm?“

Doch der Schauspieler war kaum in der Lage zu sprechen und wischte sich schluchzend die Tränen aus dem Gesicht. Seine Stimme zitterte heftig und unablässig flossen Tränen seine Wangen hinunter. „Er hat innere Blutungen, ein Schädeltrauma und Rippenbrüche davongetragen. Er hat so viel Blut verloren…“

„Ist er wieder stabil?“

Schluchzend schüttelte Chris den Kopf. „Nein, sein Zustand ist immer noch sehr kritisch. Die Ärzte können nicht einmal sagen, ob er es schaffen wird. Ich verstehe das nicht. Harvey ist ein guter Fahrer, er hat noch nie einen Unfall gebaut und er ist immer vorsichtig, wenn er losfährt. Irgendjemand muss ihn gerammt haben!“

„Die Mafia“, entfuhr es Sam. „Die Yanjingshe hat seinen Tod in Auftrag gegeben.“

„Scheiße“, schluchzte Chris. „Und dabei habe ich ihm doch gesagt, er soll aufpassen. Warum nur hat er nicht auf mich gehört?“

Da Sam nicht viel tun konnte, beschloss er, Bonnie besuchen zu gehen, die es ähnlich schlimm erwischt hatte. Er rechnete nicht damit, dass irgendjemand bei ihr war, doch als er das Zimmer betrat, in welchem sie lag, sollte er sich täuschen. Bonnie lag reglos im Bett, bandagiert und mit eingegipstem Arm und Bein. Unter dem Verband an ihrem Kopf schauten brünette Locken hervor und auch ihr Gesicht war nicht mehr länger geschminkt. Für einen Moment dachte er, er hätte sich im Zimmer geirrt, doch es war Bonnie, ganz ohne Zweifel. So sah sie also aus, wenn sie ein ganz normales Mädchen war. Sie sah recht unscheinbar aus, fast schon ein wenig langweilig. Neben ihrem Bett saß ein glatzköpfiger junger Mann mit trüben grauen Augen. Er war sehr mager und bleich und war an mehreren Schläuchen angeschlossen und saß in einem Rollstuhl. Man hätte meinen können, er stünde mit einem Bein im Grab. Mit einem traurigen Ausdruck in den Augen streichelte er Bonnies Kopf. Seine Hand war fast farblos und die Haut spannte sich an den Knochen.

„Bist du ein Freund von ihr?“ fragte der Junge im Rollstuhl und sah zu Sam. „Oder gehörst du zur Familie?“

„Weder noch“, musste Sam zugeben. „Sie hat mir ihre Hilfe als Informantin angeboten. Als sie in diesen Unfall geraten ist, wollte ich nach dem Rechten sehen. Ich habe gehört, sie liegt im Koma.“

„Ja“, seufzte der Junge traurig. „Ein Blutgerinnsel ist schuld. Und leider stehen die Chancen nicht allzu gut. Ich habe ihr doch immer wieder eingeschärft, dass sie sich nie einfach so zeigen darf. Ich habe nie gewollt, dass so etwas passiert…“

Sam betrachtete den Jungen, der knapp 20 bis 22 Jahre alt zu sein schien. Ein Verdacht kam ihm auf, als er so hörte, was er sagte.

„Sag mal… bist du Cell?“

„Naja“, murmelte der Junge. „Zumindest das, was von ihm übrig ist.“

„Aber ich dachte… Bonnie dachte, du wärst von der Regierung verschleppt worden, nachdem du das Marianas Web geknackt hast.“

Der Junge lächelte traurig und wirkte, als würde jeden Moment das letzte bisschen Lebenskraft seinen Körper verlassen.

„Nun, das habe ich als Ausrede benutzt, um verschwinden zu können. Das Web habe ich zwar geknackt, aber… verschwunden bin ich aus einem anderen Grund. Bei mir wurde so einiges diagnostiziert. Ein Hirntumor, eine kaputte Niere und auch noch Leukämie. Die Chemotherapien waren teilweise so heftig, dass ich mich nicht einmal bewegen konnte und ich dachte, ich würde durch die Behandlungen sterben. Meine Haare hab ich dabei auch allesamt verloren. Ich wollte ihr das nicht antun. Es reicht schon, wenn meine Familie leidet, da wollte ich nicht auch noch ihr Kummer machen. Nachdem ich meine Diagnose hatte, habe ich den Kontakt zu ihr abgebrochen. Kurz darauf wurde ich auch schon ins Krankenhaus eingeliefert und seit sechs Monaten bin ich schon regelmäßig in Behandlung. Ach ja… wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Mein richtiger Name ist Nathan Carter.“

„Freut mich. Mein Name ist Sam Leens.“

Nathan reichte ihm seine blasse und magere Hand. Sam erwiderte den Händedruck und konnte nicht glauben, dass er tatsächlich Bonnies Mentor gegenüberstand. Cell, der gefährlichste Hacker der Welt, der es geschafft hatte, selbst das Unmögliche zu schaffen. Und dann stellte sich heraus, dass er ein schwer kranker Junge war, der nicht mal mehr die Kraft zum Laufen hatte.

„Ich biete schon ein ziemlich erbärmliches Bild, was?“ fragte Nathan schließlich. „Für jemanden, der eine so talentierte Hackerin ausgebildet hat, sehe ich schon ziemlich mickrig aus.“

„Dafür kannst du ja nichts. Besteht denn Hoffnung auf Besserung?“

„Der Tumor ist zum Glück entfernt, aber was mich schafft, sind diese Leukämie und meine kaputte Niere. Bislang hab ich noch keinen Spender für Knochenmark oder Blutzellen und solange ich auch keine neue Niere gefunden habe, bin ich auf die Behandlungen hier angewiesen. Aber sag mal… was ist passiert und wer hat Bonnie so etwas angetan?“

Sam haderte erst noch, ob er wirklich das Risiko eingehen konnte, diesem Fremden alles zu erzählen. Allein diese Geschichte mit den Entführungen lag ihm quer im Magen.

„Woher weiß ich, dass du wirklich Cell bist? Kannst du mir das irgendwie beweisen?“

„Nun, ich weiß, dass Bonnie als Bezahlung von hübschen Männern Fotos mit nacktem Oberkörper nimmt. Sie hat schon mit zwölf Jahren ihre Fähigkeiten als Hackerin entdeckt und ich hab sie erwischt, als sie sämtliche Ampeln in Boston manipuliert und einige Online-Bankkonten gehackt hat. Ihre Lieblingstiere sind Kaninchen und den Namen Bonnie hat sie aus dem Computerspiel Five Nights at Freddy’s wo es einen lilafarbenen Hasen-Animatronic gab, der Bonnie hieß. Das Geld, was Bonnie mit ihrer Arbeit als Informantin verdient, spart sie für ihr Studium und spendet zudem an Missbrauchsopfer. Ach ja, sie ist zudem Löwe, 141cm groß und sie schreibt gerne Schwulenerotikromane seit sie 15 Jahre alt ist.“

Damit war Sam überzeugt. So viel, wie dieser Nathan über Bonnie wusste, konnte eigentlich kaum jemand wissen. Er war überzeugt, dass dieser kranke Junge tatsächlich Cell war. Und so erzählte er, was passiert war. Von dem Treffen der Hacker, was dort besprochen worden war und welche Aufgabe Bonnie gehabt hatte. Und auch was sie geplant hatten, bevor sich der Unfall ereignet hatte. Sam ließ nichts aus und Nathan hörte aufmerksam zu, wirkte aber manchmal ein wenig apathisch, als fehle ihm die Kraft, sich zu konzentrieren. Schließlich, als Sam zu Ende erzählt hatte, umklammerte Nathan die Armlehnen an seinem Rollstuhl und seine Miene verfinsterte sich ein wenig.

„Verstehe, die Yanjingshe hat Bonnie und Harvey also umbringen wollen. Und Bonnie hatte vorgehabt, etwas zu finden, um die Yanjingshe ans Messer zu liefern.“

Sam nickte und sah, wie sich etwas in den Augen des Schwerkranken zu regen begann.

„Ich kann in meiner jetzigen Verfassung nicht allzu viel ausrichten, aber ich kann diese Leute, die Bonnie fast umgebracht haben, nicht einfach so davonkommen lassen.“

„Du willst mir helfen?“

„Ich tue das für Bonnie. Für sie ist der Kampf gegen solche Organisationen, die Menschen als Sexsklaven verkaufen und sogar verstümmeln, auch eine Herzensangelegenheit und diese Kerle haben versucht, sie umzubringen. Wer weiß, wann sie wieder versuchen werden, sie zu töten. Ich kann das nicht zulassen, Bonnie ist gerade erst 16 Jahre alt und sollte sich nicht in solch eine Gefahr begeben und ihr Leben aufs Spiel setzen. Vielleicht wacht sie auf, vielleicht wird sie auch den Rest ihres Lebens im Koma liegen. Aber wenn sie wieder aufwacht, sollte sie keine Gefahr mehr befürchten müssen. Das bin ich ihr schuldig, weil ich sie ja erst auf diesen Gedanken gebracht habe. Leider kann ich das Krankenhaus momentan nicht verlassen, da ich regelmäßig zur Chemotherapie und zur Dialyse muss und diese mich ziemlich fertig machen. Aber wenn ich das entsprechende Equipment auf mein Zimmer bekomme, kann ich da weitermachen, wo Bonnie aufgehört hat. Ich kann zwar nicht rund um die Uhr vollen Einsatz geben, aber ich werde mein Bestes geben. Aber eben unter der Voraussetzung, dass ich auch die Ausrüstung bekomme. Denn mit einem einfachen Laptop komme ich nicht weit.“

Sam versprach, sich um alles zu kümmern und bedankte sich mehrfach bei Nathan, dass dieser trotz seiner miserablen Verfassung seine Unterstützung zusagte, um den Kerlen das Handwerk zu legen, die Bonnie fast auf dem Gewissen hätten. Schließlich, als Sam ihn auf sein Zimmer zurückschieben wollte, kamen zwei Leute auf ihn zu. Sie trugen schwarze Mäntel, unter denen Waffengürtel zu sehen waren. Eine von beiden war eine Frau um die vierzig Jahre. Sie hatte goldblondes Haar, welches sie zu einem strammen Zopf gebunden hatte. Ihr Gesicht war schön, aber auch sehr streng und sie hatte ein sehr dominantes und bestimmendes Auftreten. Ihr Begleiter wirkte da etwas gelassener. Er hatte dunkelbraunes Haar und einen Bartansatz und bewegte sich im selben Alter wie die Frau. Diese blieb vor Sam stehen und zeigte ihm ihren Ausweis. Sie war vom FBI.

„Sind Sie Sam Leens?“

„Äh ja…“

„Ich bin Supervisory Agent James und das ist mein Partner Special Agent Kazan. Wir sind vom FBI und wurden von Mr. Dullahan kontaktiert. Wir hatten noch nicht das Vergnügen miteinander.“

Agent James hatte ein sehr kühles und strenges Auftreten, was von eiserner Disziplin und Unnachgiebigkeit zeugte. Ihre tiefe und etwas kühle Stimme erinnerte nicht wenig an die Figur der Dana Skully aus der Serie „Akte X“.

„Freut mich“, sagte Sam etwas zögerlich, denn er kam sich ein wenig überrumpelt vor und wusste nicht so ganz, was er davon halten sollte. „Und was kann ich für Sie tun?“

Die blonde Schönheit, die Sam für einen Moment sogar fast als eine waschechte Femme fatale bezeichnet hätte, erklärte mit einem leicht unterkühlten Seitenblick: „Aufgrund der jüngsten Ereignisse werden Sie, Mr. Dullahan und Miss Bonnie B. unter Polizeischutz gestellt.“

Sam fiel aus allen Wolken, als er das hörte. Er sollte unter Polizeischutz gestellt werden? Eigentlich sollte er froh darüber sein, doch er wusste auch, was das bedeutete: ein falscher Name, eine falsche Identität, isoliert von allen Menschen und aus seinem Umfeld gerissen, ständige Überwachung und keinerlei Kontakt zu Araphel. Mit anderen Worten: er würde nicht mehr die Möglichkeit haben, weiterhin aktiv an diesem Fall zu arbeiten.

„Das geht nicht“, protestierte er. „Ich bin mitten in Ermittlungen und mit Nathans Hilfe werde ich Shen die Morde an meinen Freunden nachweisen und ihn hinter Gittern bringen.“

„Mr. Nathan kann mit uns zusammenarbeiten“, meinte Agent James sofort und schien sich auch nicht wirklich umstimmen lassen zu wollen. „Aber Sie sind kein Polizist, sondern Privatermittler. Und selbst wenn Sie es wären, so ist das FBI die höhere Entscheidungsgewalt und Sie haben sich an unsere Anordnungen zu halten. Vielleicht begreifen Sie nicht, wie es um Ihre Lage steht. Mr. Dullahan und Miss Bonnie können von Glück reden, dass sie noch leben und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Sie der Nächste sind. Und Fakt ist, dass Sie auch ein wichtiger Zeuge sind, deshalb ist es unsere Priorität, Ihr Leben zu schützen. Ich kann verstehen, dass Sie an Ihrem Fall weiterarbeiten wollen und dass Sie persönliche Gründe haben, warum Sie den Boss der Yanjingshe drankriegen wollen. Sie haben immerhin Ihren Vater und Ihren Bruder verloren. Aber das FBI hat auch Gründe, Sie unter Schutz zu stellen. Um es für Sie besser verständlich zu machen: wir haben die Bitte von Mr. Dullahan erhalten, die Ermittlungen gegen die Triade aufzunehmen. Da die Bostoner Polizei der Lage nicht Herr wird und es Indizien gibt, dass die Yanjingshe mit einem internationalen Menschenhandel in Verbindung steht, wird das FBI und gegebenenfalls auch Interpol die Ermittlungen durchführen und Sie können sich vorstellen, wie groß die Gefahr vor allem für Sie wird.“

„Lassen Sie mich wenigstens mithelfen!“ rief Sam, der nicht so leicht aufgeben wollte.

„Wir werden früh genug auf Sie zurückkommen“, versicherte nun Agent Kazan, der sich bislang zurückgehalten hatte. Er machte einen wesentlich diplomatischeren Eindruck als seine Partnerin. Doch er kam nicht mehr dazu, weiterzusprechen, denn da fiel ihm seine Partnerin ins Wort. Sie schien eine sehr dominante Frau zu sein, was wahrscheinlich auch der Beruf mit sich brachte.

„Ich habe in meiner Laufbahn schon mehrere Serienmörder verhaftet und ich kann Ihnen sagen, dass Serienmörder dann am gefährlichsten werden, wenn sie eine narzisstische Persönlichkeit haben und in ihrem Stolz gekränkt werden. Wir wollen das Risiko minimieren und wir sind der Meinung, dass Sie in der Obhut des FBI besser aufgehoben sind.“

Doch Sam gefiel das Ganze immer noch nicht. Er konnte doch nicht einfach so Araphel im Stich lassen, wo dieser so schwere Verluste gemacht hat. Darum bestand er darauf, wenigstens noch einmal zum Mason-Anwesen zu fahren. Agent James seufzte und erklärte sich einverstanden, da sie wohl einsah, dass sie ihn sonst nicht überredet bekam. Nachdem Nathan auf sein Zimmer zurückgebracht worden war, fuhren die beiden FBI Agenten ihn zur Mason-Villa. Agent James ließ es sich aber nicht nehmen, aus Sicherheitsgründen mitzugehen und Sam nicht aus den Augen zu lassen.

Als Sam in Araphels Büro ging, da er ihn nirgendwo sonst fand, fiel der Empfang ein wenig unterkühlt raus. Araphel schien wohl über irgendetwas gegrübelt zu haben, was dann auch meist der Grund war, wieso er ihn nicht gerade freundlich grüßte. Vielleicht lag es auch daran, weil das FBI in seinem Haus war. Und das war natürlich etwas, was er ganz und gar nicht mochte.

„Araphel…“, begann Sam langsam. „Ist alles gut gelaufen?“

„Bestens“, antwortete der 31-jährige. „Wir haben alles klären können.“

Mehr sagte er auch nicht, was aber auch verständlich war, immerhin konnte er nicht frei reden, solange Agent James in Hörweite war. „Oh… das ist schön.“

Irgendetwas stimmte mit Araphel nicht. Natürlich konnte man nicht erwarten, dass er die absolute Stimmungskanone war, da sicher noch der Tod von Christine und den anderen an ihm zehrte. Aber eigentlich hätte Sam erwartet, dass sich zumindest seine Laune etwas bessern würde, nachdem es ihm gelungen war, einen Plan zu entwickeln, wie er seinen Erzfeind für immer loswerden konnte. Es war, als ob da noch irgendetwas wäre.

„Brauchst du meine Hilfe?“

„Nein“, sagte der Mafiaboss mit plötzlichem Nachdruck in der Stimme. „Das sind allein meine Angelegenheiten und du mischst dich da nicht ein. Und außerdem bist du sowieso nur ein Störfaktor, wenn du hier auch schon das FBI anschleppst.“

Sam zuckte erschrocken zurück, als er plötzlich den Ärger und die Wut in Araphels Stimme hörte. Nun verfinsterte sich die Miene des Mafiabosses.

„Ich hab das FBI nicht angeschleppt“, rief Sam, um sich zu verteidigen. „Ich bin unter Zeugenschutz gestellt worden.“

„In dem Fall kann ich dich weder gebrauchen, noch kann ich dich noch eine Sekunde länger hier behalten.“

„Aber Araphel…“

„Ich kann es mir nicht leisten, dass ich zusätzlich Probleme mit dem FBI bekomme, das müsstest du eigentlich verstehen. Und wenn du unter Zeugenschutz stehst, dann wirst du hier sowieso nicht länger bleiben können. Also pack deine Sachen und verschwinde von hier.“

Dieser barsche Ton versetzte Sam einen Stich ins Herz. Auch wenn Araphel vielleicht sauer war, dass das FBI in seinem Haus war, Agent James war doch nicht da, um gegen die Mason-Familie zu ermitteln, sondern um einen wichtigen Zeugen zu beschützen. Vielleicht wollte Araphel auch nicht, dass diese Frau von ihrer Beziehung erfuhr. In dem Fall musste er sich erst mal mit dieser Behandlung abfinden. Also verließ er den Raum, um auf sein Zimmer zu gehen und seine Sachen zu packen.

Agent James blieb aber im Arbeitszimmer und betrachtete Araphel mit ihren staubgrauen Augen.

„Und Sie sind also Araphel Mason, der Adoptivsohn des verstorbenen Stephen Mason?“

„Ganz genau“, bestätigte der 31-jährige und funkelte die blonde Schönheit eisig an. Doch davon ließ sie sich auch nicht beirren.

„Es heißt, dass Sie erhebliche Motive hätten, Shen Yuanxian aus dem Weg zu räumen.“

„Wer hätte das nicht?“ entgegnete Araphel knapp. Dann aber senkten sich seine Augenbrauen und sein Gesicht nahm etwas sehr Ernstes an.

„Wenn das FBI Sam unter Zeugenschutz stellt, bedeutet das, dass gegen die Triade ermittelt wird, richtig?“

„Ja, so sieht es aus.“

Eine kurze Pause folgte und es war schwer zu erkennen, was Araphel durch den Kopf ging. Schließlich aber kam er mit etwas, was selbst Agent James überraschte.

„Ich habe zwei weitere Zeugen, die für Sie interessant sein könnten. Dr. Yugure Heian und Makoto Narimono alias Morphius Black. Die beiden befinden sich ebenfalls im Visier der Triade und können Ihnen Informationen zum Slave Shipping Service geben.“

„Slave Shipping Service?“

„Ja, die Triade betreibt einen internationalen Sklavenhandel und verstümmelt seine Opfer auch, bevor sie verkauft werden. Dr. Heian kann Ihnen ausführliche Informationen geben.“

„Warum haben Sie sie hierbehalten?“

„Die Polizei in Boston ist viel zu korrupt und Morphius wäre beinahe von der Polizei umgebracht worden. Ich hatte auch drei Opfer des Slave Shipping Services bei mir in Obhut, die allerdings ermordet worden sind. Der Service verpasst seinen Opfern Brandzeichen auf den Rücken, um sie zu brandmarken. Sam hat auch eines während seiner Entführung durch die Triade erhalten.“

Nun verschränkte Agent James die Arme und runzelte die Stirn, wobei sie fragte „Und warum geben Sie mir die Informationen?“

„Als Austausch dafür, dass Sie die beiden mit unter Zeugenschutz nehmen. Sie sind gute Freunde von mir und auch wenn ich von der Polizei nichts halte, verlasse ich zumindest darauf, dass wenigstens das FBI einen anständigen Job macht und sie beschützt. Dann muss ich mich wenigstens nicht mehr damit herumärgern.“

Doch immer noch sah Agent Sadie James ihn ein wenig skeptisch und auch ungläubig an, als würde sie ihm das nicht abkaufen.

„Es ist sehr ungewöhnlich für einen Mafiaboss, dass er sich solche Probleme auflädt, ohne einen persönlichen Nutzen daraus zu ziehen.“

„Persönliche Motive“, erklärte er. „Meine Schwester ist der Triade zum Opfer gefallen und hat Selbstmord begangen. Ich will nicht, dass den anderen das Gleiche widerfährt. Ich habe meine eigenen Methoden, wie ich diese Probleme angehe, aber Sam, der Doc und Morphius sind ungewollt in die Sache reingezogen worden und sie sind dem FBI mehr von Nutzen als für mich.“

„Sie wirken nicht wie ein typischer Mafiaboss auf mich“, meinte die FBI Agentin schließlich und wandte sich zum Gehen. „Ihnen scheint sehr viel am Wohl dieser drei Menschen zu liegen. Ich glaube, Sie haben Potential, mehr zu sein als nur ein Mafioso. Sie liefern dem FBI wichtige Zeugen und Informationen, mit denen wir genug Indizien sammeln können, um Shen festzunehmen. Für gewöhnlich mache ich keine Deals mit Schwerkriminellen, aber da Sie uns sehr wichtige Informationen zukommen lassen, bin ich bereit, Ihnen in einem gewissen Grade entgegenzukommen.“

„Gut. Dann bitte ich Sie, sich auf den Slave Shipping Service zu konzentrieren und den Laden dichtzumachen. Ich gebe Ihnen Sam Leens, Dr. Yugure Heian und Makoto Narimono als Zeugen und werde Ihnen auch eine detaillierte Aussage meinerseits zukommen lassen, wenn Sie meine Familie unbehelligt lassen und mir versichern, dass wir keinen Ärger erwarten können, solange Sie in diesem Fall ermitteln.“

Doch Sadie James schwieg und betrachtete Araphel mit Augen, die sie zu Schlitzen verengt hatte. Sie schien alles genau abzuschätzen, ob es eine gute Idee war. Dann schließlich, nachdem sie alles genau durchdacht hatte, stand ihre Entscheidung fest.

„Na schön. Aber halten Sie sich trotzdem zurück und der Deal gilt nur solange, bis der Fall gelöst ist. Und ich bekomme eine Aussage von Ihnen. Und seien Sie unbesorgt. Das FBI wird gut für den Schutz seiner Zeugen sorgen.“

Araphels Abschied

„Wer auf Rache sinnt, der reißt seine eigenen Wunden auf. Sie würden heilen, wenn er es nicht täte.“
 

Sir Francis von Verulam Bacon, Philosoph
 

Der Wind war eisig und der Himmel war stark bewölkt. Es war totenstill auf dem Friedhof und Araphel stand am Grab seiner Schwester und hatte ein Grablicht angezündet und einen Strauß weißer Lilien hingelegt. Obwohl er erst vor wenigen Tagen ihr Grab besucht hatte, nachdem er Christine, Yin und Asha zu Grabe getragen hatte, so hatte er dennoch den Wunsch verspürt, sie wieder zu besuchen und ein wenig mit ihr zu reden. Es tat ihm auch ganz gut, nachdem er nun auch Morphius und Dr. Heian aus der Villa geworfen hatte, nachdem sie in den Zeugenschutz aufgenommen worden waren. Nach und nach fügte sich alles so, wie es kommen sollte. Sam war in Sicherheit und die anderen auch. Nun galt es nur noch, die letzten Schritte einzuleiten und zu tun, was getan werden musste. Dann würde alles ein Ende finden. Die Triade würde Geschichte sein, die Vendetta würde endlich vorbei sein und Sam, Morphius und Dr. Heian würden wieder ihr normales Leben führen können. Er hatte alles sehr intensiv durchdacht und es als das Beste angesehen, eine schwere Entscheidung zu treffen. Zuerst war es ihm nicht leicht gefallen, aber nachdem er sehr lange und intensiv darüber nachgedacht hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste für alle Beteiligten war. Jede andere Entscheidung hätte nur Unglück nach sich gezogen und nun, da sich das FBI eingeschaltet hatte, musste er nur noch auf den richtigen Moment warten. Und wenn es soweit war, würde die letzte und endgültige Konfrontation folgen. Dieses Mal würde es enden und kein Weg würde drum herum führen.

„Hallo Schwesterherz“, grüßte er sie und betrachtete ihren Grabstein. Vorsichtig strich er mit seiner Hand darüber und entfernte ein paar Blätter, die darauf lagen. „Du darfst dich freuen: es wird bald alles vorbei sein. Dann wird dieser Bastard für das bezahlen, was er dir und den anderen angetan hat. Ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass er in der Hölle schmoren wird. Aber weißt du, trotzdem beschäftigen mich immer noch gewisse Dinge. Dinge, die dich betreffen und die ich dich immer wieder frage, auch wenn ich weiß, dass du mir keine Antwort geben kannst. Warum hast du nicht mit mir geredet und dir helfen lassen? Wir hätten vielleicht einen Weg gefunden, damit es dir besser geht. Ich hätte dir doch helfen können. Aber… du wolltest ja meine Hilfe nicht. Hast du mich gehasst, weil ich dir das alles nicht ersparen konnte? Warst du enttäuscht von mir, weil ich mein Versprechen nicht halten konnte, dass ich niemals zulassen werde, dass dir etwas passiert? Nun, Fakt ist, dass ich leider nicht mal annähernd so stark bin, wie ich es mir wünsche. Ich habe weder dich beschützen können, noch konnte ich Christine, Yin und Asha retten. Ich bin gänzlich unfähig, überhaupt jemanden zu beschützen. Und es tut mir wirklich leid. Wenn ich wenigstens stärker gewesen wäre, dann hätte ich euch alle retten können. Aber ich möchte, dass du weißt, dass du mir alles bedeutet hast. Du warst immer der wichtigste Mensch in meinem Leben gewesen und alles, was ich wollte war, dass du glücklich bist. Aber letzten Endes bist du nur wegen mir in diese ganze Sache hineingezogen worden. Ich hoffe, dass du mir das irgendwann verzeihen kannst. Und ich hoffe, dass du mir verzeihen wirst, wenn ich dir sage, dass es heute das letzte Mal ist, dass ich dich besuchen komme. Nicht, dass ich keine Lust mehr hätte, dich zu besuchen. Das ist es nicht. Aber… es wird mir leider nicht mehr in Zukunft möglich sein, dich zu besuchen.“

Tief atmete Araphel durch und spürte, wie ihn die Emotionen zu überwältigen drohten und es kostete ihn unsägliche Mühe, dagegen anzukämpfen.

„Weißt du… es stimmt, was Shen gesagt hat. Ich kann niemanden beschützen. Ich kann nur zerstören. Egal was ich auch tue, ich kann nicht verhindern, dass die Menschen sterben, die mir etwas bedeuten. Erst Dad, dann du, dann Christine, Asha und Yin, dann Sergej… ich bin müde, Ahava. Ich kann das alles nicht mehr. Ich fühle mich müde und erschöpft. Obwohl ich erst 31 Jahre alt bin, fühle ich mich, als hätte ich das Leben schon längst hinter mir und ich komme mir vor, als wäre ich schon ein alter Mann. Und da verstehe ich auch Sergejs Verhalten. Das Leben in der Mafia zehrt einen aus, vor allem diese Geschichte mit Shen. Ich habe keine Kraft mehr, um diesen Terror noch weitere vier Jahre auszuhalten. Ich kann nicht noch jemanden in meiner Nähe sterben sehen. Besonders nicht Sam. Wenn ihm etwas passiert, könnte ich mir das niemals verzeihen. Und… ich glaube auch nicht, dass ich das durchstehen könnte, nachdem ich euch schon alle verloren habe. Wirklich jeder, der in mein Leben tritt, stirbt. Ich bin das alles so leid. Glaubst du, dass es eine Strafe dafür ist, weil ich auch andere Wege gehe, um zu überleben? Meinst du, wir hätten ein ganz anderes Leben führen können, wenn wir in ein anderes Flugzeug gestiegen wären? Hätten wir es dann besser gehabt, oder wären wir nur im nächsten Waisenhaus gelandet, oder hätten in Israel auf der Straße leben müssen? Ich wünschte, ich wäre tatsächlich so stark, wie alle von mir behaupten. Aber ich bin es nicht. Ich bin schwach und ich zweifle auch an mir, dass ich es wirklich schaffen kann. Aber wenn es jetzt nicht endet, wann dann? Es hat schon zu viele Opfer gegeben und es wird erst aufhören, wenn Shen endlich tot ist. Alle wissen, dass er zu gefährlich ist, um am Leben zu bleiben. Seine Macht hier in Boston ist zu groß und die Yanjingshe in Shanghai hat über viertausend Mitglieder. Das ist mehr, als Charles Manson in seiner Sekte hatte. Und ich glaube, das FBI weiß es auch und sie haben auch längst erkannt, dass es kaum einen Weg gibt, Shen auf normalem Weg zu stoppen. Er hat zu große Macht und einen zu starken Einfluss und solange er lebt, ist niemand in dieser Stadt sicher. Zwar habe ich jetzt die Camorra-Familie als Unterstützung, aber zusammengerechnet sind wir trotzdem nicht mal ansatzweise so zahlreich wie die Yanjingshe. Wenn wir es beenden wollen, dann jetzt, ansonsten hört es nie auf und diese abartigen Warenhäuser werden weiterhin bleiben. Ich muss das tun, verstehst du? Shen hat es von Anfang an geplant, dass es auf uns beide hinausläuft, weil er mich ausgewählt hat. Vielleicht, weil er irgendwelche perversen Vergnügen aus seinem Spiel zieht, oder er denkt, dass ein Lehrer von seinem Schüler niedergestreckt werden sollte. Zuzutrauen ist diesem Psychopathen eh alles.“

Mit einem leisen „ach ja“ und einem anschließenden Seufzer steckte Araphel die Hände in die Jackentaschen und betrachtete den bewölkten Himmel. Etwas Melancholisches und Müdes lag in seinem Blick. Wer ihn gesehen hätte, der hätte ihn tatsächlich für einen alten Mann im Körper eines 30-jährigen gehalten.

„Meinst du, Sam wird mich hassen?“ fragte er nach einer längeren Pause. „Verübeln würde ich es ihm nicht. Aber es ist das Beste, auch für ihn. Einen besseren Weg gibt es leider nicht, diesen Mafiakrieg zu beenden und zu verhindern, dass es einen internationalen Konflikt gibt und es noch eine Vendetta nach sich zieht. Sonst hört es nie auf und ich bin es leid. Ich bin diese ständigen Fehden leid, die Geschäfte, die Auftragsmorde, die Erpressungen und das ganze Tamtam. Du weißt, ich wollte nie Mafioso werden, aber es war die Voraussetzung, wenn wir adoptiert werden wollten. Du hast mir nie Vorwürfe gemacht und obwohl du die Mafia gehasst hast, bist du immer bei mir geblieben und warst für mich da. Aber ich war wohl nie für dich da, genauso wenig wie ich für die anderen da war. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht dafür gemacht. Na wenigstens ist das Einzige, was ich tun kann, diesen Bastard endlich umzubringen. Das ist zumindest ein kleiner Trost.“

Eine kalte Brise wehte und einen Moment lang schwieg Araphel. Er schloss die Augen und stellte sich vor, dass Ahava jetzt in diesem Moment vor ihm stand. Es waren keine Spuren ihres Martyriums zu sehen und sie hatte wieder dieses lebhafte Leuchten in den Augen. Sie wirkte wieder so, wie sie früher immer gewesen war. Unschuldig vom Gemüt, fröhlich und treu. Mit einem teils warmherzigen aber auch teils traurigen Lächeln umarmte sie ihn, so wie sie es immer getan hatte, wenn sie ihn aufmuntern wollte.

„Du schaffst das schon“, hörte er sie in seinem Geiste sagen. „Ich glaube an dich, Bruderherz. Bis jetzt hast du nie aufgegeben. Mach dir nur keine Sorgen um mich, ich komme schon zurecht.“

Und diese Vorstellung war so stark, dass er für einen Moment tatsächlich das Gefühl hatte, ihre Umarmung zu spüren. Doch als er die Augen wieder öffnete, wusste er, dass es nur eine Illusion gewesen war.
 

Schließlich besuchte er ein Grab, welches noch frisch war und wo viele Blumen lagen. Der Name auf dem Grabstein lautete „Christine Cunningham“. Bevor er ging, wollte er auch sie besuchen, auch wenn es ihm schwer fiel. Zu deutlich waren noch diese Bilder, als sie kreidebleich und mit schmerzverzerrtem Gesicht blutend auf der Rückbank lag und immer schwächer wurde. Und er musste an den Anblick denken, als sie tot da lag, nachdem sie ihrem hohen Blutverlust erlag. Vor allem aber schmerzte ihn, dass sie sich im Streit getrennt hatten und er es nicht ungeschehen machen konnte, dass er sie geschlagen hatte.

„Christine…“, sprach er schließlich und zündete auch ihr ein Grablicht an. „Es tut mir leid, dass ich dir so viel Kummer bereitet habe. Die ganze Zeit habe ich dich wie einen Ersatz für Ahava behandelt und dich nur unglücklich gemacht. Dabei wolltest du selber nur eine Familie und Freunde haben. Die ganze Zeit habe ich dich verletzt, obwohl ich dir nichts Böses wollte… ist das der Grund, warum du mir diese Dinge gesagt hast? Weil du wolltest, dass es mir genauso wehtut? Oder wolltest du mich bloß aus dieser Scheinwelt herausholen, dass ich durch dich auch meine Schwester retten kann? Ich wünschte, ich wäre schon viel früher zur Vernunft gekommen und es hätte nicht erst deinen Tod gebraucht, damit mir klar wird, was ich falsch gemacht habe. Bitte glaub mir, dass ich dir niemals etwas Schlimmes wollte oder dich nur als Ersatz gesehen habe. Das stimmt nicht. Vielleicht hat es oft den Anschein gemacht, weil ich es in diesem Moment einfach nicht anders zeigen konnte. Selbst nachdem du mir gesagt hast, du hättest Ahava erschossen, war ich zwar wütend gewesen, aber… ich habe dich einfach nicht hassen können. Und warum? Weil du für mich auch eine Familie warst. Für mich warst du genauso eine Schwester und ich neige wohl halt dazu, ein besonders wachsames Auge auf Schwestern zu haben. Ich wollte bei dir nicht die gleichen Fehler machen wie mit Ahava und nicht zulassen, dass du meinetwegen in Gefahr gerätst. Aber letzten Endes warst du nicht wie sie. Du hast nicht diese ruhige und sensible Art besessen wie sie und dein Licht, welches du dir bewahrt hast, war eine Selbstlüge, weil du nicht mit der Wahrheit leben konntest. Alles, was ich wollte war, dieses Versäumnis von damals ungeschehen machen und nicht zuzulassen, dass du genauso sterben musst wie meine Schwester. Doch selbst das habe ich nicht geschafft, weil ich einfach nicht in der Lage bin, jemanden vernünftig zu beschützen. Alles, was ich kann, ist zerstören. Ich kann niemanden beschützen oder retten, stattdessen werden alle ins Unglück gezerrt, die in meiner Nähe sind. Ob das von Shen geplant war, sei mal dahingestellt. Aber wenigstens sind Sam und die anderen in Sicherheit. Das FBI wird sich gut um sie kümmern und ich werde tun, was getan werden muss. Nicht, dass ich extra hergekommen bin, weil ich mich bei dir ausheulen will oder so. Nein, ich möchte nur, dass du weißt, dass ich dich selbst nach deiner Lüge nicht hassen kann und du für immer ein Teil meiner Familie sein wirst. Glaubst du etwa, ich könnte dir tatsächlich zutrauen, dass du meine Schwester tötest? Im ersten Moment vielleicht, aber inzwischen weiß ich, dass du das nur gesagt hast, weil du nicht wolltest, dass ich mich weiterhin mit dieser Geschichte von vor vier Jahren quäle und immer noch versuche, Ahava zu retten. Darum hast du mich auch immer auf Abstand gehalten, nicht wahr? All die Jahre dachte ich, ich müsse für dich da sein und dich beschützen, aber letzten Endes war es genau anders herum. Du hast auf mich aufgepasst, mich vor meinem Schmerz zu beschützen versucht und mir den Kopf gerade gerückt, wenn es von Nöten war. Du hast Sam beschützt, weil du wusstest, wie viel er mir bedeutet und du nicht wolltest, dass ich denselben Schmerz erleide wie bei Ahavas Tod. Bis zuletzt hast du alles getan, um das zu beschützen, was mir lieb und teuer war. Dafür möchte ich dir aufrichtig danken. Christine, ich möchte dir danken, dass du bis zuletzt als große Schwester für mich da warst und vier Jahre lang auf mich aufgepasst und mir das gerettet hast, was ich so sehr liebe. Und bitte verzeih mir, dass ich dir kein besserer Bruder sein konnte. Aber ich verspreche dir, dass es bald vorbei sein wird. Pass du nur gut auf die anderen auf, ich für meinen Teil werde diese Fehde ein für alle Male beenden und nicht zulassen, dass noch jemand aus unserer Familie stirbt. Sei mir bitte nicht allzu böse, wenn ich dich in Zukunft nicht mehr besuchen kann. Ich wollte wenigstens, dass du weißt, wie ich wirklich denke und fühle und die Dinge ein für alle Male klarstellen. Und mach dir keine Sorgen um mich, ich komme schon zurecht. Ich bin schon immer zurechtgekommen.“

Und nachdem er auch Yin, Asha und Sergej einen letzten Besuch abgestattet und lange zu ihnen gesprochen hatte, begannen die ersten Tropfen vom Himmel zu fallen. Hieraufhin kehrte der Mafiaboss zu seinem Wagen zurück und fuhr nach Hause. Und binnen weniger Sekunden brach ein gewaltiger Regenguss herein.

Shen wird verhaftet

„Lord Bacon hat mit Recht gesagt, die Rache sei eine Art wilder Gerechtigkeit. Sie ist es und ohne diesen wilden und rauen Stamm gäbe es keine Gerechtigkeit in der Welt.“
 

Edmund Burke, irisch-englischer Staatsmann
 

„So, Mr. Yuanxian. Dann wollen wir doch mal sehen, wie lange Ihnen noch zum Lächeln zumute ist.“

Geräuschvoll hatte Agent Sadie James die Akte auf den Tisch fallen lassen und ihr Dank klang mehr wie kaltschnäuziger und abwertender Sarkasmus. Gegenüber von ihr auf einem Stuhl saß niemand anderes als Shen Yuanxian, den sie heute Morgen festgenommen hatte, nachdem sie bei der Staatsanwaltschaft den dringenden Tatverdacht des mehrfachen Mordes und Menschenhandels begründen konnte. Sie hatte daraufhin die Gelegenheit genutzt, um auch gleichzeitig einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen und die Spurensicherung in das Anwesen des Mafiabosses zu schicken. Sie würde schon dafür sorgen, dass kein Stein mehr auf dem anderen blieb und das gesamte Haus auseinandergenommen wurde. Und vor allem würde sie dafür sorgen, dass dieser verdammte Psychopath vor ihr nicht so leicht davonkam. Allein schon ihr Ehrgeiz trieb sie dazu. Seit 20 Jahren war sie beim FBI und seit über 15 Jahren hatte sie den schlimmsten Abschaum festgenommen, den die menschliche Gesellschaft hervorgebracht hatte. Kinderschänder, Serienkiller, Psychopathen, Nekrophile und sogar zwei Kannibalen. Sie hatte schon genug gesehen, als dass sie sich von jemandem wie Shen einschüchtern lassen würde. Da konnte er noch so viele Leute auf seiner Seite haben, selbst Charles Manson war verurteilt worden. Schon als sie mit dem Durchsuchungs- und dem Haftbefehl vor seiner Tür stand, hatte Shen ein selbstsicheres Lächeln im Gesicht gehabt und selbst als man ihn daraufhin abgeführt hatte, war er die Ruhe selbst geblieben. Er hielt sich selbst für unantastbar und war sich sicher, dass es keinen einzigen Beweis gab, der ihn zu Fall bringen konnte. Dem mochte so sein, solange Sadie nur ein paar wackelige Zeugenaussagen hatte, während Shen ein scheinbar felsenfestes Alibi hatte. Es würde außerdem sehr schwer werden, ihm nachzuweisen, dass er etwas mit dem Slave Shipping Service zu tun hatte. Doch Sadie wäre nicht beim FBI, wenn so etwas sie aufhalten würde.

Schließlich breitete sie die Fotos der Verstorbenen aus, die nach der Aussage von Sam Leens von Shen getötet worden seien.

„Kommen Ihnen diese Personen bekannt vor?“

Shen blickte nur kurz auf die Fotos und verzog nicht einmal die Miene, sondern lächelte nur hochmütig. „Nein“, sagte er nur. „Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.“

„Das ist ja eigenartig“, meinte Sadie und beugte sich über den Tisch zu ihm herüber. „Weil nämlich diese zwei hier von Ihnen höchstpersönlich enthauptet worden sind.“

Sie deutete auf die Fotos von Asha und Yin und wurde deutlich aggressiver in ihrem Ton. „Muss wohl ein schönes Gefühl gewesen sein, nicht wahr? Sie haben es richtig genossen, Ihre Macht über sie auszuspielen und sie leiden zu lassen. Und dieser Frau hier haben sie erst die Hand gebrochen, auf sie eingetreten und ihr dann das Bein abgetrennt, sodass sie verblutet ist.“

Immer noch keine einzige Regung bei Shen. Doch Sadie wusste ganz genau, dass es in seinem Inneren anders aussah. Ja, diese Bilder tauchten vor seinen Augen auf und er genoss diese Erinnerung, zehrte von ihr und lebte dieses Gefühl der Macht vollständig in seiner kranken Fantasie aus. Das sah sie schon an seinen Augen und in der Hinsicht waren für sie alle narzisstischen Serienmörder gleich.

„Es muss ein wirklich tolles Gefühl sein, über Leben und Tod verfügen zu können, nicht wahr? Es ist, als würde man einem Insekt die Beine und Flügel ausreißen. Wir alle kennen das, als wir Kinder waren. Nur sind Kinder zu naiv um zu wissen, was sie da tun. Und Insekten sind keine Menschen.“

„Und was unterscheidet uns großartig von den Insekten?“ fragte Shen spitzfündig und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wenn man einem Insekt die Beine ausreißt, fühlt es keine Schmerzen? Wenn wir einem Fisch den Körper aufschlitzen und ihm die Eingeweide herausnehmen, während er lebt, verspürt er da keine Todesangst? Der einzige Unterschied besteht doch darin, weil weder Fische noch Insekten in der Lage sind, sich ihrer Schmerzen zu entäußern. Sie schreien nicht, ihr Gesicht zeigt keinen Ausdruck von Leid, folglich also kümmert es uns nicht, was wir ihm antun. Wir weinen, wenn ein Vogel singt, aber nicht, wenn ein Fisch blutet. Aus dem einfachen Grund, weil eine Stimme mehr Wirkung hervorruft, als der bloße Anblick von Elend.“

„Für jemanden, der Menschen verstümmelt und tötet, sind Sie ja sehr philosophisch.“

„Ich habe niemanden getötet.“

„Und was ist mit dem Massenmord in dem Shanghaier Bordell?“

„Für einen angeblichen Massenmord in meiner Heimat können Sie mich hier in Boston nicht belangen.“

„Als ob mich das großartig interessiert. Glauben Sie mir, ich hab schon genug von Ihrer Sorte eingebuchtet und es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Fallbeil auch auf Ihren Kopf niedersaust, wenn Sie erst mal verurteilt sind. Sie sind nichts weiter als ein Mörder und wenn Sie erst mal im Gefängnis sitzen, wird Ihre Gefolgschaft sich schnell einen anderen Boss suchen.“

Doch Shen schien der anderen Meinung zu sein. Er faltete die Hände und sah der blonden Frau direkt in die Augen. Immer noch strahlte er Selbstsicherheit und Überlegenheit aus.

„Wissen Sie, womit man sich Menschen am besten gefügig macht? Mit Verständnis, Nächstenliebe oder Barmherzigkeit? Nein, mit Angst. Indem man sich die Macht anderer Menschen zunutze macht, folgen sie einem ohne Sinn und Verstand. Wir werden von unserer Angst beherrscht und wer die Angst beherrscht, hat Macht über Menschen. Das ist ein natürliches Prinzip, denn wir sind genetisch so veranlagt, dass wir uns unserer Angst unterwerfen, weil sie in erster Linie unserem Schutz zu dienen scheint.“

„Und Sie haben Angst davor, ohne alles da zu stehen und wieder dort zu landen, wo sie aufgewachsen sind“, konterte Sadie James sofort, wohl wissend, dass sie ihn am besten aus der Reserve locken konnte, wenn sie ihn dort traf, wo es ihm am meisten wehtat. Und dazu brauchte sie nur seinen Stolz zu verletzen. Denn das war etwas, was jeden Narzissten zur Weißglut brachte, weil es ihren Glauben zerstörte, sie seien unfehlbar.

„Ich kenne Ihre Geschichte. Sie und Ihr Bruder wurden von den eigenen Eltern im Kindesalter an die Yanjingshe verkauft und waren selber Sexsklaven. Ihr älterer Bruder starb vor Ihren Augen. Es muss wirklich grausam sein, von den eigenen Eltern im Stich gelassen zu werden und als Eigentum gebrandmarkt zu werden. Ist es nicht so, dass man Sie damals gebrandmarkt hat, genauso wie all diese Huren und Stricherjungen, die nur dann solange am leben bleiben durften, wie sie von Nutzen waren? Und wenn sie dann ausrangiert waren, hat man sie dann einfach getötet, oder an die Organhändler ausgeliefert. Ich kann mir denken, dass das keine sonderlich schöne Kindheit war. Wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre, dann hätte ich den Kerl, der meinen Bruder zu Tode gefickt hat, gleich den Schwanz abgeschnitten.“

Nun war eine leichte Verdüsterung in Shens Blick bemerkbar. Diese vulgäre Sprache und diese unschönen Geschichten, die ihn an jenes verhasste Kapitel in seiner Vergangenheit erinnerten, waren ganz und gar nicht sein Gesprächsthema. Und genau darauf fuhr Agent James ab. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie gerne über alles andere sprechen können. Dass er deinen Opfern die Beine abtrennte, um sie vollständig unter seiner Kontrolle zu haben, dass er gefährlich und einflussreich war. Doch dass sie seine Kindheit im Bordell ausbreitete, passte ihm ganz und gar nicht und es machte ihn wütend.

„Sie haben keine Vorstellung, was es heißt, an so einem Ort aufzuwachsen“, sprach er schließlich mit einem verbitterten Unterton. „Also tun Sie nicht so, als hätten Sie Ahnung von solchen Dingen.“

„Das stimmt vielleicht, aber ich habe genug solche Dinge gesehen“, erklärte sie und setzte sich nun hin. Sie war vorsichtig, denn Shen trug keine Handschellen. Da er aufgrund seines kaputten Knies kaum laufen konnte, war er auf Gehhilfen angewiesen.

„Aber Sie haben es geschafft, sich bis an die Spitze hochzuarbeiten. Sie konnten vom Sexsklaven zum einflussreichsten Mann in Shanghai aufsteigen und zum Oberhaupt jener Triade werden, die Ihnen Ihre Kindheit und Ihren Bruder geraubt hat. Sie haben alles erreicht, was es nur zu erreichen gilt. Aber eines haben Sie bis heute nicht geschafft.“

„Und was?“

„Sie können diesen einen schwarzen Fleck nicht entfernen. Nämlich dass Sie nach wie vor als Sklave gebrandmarkt sind. Selbst wenn Sie das Oberhaupt der Triade sind, so sind Sie immer noch das Eigentum einer Bande, die Kinder zur Prostitution zwingen und an irgendwelche pädophilen Perversen verkaufen. Und egal was Sie auch tun, nichts wird diese Tatsache ändern. Da können Sie noch so viele Menschen tyrannisieren oder ermorden, Sie können den größten Sklavenhandelring der Welt auf die Beine stellen, es wird nichts an der Tatsache ändern, dass Sie nach wie vor nichts Weiteres als ein Besitz sind. Und Sie rennen wie ein Feigling davor weg.“

„Beweisen Sie das erst mal!“ erwiderte Shen, der zwar innerlich ziemlich wütend war, sich aber äußerlich wieder vollständig gefangen hatte. Es ist alles in Ordnung, dachte er sich. Weder die Polizei noch das FBI haben irgendwelche Beweise, die mich überführen können. Da können sie noch so lange herumquatschen wie sie wollen, letzten Endes werde ich als Sieger hervorgehen, weil ihnen die Beweise fehlen, mit denen sie mich meiner Geschäfte überführen können. Es gibt keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen mir und dem Service.

„Haben Sie irgendwelche Beweise, die belegen, dass ich persönlich mit diesen Dingen auch nur das Geringste zu tun habe?“

„Da haben wir genügend Anhaltspunkte“, erklärte Sadie James und legte ihm weitere Fotos vor. „Zwei Ihrer Opfer hatten dasselbe Brandzeichen wie Sie und es konnte eindeutig als das Zeichen Ihrer Triade identifiziert werden. Und sobald wir die Leichen von Reesa Sullivan, Asha Luan und Yin Wong exhumiert und untersucht haben, wird man sicherlich genauso so ein Brandzeichen finden. Und soweit ich weiß, fehlen den Opfern beide Beine.“

„Nur weil ihnen die Beine fehlen, bedeutet das noch lange nicht, ich hätte etwas damit zu tun.“

„Ein weiterer Zeuge hat ausgesagt, dass der Slave Shipping Service ein ausgebildetes Ärzteteam hat, das allein darauf spezialisiert ist, den Sexsklaven die Arme und Beine zu amputieren und gegebenenfalls die Stimmbänder zu entfernen. Yin Wong, Asha Luan und Reesa Sullivan waren ebenfalls Sexsklaven und deshalb wurden ihnen die Beine amputiert. Bei Reesa allerdings nur eines und ein Zeuge hat ausgesagt, dass Sie derjenige waren, der diese drei Menschen getötet hat. Wenn Sie angeblich nichts mit dem Service zu tun haben, warum sollten ausgerechnet Sie persönlich diese drei Menschen ermorden? Vielleicht, weil sie sonst etwas ausplaudern könnten?“

„Ich habe ein Alibi für diese Zeit.“

„Unser Zeuge hat sehr detaillierte Aussagen gemacht und wenn die Autopsie seine Aussagen belegt und wir auch nur den winzigsten Blutstropfen in Ihrem Keller finden, der von einem der Opfer stammt, dann kann ich Ihnen garantieren, dass Ihr gekauftes Alibi wie ein Kartenhaus zusammenfällt und das nächste, was auf Sie zukommen wird, die Todesstrafe sein wird.“

Diese Frau ging Shen so langsam aber sicher auf die Nerven. Was bildete sich dieses Weib eigentlich ein, in so einem unverschämten Ton mit ihm zu reden? Er war es, der am längeren Hebel saß und nicht sie. Er hatte die Trümpfe allein in seiner Hand und er würde sie schon noch früh genug aus dem Weg räumen. Das war doch nur geblufft. Sie hatte rein gar nichts in der Hand und diese Show hier war nur der verzweifelte Versuch, ihn aus der Reserve zu locken und ihn zu einer Aussage zu bringen, die ihm zum Verhängnis werden konnte. Doch darauf konnte sie noch lange warten. Und es würde sowieso nur eine Frage der Zeit sein, bis er sich auch ihrer entledigte, nachdem sie schon so unverschämt war und ihn beleidigt hatte. Doch er konnte sich auch in Geduld üben.

„Und außerdem“, fügte Agent James noch hinzu „werden wir all Ihre Konten, Computer und Dokumente prüfen. Und ich schwöre Ihnen: finden wir auch nur eine einzige scheinbar harmlose Ungereimtheit, dann kriege ich sie dran und dann werden Sie nicht mehr so siegessicher lächeln.“

Hier aber sah Shen sie direkt an und seine matten und glanzlosen dunklen Augen offenbarten nichts als Finsternis. Und das Einzige, was er sagte, war nur „Ich will meinen Anwalt sprechen.“
 

Das Verhör zog sich über drei Stunden, in denen es zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis kam. Stattdessen biss sich Sadie James an Shens Anwalt die Zähne aus. Han Tsiao, der die Position als Shens persönlicher Anwalt innehatte, war ein Anwalt, der sein Fach verstand und wirklich jeden Versuch abschmetterte, Shen in die Ecke zu drängen. Schließlich, nachdem sechs Stunden Dauerverhör vergangen waren, tauschte Agent James mit ihrem Partner. Sam hatte es sich nicht nehmen lassen, als Zeuge anwesend zu sein und das Verhör mitzuverfolgen. Natürlich hinter Spezialglas und unter der Voraussetzung, dass er ging, bevor Shen aus dem Verhörraum entlassen wurde. Sadie, die sich einen Kaffee geholt hatte, gesellte sich neben ihn.

„Und wie sieht nun Ihre Strategie aus?“ fragte der Detektiv und ließ Shen keine Sekunde lang aus den Augen.

„Wir halten ihn 48 Stunden fest und in der Zeit stellen wir sein Haus auf den Kopf. Wenn er nicht gesteht oder wir keinen erdrückenden Beweis haben, müssen wir ihn freilassen. In den meisten Fällen ist es leider so, weil Typen wie er niemals unvorbereitet vorgehen. Sie wissen genau, wonach die Polizei sucht und sind bestens vorbereitet. Aber in einem ist er anders als die Serienmörder, die ich festgenommen habe.“

„Inwiefern denn?“ wollte Sam wissen. Sadie trank einen Schluck Kaffee und erklärte „Psychopathen führen für gewöhnlich ein Doppelleben. Sie bauen sich eine perfekte Fassade auf und sind regelrechte Wölfe in Schafspelzen. Sehr oft sind sie perfekt in die Gesellschaft integriert und üben wichtige Aufgaben aus. Beispielsweise arbeiten sie in der Gemeinde und engagieren sich für soziale Projekte. Sie können sich so gut verstellen, dass niemand ahnt, dass sie zu grausamen Taten fähig sind. Nehmen Sie sich den Killer John Wayne Gacy als Beispiel. Er war überall beliebt, freundlich und niemand hätte ihm zugetraut, dass er knapp 33 Jungen und junge Männer entführt, stundenlang vergewaltigt, massakriert und dann ihre Leichen im Keller verscharrt. Ihr Ansehen in der Gesellschaft ist für sie die perfekte Tarnung und deshalb ist es auch so schwer, sie zu überführen. Er hier ist da anders. Er macht sich nicht die Mühe, sein Umfeld zu täuschen, sondern nutzt die Mafia für seine Zwecke, die ihm Sicherheit und Schutz gibt. Das ist recht ungewöhnlich. Nur sehr wenige Serienmörder gehen so vor. Wenn ich es vereinfacht und direkt sagen würde: er wirkt auf mich wie Hitler.“

Nun schüttelte Sam aber den Kopf. „Hitler war aber kein Serienmörder, sondern ein Diktator.“

„Das mag sein“, meinte Sadie und trank noch einen Schluck. „Aber die Rolle als Mafiaboss ist genau das, was sein narzisstisches Ego braucht. Er führt sich wie ein Gott auf und seine Leute bestätigen ihm das auch, weil die Mafiagesetze es vorschreiben, dass den Befehlen eines Oberhauptes bedingungslos Folge zu leisten ist. Und Psychopathen besitzen schon eine sehr manipulative Persönlichkeit und sie verstehen es gut, die Menschen das tun zu lassen, was sie wollen. Sie besitzen weder Mitgefühl noch Schuldgefühle. Sie zwingen anderen ihre Ansichten von Richtig und Falsch auf und führen sein selbstgerechtes Leben. Shen lässt seine Leute die Drecksarbeit erledigen, aber die eigentlichen Serienmorde gehen auf sein Konto. Nämlich die der drei Toten, sowie der Giftmord an Stephen Mason und die Folterung von Araphel und Ahava Mason. Das sind seine persönlichen Kunstwerke und deshalb müssen wir uns auf diese Fälle konzentrieren.“

„Also stimmt es. Shen ist ein Psychopath, der sich als Mafiaboss tarnt und als Diktator in seinem eigenen Reich herrscht.“

„Ganz genau. Und eben das schmeckt mir überhaupt nicht. Ich verwette meine Michael Jackson Alben darauf, dass es noch richtig Ärger geben wird, wenn sein Anwalt ihn erst mal rausgeboxt hat. Denn da ich ihn auf seine Kindheit und seine Zeit als Sexsklave angesprochen habe, ist er jetzt richtig angefressen und wird mich umbringen wollen.“

Dann hieß das also, sie hatte von Anfang an darauf abgezielt gehabt, Shen so heftig zu provozieren, dass er ihr nach dem Leben trachten würde? Obwohl sie wusste, wie gefährlich er war? Sam war sich nicht ganz sicher, ob das so eine gute Idee war. Immerhin waren schon so viele Menschen der Yanjingshe zum Opfer gefallen.

„Agent James, ist das wirklich eine gute Idee?“

„Ach glauben Sie mir, es ist zwar ein absolutes Himmelfahrtkommando, aber wenn so narzisstische Persönlichkeiten in ihrem Stolz gekränkt werden, dann begehen sie Fehler und darauf ziele ich ab. Dass ich ihn als Feigling bezeichnet habe, ist für ihn ein rotes Tuch gewesen und er wäre am liebsten auf mich losgegangen, das habe ich ihm schon direkt angesehen. Aber manchmal muss man eben Risiken eingehen, um ans Ziel zu kommen. So und nun sehen Sie zu, dass Sie wieder zurückfahren. Denn jetzt geht der Spaß richtig los.“

Als Sam sich von ihr abwandte, um zu gehen, sah er noch mal kurz zu ihr zurück. Sadie James war wirklich eine ungewöhnliche Frau. Obwohl sie wusste, was Shen alles getan hatte, provozierte sie ihn so dermaßen, dass er ihr nach dem Leben trachten würde. War es Wahnsinn, Leichtsinn oder Selbstüberschätzung? Oder war ihre Erfahrung auf diesem Gebiet bereits so groß, dass sie selbst mit der Schlange von Boston fertig werden würde? Sam konnte sich nicht helfen, aber irgendwie hatte er in diesem Moment das Bild einer Frau vor sich, die eigenhändig eine Schlange bekämpfte und tatsächlich zu gewinnen schien.
 

In den darauf folgenden Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Während Sam zusammen mit Dr. Heian und Morphius in einer Wohnung in einer sehr ruhigen und abgeschiedenen Wohnsiedlung am Bostoner Stadtrand lebten, bekamen sie hauptsächlich nur durch Steven Kazan und Sadie James mit, was gerade passierte. Wie sich herausstellte, war auf die FBI Agentin ein Mordanschlag verübt worden. Als sie nach Hause fahren wollte, hatte man eine Bombe unter ihrem Auto platziert. Sie war mit ein paar leichten Verbrennungen und Schrammen davongekommen, kurz danach hatten Unbekannte versucht, Kazan an einer Unterführung zu überfallen und ihn mit Messerstichen zu töten. Die Angreifer hatten fliehen können, doch der Verdacht lag nahe, dass es sich um Mitglieder der Triade handelte. Wenig später gerieten die beiden in eine Schießerei, doch auch hier überlebten sie. Es schien, als hätten sich Sadies Vermutungen bestätigt: Shen sann auf Rache für die erlittene Schmach. Sie hatte die Schlange aus ihrem Nest geholt und damit aus ihrer sicheren Deckung. Und nun wurde die Schlange aggressiv und griff an, weil sie nun selber angreifbar war.

Nathan half auch, so gut er konnte und durchstöberte die konfiszierten Festplatten, glich sie mit den Daten auf der Internetseite des Slave Shipping Services ab und prüfte sämtliche Metadaten, IP-Adressen und was er sonst noch brauchte. Die Arbeit ging allerdings schleppend voran, denn nach einer besonders entkräftenden Chemotherapie musste er sich mehrmals erbrechen und hatte nicht mal mehr die Kraft, sich aufzusetzen. Da er aber trotzdem helfen wollte, schickte Sadie ihm einen IT-Spezialisten ins Krankenhaus, der die Vertretung übernahm. So lag Nathan im Bett und gab Anweisungen. Agent James kam ihn ab und zu besuchen und ermahnte ihn, dass er es nicht übertreiben solle, da sie niemanden gebrauchen könne, der nicht mal die Energie hatte, sich aufzusetzen. Trotz dieser harten Worte ließ sich nicht verleugnen, dass sie ihn regelmäßig besuchte, ihm auch mal etwas zu Essen mitbrachte und zudem lange Gespräche mit dem behandelnden Arzt führte.
 

Sam hingegen schob die meiste Zeit Frust und das entging auch Dr. Heian und Morphius nicht, die alle im selben Haus einquartiert worden waren, was vor allem für das FBI leichter machte, sie zu beschützen. Dr. Heian seinerseits war in ein nachdenkliches Schweigen verfallen, sah die meiste Zeit aus dem Fenster und hatte den Blick in die Ferne gerichtet. Morphius hingegen war anscheinend der Einzige, den die Geschichte unverändert gelassen hatte. Er rauchte wie immer seine Zigaretten, ließ die eine oder andere zynische Bemerkung fallen und lief manchmal auf und ab und unterhielt sich mit den Leuten vom FBI. Als er bemerkte, in welch schlechter Laune Sam war, gesellte er sich schließlich zu ihm, reichte ihm eine Tasse Kaffee und setzte sich zu ihm hin. Dabei fragte der Detektiv sofort „Wie kann es eigentlich sein, dass du der Einzige bist, den das alles kalt lässt? Christine, Yin und Asha waren eure Freunde, Harvey ist auch dein Freund gewesen.“

„Egal ist es mir nicht, aber man muss in so einer Situation auch mal die Gefühle beiseite lassen, um einen kühlen Kopf bewahren zu können. Ansonsten wird man unvorsichtig und ist gleich der Nächste, der draufgeht. Und du machst dir Sorgen wegen Araphel, nicht wahr?“

„Er war so komisch, als er mich rausgeschmissen hat. So abweisend kenne ich ihn eigentlich nicht und ich verstehe nicht, warum er das alles macht.“

„Aggressivität ist bei manchen ein Zeichen von Sorge und Angst“, erklärte Morphius und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich denke, die Sache mit der Entführung ist ihm so sehr an die Nieren gegangen, dass er lieber mit dem Feind (also sprich die Polizei) zusammenarbeitet, als ein Risiko einzugehen. Die Angst, noch jemanden zu verlieren, ist ziemlich stark bei ihm ausgeprägt und im Grunde sind wir für ihn nur noch ein Ballast. Der Kampf geht so langsam aber sicher in die Endrunde und da sind wir für ihn keine Hilfe, sondern ein Hindernis. Denn wenn einer von uns in Shens Fänge gerät, dann ist Araphel in seinen Möglichkeiten begrenzt und die Schlange hat ihn in der Hand.“

„Trotzdem habe ich ein mieses Gefühl“, murmelte Sam und trank seinen Kaffee. „Irgendwie wirkte er so, als würde ihn etwas ganz Bestimmtes beschäftigen und als würde er… naja… wie soll ich es beschreiben?“

„Es ist, als würde er sich darauf vorbereiten, seinem Ende entgegenzutreten, so wie ein Verurteilter, der seinen letzten Gang zum elektrischen Stuhl antritt.“

Überraschend hatte sich Dr. Heian zu Wort gemeldet, der bislang kaum etwas gesagt hatte. Sam nickte und murmelte „Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Er wollte mir auch nicht sagen, was los war.“

„Weißt du etwas, was wir nicht wissen, Yu-chan?“

Eine Zeit lang überlegte der Arzt noch, legte sich seine Worte gut zurecht und erklärte „Ich habe mir diese ganzen Dinge durch den Kopf gehen lassen. Was glaubt ihr, warum Shen sich ausgerechnet Araphel zu seinem Lieblingsopfer auserkoren hat und warum er jeden tötet, der Araphel nahe steht? Ich bin zwar nicht vor vier Jahren dabei gewesen, als Araphel in Shens Gefangenschaft war, aber eines ist mir in Gedächtnis geblieben: Shen bezeichnete sich immer als Schöpfer und Araphel als Zerstörer. Shen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein Monster zu erschaffen, das in der Lage war, das zu zerstören, was Shen nicht zerstören kann. Bedenke mal, welchen Prinzipien die beiden folgen: Beherrsche, was du nicht zerstören kannst, das ist Shens Lebensweise. Und Araphel folgt seiner Lebensweise Zerstöre, was du nicht beherrschen kannst. Ich frage mich, was in Shens Kopf vor sich geht und warum ausgerechnet Araphel ihm so wichtig bei seinen Plänen ist.“

„Psychopathen haben eine verdrehte Logik“, erklärte Morphius. „Er sieht Dinge, die kein vernünftiger Mensch sieht. Und ich glaube auch nicht so wirklich, dass da ein logischer Sinn dahintersteckt. Das ist wie bei dem Fall David Berkowitz, der unzählige Morde begangen hat, weil der Hund seines Nachbarn ihm das befohlen haben soll.“

„Wenn du besser über den Fall Bescheid wüsstest, dann wüsstest du auch, dass das eine Farce war, um Berkowitz als geisteskranken Killer darzustellen, obwohl offensichtlich eine Sekte dahintersteckte. Nein, ich beginne langsam zu glauben, dass Shen seine Unsterblichkeit anstrebt und er dafür Araphel braucht.“

„Unsterblichkeit?“ fragte Sam verwundert. „Wieso Unsterblichkeit?“

Dr. Heian nahm seine Brille ab und begann nun die Gläser zu putzen. „Wie erlangt man als Mensch Unsterblichkeit? Ganz einfach: man wird unvergesslich. Sänger werden unsterblich, weil sie zeitlose Werke kreieren und damit für immer im Gedächtnis der Menschen bleiben. Serienmörder erreichen Unsterblichkeit, indem sie Morde begehen, die sie einzigartig machen. Wie zum Beispiel Jeffrey Dahmer, John Wayne Gacy oder Ted Bundy. Sie sind das, was man als amerikanischen Alptraum bezeichnet und sie haben sich für alle Zeiten verewigt, weil man sie selbst nach knapp 30 Jahren für ihre grausamen Morde kennt. Shen verspricht sich die Unsterblichkeit, indem er etwas erschafft. Nämlich ein Monster. Er will Araphel zu einem Monster machen, das er sich in seiner kranken Fantasie ausgemalt hat und dafür muss Araphel das Gleiche durchmachen wie er. Nämlich den Verlust seiner Freunde und Familie miterleben, Erniedrigung, Machtlosigkeit, Schmerzen und Demütigungen erleben… aber vor allem zu lernen, dass die einzige Chance, sich durchzusetzen darin liegt, Menschen zu manipulieren, sie zu tyrannisieren und sie das Gleiche erleiden zu lassen. Das wäre ihm beinahe gelungen, als er dich entführt und im Keller gefangen gehalten hat, Sam. Araphel stand da bereits an der Schwelle, zu dem Monster zu werden, was Shen erschaffen wollte, aber wir haben ihn davon abgehalten. Darum bestand die logische Schlussfolgerung für Shen darin, uns alle loszuwerden. Denn dann würde niemand mehr da sein, der Araphel zur Vernunft bringt. So wie ich die Sache sehe, sieht Shen Araphel als seine persönliche Schöpfung an und es würde mich nicht verwundern, wenn er sich sogar von Araphel töten lassen würde, um auf diese Weise unsterblich zu werden. Er würde als der Schöpfer eines Monsters in die Geschichte eingehen und er würde quasi durch Araphel weiterleben. Das ist seine Logik, auch wenn sie für uns vielleicht nicht zu hundert Prozent nachvollziehbar ist. Aber es ist so, dass Psychopathen bei ihren Opfern Spuren hinterlassen um zu zeigen, dass allein sie die Macht über sie haben und dass die Opfer allein ihnen gehören. Darum nehmen sie auch immer Trophäen mit. Selbst Shen wird eine Trophäe von Araphel und Ahava haben, da bin ich mir sicher und danach sucht auch das FBI. Kurzum würde ich also sagen: alles gehörte von Anfang an zu Shens Plan, selbst seine eigene Ermordung durch Araphel. Und um das Chaos perfekt zu machen, benutzt er die Gesetze der Vendetta, um einen internationalen Mafiakrieg auszulösen. Dann wird die Shanghaier Triade in Boston angreifen und dann würde die Hölle losbrechen. Das wäre das Ende für die Mason- und die Camorra-Familie.“

Das hieß also: egal wie man es drehte und wendete, auf Shens Tod würde ein blutiges Massaker folgen? Sam wurde schlecht bei dem Gedanken und er fragte sich, ob Araphel das alles auch schon bereits erkannt hatte und was er diesbezüglich nun vorhatte. Ob er vielleicht einen Weg gefunden hatte, das Ganze zu verhindern? Oder plante er vielleicht etwas ganz anderes? Irgendwie war dem 28-jährigen überhaupt nicht wohl bei der ganzen Geschichte.

Wiedersehen und Abschied

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Letzte Vorbereitungen

„Sein Auge auf Vergeltung richten heißt, sich in seinen Taten von anderen abhängig machen und nie eigentlich vorwärts kommen.“
 

Rudolf Georg Binding, deutscher Schriftsteller
 

In den darauf folgenden Tagen überschlugen sich die Ereignisse regelrecht. Nachdem Sam wieder in dem Haus aufgewacht war, in welchem ihn das FBI einquartiert hatte, wurde er von Sadie James regelrecht zusammengestaucht, doch er versuchte noch ein weiteres Mal, Araphel zu sehen. Als er aber die Mason-Villa erreichte, war diese verlassen und es gab keinerlei Hinweise darauf, wohin Araphel gegangen sein könnte. Die nächste Hiobsbotschaft folgte, als es zu der Gerichtsverhandlung gegen Shen Yuanxian kam. Der Staatsanwalt hatte wirklich alles getan, um die Jury von der Schuld des Triaden-Oberhauptes zu beweisen. Sam, Dr. Heian und Morphius machten ausführliche Aussagen, Araphel selbst kam nicht zu der Verhandlung und war offenbar auch nicht als Zeuge geladen worden. Sam hatte sich auf einiges gefasst gemacht, doch Shens Anwalt hatte ihre Aussagen erbarmungslos auseinandergepflückt und jedes unschöne Detail zutage gefördert. Schließlich hatte der Verteidiger auch noch Sams Beziehung zu Araphel benutzt, um seine Glaubwürdigkeit zunichte zu machen. Und dass Morphius und Dr. Heian ebenfalls Mitglieder der Mason-Familie gewesen waren, nutzte er aus. Der Staatsanwalt kämpfte mit harten Fakten dagegen, doch letzten Endes gab die Jury dem Verteidiger Recht, dass all diese Verbrechen nicht direkt mit Shen in Verbindung gebracht werden konnten. Zwar lag es nahe, dass die Triade darin verwickelt war, aber mit Shen selbst konnte keines der Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Und so war Shen Yuanxian trotz allem von der Jury freigesprochen worden. Gleich schon während der Gerichtsverhandlung hatten sich allerdings noch andere Dinge getan. Mehrere Mitglieder der Triade waren ermordet worden und das zeitgleich. Knapp 15 wichtige Unterbosse, darunter auch Liu Cheng, der Shens rechte Hand war, waren in ihren eigenen Wohnungen erschossen worden, zudem hatte es noch Tote unter dem so genannten „Fußvolk“ gegeben. Gleichzeitig waren bei der Polizei und beim FBI Informationen über zwei Warenhäuser in Boston und noch weiteren 30 an der gesamten Ostküste und 20 an der Westküste eingegangen, wo der Slave Shipping Service die aus aller Welt verschleppten Kinder und Jugendlichen unterbrachten und in welchen von den Warenhäusern die Operationen durchgeführt wurden. Es war ein Skandal, der die ganze Welt erschüttern sollte. Die Zeitung meldete über nichts anderes mehr als über diesen „wahr gewordenen menschlichen Horror“, wie sie ihn nannten. Der Sturm war losgebrochen und der Mafiakrieg war eskaliert. Sam verfolgte das alles mit Interesse und Entsetzen zugleich und fragte sich, was Araphel wohl vorhatte und ob es zu seinem Plan gehörte, dass er Shen damit endgültig zur Weißglut trieb. Denn fest stand, dass dies nicht ohne Konsequenzen bleiben würde. Und er sollte damit richtig liegen, denn es gab kurz darauf mehrere Meldungen von Schießereien, bei denen auch Mitglieder der Mason-Familie und der Camorra-Familie zum Opfer gefallen waren. Es war, als hätten sich alle abgesprochen. Genau in dem Moment, wo alles vor Gericht gescheitert war, hatten sich die beiden alt eingesessenen Mafia-Clans verbündet und gemeinsam zum Schlag gegen die Triade ausgeholt. Und der Verlust der wichtigsten Unterbosse und Berater sowie die Razzien gegen die Warenhäuser hatten einen schweren Verlust für die Yanjingshe bedeutet und ein großes Chaos verursacht.

Das war unter anderem auch Nathan zu verdanken, der wirklich komplett aufgeräumt hatte und sogar im Ausland weitere 150 Standorte lokalisieren konnte, sodass sich schließlich auch Interpol einschalten musste. Doch Sam hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Wenn Araphel so aufs Ganze ging und Shen absichtlich provozierte, konnte es doch nur bedeuten, dass er sich auf einen Frontalangriff vorbereitete. Ja, er setzte alles auf eine Karte und griff die Schlange erbarmungslos an, solange sie noch nicht vollständig in ihr schützendes Nest zurückgekehrt war. Und gemäß dem Fall, dass Araphel wusste, was Shen wirklich im Sinn hatte, konnte sein Plan eigentlich nur so aussehen, dass er Shen töten würde und gleichzeitig dafür sorgte, dass seitens der Yanjingshe keine Vendetta durchgeführt werden konnte. In dem Fall würde das bedeuten, dass Araphel ebenfalls starb…

Angst überkam Sam, als er daran dachte. Konnte das wirklich sein? Hatte Araphel allen Ernstes vor, sich zu opfern, um sie alle vor der Rache der Yanjingshe zu beschützen? Für einen Moment überlegte er, ob er Agent James oder Agent Kazan deswegen sprechen sollte, doch den Gedanken verwarf er sofort wieder. Die würden keine große Hilfe sein. Solange es nur Vermutungen, aber keine stichhaltigen Beweise gab, die seine Theorie bestätigten, würde nichts passieren. Es gab nur eine Möglichkeit: er musste verschwinden, Araphel suchen und ihn aufhalten.

Während des Essens blieb Sam sehr verschwiegen und legte sich seinen Fluchtplan zurecht. Von hier abzuhauen, war zum Glück nicht so schwer, da es ein einfaches Einfamilienhaus war und er hatte als Detektiv schon des Öfteren unerkannt in Häuser oder Büros einsteigen müssen, um an Informationen zu kommen. Und ebenso hatte er auch wieder unerkannt verschwinden müssen und inzwischen hatte er ja schon eine gewisse Routine. Er konnte durch das Badezimmerfenster verschwinden und dann den Wagen kurzschließen. Ein Trick, dem Christine ihm mal gezeigt hatte. Im Anschluss würde er ins Krankenhaus fahren und Nathan um Hilfe bitten, falls dieser in der Lage war, ihm zu helfen. Doch gerade, als er in sein Zimmer ging und das Wichtigste zusammensuchen wollte, klopfte jemand an die Tür und Morphius und Dr. Heian kamen ins Zimmer. Der Arzt rückte seine Brille zurecht und bemerkte „Sieht aus, als wollte da jemand wieder abhauen.“

„Versucht nicht, mich abzuhalten“, sagte Sam und stellte sich den beiden entgegen. „Wenn ich nichts unternehme, wird Araphel sterben und das kann ich nicht zulassen. Und deshalb kann und will ich nicht länger hier bleiben.“

Die beiden sahen sich kurz an und Morphius verschränkte daraufhin die Arme.

„Wer sagt denn, dass wir dich aufhalten wollen?“ fragte er. „Ich will dir helfen.“

„Araphel hat uns vor der Triade beschützt“, erklärte Dr. Heian. „Und aus dem gleichen Grund hat er uns dem FBI anvertraut. Araphel ist nicht nur mein Patient, sondern auch ein guter Freund, ebenso wie er für Makoto ein guter Freund ist. Und darum haben wir überlegt, was wir tun können. Alleine gehen lassen können wir dich nicht. Darum wird Makoto mit dir gehen und dir helfen und ich werde hier bleiben. Sollte etwas Unerwartetes passieren, wird Makoto über einen Pager ein kurzes Signal geben und ich werde die Herrschaften vom FBI benachrichtigen.“

Sprachlos sah Sam sie beide an und konnte nicht glauben, dass die beiden das wirklich tun wollten. Und gerne nahm er das Angebot an, stand aber dann noch vor einer Frage: wo sollten sie nach Araphel suchen? Der Informant erklärte hieraufhin, dass er bereits nachgeforscht hätte, weil er ebenfalls den Verdacht gehabt hatte, dass Araphel etwas in der Art planen könnte.

„Im Großen und Ganzen ergeben so einige Dinge jetzt Sinn“, begann der 30-jährige. „Der Patriarch hat seinen Tod in Kauf genommen, damit sich die beiden Mafia-Clans gegen die Triade zusammenschließen konnten. Daraufhin planten Araphel und Victor die Tötung sämtlicher Unterbosse während der Gerichtsverhandlung, wo Shen abwesend war. Und als dann auch die Warenhäuser aufgeflogen sind, hat die Triade ziemlich viel Stress bekommen und das Kartenhaus droht zusammenzubrechen. Und da Shen halt nicht gerade der Typ Mensch ist, der sich so etwas gefallen lässt, hat Araphel uns deshalb dem FBI überlassen, damit wir in Sicherheit sind und der Plan problemlos durchgeführt werden kann. Denn wäre einer von uns in Shens Gefangenschaft geraten, hätte Araphel ein Problem gehabt.“

„Und nun, da die Unterbosse und die rechte Hand tot sind und die Warenhäuser hochgenommen wurden, herrscht Chaos innerhalb der Triade und das nutzt Araphel aus, um Shen aus seiner Deckung hervorzulocken“, ergänzte Sam und erkannte, dass sie wohl beide denselben Gedanken hatten. „Und bei seiner narzisstischen Persönlichkeit wird er sicherlich rasend vor Wut sein und unvorsichtig werden. Darauf spekulieren Araphel und Victor, um ihn dann zu erwischen. Aber das nützt uns nichts, solange wir nicht wissen, wo sich Araphel aufhält und wo die Konfrontation stattfinden soll.“

„Das überlass mal mir“, meinte Morph. „Ich habe genug Kontakte, um mich durchzufragen und ich denke schon, dass ich da was herausfinden kann. Sobald wir die Info haben, machen wir beide uns aus dem Staub, okay?“

Damit war Sam einverstanden und er hoffte, dass Morph etwas herausfinden konnte, bevor es zu spät war.
 

Araphel hatte sich eine heiße Dusche gegönnt, um sich zu sammeln. Er würde noch alle Kraftreserven benötigen für das, war bevorstand und auch wenn sich alles in ihm sträubte, so nahm er doch sein Handy mit der unterdrückten Nummer zur Hand und wählte Shens Nummer. Bevor er den grünen Hörer wählte, atmete er noch ein Mal tief durch und trank einen Schluck aus seinem Cognacglas. Dann schließlich tat er es doch und drückte den Hörer. Es dauerte, bis Shen ans Telefon ging und auf Chinesisch sprach.

„Ja hallo?“

Allein beim Klang seiner Stimme kam dem 31-jährigen die Galle hoch. Unbändige Wut stieg in ihm auf, aber auch die entsetzlichen Bilder der letzten vier Jahre. Ahava… Christine… Yin und Asha… er selbst… Allein bei der Erinnerung an diese Erniedrigungen und Demütigungen spürte er wieder, wie seine Narben schmerzten, insbesondere seine alte Brandnarbe. Zwar hatte Dr. Heian gesagt, dass diese Schmerzen nur Einbildung waren, doch er spürte sie oft. Insbesondere wenn er daran zurückdachte, wie sehr Shen ihn gequält hatte. Mehr noch als ihn hatte er sich selbst verabscheut, dass er das alle hatte mit sich machen lassen, weil er dachte, er könne auf diese Weise seine Schwester retten. Hoffnungen, die allesamt zerschlagen worden waren. Und als er diese so verhasste Stimme hörte, überkam ihn ein Schauer des Widerwillens. Nicht, dass es Angst war. Nein, Araphel Mason war niemand, der so schnell Angst empfand. Schon gar nicht vor Shen. Diesen Gefallen würde er diesem widerlichen Psychopathen sicher nicht gönnen.

„Ich bin es, Shen.“

Araphel hielt es für sicherer, auf Chinesisch zu sprechen für den Fall, dass irgendjemand unverhofft zuhören könnte.

„Araphel!“ ertönte es vom anderen Ende der Leitung und der 31-jährige hatte Mühe, ruhig zu bleiben und nicht aus der Haut zu fahren. „Das ist ja schön, dass du mich anrufst. Weißt du, ich habe gerade an dich denken müssen. Und natürlich an deinen kleinen Lover. Hast du wirklich geglaubt, du könntest ihn vor mir in Sicherheit bringen, indem du ihn beim FBI lässt? Du weißt, was dir blüht, wenn du es dir mit mir verscherzt. Ich warne dich, du willst mich nicht wütend erleben…“

„Als ob du das nicht schon längst wärst. Du bist so gut wie am Ende, das wissen wir beide. Deine Leute verehren dich wie einen Gott und dachten selbst, du seiest unantastbar und nun haben sie miterlebt, wie du vor Gericht gezerrt wurdest und nicht mal imstande warst, die Tode deiner Unterbosse zu verhindern. Ich habe dir versprochen, dich ein für alle Male fertig zu machen und dich ein für alle Male zu vernichten. Und ich will es zu Ende bringen. Entweder du oder ich.“

Ein Lachen war zu hören. Es war ein eiskaltes und grausames Lachen, doch Araphel hörte dennoch die Anspannung heraus. Shen wusste, dass mit den Spielchen jetzt Schluss war und es auf einen Zweikampf zwischen ihnen beiden hinauslaufen würde. Der lang ersehnte Höhepunkt seines perfiden Spiels rückte näher und sie beide wussten, dass es unvermeidlich war. Die Würfel waren gefallen, nun mussten nur noch die Figuren gesetzt werden.

„Du willst mich also unbedingt stürzen, ja? Du weißt schon, was dir blüht, wenn du scheitern solltest. Dann gehörst du mir und ich werde dich zu meinem Lieblingsspielzeug machen. Dann wirst du mir nicht noch mal entwischen und als nächstes werde ich mir deinen Lover, deinen Arzt und deinen Informanten holen. Du weißt, es gibt eine Menge hungriger Wölfe, die nach Frischfleisch lüstern und du weißt, was es aus deiner Schwester gemacht hat.“

Araphel presste die Zähne aufeinander und versuchte nicht daran zu denken. All die Jahre hatte er sich von Shen provozieren lassen, doch dieses Mal würde er nicht diesen Fehler machen. Das hatte auch Victor ihm eingeschärft.

„Das brauchst du mir nicht unter die Nase reiben, klar? Hören wir endlich mit diesen Spielchen auf und regeln das jetzt ein für alle Male.“

„Fein“, kam es von Shen, der recht unbeeindruckt blieb und sich seiner Sache wohl ziemlich sicher war. „Dann treffen wir uns an einem neutralen Ort, um die Chancen gleich zu halten. Kennst du die alte Fabrikhalle an der Bridge Street? Die steht zurzeit leer und dort sind wir auch ungestört vor der Polizei. Und? Ist das für dich zufrieden stellend?“

Die Fabrikhalle an der Bridge Street. Wenn sich sein Gedächtnis nicht täuschte, waren dort mal Lebensmittel in Konserven verarbeitet worden, bis das Unternehmen bankrott ging und aufgrund schädlicher Stoffe im Boden und anderer Mängel war das Gebäude aufgegeben worden. Es war ideal und es erstaunte ihn, dass Shen sich so einen Ort ausgesucht hatte, aber andererseits… Shen legte es darauf an, getötet zu werden, denn dann würde die Hölle in Boston losbrechen. Und für ihn gab es keinen besseren Tod, als durch seine eigene „Schöpfung“ getötet zu werden, so bizarr das auch klang.

„In Ordnung“, sagte Araphel schließlich. „Heute Abend um 21 Uhr.“

Damit war alles Nötige gesagt und Araphel beendete damit das Gespräch. Wieder atmete er tief durch und sammelte sich, bevor er eine andere Nummer wählte, nämlich die von Victor. Er hatte mit ihm vereinbart, ihn sofort zu benachrichtigen, sobald er mit Shen telefoniert hatte. Es klingelte keine drei Male, bis Victor abnahm. Hier unterhielt sich Araphel sicherheitshalber auf Russisch mit ihm, um ganz sicher zu gehen. In dieser heiklen Situation durfte nicht das Geringste schief gehen.

„Ich habe Shen auf heute Abend 21 Uhr festgenagelt. Ich treffe mich mit ihm in der alten Fabrikhalle in der Bridge Street.“

„In Ordnung“, sprach Victor in einem nicht ganz so fließenden Russisch, wie sein seliger Vater es beherrscht hatte. Es war jedoch gut verständlich und Victor konnte sich sehr gut ausdrücken. „Dann arrangiere ich alles Weitere. Ich werde dafür sorgen, dass alles planmäßig verläuft und werde dir den Rücken freihalten.“

„Ich verlasse mich auf dich. Es muss alles perfekt verlaufen, eine zweite Chance haben wir nämlich nicht. Ich will, dass der ganze Laden bis auf die Grundmauern abbrennt.“

Victor versicherte, dass er sich darum kümmern würde, dass alles reibungslos verlief und er sich persönlich darum kümmern würde, dass es keine Probleme gab. Damit war das letzte Telefonat beendet und Araphel legte sein Handy beiseite, stattdessen nahm er noch einen Schluck Cognac. Sonderlich viel spürte er aber nicht, was aber auch daran lag, weil er außerordentlich trinkfest war und es sogar geschafft hatte, mit Sergej mitzuhalten, der als Halbrusse das Talent besessen hatte, dass er Wodka wie Wasser trinken konnte. Und während er die klare und goldfarbene Flüssigkeit in seinem Glas betrachtete, dachte er an den alten Patriarchen, der sich geopfert hatte, um ihm den Weg zu ebnen. Dabei fragte er sich, wie lange Sergej wohl über diesen Plan gesessen hatte. Immerhin hatte er seinen eigenen Tod geplant und alles, was danach passieren würde. Er hatte nichts dem Zufall überlassen und bewiesen, dass er eigentlich die wahre Nummer eins der Bostoner Unterwelt war. Denn selbst nach seinem Tod hielt er noch die Fäden in der Hand. Was für ein gerissener Fuchs, dachte sich Araphel und ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. Ob er wohl Gedanken lesen konnte, als Victor ihm über den Plan informiert hatte? Aber letzten Endes hatte es gezeigt, dass er sich immer auf Sergej verlassen konnte. Der Patriarch hatte ihn nie im Stich gelassen und auch wenn sie geschäftlich gesehen kaum miteinander zu tun gehabt hatten, so hatte er ihn immer als einen zweiten Vater angesehen, ihn respektiert und auch bewundert. Und manchmal hatte er das Gefühl, dass Sergej ihn besser verstand als Stephen, sein Adoptivvater. Sergej war ein treu sorgender Familienvater gewesen, der selbst früh zur Waise wurde und der auch gewusst hatte, dass es niemals Araphels Wunsch gewesen war, ein Mafioso zu werden. Er hatte seinen Kindern die Entscheidung überlassen, ob sie seinen Weg weitergehen wollten oder nicht und es war Victors freier Wille gewesen, den Platz seines Vaters einzunehmen. Stephen Mason hatte weniger Verständnis für Araphel gehabt. Er war auch in einer intakten Familie groß geworden und es war für ihn selbstverständlich gewesen, dass er genauso Mafioso werden würde wie sein eigener Vater. Er war damit groß geworden, aber Araphel hatte immer nur einen einzigen Antrieb gehabt: am Leben zu bleiben. Er war mit Ahava aus Israel geflohen, weil er ein besseres Leben wollte. Und dafür hatte er sich nie erlaubt, selbst zu träumen oder Wünsche zuzulassen. Lediglich diesen einen kleinen bescheidenen und selbstsüchtigen Wunsch hatte er gehabt. Alles aufzugeben und sämtliche Geschäfte niederzulegen frei nach dem Spruch „Lasset fahren dahin“, um daraufhin seinen ganz eigenen Weg zu gehen. Doch er hatte es nicht getan. Zuerst hatte er es Ahava zuliebe getan, weil er ihr das Leben bieten wollte, welches sie verdient hatte. Danach hatte er es getan, um Rache zu nehmen. Tja und jetzt war sein Tod wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, um ein für alle Male aus diesem Sumpf herauszukommen. Aber er bedauerte es nicht. Er hatte damals getan, was er für richtig hielt und auch als Shen auf den Plan getreten war, hatte er alles getan, was er konnte. Zwar war es nicht genug gewesen, um das Unglück zu verhindern, aber jetzt, nachdem er sehr lange über all diese Dinge nachgedacht hatte und wusste, dass alles bald vorbei sein würde, war er wieder ins Gleichgewicht gekommen. Er konnte gewisse Dinge jetzt aus einer objektiven Sichtweise betrachten und wusste nun, dass er nichts mehr zu bereuen hatte. Nein, es gab nichts dergleichen zu bereuen. Damals, als Ahava entführt worden war, hatten die Ereignisse ihn überrascht und er hatte alles in seiner Macht stehende getan, um sie zu retten. Genauso wie er alles getan hatte, um Christine, Yin und Asha zu retten. Zwar hatte er niemanden von ihnen retten können, aber es war ein tröstlicher Gedanke, dass er den dreien wenigstens vier schöne Jahre schenken konnte, nachdem sie der Hölle aufgewachsen waren. Und seine Schwester war von ihrem Leid erlöst worden. Vielleicht hätte man sie retten können, vielleicht auch nicht. Es war eh sinnlos geworden, darüber nachzudenken. Araphel hatte für sich alleine mit all diesen Themen inzwischen abgeschlossen und für sich gesagt, dass er sich keine Vorwürfe mehr machen musste. Er hatte alles gegeben, aber Shen war ihm halt überlegen gewesen. Das war nun mal die Realität der Mafia. Der Schwächere hatte die Verluste zu tragen. Ob Sergej irgendwann auch so darüber nachgedacht hatte und deshalb so leicht mit dem Leben anderer spielen konnte? Ob sein Adoptivvater ebenso gedacht hatte? Was hätte Stephen Mason wohl getan, wenn er erfahren hätte, dass seine Kinder in den Fängen des Feindes waren? Nun, er war zwar ein guter Vater gewesen, aber Araphel hätte seine Hände nicht dafür ins Feuer gelegt, dass sein alter Herr alles getan hätte, um ihn und Ahava zu retten. Die Mafia hatte bei ihm an alleroberster Stelle gestanden, das hatte Araphel immer gewusst und es akzeptiert. Aber es gab manchmal Momente, in denen er sich gewünscht hätte, sein Adoptivvater wäre mehr wie Sergej, dem das Wohl seiner Kinder sogar noch über der Existenz des Clans stand. Denn wie pflegte der alte Patriarch zu sagen?

„Königreiche werden gegründet und werden gestürzt. Imperien werden errichtet und zerfallen. Und genauso werden Mafiafamilien aufgebaut und eines Tages zerschlagen, wenn sie nicht von alleine zugrunde gehen. Selbst die eigene Ehefrau kann kommen und gehen. Man kann sich eine neue anheiraten. Aber Kinder kann man nicht ersetzen. Sie sind unsere Zukunft, unser wertvollster Schatz. Und deshalb gilt es sie zu beschützen, egal welchen Preis wir dafür zahlen müssen. Wenn ich vor der Wahl stehen sollte, lasse ich meinen Clan zugrunde gehen. Ich kann meine alte Macht jederzeit wiederherstellen. Aber nichts auf der Welt kann mir das Leben meiner Kinder ersetzen.“

Araphels Blick nahm eine Spur Melancholie an, als er sich die Worte wieder durch den Kopf gehen ließ und in seinem tiefsten Herzen wünschte er sich, es wäre damals Sergej gewesen, dem der Privatjet gehört hatte. Dann wären er und Ahava vermutlich niemals mit der Welt der Mafia in Berührung gekommen. Und wahrscheinlich wäre auch sein eigenes Leben anders verlaufen.

Hieraufhin hob Araphel wie zum Toast sein Glas und sprach „Zum Wohl“ in Gedenken an seinen Mentor, seinen Zweitvater und seinem engsten Freund.

Die Konfrontation

„An seinen Feinden rächt man sich am besten dadurch, dass man besser wird als sie.“
 

Diogenes von Sinope, Philosoph
 

Gegen 19 Uhr hatte Araphel bereits das Hotel verlassen, nachdem er noch einen Drink zu sich genommen hatte. Viel nahm er nicht mit, höchstens Zigaretten und seine Pistole. Dieselbe, mit der sich Ahava vor vier Jahren umgebracht hatte. Es hatte für ihn schon eine besondere Bedeutung, diese Waffe zu benutzen, die ihm seine Schwester genommen hatte. Mit ihr würde alles enden, noch in dieser Nacht. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass es schon heute geschehen würde. Vier Jahre lang hatte Araphel gewartet. Vier unendlich lange Jahre, um endlich einen Schlussstrich zu ziehen und seine Rache zu vollenden. So viele Opfer hatte es bis jetzt eingefordert, um hierher zu kommen. Fast alle waren tot, die ihm wichtig waren und die wenigen, die ihm noch blieben, waren zum Glück in Sicherheit und er hatte weitaus weniger Sorgen, die er sich machen musste. Mit Victor war alles soweit durchgesprochen und er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Dieser Paragrafenreiter war zwar noch etwas zu jung für den Rang eines Mafiabosses, aber sein Intellekt und seine Zielstrebigkeit waren enorm und was die Planung betraf, machte er seinem alten Herrn alle Ehre. Als Araphel in die Limousine einstieg und dem Chauffeur Anweisungen zum Fahrziel erteilte, sah er ein wenig gedankenverloren aus dem Wagenfenster und betrachtete die Leuchtreklamen und die bunt ausgeleuchteten Schaufenster der Geschäfte. Und in diesem Moment musste er sich daran erinnern, wie er sich gefühlt hatte, als er zum allerersten Mal diesen Anblick gesehen hatte. Damals, als er als blinder Passagier in die USA gekommen war, hatte man ihn erst ins Krankenhaus einliefern müssen, aber dieses Gefühl, als er zum ersten Mal die Bostoner Metropole gesehen hatte, würde er nie vergessen. Es war ihm so vorgekommen, als wäre er in eine völlig neue Welt eingetaucht. In die Welt des Reichtums und Wohlstandes, wo es keinen Krieg gab, keine Bombenanschläge und keine verwüsteten Straßen. Damals hatte er noch geglaubt gehabt, Amerika wäre ein Utopia. Ach was war er damals noch naiv gewesen. Letzten Endes war Amerika kein besserer Ort, außer dass vielleicht nicht jeden Tag ein Angriff der Palästinenser zu befürchten war. Aber die Realität sah halt so aus, dass Amerika nicht das Utopia war, für das viele Leute es hielten. Nein, es war so ziemlich eine Mogelpackung, wenn man es genau betrachtete. Die Leute waren paranoid und ließen sich von den Medien verrückt machen und die Amerikaner selbst hatten Moralvorstellungen, die fast schon lachhaft waren. Wenn er mit Sergej zusammengesessen hatte, so pflegte der Patriarch Amerika als „Land der unbegrenzten Dummheiten“ zu bezeichnen. Und so verkehrt lag er da nicht. Sonderlich viel hielt ihn in diesem Land sowieso nicht. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, hatte er sich weder in Israel, noch in Amerika je wirklich zuhause gefühlt. Stattdessen hatte er sich ein Stück weit immer als Heimatloser gesehen. Doch wo war seine „Heimat“? Als Heimat bezeichnete man den Ort, wo man seine Familie und sein Zuhause hatte. All das hatte er nicht mehr. Dementsprechend hätte es ihm auch nichts ausgemacht, Amerika wieder den Rücken zuzukehren und sich einen anderen Ort zum Leben zu suchen. Aber darüber brauchte er sich ja keine Gedanken mehr machen. Jetzt war es eh zu spät.

„Roy…“

Damit sprach Araphel seinen Chauffeur an, der bereits den verstorbenen Stephen Mason tagtäglich gefahren hatte und zu den langjährigen Angestellten zählte. Treu und all die Jahre unfallfrei war Roy Chalmers mit der Limousine gefahren.

„Sie wünschen, Mr. Mason?“

„Fahren Sie noch ein wenig durch die Gegend. Bis 21 Uhr haben wir ja noch ein wenig Zeit.“

„Sehr wohl, Mr. Mason.“

Und so fuhr die schwarze Limousine durch die Bostoner City und auf diese Weise verging die Wartezeit wenigstens nicht allzu langsam.
 

Um zehn Minuten vor neun traf Araphel an der Bridge Street ein und sah auch schon die alte Fabrik. Der Platz, wo der letzte Showdown stattfinden würde.

Als der 31-jährige aus dem Wagen ausstieg, sah er auch schon Shens Wagen dort stehen, sowie auch ein paar seiner Leute, die draußen standen und offenbar Wache schoben. Nun, darum brauchte er sich nicht sonderlich zu kümmern. Die waren ja nicht sein Problem. Also trat er näher und wurde durchgelassen. Na wenigstens hatte Shen sein Wort gehalten und es würde zu einem Zweikampf werden, wobei dieser Gedanke beinahe etwas von einem Wild West Showdown zwischen zwei Revolverhelden hatte.

Araphel betrat die Fabrikhalle und musste erst mal geblendet vom Licht die Augen zukneifen. Nachdem sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, ging er weiter und sah sich aufmerksam um. Er erinnerte sich, dass er mal als Kind heimlich hier zum Spielen gewesen war, zusammen mit ein paar anderen Jungs aus seiner Schule. Jeden einzelnen Schlupfwinkel hatte er damals erkundet, auch wenn es kurz danach Hausarrest gegeben hatte, weil solche Orte gefährlich waren. Ob Shen wohl davon wusste? Hoffentlich nicht, aber selbst wenn, es würde nichts am weiteren Verlauf der Dinge ändern.

„Schön, dass du gekommen bist, Araphel“, hörte er Shens Stimme rufen. „Und pünktlich wie immer. Ganz wie dein Herr Vater.“

„Spar dir die Spielchen und lass uns zur Sache kommen“, sprach Araphel trocken und zog seine Pistole. „Ich habe keine Lust auf irgendwelches Geplänkel.“

„Du kannst es wohl kaum erwarten, mich zu töten, nicht wahr?“ fragte Shen und ein eiskaltes Lächeln spielte sich auf seine Lippen, wobei seine Augen gefährlich funkelten. „Du bist und bleibst eben jemand, der alles zerstört, was er nicht beherrschen kann. Muss sicher ein herrliches Gefühl sein, all jene umzubringen, die dir im Weg stehen. Ich sehe es dir doch an, dass du es kaum erwarten kannst, den Mann zu töten, der dir deine Familie und deine Freunde genommen hat. Du hörst, wie es in dir schreit, nicht wahr? Jede Faser deines Körpers lüstet nach Blut und Rache und du versuchst, dich zu beherrschen. Aber am liebsten würdest du mich in Stücke reißen und deinen Hass in mich eingraben.“

Shen trat nun näher, ungeachtet der Tatsache, dass Araphel immer noch die Pistole in der Hand hatte. Er war wie immer die Selbstsicherheit in Person. Und als er nah genug war, griff der 42-jährige blitzschnell zu, drehte Araphel die Pistole aus der Hand und drückte ihn mit dem Rücken gegen eine der halb verrosteten Fabrikanlagen. Ihre Blicke trafen sich und dann griff Shen zwischen Araphels Beine und ein dämonisches Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

„Aber am schönsten waren immer noch diese besonderen Stunden zwischen uns beiden. Wie dein Körper gebebt hat unter der Lust unserer Bewegungen und wie du deine Beine für mich gespreizt hast. Es war ein herrlich süßer Anblick, vor allem als du mich regelrecht darum angebettelt hast, es dir zu besorgen.“

Das war nun endgültig zu viel und Araphel stieß Shen von sich.

„Du hast mich doch dazu gezwungen! Du hast mich gefoltert und damit gedroht, Ahava umzubringen, wenn ich dein krankes Spiel nicht mitspiele.“

„Es war ja auch so lächerlich einfach, dich gefügig zu machen“, gab Shen unbeeindruckt zurück. „Du warst, bist und bleibst so leicht zu durchschauen und zu manipulieren. Aber findest du nicht auch, du solltest etwas ehrlicher sein? In Wahrheit hast du es doch genauso genossen wie ich. Der Schmerz, die Lust… Egal wie sehr du es auch bestreiten magst, aber es hat dich erregt, genauso wie dich allein schon die Erinnerung daran erregt. Und auch wenn du mit deinem kleinen Detektiv schläfst, erfüllt es dich bei weitem nicht so sehr wie unsere gemeinsamen Stunden, wo du nackt und keuchend auf dem Fußboden gekniet hast. Auf allen Vieren wie ein Hund. Erinnerst du dich noch an die Leine? Du warst wirklich ein wunderbares Haustier gewesen.“

Damit holte Shen eine Fernbedienung heraus, drückte einen der Knöpfe und damit wurde das Licht in der Lagerhalle etwas gedämpft. Als er noch einen Knopf drückte, wurde das Licht von einem Beamer an die Wände projiziert und Araphel sah, dass es eine Filmaufnahme war. Und was er sah, war nicht weniger schlimm als die Filmaufnahmen, auf denen seine Schwester vergewaltigt worden war. Shen hatte ihm diese Bänder als „Souvenir“ zugeschickt, nachdem Ahava Selbstmord begangen hatte. Auf den Aufnahmen sah er sich selbst, nackt und mit blutendem Rücken auf den Boden kauernd, vor Schmerz und Lust stöhnend während sich Shen an ihn verging.

„Schöne Zeiten, nicht wahr?“ fragte der Chinese und stand nun neben ihm. „Ich hatte selten mit jemandem solch heiße Stunden wie mit dir.“

Nun war für Araphel endgültig Schluss. Er hob seine Waffe wieder auf, schoss drei Mal auf den Beamer, um diese Aufnahmen nicht mehr mit ansehen zu müssen und feuerte dann einen Schuss auf Shen ab, welcher aber schnell genug ausweichen konnte, sodass die Kugel ihn verfehlte.

„Endlich zeigst du mir etwas mehr Feuer.“ Shen ließ ihn nicht aus den Augen, als Araphel nachlud und machte sich bereit für den Kampf. „Zeig mir mehr von deinem unbändigen Hass. Lass mich diesen Zorn spüren, der in dir tobt. Lass ihn heraus und werde zu dem Dämon, der du wirklich bist.“

Ein unheimliches Lachen hallte durch die Fabrikhalle und etwas Neues glomm in Shens dunklen Augen auf. Etwas Wahnsinniges und abgrundtief Böses. Es waren die Augen eines Monsters. Für einen Moment stand Araphel kurz davor, die Beherrschung zu verlieren und diesen Bastard einfach über den Haufen zu schießen und dann abzuhauen. Etwas anderes hätte er einfach nicht verdient. Doch dann, als er tief einatmete und ganz schwach einen ganz bestimmten Geruch wahrnahm, kehrte die Erinnerung an den Plan wieder zurück und er schaffte es mit eiserner Willensstärke, sich wieder zusammenzureißen.

„Tut dir eigentlich dein Knie noch weh?“ fragte Araphel schließlich und holte sein Benzinfeuerzeug heraus und begann damit in seiner anderen Hand zu spielen. „Nachdem der Patriarch dir in die Kniescheibe geschossen hat, dürftest du eigentlich kaum ohne Krücken laufen. Mit Rennen ist es wohl nicht mehr so, oder?“
 

Als Shen dieses seltsame Lächeln bei Araphel sah, wurde er misstrauisch. Irgendwie war das nicht die Reaktion gewesen, die er sich erhofft hatte. Er hatte damit gerechnet, dass Araphel ausrasten und auf ihn losgehen würde. So war es nie anders gewesen, doch dieses Lächeln war neu. Es bedeutete nichts Gutes, das wusste er jetzt schon. Irgendetwas hatte Araphel vor und das gefiel ihm nicht. Sollte er sich Sorgen machen, sein Plan könnte scheitern? Er versuchte es zu überspielen und blieb gelassen.

„Willst du es darauf ankommen lassen?“ fragte er deshalb. „Für dich reicht es alle Male.“

„Ach ja?“

Ein Schuss fiel und Shen wollte wieder ausweichen. Es gelang ihm auch, doch als er dabei mehr Gewicht auf sein lädiertes Knie verlagerte, durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz, der ihn für einen kurzen Augenblick lähmte, doch das reichte, damit eine weitere Kugel sein anderes Knie traf und er zu Boden stürzte. Er schrie, als ein rasender Schmerz sein Bein durchfuhr, doch gleichzeitig erfüllte ihn eine seltsame Euphorie und er begann zu lachen. Er hatte sich wohl völlig umsonst Sorgen gemacht. Es lief doch alles wie geplant. Araphel würde ihn töten und das wäre der Anfang vom Ende. Boston würde zu einem Schauplatz des Gemetzels werden, wenn die Yanjingshe ihren Rachefeldzug begann. Chaos… Blutvergießen… Leid… Er selbst würde der Auslöser eines Krieges werden und Boston zu einem Schlachtfeld machen. Araphel musste ihn nur noch töten.

Doch der Schuss in den Kopf oder in die Brust folgte nicht. Araphel stand eine Weile schweigend da und beobachtete ihn, wandte sich dann aber ab und verschwand in eine Ecke. Was zum Teufel hatte er vor? Nun war Shen irritiert.

„Weißt du Shen, diese ganze Vendettageschichte ist zwar schön und gut und ich würde dir am liebsten hundert Male die Kniescheiben kaputt schießen, wenn es danach ginge. Aber glaub ja nicht, dass ich mich dazu herablassen werde, deine Spielchen mitzuspielen. Mag sein, dass du die Gesetze der Vendetta kennst, aber ich kenne sie auch und eine Schwachstelle hast du dabei übersehen, oder zumindest nicht in deinen Plan mit einberechnet.“

Shen lachte, aber nicht weil er sich seines Sieges noch zu einhundert Prozent sicher war. Nein, er lachte ungläubig und weil er verwirrt war. Was sollte er denn bitte übersehen haben? Er war Shen Yuanxian, die Schlange von Boston. In Shanghai wurde er sogar als Schlangenprinz bezeichnet und von seinen Untergebenen fast wie ein Gott verehrt und wie ein Teufel gefürchtet. Es unterliefen ihm niemals Fehler, weil er immer alles perfekt plante. Nicht einmal dem FBI war es gelungen, ihn einzusperren, weil er besser war. Besser als alle anderen! Besser als die Menschen, die ihn und seinen Bruder damals in dieses Bordell gezerrt und sie zu Sexspielzeugen für pädophile und sadistische Perverse gemacht hatten. Er war allen überlegen!

Weitere Schüsse ertönten und nun hörte Shen ein leises Plätschern. Und noch etwas bemerkte er: es roch eigenartig… nach Benzin. Hatte Araphel etwa vor, die Fabrik niederzubrennen?

„Mein Vater pflegte zu sagen, dass die beste Form der Rache darin bestünde, dass man besser als seine Feinde wird. Denn es ist ein schönerer Genuss, sie scheitern zu sehen, als sie einfach zu töten. Selbst wenn man seine Feinde tötet, können sie einem immer noch überlegen sein. Und ich werde dich eben halt übertrumpfen, indem ich deinen schönen Plan zunichte mache. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, was passieren würde, wenn ich dich einfach so töte? Das würde einen nie enden wollenden Mafiakrieg nach sich ziehen und Boston würde zu einem kriminellen Drecksloch wie Kolumbien oder El Salvador werden. Also werde ich dich mit mir in die Hölle nehmen.“

Shens Augen weiteten sich vor Fassungslosigkeit, als er das hörte. Hatte Araphel etwa tatsächlich vor, sich umzubringen, weil dann die Yanjingshe keine Berechtigung zur Vendetta hatte, da auf beiden Seiten ein gleichwertiger Verlust war? Das konnte er doch nicht ernst meinen. Was war das für eine Logik?

„Du bist doch verrückt“, rief er und sah, wie Araphel mit dem Feuerzeug hantierte. „Du stirbst allen Ernstes nach all dem, was du dir aufgebaut hast? Du als Nummer eins von Boston und Boss einer Mafiafamilie?“

„Das war ein Erbe meines Vaters, mehr nicht“, erklärte der 31-jährige ungerührt. „Und Mafioso zu werden, war eh nie mein Traum. Da muss ich dich leider enttäuschen, dass dein Plan nicht aufgeht, aber ich werde weder zu deinem Spielzeug, noch zu deiner Schöpfung, geschweige denn, dass ich nach deiner Pfeife tanze. Weißt du, warum man mich den Bostoner Löwen nennt? Weil ich für das einstehe und kämpfe, woran ich glaube. Ich verfolge meine Ziele, ganz egal wie unmöglich es auch erscheinen mag. Ich habe es aus eigener Kraft damals geschafft, zusammen mit Ahava im Alter von zehn Jahren, geringen Englischkenntnissen und 39°C Fieber in einen Privatjet nach Amerika zu fliegen und ich hätte jeden im Flugzeug erschossen, der es gewagt hätte, mich an meinem Ziel zu hindern. Aber ich töte nicht einfach nur, um Macht über andere zu haben und sie zu tyrannisieren, so wie du es tust. Ich kämpfe, um stärker zu werden, damit ich jene besser beschützen kann, die für mich wie eine Familie sind. Ich habe weder Heimat noch leibliche Familie. In Israel war ich nur ein dreckiger Straßenjunge und hatte nichts. Weißt du, uns beide verbindet schon etwas, auch wenn ich es nur ungern zugebe. Wir beide haben als Kinder viel durchmachen müssen. Wir haben die Hölle erlebt und haben uns unseren Platz durch Willenskraft, Stärke und Rücksichtslosigkeit erkämpft, weil wir sonst verloren gewesen wären. Während ich mehr oder weniger das Glück hatte, in den richtigen Flieger gestiegen zu sein und eine Familie zu finden, hast du deinen Weg alleine bestritten. Du hast jene umgebracht, die dir deine Kindheit und deinen Bruder genommen haben. Und mehr noch: du hast mehr Menschen auf dem Gewissen als so manche Serienmörder hier in Amerika. Aber du hattest nie jemanden. Keinen Vertrauten, keinen Freund, du warst immer alleine. Darum nennt man dich auch die Schlange: du tötest deine Opfer blitzschnell und richtest sie mit deinem Gift zugrunde, verlässt aber niemals dein sicheres Nest. Aber Schlangen sind keine Gruppentiere. Sie gelten zwar als Symbol der Weisheit und der Sünde, aber sie sind strikte Einzelgänger und wenn sich zwei Schlangen in ein Beutetier verbeißen, fressen sie ihren Artgenossen ohne zu zögern mit auf. Löwen sind anders. Sie leben in Rudeln und bauen auf die Stärke der anderen. Sie sind Anführer und sie beschützen ihr Rudel. Ein Boss ist wie ein Familienoberhaupt. Er muss sich Respekt und Anerkennung verschaffen. Vielleicht ist es auch gesund, wenn man Angst vor ihm hat. Aber man hat die Pflicht, die Familie zusammenzuhalten.“

„Du redest schon so wie der alte Sack“, gab Shen mit höhnischer Stimme zurück und man konnte sehen, dass die Maske des überlegenen und unantastbaren Triadenbosses von ihm abgefallen war. Die Erkenntnis, dass sein perfekter Plan gescheitert war und das Massaker, wie er es sich so sehr erhofft hatte, gar nicht stattfinden würde, ließ ihn alle Erhabenheit und Würde vergessen. Seine Miene war gezeichnet von blankem Hass und purer Abscheu.

„Und selbst wenn dem so wäre, was interessiert es mich? Glaubst du im Ernst, Menschen macht man sich durch Mitgefühl und Verständnis gefügig? Nein, wir beherrschen sie mit ihrer schlimmsten Angst. Und glaubst du im Ernst, du kannst deinen kleinen Detektiv beschützen, indem du mit mir hier stirbst? Falsch gedacht. Meine Leute werden ihn finden und ihm das Fleisch scheibenweise von den Knochen schneiden, so wie man es bei uns mit Verrätern und Feinden macht. Ich dachte du wärst ein Dämon, meine perfekte Schöpfung, aber in Wahrheit bist du nichts Weiteres als ein Dummkopf. Solche sentimentalen Schwachköpfe wie du und der Patriarch mit ihren romantischen Vorstellungen von einer Gemeinschaft sind doch am Ende diejenigen, die mit dem Leben bezahlen. Sie verlieren alles und jagen sich dann eine Kugel durch den Schädel, weil sie selbst zu schwach sind, um wieder aufzustehen. Oder aber sie werden zu moralischem Abschaum. Was interessiert mich dieses soziale Geplänkel?! Von mir aus kann die gesamte Menschheit in ihrem eigenen Sumpf versinken. Meinetwegen können sie alle verrecken, wir alle verdienen den Tod. Sowohl du, als auch ich und alle anderen.“

„Mag sein“, sagte Araphel, ohne dass sich seine Miene großartig bewegte. „Es gibt halt Menschen wie du, welche die Welt einfach nur brennen sehen wollen. Und weißt du was? Ein paar Kugeln habe ich noch übrig. Der Schuss ins Knie war übrigens für meinen Vater.“

Der nächste Schuss traf Shens anderes Knie, welches noch nicht verheilt war.

„Das war für Christine…“

Die darauf folgende Kugel durchbohrte Shens linke Schulter.

„Das war für Sergej.“

Als er die andere Schulter traf, sagte er „Das war für Yin und Asha.“

Den nächsten Schuss in die Seite widmete er Sam und dann schließlich schoss er Shen direkt zwischen die Beine und traf ihn damit in seine Genitalien. Als der Chinese laut aufschrie vor Schmerzen, sprach er mit eiskalter Stimme „Der war für meine Schwester.“

Als damit die letzte Kugel verschossen worden war, entzündete Araphel das Feuerzeug und warf es in die Benzinpfütze, die daraufhin sofort Feuer fing. Mit einem wütenden Zischen breitete sich das Feuer rasend schnell in der ganzen Fabrikhalle aus.

„Und das ist für dich, du Bastard. Wir sehen uns beide in der Hölle wieder.“

Trauer

„Rächt euch nicht selber, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein, ich werde vergelten, spricht der Herr.“
 

Bibel, Römer 12.19
 

Es hatte eine Weile gedauert, bis Sam und Morphius den Aufenthaltsort von Araphel herausgefunden hatten. Wie sich herausgestellt hatte, war er unter einem falschen Namen ins Paradise Hotel abgestiegen und als sie dort eingetroffen waren, hatte der Mafiaboss schon längst wieder das Hotel verlassen. Durch Sams Geschick konnten sie sich dennoch Zutritt zu seinem Zimmer verschaffen und nachdem sie trotz intensiver Suche nichts gefunden hatten, wo Araphel hingegangen sein könnte, hatte Morphius dann doch den Einfall gehabt, Roy den Chauffeur anzurufen und ihn zu fragen. Der Informant schaffte es, durch ein wenig Redegewandtheit herauszufinden, dass Araphel in der Bridge Street war. Mehr wüsste der Chauffeur nicht, da er ihn schon am Anfang der Straße abgesetzt hatte und danach wieder zurückfahren musste. Nun, damit stand für Sam alles fest: die alte Fabrik. Das war der ideale Treffpunkt, wenn man eine letzte Konfrontation durchführen wollte und die Polizei dabei möglichst wenig mitbekommen sollte. Also waren sie zur Bridge Street gefahren. Inzwischen war es schon dunkel geworden und die Uhr zeigte auch schon, dass es bereits nach 21 Uhr war. Morphius saß auf dem Beifahrersitz und stand kurz davor, sich noch eine Zigarette anzuzünden. Doch dann murmelte er ein kurzes „Ach scheiß drauf“, kurbelte das Fenster herunter und warf die Zigarette mitsamt der Schachtel hinaus auf die Straße. Sam sah dies aus den Augenwinkeln und erkundigte sich „Ist dir die Lust zum Rauchen vergangen?“

„Wird Zeit, dass ich mal aufhöre. Ich meine… Yu-chan wird mir den Kopf abreißen, wenn ich in der Nähe unserer kleinen Prinzessin qualme. Irgendwie ist es schon ein komisches Gefühl zu wissen, dass alles bald vorbei ist. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an und es schien kein Ende nehmen zu wollen. Und dann soll alles so plötzlich einen Abbruch finden, weil Araphel beschließt, zusammen mit Shen zu sterben. Das sieht ihm wirklich ähnlich…“

„Hoffentlich können wir ihn zur Vernunft bringen“, murmelte Sam und bog auf die Colton Street ein. „Aber so wie ich ihn inzwischen kenne, ist er ein absoluter Sturkopf, der sich rein gar nichts sagen lassen wird.“

„Ja und die Frage ist, was wir dann tun sollen.“

„Lieber erschieße ich Shen selber. Dann gibt es keinen Mafiakrieg in Boston und ich könnte nach Kanada oder Mexiko auswandern, wo die Triade mich nicht findet. Ist zwar auch nicht das, was ich mir unter Gerechtigkeit vorstelle, aber es bringt nichts, diesen Psychopathen wieder verhaften zu wollen. Solange keine neuen Beweise geliefert werden können, darf Shen nicht noch mal für dieselben Verbrechen angeklagt werden. Und solange er auf freien Fuß ist, ist niemand von uns sicher.“

Morphius betrachtete Sam mit seinem Blick, der stets etwas von dem eines mürrischen Katers hatte und dachte nach. Ihm war nicht entgangen, wie sich Sam verändert hatte. Zu Anfang, als er ihn kennen gelernt hatte, war Sam ein idealistischer und fast schon naiver Trottel gewesen, doch nun erkannte dieser so langsam, wie vertrackt die Situation in Wirklichkeit war. Und er hatte vor allem gemerkt, wie stark die Verbindung zwischen ihm und Araphel war. Dabei stellte er sich auch besonders die Frage, ob Araphel diese drastische Entscheidung deshalb getroffen hatte, weil seine Sorge so groß war, Sam zu verlieren. Oder steckte vielleicht etwas anderes dahinter? Welche Gedanken hatte sich Araphel gemacht und wie viel wusste Victor Camorra davon? Morphius war nicht blöd. Der Patriarch hatte sich ja wohl kaum zum Spaß umbringen lassen. Nein, er hatte darauf abgezielt, dass sein Sohn Araphel aktiv im Kampf gegen die Triade unterstützte. Und nun war nun die Preisfrage, ob Sergej wohl weitere Pläne gehabt hatte. Die Ermordung der Unterbosse zum gleichen Zeitpunkt war ein Schachzug gewesen, den es zuletzt bei Stephen Mason gegeben hatte. Sie wurde von manchen auch das Corleone-Manöver genannt und von alleine wären wahrscheinlich weder Araphel noch Victor darauf gekommen. Nein, es sah eher danach aus, als hätte der Patriarch diese Idee gehabt. Nur der Zeitpunkt der Durchführung war Victor und Araphel überlassen worden. Und gemäß dem Fall, dass es so war, dann fragte er sich, ob Sergej wohl auch mit einkalkuliert hatte, wie es enden würde. Nämlich dass Araphel sterben würde. Ob er das wirklich zugelassen hätte? Das wäre nur schwer vorstellbar, vor allem weil Morphius von dem Versprechen wusste, dass Sergej sich um Araphel kümmern würde.

Als sie schließlich die Fabrikhalle in der Bridge Street erreichten, sah Sam schon von der anderen Straßenseite, dass es in der Fabrik brannte. Schwarzer Rauch quoll aus den Fenstern und verdeckte den sternbedeckten Himmel.

„Morph, es brennt!“ rief er und stieg aus dem Wagen. Er rannte los, so schnell ihn seine Beine trugen und wurde von einer entsetzlichen Angst ergriffen, wobei ihm tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Was, wenn Araphel noch da drin war? Warum brannte es überhaupt in der Fabrik? Was war passiert und war da noch jemand drin?

„Araphel!“ rief er und eilte in Richtung Haupteingang. Dort sah er einen jungen Mann im Anzug, den er schon mal gesehen hatte. Es war Victor Camorra. Sam rannte zu ihm hin, Morphius folgte ihm. Als Victor die beiden sah, wirkte er überrascht und er fragte auch „Was macht ihr denn hier?“, doch Sam ließ die Frage unbeantwortet, sondern wollte wissen „Wo ist Araphel und warum brennt es in der Fabrik? Was ist passiert?“

„Ihr solltet besser gehen. Das ist zu gefährlich.“

„IST ARAPHEL DA DRIN, VERDAMMT NOCH MAL?!“

Victor seufzte und gab ein „ja“ zur Antwort. Er wollte noch etwas erklären, doch Sam wollte nichts mehr hören und lief zum Haupteingang. Als er die Tür aufriss, schlug ihm eine infernalische Hitze entgegen und er musste zurückweichen, als ihm auch schon Flammen entgegenschlugen. Es brannte bereits überall. Überall war Feuer und Sam sah mit Entsetzen, wie schlimm es bereits war. Doch seine Angst um Araphel war so groß, dass er trotzdem in den Flammenherd hineingelaufen wäre, wenn Morphius ihn nicht festgehalten hätte.

„Bist du verrückt?“ rief der Informant. „Du kannst da nicht reingehen, das ist zu gefährlich.“

„Aber Araphel ist noch da drin.“

Sam wehrte sich nach Leibeskräften und schaffte es, sich loszureißen und rannte los. Er legte seine Jacke schützend über den Kopf, um sein Haar zu schützen und lief geduckt, um nicht zu viel von dem Rauch einzuatmen. Überall hörte er es lodern und knistern. Es war, als würde die Hölle auf Erden toben. Eine mörderische Hitze herrschte in der Fabrikhalle.

„Araphel!“ schrie er durch den Lärm der Flammen. Er lief weiter, doch die Hitze war unerträglich. Selbst die Luft, die er einatmete, brannte in seinen Lungen. Überall breitete sich das Feuer aus und etwas weiter weg sah er jemanden liegen. Es war Shen, der blutüberströmt und regungslos auf dem Boden lag, während die Flammen an seinen Kleidern zu zehren begann. Offenbar war er schon tot, oder durch den hohen Blutverlust ohnmächtig geworden. Doch wo war Araphel? Sam rief weiter nach ihm und tatsächlich konnte er etwas weiter weg noch jemanden liegen sehen. Allerdings musste er seine Augen anstrengen, denn durch den vielen Rauch war es kaum möglich, überhaupt noch irgendetwas zu sehen. Außerdem tränten seine Augen durch die Hitze und den vielen Qualm, durch den er auch noch einen heftigen Hustenanfall bekam. Das Gesicht konnte er nicht erkennen, nur eine groß gewachsene männliche Person mit schwarzem Haar, die einen Anzug trug. Sie lag auf den Bauch und schien bewusstlos zu sein. Araphel, schoss es Sam durch den Kopf. Das musste Araphel sein. Sofort wollte er zu ihm hin, da gab es eine Explosion und ein Feuerball schoss in Sams Richtung. Jemand packte ihn und riss ihn rechtzeitig zurück, bevor das Feuer ihn erwischen konnte. Es war Morphius.

„Sam, wir müssen raus!“ rief er und versuchte ihn mit sich zu zerren, doch der Detektiv rührte sich nicht von der Stelle.

„Das geht nicht“, versuchte er zu erklären. „Araphel liegt dort. Wir müssen…“

„Sam… da ist überall Feuer. Wir können nicht zu ihm.“

Es stimmte leider. Überall war Feuer und es breitete sich immer weiter aus. Doch Sam wollte Araphel nicht zurücklassen, nicht nachdem er in fast greifbarer Nähe war. Doch letzten Endes schaffte er es nicht, sich gegen Morphius durchzusetzen. Überall zersprangen die Fenster und alte Tonnen und Kanister explodierten unter der infernalischen Hitze. Wenn sie nicht sofort von hier verschwanden, würden sie hier ebenfalls sterben. Schweren Herzens folgte Sam dem Informanten und gemeinsam eilten sie wieder nach draußen. Es gelang ihnen im letzten Moment, die Fabrik zu verlassen, bevor der Ausgang endgültig durch die Flammen versperrt wurde. Kalte Nachtluft wehte ihnen entgegen und kühlte ihre Haut. Sam wankte die letzten Schritte noch, dann geriet er ins Stolpern und musste von Morphius gestützt werden. Er rang nach Luft, hustete mehrmals und musste seinen Inhalator zur Hilfe nehmen, doch sonderlich Linderung brachte es nicht. Er hatte so viel Rauch eingeatmet, dass er sich wahrscheinlich eine Rauchvergiftung zugezogen hatte.

„Sam“, keuchte Morphius, dem es kaum besser ging. „Jetzt mach nicht schlapp, okay. Komm schon…“

Doch der Detektiv spürte, wie sich seine Brust zusammenschnürte. Schwindel, Benommenheit, Schmerz und Verzweiflung überkamen ihn und er spürte nur, wie Tränen seine Wangen hinunterliefen. Er war zu spät gekommen. Er hatte es nicht geschafft, Araphel zu retten.
 

Die Feuerwehr traf kurze Zeit später ein und versuchte dem Brand entgegenzuwirken. Doch das Feuer war bereits zu groß und so beschlossen sie, wenigstens dafür zu sorgen, dass das Feuer nicht auf Nachbargebäude übergreifen konnte. So brannte die alte Fabrik bis auf die Grundmauern nieder und der Brand rief die Polizei und auch viele Schaulustige herbei. Ein Notarztwagen traf ein und Sam und Morphius wurden mit einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus gebracht. Da diese aber nicht allzu gravierend war, konnten sie am nächsten Tag wieder entlassen werden. Agent James und ihr Partner Agent Kazan kamen ins Krankenhaus, um zu erfahren, was das alles sollte und wieso sie abgehauen waren. Sam, der noch unter Schock stand und nicht aufhören konnte zu weinen, war außer Stande, ihnen eine vernünftige Antwort zu geben. Erst Morphius erzählte, was sie herausgefunden hatten und was sie vorgehabt hatten. Während Agent James immer noch ein wenig wütend zu sein schien, zeigte Agent Kazan deutlich mehr Mitgefühl, vor allem Sam gegenüber, der sich schwere Vorwürfe machte. Er war es auch, der schließlich erzählte, dass die Feuerwehr zwei Leichen aus der Fabrikhalle geborgen hatte. Allerdings seien die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und es war fraglich, ob eine Autopsie mehr Informationen über die Identität der Opfer liefern konnte. Doch Sam schüttelte nur traurig den Kopf und sagte „Es waren Shen und Araphel. Ich habe es gesehen.“

„Dann wären also alle drei großen Bosse tot“, stellte Agent Kazan etwas nüchtern fest und wandte sich an seine Partnerin. „Ich frage mich, ob dies auch dann das Ende der Triade ist.“

Wenige Tage später, als die Autopsie an den Leichen durchgeführt worden war, erfuhr Sam die genauen Details von Agent Kazan. Die beiden Leichen waren so verbrannt, dass sich weder DNA-Proben, noch Fingerabdrücke nehmen ließen. Lediglich an der Körperstatur ließ sich erkennen, dass es zwei männliche Leichen waren. Gebissabdrücke ergaben schließlich die genauen Ergebnisse, nämlich dass es sich bei den Toten tatsächlich um Araphel Mason und Shen Yuanxian handelte. Man fand zudem heraus, dass auf Shen mehrmals geschossen worden war. Auch in Araphels Kopf fand man ein Loch, was den Verdacht erweckte, dass er sich erschossen hatte, nachdem er das Feuer gelegt hatte. Auch die Waffe wurde sichergestellt, mit der geschossen worden war. Kaum, dass die Information draußen war, wurde es schlagartig ruhig in der Bostoner Unterwelt. Die Yanjingshe, die sowohl ihren Boss als auch sämtliche Unterbosse verloren hatte, stand ohne feste Hierarchie dar und war regelrecht hilflos. Ein Zustand, den das FBI für sich nutzte, um gegen die Mitglieder zu ermitteln. Die Mason-Familie zerfiel direkt nach der Verkündung von Araphels Tod und verlor ihre Macht in der Bostoner Unterwelt. Eine Zeit der Veränderung war angebrochen und das merkte jeder in der Stadt. Die Mason-Villa stand leer, wurde schließlich ausgeräumt und verkauft, da es niemanden mehr gab, der Anspruch auf einen Besitz erwirken konnte. Die verbrannten Überreste von Shen und Araphel wurden bestattet, ihre Tode von den Clans betrauert und bei Araphels Beerdigung fanden die letzten Überlebenden noch mal zusammen. Alle waren tief betroffen über den Verlust von Araphel. Am schlimmsten aber ging es Sam, der, als der Sarg in das Grab hineingelassen wurde, einen emotionalen Zusammenbruch erlitt und von Morphius und Dr. Heian beruhigt werden musste. Für ihn brach eine ganze Welt zusammen. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass Araphel tot war. Wäre er nur wenige Minuten früher gekommen, dann hätte er ihn retten können. Und da tröstete ihn auch die Tatsache nicht, dass Araphels Tod kurz und schmerzlos gewesen war und er keinen qualvollen Flammentod erleiden musste. Was spielte es für eine Rolle, wenn das grausame Schicksal ihm jenen Menschen genommen hatte, den er so sehr liebte? Nichts würde es ungeschehen machen und da tröstete ihn auch nicht die Tatsache, dass Araphel durch eine Kugel und nicht durch das Feuer gestorben war.

Nachdem er noch ein paar Tage in der Mason-Villa gewohnt hatte, war er in sein eigenes Apartment zurückgekehrt, welches schon so lange nicht mehr betreten worden war. Seine stets unaufgeräumte und enge Junggesellenbude. Seine Familie kam ihn besuchen und wollte natürlich wissen, wo er denn gewesen war und wieso er sich so lange nicht mehr gemeldet hatte. Doch er wollte nicht darüber sprechen. Stattdessen schloss er sich die meiste Zeit zuhause ein, lag im Bett und trauerte. Selbst sein Kater Sokrates konnte ihn nicht auf andere Gedanken bringen. Es schien, als hätte ihn jegliche Hoffnung und jeder Lebenswille gänzlich verlassen und er brachte es nicht einmal fertig, sich um den Haushalt zu kümmern, einzukaufen oder etwas zu essen. Er wollte nichts zu sich nehmen. Alles war ihm gleichgültig geworden. Araphel war tot und er hatte es nicht mal geschafft, ihn zu retten.

Wahrscheinlich wäre Sam noch endgültig vor die Hunde gegangen, hätten sich Morphius und Dr. Heian nicht um ihn gekümmert. Sie machten sich große Sorgen um ihn und versuchten, ihm irgendwie beizustehen, ihn zu trösten und irgendwie wieder aufzubauen. Als sie ihn vorfanden, befand sich Sam bereits in einem besorgniserregenden Zustand. Er hatte in den wenigen Tagen stark abgebaut, war ungepflegt und seine Wohnung ein unaussprechliches Chaos. Dr. Heian hatte daraus die Konsequenz gezogen, sich seines Patienten anzunehmen und setzte sich mit Strenge und Unnachgiebigkeit gegen Sams schwere Depression durch. Und er unterband auch den Konsum von Alkohol, der ebenfalls stark angestiegen war.

Um ihn besser im Auge zu haben, hatte er beschlossen, dass sie Sam erst mal in ihrer Wohnung einzuquartieren, die sie übergangsweise bezogen hatten. So schlief der Detektiv bei den beiden auf der Couch, doch die meiste Zeit verbrachte er nur damit, einfach nur untätig da zu liegen und sich seiner Trauer hinzugeben.

„Wäre ich doch nur fünf Minuten eher da gewesen, ich hätte ihn vielleicht retten können“, sprach er zum gefühlten tausendsten Male. „Wieso nur habe ich ihn nicht retten können? Ich war doch fast bei ihm.“

„Er war schon tot gewesen, als du in die Halle kamst“, erklärte Morphius. „Du hast doch gehört, was Agent Kazan gesagt hat. Er hat sich in den Kopf geschossen und ist gestorben.“

Doch Sam wollte das nicht so wirklich glauben. Es hatte für ihn so ausgesehen, als wäre Araphel bewusstlos gewesen.

„Aber ich habe kein Blut gesehen“, wandte er ein. „Die müssen sich geirrt haben!“

„Es war alles voller Feuer und Rauch, man hat da eh kaum etwas erkennen können. Hey, Araphel hätte nicht gewollt, dass du dich so gehen lässt. Du lebst noch und er hat all das auf sich genommen, weil er dich und uns beschützen wollte.“

Doch Sam war wie taub für diese Worte. Immer und immer wieder redete er sich ein, dass er Araphel hätte retten können, wenn er nur ein bisschen früher in der Fabrik gewesen wäre. Da sich keine Besserung einstellen wollte, zog Dr. Heian die Reißleine und verschrieb ihm ein Antidepressivum und Sam nahm es erst, nachdem der Arzt ihm mehr als deutlich klar gemacht hatte, dass er ihm das Mittel ansonsten gewaltsam verabreichen würde. Und tatsächlich stellte sich eine kleine Besserung ein, als Sam das Mittel nahm.

Am Abend saß Sam gemeinsam mit Dr. Heian in der Küche, während Morphius unterwegs war, um neue Informationen zu sammeln. Während Sam am Tisch saß und einen Tee trank, nachdem er sein Antidepressivum genommen hatte, stand der Arzt am Herd und bereitete das Essen zu. Mit einem schwermütigen Blick starrte Sam auf den bewölkten Himmel und dachte nach. Schließlich fragte er „Wie geht es eigentlich mit euch beiden weiter?“

„Tja, wir werden wohl von hier wegziehen“, gestand Dr. Heian. „Makoto und ich sind der Meinung, dass es besser ist, wenn wir Boston zusammen mit unserer Tochter verlassen. Hier sind zu viele schlimme Dinge passiert und es hängen zu viele schlechte Erinnerungen an diesem Ort. Wahrscheinlich werden wir nach San Francisco ziehen und dort einen Neuanfang machen.“

Einen Neuanfang… Vielleicht sollte er das auch tun. Man sagte ja, dass die Arbeit helfe, Trauer zu verarbeiten, aber wenn er ehrlich war, bezweifelte er, dass er momentan die Kraft aufbringen konnte, wieder seiner Arbeit als Detektiv nachzugehen. Er verband zu viele Erinnerungen an Araphel damit. Zwar hatte er ihm mal gesagt gehabt, dass er nach Shen auch ihn zur Strecke bringen würde, aber er hatte niemals gewollt, dass es darauf hinauslaufen würde, dass beide tot waren. Und wieder stellte sich diese quälende Frage, wie viel Schuld er wohl an Araphels Tod trug. Es erschien ihm einfach so unwirklich. Araphel war ein Kämpfer, er war der Bostoner Löwe! Wieso also sollte er sich denn einfach eine Kugel durch den Schädel jagen? Das passte doch nicht zu ihm. Aber vielleicht wollte er sich das ja auch einfach nur einreden, weil er nicht akzeptieren wollte, dass Araphel für immer fort war. Und selbst wenn er sich keine Kugel durch den Schädel gejagt hatte und stattdessen an der Rauchvergiftung gestorben oder lebendig verbrannt wäre, was hätte es an der Tatsache geändert, dass er tot war? Araphel war fort und nichts und niemand würde ihn je wieder zurückbringen. Das war eine bittere Tatsache, die Sam schweren Herzens akzeptieren musste.

„Ich habe ihn geliebt“, sprach er mit trostloser Stimme.

„Ja“, bestätigte Dr. Heian ruhig. „Und er hat dich auch sehr geliebt.“

Sams Reise

„Wenn Rache unmoralisch ist und verboten gehört, müsste jeder Richter sein Amt niederlegen.“
 

Unbekannt
 

Die Tage vergingen und nachdem der Tod von Shen und Araphel in ganz Boston die Runde gemacht hatte, gab es neue Kämpfe um die frei gewordenen Posten der Nummer eins und zwei der Unterwelt. Dabei trat insbesondere eine junge Frau, die den Namen Evangeline Whitmore trug und die als einziger weiblicher Mafiaboss für großes Aufsehen erregte. Wer sie gesehen hatte, beschrieb sie als der Inbegriff einer Femme fatale. Schön und gefährlich zugleich. Nachdem die Mason-Familie zerfallen war, riss sie sich kurzerhand sämtliche Schwarzmarktgeschäfte unter den Nagel und auch am Glücksspiel schien sie geschäftlich sehr interessiert zu sein. Man sah sie, wenn überhaupt, immer in Begleitung zweier Bodyguards. Wahre Monstren mit Armen so dick wie Baumstämmen. Sie war die Tochter eines Drogenbosses, der großen Einfluss in diesem Milieu besaß. Auch in Chinatown tat sich etwas, als nämlich ein Chinese namens Kim Long ins Gespräch kam und man vermutete zunächst, dass er die Führung der Triade übernehmen würde. Aber durch die unzähligen Festnahmen und Razzien durch die Polizei und das FBI bekam die chinesische Mafia kaum noch ein Bein auf den Boden. Was Sam betraf, so versuchte er wieder seiner Arbeit nachzugehen, doch es fiel ihm schwer, nach allem wieder Kraft zu finden, um wieder in seine Arbeit als Detektiv zurückzukehren. Das alles weckte so viele Erinnerungen an die Zeit, die er mit Araphel verbracht hatte. Inzwischen ging es ihm ein klein wenig besser, zumindest vegetierte er nicht mehr gänzlich vor sich hin, doch es gab für ihn Ungereimtheiten, die ihm nicht aus den Kopf gingen. Er konnte es sich partout nicht vorstellen, dass Araphel sich einfach eine Kugel durch den Kopf schießen würde, nachdem er Shen erschossen hatte. Das passte einfach nicht zu ihm. Er war ein Kämpfer gewesen und er hätte niemals so ein Ende ausgewählt, weil es einfach nicht seine Art war, einen so feigen Tod zu sterben. Viel eher hätte Sam es ihm zugetraut, dass er bereitwillig in den Flammen verbrannt wäre. Auch sonst war er sich sicher gewesen, dass er Araphel zwar hatte am Boden liegen sehen, aber er konnte sich nicht erinnern, auch Blut gesehen zu haben. Schön und gut, seine Augen waren durch den vielen Rauch nicht in der Lage gewesen, alles zu sehen und sie hatten auch ziemlich getränt, aber er hatte definitiv kein Blut gesehen! Dieser Gedanke wurde zur fixen Idee bei ihm und er begann diesen Gedanken weiterzuführen und fragte sich schließlich eines: wie leicht war es, Dokumente beim Zahnarzt zu manipulieren? Die Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, selbst eine DNA-Analyse war unmöglich gewesen, lediglich über die Gebissanalyse hatte man feststellen können, wer die Toten waren. Aber war es denn nicht möglich, dass man die Dokumente manipuliert oder vertauscht hatte und ein Fehler vorlag? Sam begann immer mehr zu zweifeln, denn es gab in seinen Augen einfach zu viele Ungereimtheiten. Und so begann er schließlich weiter nachzuforschen. Nachdem er Agent Kazan, der einen wesentlich kulanteren Eindruck machte als seine Partnerin, ein wenig bearbeitet hatte, hatte er schließlich sämtliche Tatortfotos in seiner Wohnung, die er sich an die Wand klebte und sammelte dazu alles, was er an Informationen hatte. Zwar sprach wirklich alles dafür, dass Araphel tot war, aber er konnte es einfach nicht akzeptieren. Dieses eine kleine Detail, dass der Mafiaboss sich selbst erschossen hatte, passte in seinen Augen einfach nicht. Die Waffe hatte man gefunden. Es war eine Walther PPS Police 9mm x 19, eine beliebte Polizeiwaffe mit maximal acht Schuss. Sam begann zu rechnen. An Shens Leiche waren fünf Stellen gefunden worden, wo er angeschossen worden war. Dann wären also drei Kugeln übrig geblieben. Zwei weitere Einschusslöcher hatte man an zwei Fässern gefunden, in denen offenbar Benzin gewesen war. Gemäß der Vermutung, Araphel hätte also acht Schuss gehabt und mehr nicht, dann hätte er also noch einen Schuss übrig gehabt. Sam ging alles ausnahmslos durch und versuchte angestrengt, die letzte Kugel zu finden, die Araphel abgefeuert hatte. Er war sich sicher, dass Araphel nicht bloß einmal auf Shen geschossen und dann gleich getroffen hätte. Nein, dazu war dieses Monster viel zu flink gewesen, selbst mit dem lädierten Knie.

Immer mehr steigerte er sich in seine Idee hinein, dass da etwas nicht ganz mit rechten Dingen zugelaufen war. Es gab irgendwo ein kleines, aber feines Detail, was die Polizei übersehen haben musste. Sie kannten Araphel nicht, er hätte sich niemals erschossen. Er sprach mit Morphius und Dr. Heian darüber, aber diese hielten sich zurück, da sie Sorge hatten, Sam könnte sich falsche Hoffnungen machen. Sie selbst wussten nicht so recht, was sie darüber denken sollten. Natürlich hatte es sie verwundert, dass Araphel sich einfach erschoss, aber andererseits hatte für den Mafiaboss bereits festgestanden, dass er sterben würde. Wenn er weitergelebt hätte, dann hätte er die Vendetta der Yanjingshe nicht abwenden können. Es sprach einiges dafür und auch einiges dagegen, so war der Tatbestand.

Schließlich bekam er Besuch. Es war Morphius, der inzwischen seinen Decknamen abgelegt hatte und sich wieder bei seinem richtigen Namen Makoto nennen ließ. Er hatte seine kleine Tochter Kaguya bei sich. Ein zweijähriges kleines Mädchen mit schwarzem Haar, großen schwarzen Augen und einem hübschen blauen Kleidchen. Sie hatte ihre kleinen Fingerchen in die Hose ihres Vaters gekrallt, um sich an ihm festzuhalten.

„Tagchen, Sam“, grüßte der 30-jährige, der eine Tüte bei sich hatte. „Sorry, dass ich die Kleine mitbringen musste, aber Yu-chan ist nach San Francisco geflogen, um dort eine Wohnung zu besichtigen und ich muss halt auf sie aufpassen.“

„Ist doch kein Drama, kommt doch rein.“

Sam führte die beiden ins Wohnzimmer. Für Makoto machte er einen Kaffee, die kleine Kaguya brauchte nichts, da ihr Vater vorsorglich ihr Lieblingsgetränk eingepackt hatte. Es war glücklicherweise nicht ganz so chaotisch, nachdem Sam mal wieder aufgeräumt hatte. Trotzdem lagen noch ein paar Fotos herum, die er schnell wegräumte, denn sie waren für das kleine Mädchen überhaupt nicht geeignet.

„Irgendwie ist es schon komisch, dass ihr bald wegzieht“, seufzte Sam und nahm auf dem Sessel Platz. Makoto nahm seine Tochter auf den Schoß, die sich ihrerseits mit einer Stoffpuppe beschäftigte. „Ich meine, wir sind ja alle recht zusammengewachsen und nun…“

„Ja ich weiß, aber… manche Dinge ändern sich halt und nach den ganzen Dingen, die geschehen sind, glaube ich nicht, dass Boston der beste Ort für unsere Tochter ist. In San Francisco wollen wir dann einen Neuanfang machen, eventuell mal heiraten und ein Leben als Familie beginnen. Araphel hatte uns vor unserem Rausschmiss aus der Villa Geld hinterlassen, damit wir uns in San Francisco ein neues Leben aufbauen können. Yu-chan arbeitet schon daran, dass er Arbeit findet. Sein größter Traum ist es ja, Kinderarzt zu werden.“

„Kinderarzt?“ fragte Sam erstaunt.

„Ja, er ist total verrückt nach Kindern.“

„Merkt man ihm gar nicht so an. Er kommt immer so kühl und distanziert rüber.“

„Ach der tut nur so. Er ist ein waschechter Tsundere und wirkt zwar ruppig, aber er ist ein absoluter Romantiker und liebt kleine Kinder über alles. Darum habe ich ja damals alles versucht, damit wir ein Kind bekommen. Und jetzt haben wir unsere kleine Kaguya, nicht wahr?“

Das Mädchen lachte, als Makoto sie scherzhaft zu kitzeln begann. Inzwischen war dieser Blick, der immer etwas von einem mürrischen Stubenkater hatte, gewichen und Makoto wirkte im Allgemeinen befreiter als sonst. Wahrscheinlich weil die Aussicht auf ein besseres und sorgloseres Leben ihm Hoffnung gab.

„Ich war vorhin übrigens im Krankenhaus“, fuhr der Informant fort. „Bonnie liegt nach wie vor im Koma und die Chancen stehen nicht zum Besten, dass sie so schnell wieder aufwacht. Aber Harvey ist inzwischen überm Berg. Als ich ihm erzählt habe, dass alles vorbei ist, war er wahnsinnig erleichtert und Agent James war auch schon im Krankenhaus, um ihn zu besuchen. Er wird wohl nächsten Monat aus dem Krankenhaus entlassen und Chris ist immer noch ziemlich am heulen, dass man echt glauben könnte, Harvey hätte das Zeitliche gesegnet. Und wie geht es dir?“

„Ich arbeite immer noch an meinem Fall. Ich bin mir sicher, dass ich irgendetwas übersehen habe.“

„Sam…“, seufzte Makoto und schüttelte den Kopf, doch der Detektiv wollte sich nicht beirren lassen.

„Was, wenn Araphel seinen Tod nur vorgetäuscht hat und gar nicht verbrannt ist? Ich bin mir sicher, dass er sich gar nicht in den Kopf schießen konnte. Dazu hatte er nicht genug Kugeln.“

„Er hätte das Magazin wieder auffüllen können.“

„Aber als ich ihn da liegen sah, habe ich weder sein Gesicht deutlich genug gesehen, noch war da irgendwo Blut!“

„Es war alles voller Feuer und Rauch gewesen und die Polizei konnte ihn anhand der Zahnabdrücke identifizieren.“

„Wenn man die Dokumente beim Zahnarzt manipuliert, kann man auf diese Weise seinen Tod vortäuschen. Ich bin mir sicher, dass da irgendeine Ungereimtheit ist. Nenne es ein Gefühl von mir, aber etwas stimmt da einfach nicht.“

Makoto sah ihn ein wenig besorgt an, sagte aber nichts mehr dazu. Stattdessen trank er seinen Kaffee aus, setzte seine Tochter ab und stand auf. Dabei stellte er Sam die Tüte auf den Tisch.

„Du gehst wieder?“ fragte der Detektiv überrascht. Hierauf erklärte der Informant ihn, dass er mit Kaguya noch zum Arzt musste. Dabei fügte er noch hinzu „Das ist übrigens für dich. Als Yu-chan und ich in der Villa unsere letzten Sachen abholen waren, kam Victor zu Besuch und meinte, das wäre von seinem Vater. Es ist für dich. Offenbar hatte der Alte wohl Gefallen an dir gefunden und wollte dir eine Aufmerksamkeit schicken, hatte es aber wohl nicht mehr schaffen können. Ich dachte, ich bringe es dir eben vorbei.“

„Äh danke, Makoto. Grüß den Doc von mir, ja?“

Hier stutzte der 30-jährige, als er das hörte. Sam hatte Dr. Heian nie „Doc“ genannt. Die einzige Person, die das je getan hatte, war… Christine. Und das gab ihm nur noch mehr Anlass zur Sorge.

„Sam… machst du dir immer noch Vorwürfe wegen Christine?“

Der Detektiv schüttelte den Kopf und erhob sich, um Makoto zur Tür zu begleiten. Seine eisblauen Augen hatten etwas Melancholisches angenommen, was in der letzten Zeit öfter bei ihm zu sehen war.

„Nein, aber ohne sie wäre ich wahrscheinlich jetzt nicht hier. Sie hat mir das Leben gerettet und sie war die beste Freundin, die man sich wünschen kann. Ich möchte halt nicht vergessen, wer sie für mich und für alle anderen war, deshalb möchte ich ihr Andenken auch in Ehren halten. Den Fury habe ich in meiner Garage sicher untergebracht und ich denke mir halt: wenn ich wenigstens etwas von ihr weiterleben lassen kann, dann verschwindet sie auch nicht endgültig aus dieser Welt.“

„Ja, da hast du wohl Recht. Und ich bin mir sicher, sie wäre sehr stolz darauf, wenn sie wüsste, dass wir leben und es uns gut geht. Na dann… man sieht sich. Yu-chan und ich werden uns auf jeden Fall melden.“
 

Sam kehrte wieder ins Wohnzimmer zurück und widmete sich nun der Tüte, die Makoto dagelassen hatte. Nun packte ihn die Neugier und er wollte es wissen. Was hatte der Patriarch ihm denn schicken wollen? Sam holte ein Paket heraus, auf dem das Wort „Zerbrechlich“ stand. Es war gut und gerne einen Kilo schwer und als er es vorsichtig auspackte, entpuppte sich der Inhalt als eine Flasche Rotwein, eingebettet in Schaumstoff, damit sie perfekt lag und nicht zerbrechen konnte. Etwas überrascht runzelte Sam die Stirn und fragte sich, was der Patriarch wohl im Sinn gehabt hatte, ihm eine Flasche Rotwein zu schicken. Nun, vielleicht war es ja eine Art freundschaftliche Geste, weil er mit Araphel zusammen gewesen war und der Patriarch in diesen eine Art Sohn sah. Und wenn sich Sam richtig erinnerte, hatte Sergej ja zur Hälfte italienische Wurzeln. Da sah es einem Italiener doch ähnlich, als Geschenk eine Flasche italienischen Rotwein zu schicken. Wahrscheinlich war es seine Art zu sagen, dass er ihn als wichtigste Person in Araphels Leben akzeptierte und respektierte. Nachdenklich betrachtete Sam die Flasche und bemerkte, dass das Etikett sehr schön war. Es zeigte einen geflügelten schwarzen Löwen, der wahrscheinlich das Zeichen des Weingutes war. So ein ähnliches Motiv kannte Sam, nämlich den Leone d’Oro, der in Venedig beim Filmfestival verliehen wurde. Nun, da ja nichts mehr an Arbeit für heute anstand, beschloss Sam, die Flasche zu öffnen. Diese hatte sogar noch den guten alten herkömmlichen Korken. Eben ein echt italienischer Wein. Aus dem Schrank holte der Detektiv schließlich den Korkenzieher, entkorkte die Flasche und schenkte sich ein Glas Wein ein. Zwar war er kein Weinkenner, aber er musste zugeben, dass der Wein wirklich gut war. Jedenfalls schmeckte er tausend Mal besser als die Weine aus dem Supermarkt. Wahrscheinlich war es eine ziemlich teure Flasche, das hätte er dem Patriarchen noch zugetraut. Als er sich noch ein Glas einschenkte, wanderte sein Blick immer wieder auf das Etikett. Ein seltsamer Gedanke begann sich in ihn zu regen. Konnte es vielleicht sein, dass Sergej etwa so weit gedacht hatte und es tatsächlich möglich war? Sollte er auf sein Gefühl vertrauen? Nun, es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Er musste einfach seinem Gefühl nachgehen und sich Gewissheit verschaffen. Also holte Sam seinen Laptop aus dem Schlafzimmer, schaltete ihn an und begann nach einem direkten Flug nach Italien zu suchen. Er hatte Glück. Er konnte ein Ticket für einen Nachtflug nächste Woche buchen und versuchte herauszufinden, wo das Weingut lag, von wo der Wein herstammte. Doch das war nicht ganz einfach und es kostete ihn eine ganze Weile, bis er die Information erhielt, dass es sich um ein Weingut in der Toskana handelte. Schließlich, als er eine Woche später seinen Flug antrat, begann für ihn eine kleine Odyssee. Denn sein Problem war, dass er kein einziges Wort Italienisch sprach und es nicht viele gab, die ihn auch gut verstanden. Manche sprachen zwar Englisch, aber manchmal hatte Sam große Schwierigkeiten, etwas aus diesem gebrochenen Englisch herauszufiltern. Nachdem er eine Nacht in einem billigen Motel verbracht hatte, fuhr er mit dem Zug weiter in die Toskana, wo er sich einen Wagen mietete und im Ort herumfragte. Dabei zeigte er ihnen auch die Flasche mit dem Etikett, auf denen der schwarze Löwe abgebildet war. Aber wie sich schnell herausstellte, konnten die Leute nicht viel damit anfangen. Einige Male wurde er auch in eine völlig falsche Richtung geschickt, weil die Leute sich nicht ganz sicher waren, welches Weingut denn welchen Namen hatte. Es war eine fürchterlich frustrierende Suche und schließlich war Sam von der ganzen Sucherei müde und erschöpft und ging in ein Café, um etwas zu trinken. Er setzte sich auf die Terrasse, da es angenehm warm und sonnig war trotz der Tatsache, dass es bereits Oktober war. Sam bestellte sich einen Espresso, setzte sich und stellte die leere Weinflasche auf dem Tisch ab.

„Warum mache ich das eigentlich?“ fragte er sich laut und seufzte. Er war müde und der Frust steckte ihm in den Knochen. „Die ganze Zeit suche ich dieses gottverdammte Weingut, ohne einen wirklich triftigen Grund dafür zu haben, eine halbe Weltreise zu machen.“

Dabei musste er wohl so laut gewesen sein, dass es die Aufmerksamkeit eines anderen Gastes erregte, der sich neugierig zu ihm umsah.

„Amerikaner?“ erkundigte sich der Gast, der sich als ein etwas kurz geratener Italiener Anfang 30 mit dunkelbraunem Haar und Bart entpuppte, den man fast schon als Schönling bezeichnen konnte.

„Äh, ja“, bestätigte Sam, der ein klein wenig überrumpelt war. Der Italiener lächelte freundlich und reichte ihm die Hand zur Begrüßung und stellte sich als Antonio Giancomelli vor.

„Ich hörte, Sie suchen eine Weingut?“ erkundigte sich Antonio in einem fast schon fehlerfreien Englisch. Hieraufhin ließ er sich die Flasche zeigen, die Sam schon seit Tagen gefühlt 300 Leuten gezeigt hatte, die ihm aber nie so wirklich helfen konnten. Und als Sam ihm davon erzählte, nickte der Italiener verständnisvoll.

„Toskana hat viele Weingüter. Leute können sich da nicht gut merken, welche wo sind. Aber diese Weine hier kenne ich. Ist gute Wein hier, sehr gute! Il Leone Nero di Sassetta.“

„Il was?“ fragte Sam verständnislos und Antonio übersetzte es ihm.

„Der schwarze Löwe von Sassetta. Das ist die beste Wein von Toskana. Kleines Weingut, sehr schönes Ort!“

Nun regte sich wieder etwas in dem Detektiv. Wenn Antonio schon so gut davon sprach, musste er offenbar wissen, wo es lag.

„Sie wissen, wo das Weingut ist?“

„Si, meine Onkel Costa arbeitet dort. Es gehörte der Camorra-Famiglia, wurde dann aber verkauft. Die Weingut liegen in Sassetta, ist nicht sehr weit. Liegt fast an Meer. Ich fahre gleich hin, meine Onkel besuchen. Ich Sie gerne mitnehmen, Signore.“

Sam, der sein Glück kaum fassen konnte, nahm das Angebot gerne an und so gingen sie wenig später zu Antonios Wagen und fuhren nach Sassetta. Die Fahrt dauerte knapp eine halbe Stunde und in der Zeit fragte der Italiener natürlich nach, was Sam denn auf dem Weingut wollte. Doch so ganz war sich der Detektiv nicht sicher, was er antworten sollte, denn im Grunde war er einfach nur aus einem Gefühl heraus hierhergereist in der Hoffnung, dass das Unmögliche vielleicht doch möglich war.

„Ich dachte mir, ich könnte dort jemanden finden, den ich vor kurzem verloren habe.“

„Und diese Person sollen auf die Weingut sein?“

„Keine Ahnung. Alles, was ich als Anhaltspunkt habe, ist diese Flasche, die mir von einem Bekannten zugeschickt wurde. Und Sie sagten, das Weingut gehörte der Camorra-Familie?“

„Si“, bestätigte Antonio. „Meine Onkel Costa sagte, die Camorras sind eine sehr große Famiglia. Leben sogar in Amerika.“

„Ja. Ich kannte da jemanden, der hieß Sergej. Er hat mir nach seinem Tod die Weinflasche zuschicken lassen.“

„Ah, il patriarca. Er kam oft mit seiner famiglia nach Sassetta. Meine Onkel mochte ihn sehr. Sagte, er spreche Italienisch wie eine Amerikaner, aber die Leute mochten ihn.“
 

Schließlich erreichten sie das Weingut, nach dem Sam seit Tagen vergeblich gesucht hatte. Es war, wie Antonio sagte, ein kleines Weingut, aber es hatte etwas sehr Heimeliges und Einladendes. Hinter einem Tor stand befand sich das Haus. Es war ein großes Gebäude in einem rustikalen toskanischen Stil mit Fensterläden in einem wunderschönen mediterranen Garten. Ein weiteres Haus stand nicht weit entfernt und dort wurden, wie Antonio erzählte, die Weinfässer gelagert. Teile der Hauswände waren mit Weinreben bewuchert und Sam staunte nicht schlecht. Er hatte ja schon einiges davon gehört, dass die Toskana sehr schöne Orte zu bieten hatte, aber dieses Weingut hatte wirklich etwas Verträumtes und Romantisches.

Er folgte Antonio zum Haupteingang, wo auch schon ein etwas älterer Mann herbeikam, dessen Haare schon zu ergrauen begannen, genauso wie sein Schnauzbart. Der Mann begrüßte Sam mit derselben italienischen Herzlichkeit und empfing Antonio mit einer Umarmung. Der Mann war dem Detektiv schon gleich sehr sympathisch. Er hatte diese Leidenschaft und Herzlichkeit eines typischen Italieners in seinem Blick und unterhielt sich angeregt mit Antonio in seiner Landessprache, sodass Sam kein einziges Wort verstand. Dann aber wandte sich der Antonio zu seinem Begleiter um und erklärte „Das ist meine Onkel Costa.“

Dann wandte er sich wieder seinem Onkel Costa zu und sprach mit ihm wieder auf Italienisch. Da das Wort „Americano“ fiel, ging Sam davon aus, dass Antonio seinem Onkel erklären wollte, wieso er hier war. Costa nickte und wandte sich dann Sam zu.

„Sie wollen unser Weingut besuchen?“ erkundigte er sich und nachdem er kurz überlegt hatte, nickte Sam, zeigte ihm die Flasche und erzählte ihm, dass er sie von Sergej Camorra erhalten hätte. Und allein der Name genügte, damit Costa mit seiner Erzählung begann.

„Die Camorra-Famiglia hat drei Weingüter hier in der Toskana“, erklärte er und Sam bemerkte sofort, dass Costa deutlich besser Englisch sprach als sein Neffe. „Dieses hier wurde aber von der Camorra-Famiglia verkauft. Wollen Sie eine Besichtigung machen?“

„Nicht ganz“, murmelte Sam und überlegte sich, wie er es am besten erklären konnte. „Ich hatte gehofft, hier jemanden zu finden. Sagen Sie, ist vielleicht jemand hier auf dem Weingut mit dem Namen Araphel Mason?“

Hier zog der alte Mann die Augenbrauen zusammen und schien verwirrt zu sein. „Raphael?“ fragte er nach.

„Nein, Araphel“, korrigierte Sam. „Er ist Amerikaner, ungefähr 1,90m groß, schwarze Haare, dunkle Augen und kräftig gebaut.“

Als der alte Mann den Kopf schüttelte und ihm erklärte, dass es hier keinen Mann mit dem Namen Araphel Mason gab, kehrte die Enttäuschung zurück. Es war auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Aber was hatte er denn erwartet? Die Chancen waren doch sowieso gleich null gewesen. Im Grunde war es eine absolute Schnapsidee gewesen, einfach aus einem Impuls heraus nach Italien zu fliegen und durch die halbe Toskana zu fahren und ein Weingut nach dem anderen abzuklappern.

„Es tut mir leid, Signore, aber ich kenne keinen Araphel. Der einzige Amerikaner, den ich hier kenne, ist Signore Liam J. Adams. Ihm gehört das Weingut. Vielleicht kann er Ihnen weiterhelfen. Er müsste noch draußen sein, wir sind nämlich mitten in der Weinlese. Antonio, bringst du ihn bitte zu Signore Liam? Vielleicht kennt er ja die Person, die dieser junge Mann sucht.“

„Mach ich, Onkel.“

Damit gingen sie durch den Garten und betraten das Weingut. Überall standen große Körbe, die mit Weintrauben gefüllt waren und die von Hilfsarbeitern auf kleine Transportwagen geladen wurden, damit sie woanders gepresst und der Saft dann in Fässern gelagert werden konnte. Sie gingen recht weit in das Weingut hinein, bis sie jemanden zwischen den vielen Weinreben fanden. Die Person stand mit den Rücken zu ihnen und trug einen Sonnenhut, ein schlichtes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Der Mann mit dem Sonnenhut hatte einen recht muskulösen Körper, der darauf schließen ließ, dass er sportlich aktiv war.

Antonio lief zu ihm hin und sprach ihn auf Italienisch an. Daraufhin sagte der Mann mit dem Sonnenhut etwas in gleicher Sprache zu ihm, woraufhin sich der Italiener verabschiedete. Sam blieb etwas zögerlich stehen, war sich in seinem Herzen noch etwas unsicher, ob seine Reise in einer Sackgasse enden würde oder nicht.

„Ich hörte, du wolltest was von mir wissen?“ fragte der Mann und wandte sich zu ihm um. Und als Sam sein Gesicht sah, da weiteten sich seine eisblauen Augen und für einen Moment vergaß er fast, was er fragen wollte. Beinahe versagte ihm sogar die Stimme, bis er sich dann aber fing und versuchte, etwas zu sagen. Doch als sich seine Augen mit Tränen füllten, da spürte er auch schon, wie sein ganzer Körper unter diesen starken Emotionen, die ihn überwältigten, zu beben begann und es ihm fast unmöglich war, zu sprechen, ohne dass seine Stimme zitterte. Doch gleichzeitig strahlte sein ganzes Gesicht unter den vielen Tränen und ein glückliches Lächeln, das von unsäglicher Freude und Erleichterung zeugte, zeichnete sich auf seine Lippen.

„Ja“, antwortete er. „Weißt du eigentlich, wie verdammt einfach es ist, die Dokumente beim Zahnarzt zu manipulieren und in einer Fabrikhalle eine andere Leiche statt der eigenen verbrennen zu lassen, um die Polizei und das FBI an der Nase herumzuführen? Jeder drittklassige Detektiv würde das durchschauen.“

Der Mann mit dem Sonnenhut schmunzelte, als er das hörte.

„Nein, nicht ganz“, widersprach er mit ruhiger Stimme. „Nur ein ganz bestimmter, von dem ich auch wollte, dass er mich findet.“

Hieraufhin schlossen sie sich in die Arme und als Sam in seinen Armen lag und seinen Tränen freien Lauf ließ, da dachte er sich, dass Liam ein sehr schöner Name war. Denn er bedeutete „der entschlossene Beschützer“. Wirklich ein passender Name, für einen menschlichen Löwen.

Zu guter Letzt

„Du kannst Dir inneren Frieden und Glückseligkeit nicht herstellen. Sie sind deine wahre Natur. Sie bleiben übrig, wenn du all das aufgibst, was Dich leiden lässt.“
 

Buddha
 

Sam Leens blieb über vier Monate auf dem Weingut in Sassetta, bis er wieder nach Amerika zurückkehrte. Nachdem er seiner Mutter alles erklärt hatte, nahm er von ihr und seinen Freunden Abschied, kündigte seine Wohnung und nahm mit, was er brauchte, um endgültig nach Italien auszuwandern. Viele Sachen verkaufte er aber auch, da es zu aufwendig war, so viel Gepäck mitzunehmen. Doch eines nahm er mit, was er ganz und gar nicht aufgeben, sondern unter allen Umständen mit nach Italien mitnehmen wollte und wo er auch keine Kosten und Mühen scheute: den 58er Plymouth Fury in der einzigartigen Rotweißlackierung. Christines Wagen, den er nach ihrem Tod übernommen hatte. Wenigstens ihn wollte er mitnehmen. Und so kam es, dass Sam Leens, der eine aufstrebende Karriere als Detektiv begonnen hatte, auf dem Weingut zu arbeiten begann. Und tatsächlich wirkten sich die körperliche Arbeit und die reine Landluft auch sehr positiv auf sein Asthma aus, sodass er seitdem kaum noch unter Anfällen litt. Zwar war dieses Leben auf dem Weingut nicht wirklich das, was er sich immer vorgestellt hatte, denn sein größter Traum, Polizist zu werden, war nie erloschen, auch wenn es nur ein Traum bleiben würde. Aber er war dennoch zufrieden mit sich und seinem Leben und dieser Abstand zu Boston und all den Dingen, die ihn an die Mafiakriege erinnerte, tat ihm wirklich gut und er fühlte sich glücklich, denn es gab genug Gründe, warum er Italien nie wieder verlassen würde.

Nachdem das Ende der Yanjingshe endgültig besiegelt worden war, kehrte auch in Boston Ruhe ein. Die mehrmaligen Versuche, ihre alte Macht wieder zu festigen, wurden von den neuen führenden Clans zunichte gemacht und letztendlich verlor die Triade den letzten Rest ihrer Macht und zerstreute sich. Die wenigen Triademitglieder, die nicht den zahlreichen Razzien zum Opfer gefallen waren, kehrten entweder in ihre Heimat zurück, oder sie tauchten in Chinatown unter. Zwar war Boston immer noch nicht das, was man einen friedlichen Ort nennen konnte, doch die drei Mafia-Oberhäupter, die die Nachfolge von Araphel, Shen und Sergej übernommen hatten, versuchten sich möglichst aus dem Weg zu gehen und sich bei Geschäften nicht allzu sehr in die Quere zu kommen. Zwar ließ sich das nicht immer vermeiden, doch im Großen und Ganzen lief es bei weitem ruhiger zu als zu Zeiten ihrer Vorgänger. Victor Camorra erwies sich als sehr tüchtiger und zielstrebiger Boss. Er führte seine Familie mit Strenge und Unnachgiebigkeit an und erlangte aufgrund seiner umfassenden Kenntnisse bezüglich der Gesetze schnell den Titel als „Teufelsadvokat“. Ein paar Monate später kursierten sogar Gerüchte, dass er ein Auge auf die „schwarze Madonna“ Evangeline geworfen hatte und auch sie schien ihm sehr sympathisch geneigt zu sein. Tatsächlich dauerte es keine drei Jahre, bis aus den beiden ein festes Paar wurde und sich schließlich die zwei mächtigsten Familien vereinten und die Bostoner Umwelt gemeinsam als die neue Nummer eins regierten.

Was Morphius oder besser gesagt Makoto Narimono betraf, so hatte dieser sein Dasein als Informant aufgegeben. Nach dem Zerfall der Mason-Familie und der Yanjingshe war er der Meinung, dass es an der Zeit war, endlich wieder zur Normalität zurückzukehren. Und so legte er seine Identität als Morphius Black für immer ab und setzte seinen Entschluss, Boston den Rücken zuzukehren, in die Tat um, nachdem die Wohnung in San Francisco endlich bezogen werden konnte. Gemeinsam mit Dr. Heian und seiner kleinen Tochter Kaguya ließen sie sich in San Francisco nieder, um einen gemeinsamen Neuanfang zu machen. Am 15. Dezember des folgenden Jahres fand dann die Hochzeit statt und Dr. Heian nahm daraufhin Makotos Familiennamen an. Seine Begründung war ganz einfach, dass „Dr. Narimono“ viel schöner klang.

Während eben jener Doktor zusammen mit zwei anderen Ärzten eine Gemeinschaftspraxis eröffnete und als Kinderarzt arbeitete, wurde Makoto bei einer renommierten Zeitung als Journalist engagiert. Zuerst wollte man ihm anbieten, dass er im Bereich Kriminalfälle und Verkehrsunfälle arbeiten könnte, doch er lehnte das ab und fing stattdessen als Kolumnenschreiber an. Er musste jedoch erkennen, dass ihm das so ganz und gar nicht erfüllte und sich als ziemlich anspruchslos und langweilig entpuppte, woraufhin er dann doch das Angebot annahm. Dies tat er mit einer gewissen Zerknirschung, denn eigentlich hatte er sich erhofft, nie wieder etwas mit Kriminalfällen, Polizeieinsätzen und Verbrechen zu tun zu bekommen, aber letzten Endes war es das, wofür er am besten geeignet war. Das Rauchen konnte er sich niemals vollständig abgewöhnen. Zwar gab es Zeiten, wo er manchmal bis zu vier Monate nicht rauchte, doch zwischendurch verfiel er wieder in alte Verhaltensmuster. Er achtete allerdings penibel darauf, nicht vor seiner Tochter zu rauchen. Auch sein Ehemann erinnerte ihn immer wieder aufs Neue daran. Ungefähr sechs Jahre später, nachdem er auch seinen Job als Journalist gekündigt hatte und sich stattdessen dem Schreiben von Büchern widmete, sollte er für einen Roman eine Auszeichnung gewinnen, der den Titel „Wunschleben“ trug. Im Großen und Ganzen thematisierte der Roman das Schicksal seiner verstorbenen Freundin Christine, wobei einige Veränderungen vorgenommen worden waren. Er selbst hatte seit Sams Auswanderung nie wieder über diese zwei Jahre in der Mason-Familie gesprochen. Er wollte es auch nicht mehr. Dafür war ihm sein jetziges Leben einfach zu wichtig. Was ihm bei seinem Roman besonders am Herzen lag, war eine Widmung:
 

für die beste Freundin der Welt, die uns gezeigt hat, dass man trotz aller Schicksalsschläge immer noch das Leben führen kann, was man sich von Herzen wünscht, solange man nur nicht aufgibt.
 

Die kleine Kaguya wuchs im Übrigen sehr gut heran. Sie entwickelte sich zu einem hübschen und gesunden kleinen Mädchen und zeigte schon recht früh eine gewisse Neigung zu unüberlegten und vollkommen überstürzten Handlungen wie ihr biologischer Vater. Sehr zum Leidwesen von Dr. Narimono, der versuchte, ihr etwas Vernunft einzutrichtern.

Harvey C. Dullahan erholte sich von den schweren Verletzungen, die er sich bei dem Autounfall zugezogen hatte, doch seiner Arbeit als Informant tat dies keinen Abbruch. Er fuhr unbeirrt weiter fort, gegen Polizeigewalt und –korruption vorzugehen, auch wenn sein Ehemann Chris der Auffassung war, dass er nach dieser Geschichte vielleicht doch lieber damit aufhören sollte, weil es ja recht gefährlich sein konnte. Doch Harvey ließ sich nicht beirren und verfolgte weiter sein Ziel, die Polizeiwillkür zu bekämpfen und für etwas mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Er arbeitete weiterhin als Schauspieler und gab meist den Bösewicht am Broadway, während Chris oft die Rolle des tragischen Helden übernahm. Ihre Ehe blieb kinderlos, aber sie waren glücklich so, denn ihr einziger Traum war, gemeinsam auf der Bühne zu stehen und irgendwann ihren Lebensabend in Deutschland zu verbringen, dem Land der Dichter und Denker.
 

Was Bonnie betraf, so lag sie insgesamt 16 Monate im Koma, bis sie endlich die Augen öffnete. Wie sich herausstellte, erinnerte sie sich nicht an den Unfall und die Erinnerungen an diese Horrormomente sollten niemals vollständig zurückkehren, was wahrscheinlich auch besser so war. Durch die monatelange Bewegungsunfähigkeit war sie genötigt, eine Reha zu machen, was auch noch zusätzlich mehrere Wochen in Anspruch nahm, bis sie wieder laufen konnte. Doch sie bekam regelmäßig Besuch von ihrer Familie und von Nathan, der ihr seelische Unterstützung gab und sie fast jeden Tag besuchte. Als sie die Reha abgeschlossen hatte, ging sie wieder ihrem gewohnten Alltag nach, besuchte die Schule und unterstützte die Polizei. Als sie erfuhr, dass Nathan sie getäuscht und ihr vorgegaukelt hatte, er sei von der Regierung verschleppt worden, war sie zu Anfang ziemlich sauer auf ihn. Aufgrund der Umstände, dass er schwer krank gewesen war und ihr das ersparen wollte, verzieh sie ihm jedoch sehr schnell wieder. Und außerdem spielte ja noch die Tatsache eine große Rolle, dass sie ihn liebte.

Was Nathan betraf, so war er zu dem Zeitpunkt, als Bonnie aus dem Koma aufgewacht war, längst aus dem Krankenhaus entlassen worden. Wie sich nämlich herausstellte, hatte sich bereits nach wenigen Wochen nach dem Ende der Yanjingshe tatsächlich ein geeigneter Spender gefunden, der sich sofort bereit erklärte, dem Kranken zu helfen und ihm mit einer Knochenmarkspende zu helfen. Es dauerte einige Wochen, bis Nathan vollständig von seiner Leukämie geheilt war und das Krankenhaus verlassen konnte. Allerdings musste er immer noch regelmäßig zur Dialyse. Ein geeigneter Nierenspender fand sich erst fünf Jahre später, doch da die Dialyse bei weitem nicht zu kräftezehrend war wie die Chemotherapie, konnte Nathan wieder ein halbwegs normales Leben außerhalb des Krankenhauses führen, welches er seit acht Monaten nicht mehr verlassen hatte. Und allein schon durch die Tatsache, dass er endlich wieder nach draußen gehen konnte, wirkte sich auch positiv auf seine Vitalität aus. Nachdem er von seiner Leukämie genesen war, besuchte ihn sein Spender, welcher im Übrigen kein Unbekannter war. Tatsächlich wollte es der schicksalhafte Zufall, dass der Spender niemand anderes als Supervisory Agent Sadie James war. Und diese hatte seine Hilfe im Slave Shipping Service Fall nicht vergessen und bot ihm an, dass er im Dienste des FBI seine Fähigkeiten als Hacker nutzte, um sie in diversen Ermittlungen zu unterstützen. Zuerst lehnte Nathan ab, doch Sadie ließ nicht locker. Sie wollte ihn unbedingt in ihrem Team haben und nachdem sie ihn lange genug bequatscht hatte (sie meinte sogar, er sei es ihr schuldig, nachdem sie ihm geholfen hatte), willigte er dann doch ein. Trotz des Altersunterschiedes wurden Nathan und Bonnie ein Paar und auch Bonnie begann für das FBI zu arbeiten. So konnte sie mit Nathan zusammenarbeiten und sie fühlte sich beim FBI auch besser aufgehoben. Was die Schule betraf, so musste sie das eine Jahr wiederholen, was sie durch ihr Koma verpasst hatte. Doch trotz dieser Ehrenrunde sollte sie es dank der Unterstützung des FBI schaffen, ein Studium im IT-Bereich zu machen, natürlich unter der Prämisse, dass sie beim FBI blieb. Sie blieb auch gerne in Sadies Team und sie respektierte und bewunderte sie. Vor allem auch, weil Sadie dank der Spende Nathan helfen konnte. Aber es war wohl auch die Persönlichkeit, die einen tiefen Eindruck bei Bonnie hinterlassen hatte.

Sadie James erlangte beim FBI durch die Zerschlagung des Slave Shipping Services genauso großes Ansehen wie ihr Partner Agent Kazan. Für sie beide änderte sich nicht viel. Sie gingen weiterhin ihrer Arbeit nach und lösten Fälle und überführten Mörder, Schmuggler, Kinderschänder und weitere Schwerverbrecher. Kazans Dienst sollte im Alter von 55 Jahren einen kurzen Abbruch finden, als er während eines Einsatzes einen Herzinfarkt erlitt. Da er den Dienst nicht quittieren wollte, wechselte er daraufhin in den Innendienst, da er die Außeneinsätze nicht mehr länger durchführen konnte. Allerdings ereilte ihn knapp zwei Jahre später noch ein Herzinfarkt, der ihm schließlich das Leben kostete. Sadie James wurde während einer Verfolgung angeschossen, doch das reichte nicht aus, um sie in die Knie zu zwingen. Sie blieb im Dienst und leitete ihr Team mit strenger Hand. Doch trotz ihres so rau wirkenden Charakters ließ es sich kaum übersehen, dass sie sich vor allem um Bonnie kümmerte und sie auch genauso wie Nathan in Schutz nahm, wenn es Probleme gab. Vor allem aber machte sie eine unvorstellbare Szene, als Bonnie gefragt wurde, ob sie vor der Kamera strippen würde, um Pädophile ins Netz gehen zu lassen. Sie hatte die Verantwortlichen so heftig zusammengestaucht, dass sie sich heiser schrie und sie sogar eine Tasse an die Wand warf. Danach wagte es niemand mehr, Bonnie so etwas zu fragen. Allerdings wurden nicht selten kleine Scherze gemacht, dass Bonnie nun zwei Mütter hätte. Sadie James reagierte nicht gerade begeistert darüber, aber sie bestritt auch durchaus nicht, dass sie ein besonderes Auge auf Bonnie und Nathan habe, da diese eben noch sehr jung waren und sie als Teamleiterin auch eine Fürsorgepflicht ihnen gegenüber hätte.

Sadie blieb noch insgesamt 20 Jahre beim FBI, bis sie durch einen schweren Unfall einen bleibenden Knieschaden erlitt und ihre bisherige Arbeit nicht mehr durchführen konnte. Doch sie arrangierte sich auch sehr gut damit, nicht mehr an forderster Front zu kämpfen, sondern die leitende Rolle zu übernehmen und auf ihr Team zu bauen.
 

Und was sollte Jahre später aus Araphel und Sam werden? Nun, sie führten ihr Leben auf dem Weingut und waren zufrieden mit dem, was sie hatten. Lediglich einen Zwischenfall sollte es geben, als Sam im Herbst bei einem sehr schwülen und drückenden Wetter wieder stärker mit seinem Asthma zu kämpfen hatte und dann plötzlich, als er alleine auf dem Feld war, einen heftigen Anfall erlitt. Lediglich der Zufall rettete ihn, dass Araphel mit dem Wagen in die Stadt fahren wollte und er ihn auf dem Boden liegen sah. Sam lag danach fast eine Woche im Krankenhaus, doch er erholte sich zum Glück wieder. Eine Weile später gab es dann einen weiteren Vorfall, nämlich eine Bande von Unruhestiftern, die im Auftrag eines recht skrupellosen Unternehmers das Weingut für einen lächerlich geringen Preis erkaufen wollte und sogar seine Schläger losschickte. Sie hatten sich leider den falschen Gegner ausgesucht, denn Araphel hatte selbst nach Jahren seine Erfahrung als Mafiaboss nicht vergessen und letzten Endes kehrte jeder der Unruhestifter nach einer saftigen Abreibung zurück und Gerüchten zufolge sollte Araphel dem Unternehmer so heftig eingeheizt haben, dass er die Toskana für immer verließ. Das waren die einzigen wirklich weltbewegenden Entwicklungen gewesen, die sich ereigneten. Zwar flog Sam ein bis zwei Mal im Jahr nach Amerika, um seine alte Mutter zu besuchen, die ihren Lebensabend in Florida verbringen wollte. Ansonsten blieb er das ganze Jahr über in der Toskana und war dort glücklich mit Araphel. Dieser kehrte übrigens nie wieder nach Amerika zurück. Dieses Leben hatte er endgültig hinter sich gelassen und er wollte die Vergangenheit endgültig hinter sich lassen. Denn er hatte nun einen Ort, an dem er für immer bleiben wollte. Nämlich bei dem Menschen, den er liebte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey liebe Leute!

Nachdem die meisten von euch schon mit „Corrupt Me!“ so viel Spaß hatten, hoffe ich, dass euch mein neues Format gefallen wird und das erste Kapitel schon mal ein guter Einstieg war. Von den „Gesetzen der Mafia“ wurde ich durch viele Mafiafilme inspiriert, vor allem aber durch „der Pate“, der meiner Meinung nach der beste Mafiafilm ist, der je gemacht wurde, da es nicht nur bloß um Erpressungen und irgendwelche Morde geht, sondern auch um die Denkweise dahinter. Allzu viel weiß ich aber auch nicht, deshalb seht es mir nach, wenn vielleicht einiges innerhalb der Mafia anders ist als im realen Leben, immerhin ist es ja „nur“ eine Fanfiction.
Das erste Kapitel war vielleicht ein wenig hektisch, aber ich wollte die Einleitung auch nicht allzu lange gestalten, denn wir wissen ja wohl alle, weshalb wir hier sind: wir wollen Yaoi! Außerdem ist der Hinterhalt ja vergleichsweise die uninteressanteste Story, denn die Haupthandlung, nämlich die Fehde zwischen der Mason-Familie und der Yanjingshe steht ja noch bevor. Nur als kleine Info am Rande: Yanjingshe bedeutet im Chinesischen „Kobra“, was ja sehr gut zu Shens Titel als „Schlange“ passt. Araphel (ja ich weiß dass das auch ein Anagramm für Raphael ist und die beiden gewisse Ähnlichkeiten haben…) bedeutet im Hebräischen „tiefe Dunkelheit“. Ach ja: Sam Leens ist ebenfalls ein Anagramm für "Nameless". Den Namen benutze ich gerne selbst als Nicknamen und in anderen Storys war Sam Leens sonst immer ein emotionsloser Serienkiller, bis ich in "Last Desire" sein Image verändert habe. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist wohl der beste Beweis dafür, wie es in der Mafia zugeht. Nach außen hin fast schon freundschaftlich, doch in Wirklichkeit ist das alles nur eine Fassade, hinter der man nur darauf lauert, dass der andere Schwäche zeigt. Ein wirklich gefährliches Spiel mit dem Feuer. Die von Sergej genannten Gesetze stammen zum Teil von den zehn Geboten der Costa Nostra ab, wurden aber noch durch andere Gesetze ergänzt, die aber auch zu denen der Mafia zählen, wie zum Beispiel dass Frauen verboten sind und eine Vendetta nur dann stattfindet, wenn ein hochrangiges Mitglied getötet wird. Mitglieder einer Mafia, die den untersten Rang belegen, werden nicht mitgezählt, da sie eben nicht wichtig genug sind. Meist ist ihr Tod auch „rein geschäftlich“. Und daran erkennt man auch, welche Bedeutung ein Leben innerhalb der Mafia wirklich hat.

Sergej hat viele Ansichten, die denen der Corleone-Familie ähneln: was zählt, ist das Geschäftliche und persönliche Motive haben darin nichts zu suchen. Man kann ihn also quasi als Symbol eines traditionellen italienischen Mafiabosses sehen, wie man ihn sich vielleicht vorstellen würde. Araphel hingegen verkörpert die jüngere Generation, die schnell zu Waffe greift und nicht mehr sonderlich viel auf Traditionen gibt und Shen… nun… man kann ihn als perfektes Beispiel für einen eiskalten und manipulativen Psychopathen sehen.
Aufgrund seines Geschäftssinns und seiner damit verbundenen Cleverness und Durchtriebenheit sehe ich Sergej gerne als Fuchs. Insbesondere weil dieser in manchen Ländern genauso wie der Löwe und die Schlange auch eine dämonische Symbolik hat, aufgrund seines roten Fells. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Na was das wohl für ein Schlüssel ist? ;-)
Nach vielem Gerede geht es ab dem nächsten Kapitel wieder heiß weiter. Aber dieses Mal nicht mehr im kalten und ungemütlichen Keller. Wenigstens eine gute Nachricht für den armen Sam. Aber Araphels Herz ist ja nicht ganz aus Stein und wir dürfen gespannt sein, wie sich das in Zukunft für die beiden weiterentwickeln wird. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Christines ungewöhnliche Störung hab ich aus einer alten FF von mir: „Mallory“. Der 23-jährige Finnian McKinley hat in einem heruntergekommenen Haus gelebt und sich liebevoll um seinen kleinen Bruder Keenan gekümmert, der aber schon sechs Monate lang tot war, ohne dass Finny es wirklich realisiert hat. Stattdessen hat er sich in den Glauben reingesteigert, dass sein Bruder lebt und immer, wenn er mit der Wahrheit konfrontiert wurde, erlitt er Symptome eines epileptischen Anfalls, weil sich sein Unterbewusstsein seo sehr dagegen wehrt, sich daran zu erinnern, dass Finny von seinem Vater sexuell missbraucht wurde und dass dieser Keenan totgeprügelt hat.
In Christines Fall sieht es ein wenig anders aus. Wer will, kann ja mal Dr. Freud spielen und seine Diagnose machen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Armer Sam. Kaum, dass der Schreck mit Christine verflogen ist, muss er auch noch Shen über dem Weg laufen. Aber da sieht man jetzt auch endlich mal, wie der Kampf zwischen Schlange und Löwe wirklich aussieht und wie gefährlich und grausam Shen wirklich ist. Am meisten hat es mir aber wehgetan, als Araphel ihn bewusstlos geprügelt hat, obwohl Sam nur helfen wollte. Aber bei einem so gefährlichen Menschen wie Shen bleibt nichts anderes übrig. Wenn Araphel schwach erscheint, wird Shen ihn gnadenlos vernichten. Und wenn er sieht, dass zwischen Araphel und Sam irgendeine Verbindung existieren könnte, wird er Sam sofort töten. Letzten Endes hat Araphel es nicht nur getan, um seine Stärke und Überlegenheit zu demonstrieren, sondern auch um Sam zu schützen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dies ist wahrscheinlich eines der düstersten Kapitel, die ich je geschrieben habe. Insbesondere deshalb, weil erschreckenderweise viel Wahres dran ist. Wer sich mit dem Deep Web befasst hat, der weiß vielleicht schon so einiges. Wer es nicht weiß: es gibt diese Seite "Slave Shipping Services" und "Slaves Who Can't Run" wirklich. Auch das beschriebene Mädchen auf dem Foto und der beschriebene Text ist übernommen und von mir aus dem Englischen übersetzt worden. Bevor ihr fragt: ich war nicht selbst auf der Seite und ehrlich gesagt will ich das auch nicht. Ich rate allen wirklich ernsthaft davon ab, es zu versuchen. Ihr macht euch damit strafbar, wenn ihr nach so etwas gezielt sucht!
Die genauen Infos habe ich aus informativen Youtube-Videos, die über solch verstörende Deep Web Seiten berichten. Wer mir nicht glaubt bzw. mehr darüber wissen will, kann diesem Link zu einem solchen Youtube-Video folgen. Überlegt euch selbst, ob ihr es euch anschauen wollt. Ich warne euch nur, dass es nichts für schwache Nerven ist. Ich habe dieses Thema in diese Fanfiction genommen, weil es mich wirklich sehr entsetzt hat, dass es so etwas gibt und ich darauf aufmerksam machen will.

https://www.youtube.com/watch?v=hp5YE-ZG1ZI Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und da kommt gleich die nächste Überraschung: Sergej hat Lungenkrebs im Endstadium und wird bald sterben. Tja, selbst der mächtige Bostoner Patriarch ist machtlos gegen diese Krankheit und mit diesem Wissen vertraut er Sam die Aufgabe an, sich um Araphel zu kümmern. Wenn das mal nicht ein Zeichen dafür ist, dass er Sam als wichtigste Person in Araphels Leben respektiert und achtet. Er mag zwar ein abgebrühter Geschäftsmann sein, aber dafür muss man ihn einfach lieben, dass er sich solche Gedanken um seinen Schützling macht.

Und hier finden wir wieder eine Anspielung auf die Vorlage in „Last Desire“, nämlich dass Sams Licht das gleiche wie Ahavas ist. Tatsächlich ist Sam in Last Desire ein Abkömmling von Ahava bzw. Eva gewesen, die ihm einen Teil ihres Herzens gab, weil seines leer war und er nicht in der Lage war, Gefühle zu empfinden. Und erst durch Evas Licht war Araphel bzw. Liam in der Lage, jemanden zu lieben. Wenn man mich jetzt fragen würde, welche Version von beiden ich bevorzuge, würde ich fast schon sagen, dass ich die zweite mehr liebe. Ganz einfach aus dem Grund, weil sie so viel tiefer geht und man insbesondere in das Mafia-Leben viel mehr Einblicke bekommt, als in Last Desire. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wollte unbedingt eine kurze Familienszene mit Sergej machen und zeigen, dass er nicht nur der abgebrühte Geschäftsmann ist, als der er sich gibt. Er ist ein treusorgender Familienvater, der tut, was nötig ist, um die Sicherheit seiner Kinder zu gewährleisten. Genauso wie Araphel damals Mafioso geworden ist, damit er und Ahava eine Familie haben. Ehrlich gesagt hat mich die Szene mit Sergej und seinem Sohn mitgenommen, vielleicht liegt es auch daran, weil ich selbst meine Großmutter durch Krebs verloren habe und damals mein Vertrauenslehrer ebenfalls an Krebs erkrankt ist.

Die überraschende Wendung, dass Ahava gar nicht Araphels Schwester ist, hat sicherlich viele von euch überrascht. Aber nun kann man auch verstehen, warum die beiden so eine enge Bindung zueinander hatten und warum Araphel so sehr an ihr hing. Und dass er Sam dieses Geheimnis erzählt, was er noch nie jemandem erzählt hat, ist ja eigentlich der beste Beweis dafür, wie sehr er ihm inzwischen vertraut. Insbesondere seit der Sache mit Shen. Und wahrscheinlich ist er auch froh darüber, dass er sich endlich mal jemandem anvertrauen kann und er dieses Geheimnis erzählen konnte, was er so lange für sich behalten hat. Aber wenigstens kehrt erst mal ein wenig Ruhe im Haus der Masons ein. Shen hat in Shanghai zu tun und die Triade verhält sich ruhig, da kann Araphel auch mal an etwas anderes denken als an seinen Rachefeldzug.

Um die Beziehung zwischen Ahava und Araphel nach der Flucht vom Slave Shipping Service zu verstehen und die Zeitspanne vor ihrem Selbstmord (und damit die geschwärzten Seiten in ihrem Tagebuch), empfehle ich euch den Song "Let it Die" von Starset. Und lasst mich ruhig eure Interpretation hören!

https://www.youtube.com/watch?v=gEhyeWU_tJU Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich mag Bonnie irgendwie. Sie ist trotz ihres jungen Alters jemand, der genau weiß was er will und der die Konsequenzen gut kennt. Aber sie ist bereit, die Konsequenzen zu tragen, um dafür im Austausch die Wahrheit aufzudecken. Ganz egal ob diese nun zu einem Krieg führen könnten oder nicht.

Die Informationen zu den einzelnen Leveln des Internets hab ich aus Grafiken, die eine sehr gute Übersicht darstellen:

http://th00.deviantart.net/fs70/PRE/f/2014/071/d/0/internet_levels_by_lulgl-d79y9wy.png

Was das Marianas Web anbetrifft, so hab ich nur von Gerüchten gehört. Es gibt nur Gerüchte, keine existierenden Fakten. Ebenso ist nicht hundertprozentig geklärt, ob das Marianas Web wirklich existiert, oder ob es sich nur um ein Hoax handelt. Deshalb kann ich auch nicht sagen, ob dort tatsächlich Daten der NSA und CIA sind, ob dort wirklich die Koordinaten von Atlantis oder Aufzeichnungen über Alienkontakte sind. Ehrlich gesagt bezweifle ich die letzten beiden, da ich zu den Skeptikern auf diesem Gebiet zähle. Aber dass dort eventuell streng geheime Informationen sind, die einen Krieg auslösen könnten, oder dass man die Geheimdaten der NSA und CIA findet, klingt für mich ein Stück weit plausibel. Allerdings ist es noch niemals einem Hacker gelungen, in das Marianas Web zu gelangen und es bräuchte schon einen Quantencomputer, um an die dortigen Informationen zu kommen. Und so einen Computer gibt es noch nicht. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich wollte ich Sam direkt wieder nach Hause schicken, aber da die Resonanz zu meinen neuen Charakteren Bonnie und Harvey so gut waren, dachte ich mir, dass ich noch ein kleines Extrakapitel dazwischenhaue, wo auch mal ein wenig von der düsteren Stimmung abgelenkt wird. Okay, Harvey ist vielleicht etwas zu kurz gekommen, aber der wird auch noch zu seinem Auftritt kommen, keine Sorge. Ich hoffe, es hat euch erst mal mit Bonnie und Sam gefallen ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe mich nach einigem hin und her für diesen Titel entschieden, weil der heftige Streit zwischen Christine und Araphel das enge freundschaftliche Band zwischen ihnen zerstört hat, nachdem sie Araphel wohl das Schlimmste angetan hat, was sie ihm wohl antun konnte. Es mag grausam von ihr erscheinen, aber für sie war es der einzige Weg, um ihm zu helfen. Lieber opfert sie die Freundschaft zu ihn, als ihn noch weiterhin ihretwegen leiden zu sehen.
Dieser Teil des Kapitels tat mir unendlich in der Seele weh, vor allem weil ich mit den beiden gelitten habe. Christine hängt sehr an Araphel und leidet selber darunter, dass sie ihm so etwas antun musste. Für den das noch nicht klar ist: Christine hat Ahava nicht getötet. Sie war aber nicht gänzlich unbeteiligt an ihrem Selbstmord. Den genauen Sachverhalt erfahrt ihr aber noch. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Bevor es spannend weitergeht, wollte ich einen kurzen Flashback machen, nämlich zu dem folgeschweren Tag, als Ahava starb und was wirklich passiert ist. Nämlich dass Ahava ihren Entschluss schon längst gefasst hatte und Christine benutzt hat, um sich das Leben zu nehmen. Dass sie es nicht aus böser Absicht tat, zeigt sich ja dadurch, dass sie Christine eigentlich den Anblick ersparen wollte. Man kann ihre Frage an Christine, ob sie sich an die „Geschehnisse“ erinnert, in der Hinsicht deuten, dass sie sich vergewissern wollte, ob Christine wirklich alles Traumatische vergisst, was ihr widerfährt. Denn für den Fall, dass Christine den Raum nicht verlasen würde, hätte sie wenigstens die Gewissheit, dass diese zumindest die schrecklichen Bilder vergessen würde. Über Ahavas Selbstmord zu schreiben, hat mich ein Stück weit Kraft gekostet. Es ist immer schlimm, über so etwas zu schreiben, aber es stellt gleichzeitig den wichtigsten Punkt dieser Fanfiction dar. Denn der Kern dieser FF dreht sich um ihren Tod. Aus diesem Grund habe ich auch kein Zitat zu Anfang des Kapitels verwendet, was Rache thematisiert, sondern den Film Donnie Darko zitiert. Dieser eine Satz hat mich schon ziemlich beschäftigt und war auch die Inspiration für diese Szene. Lediglich hier und im Kapitel, wo es um Christines Krankheit geht, habe ich andere Zitate verwendet, da diese am besten passte.

Die Frage ist nun, ob es vielleicht hätte anders verlaufen können, wenn Christine gewusst hätte, dass da eine geladene Pistole im Tresor war. Was glaubt ihr? Hätte Ahava noch gerettet werden können, oder wäre so oder so jede Hilfe vergebens gewesen? Hätte es überhaupt einen Sinn gemacht, sie zum Leben zu „zwingen“, oder wäre es das Beste gewesen, sie einfach gehen zu lassen, damit sie von ihrem Leid erlöst wird? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nun erleben wir das wahre Ausmaß von Shens Schrecken und sehen in die tiefen Abgründe seiner Person und seine Sicht der Dinge. Ich kann mit Verlaub sagen, dass das der wohl schlimmste Psychopath ist, den ich je erschaffen habe. Und ich dachte schon, dass Sigma der Eyeball Killer oder Scarecrow Jack krank sind. Und das Fatale ist: auf eine verdrehte Art und Weise hat er zu einem gewissen Teil Recht. Er, das sadistische Monster, ist die Konsequenz der grausamen Verbrechen, die die Yanjingshe und seine Eltern ihm angetan haben. Es ist ein schrecklicher Teufelskreis, in der die Opfer von damals selbst zu Tätern werden, um ihrer Opferrolle zu entfliehen und dabei anderen jenes Leid antun, welches sie selbst erleiden mussten. Auf der einen Seite habe ich mich wahnsinnig darauf gefreut, Shen endlich mal selbst ins Rampenlicht zu stellen, doch ich hatte auch wirklich Tränen in den Augen bei der Vorstellung, dass Yin und Asha sterben müssen. Auch wenn sie nur eine vergleichsweise unbedeutende Rolle einnehmen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das ist für mich das schlimmste Kapitel, was ich für diese FF geschrieben habe. Christines Tod war für mich persönlich der schlimmste von allen vieren gewesen, weil ich sie so ins Herz geschlossen habe. Sie war die gute Seele der Familie und hat so viel erleiden müssen. Und dann stirbt sie noch im Operationssaal an ihrem Blutverlust. Die Schlussszene, wo Araphel weinend zusammenbricht und dabei ihre Hand festhält, hat bei mir Tränen ausgelöst. Allein die Tatsache, dass er ihre Hand die ganze Zeit festhält, ist ein allzu deutliches Zeichen dafür, wie wichtig sie ihm ist und wie sehr er an ihr hängt. Für ihn ist es nicht nur deshalb so schlimm, weil er eine so enge Freundin verliert, sondern weil für ihn seine Schwester quasi ein zweites Mal wegstirbt und er es nicht verhindern konnte. Das hier ist wirklich die dunkelste Stunde von „Mesmerize Me!“ Vier Menschen mussten durch Shens Wahnsinn sterben. Und er lebt immer noch. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tja, die Lage scheint immer verzwickter zu werden. Da haben Victor und Araphel endlich einen Plan, um der Yanjingshe ein für alle Male das Handwerk zu legen und dann scheitert alles an den Gesetzen der Vendetta. Anscheinend, dass endlich mal Hoffnung besteht, dass alles gut ausgeht, wird alles nur noch schlimmer. Entweder Victor wird sterben oder Araphel.
Und bleibt nur zu hoffen, dass Sam sich wieder fängt. Aber ich denke, dass er schon jemanden finden wird, der ihn wieder aufbauen und ihm beistehen kann. Wer das ist, das erfahrt ihr bald ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Was passiert, wenn Psychopathen in ihrem Stolz gekränkt werden und eine Niederlage einstecken mussten, nachdem sie sich selbst für so unfehlbar und unantastbar hielten? Ganz einfach: sie verlieren endgültig die Kontrolle und werden unvorsichtig. Der Fall konnte sehr gut bei dem Serienmörder Ted Bundy beobachtet werden, nachdem dieser aus dem Gefängnis fliehen konnte. Und jetzt stehen auch noch Bonnie und Harvey auf der Abschussliste der Yanjingshe. Wären sie besser nicht gekommen, aber sie wollten Sam ja unbedingt aufmuntern. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und nun die Überraschung des Tages: der verschwundene Hacker Cell lebt tatsächlich noch und er ist nicht von der Regierung verschleppt worden wie zunächst angenommen! Es war nur eine Lüge, weil er seine Krankheit vor Bonnie geheim halten wollte. Zum Glück haben Bonnie und Harvey überlebt und nun tritt endlich das FBI auf den Plan. Sadie James und Steven Kazan sind übrigens auch altbekannte Figuren von mir, die ich oft für meine Death Note Thriller benutzt habe. Sadie James war dort die Vorgesetzte von Naomi Misora und Steven Kazan der Partner. Allerdings war Sadie mehr die Sadistin vom Dienst und wurde oft Sadie Sadist genannt.

Blöderweise ist dieses Kapitel erst später freigeschaltet worden als die Grabszene. Grund dafür: ich hab heute morgen vergessen, den Haken zu setzen. Das kommt davon, wenn man noch halb im Schlaf seine Geschichten hochlädt xD
Ich freue mich schon wahnsinnig darauf, wenn Sadie Shen ins Kreuzverhör nimmt und ihm richtig einheizt. Denn wenn man sich auf eines verlassen kann, dann darauf, dass ich ganz gewiss keine Frauenfiguren kreiere, die sich von Männern herumschubsen lassen. Sadie ist in der Hinsicht genauso wie Christine, aber knallhart! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist etwas kurz geworden und sollte auch nur ein kurzes Intermezzo sein, bevor es in die Endrunde geht. Die Szene am Grab, wo Araphel ganz alleine ist und zu seiner toten Familie spricht, war mir sehr wichtig, vor allem weil dabei auch Araphels Sicht der Dinge gezeigt wird und wie er sein Verhältnis zu Christine gesehen hat und wie er sich wirklich hinter der Fassade des kompromisslosen und zielstrebigen Mafiabosses fühlt. Nämlich müde, erschöpft und ausgezehrt, weil der Verlust der anderen so tiefe Wunden bei ihm verursacht hat und dass er sich bei weitem nicht so stark sieht, wie er sich immer gibt. Und die Andeutungen, die er macht, lassen nichts Gutes erahnen, was sein Vorhaben betrifft. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Endlich ist es soweit. Shen und Araphel stehen sich gegenüber und das Duell zwischen Löwe und Schlange lief darauf hinaus, dass der Löwe über die Schlange triumphiert. Auf dieses Kapitel habe ich mich schon gefreut und war froh, dass ich es auch so rüberbringen konnte, wie ich wollte. Zuerst hatte ich mit dem Gedanken gespielt, dass Shen Sam und Morphius als Geiseln nimmt und alles komplizierter macht, aber das hätte alles schlimmstenfalls noch mal in die Länge gezogen. Außerdem wollte ich die Beziehung zwischen Shen und Araphel noch mal etwas vertiefen und Shens kranke Psyche auch noch mal schön hervorheben. Und am Ende, als sein Lebenswerk zerstört ist, sieht man, wie er wirklich hinter seiner Maske ist. Ein Mensch, der nichts als Hass und Verachtung empfindet und die ganze Welt am liebsten in Schutt und Asche liegen sehen würde. Ein bisschen erinnert er mich an den Joker, allerdings ist er nicht so extrem verrückt. Er ist mehr ein authentischer und charismatischer Bösewicht. Um ehrlich zu sein ist er der beste Antagonist, den ich jemals erschaffen habe, weil er wirklich das pure Böse verkörpert. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Okay Leute, lasst die Fackeln und Heugabeln bitte noch zuhause! Die Geschichte ist noch nicht ganz vorbei! Es folgen noch ein Kapitel und ein Epilog! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie versprochen gibt es doch noch ein Happy End. Nach einer tagelangen Irrreise hat Sam endlich das Ziel erreicht und gefunden, wonach er gesucht hat. Denn egal wie unmöglich es auch erschien, er hat bis zuletzt nicht die Hoffnung aufgeben wollen.

Ich muss zugeben, ich habe, als ich die letzten Sätze geschrieben habe, selber fast heulen müssen und war selbst zutiefst bewegt. Aber letzten Endes ist es für mich das schönste Happy End, welches ich bisher in meinen Geschichten gehabt habe. Vielleicht weil es auch daran liegt, weil „Mesmerize Me!“ für mich mein bestes Werk ist. Es gab so viele Emotionen, so viel Dramatik und Spannung, Erotik und Momente, in denen man mittrauert, oder vor Freude weinen will. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, damit ist es geschafft. Mesmerize Me! hat sein Ende gefunden. Fast vier Monate der Spannung, der tränenreichen Emotionen, der Dramatik und auch romantischen Momente. Ich sehe es mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Für mich ist es das perfekte Ende geworden, um ehrlich zu sein. Denn auch der Epilog hat seine Höhen und Tiefen und zeigt, dass das Leben nicht immer ein perfektes Happy End haben muss. Es kann gut verlaufen, muss es aber nicht. Für manche geht das Leben ganz normal weiter, für manche verbessert sich alles und manche wiederum haben weniger Glück. Ich wollte realistisch bleiben und zeigen, dass das Leben seine guten und schlechten Momente hat. Was zählt ist, dass man nicht aufgibt und für sein Glück kämpft. Egal wie schwer es auch sein mag. Ich weiß nicht, ob ihr die Zitate zu Anfang der Kapitel gelesen habt. Aber das Zitat für den Epilog fand ich persönlich am allerschönsten und ist für mich auch im Grunde die Kernaussage für diese Geschichte, insbesondere was Araphels Geschichte betrifft.

Eventuell überlege ich, ein Prequel zu Mesmerize Me! zu schreiben, wo die Geschichte zu Dr. Heian und Morphius beginnt, als sie sich an der Universität kennen lernten.

Ich hoffe, ich konnte euch mit Mesmerize Me! eine schöne Zeit bereiten. Ich danke euch für eure Kommentare und für die Gefühle, die ihr mit mir geteilt habt. Die Freude über die romantischen Momente, die Trauer über die Tode von Christine, Sergej und den anderen, die Fassungslosigkeit über die grausamen Dinge, die in dieser Geschichte erzählt wurden, die Traurigkeit über Araphels Tod und die unendliche Freude darüber, dass es letzten Endes doch noch alles gut gegangen ist. Es freut mich, wenn ich euch zu guter Letzt ein Lächeln schenken konnte. Danke für eure Gefühle und eure Gedanken, die ihr mit mir geteilt habt! Komplett anzeigen

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Von:  CharlieBlade1901
2016-08-21T14:48:25+00:00 21.08.2016 16:48
Ok also döse Geschichte haut mich echt um. Ich hab sie heute den ganzen Tag gelesen und ich muss sagen ganz egal wie dramatisch du es machst du sorgst dich immer für das Wohlsein der Figuren, die grade wichtig sind.
Von:  Remi-cookie
2016-02-19T21:07:45+00:00 19.02.2016 22:07
Alles durch gelesen, bin baff.
Du kannst so toll schreiben und es war nie ein Stück langweilig gewesen. Das beste ist das Epilog, ich bin ein totaler Epilog- Fan. Ich hasse es, wenn es keinen Epilog gibt, deswegen einen fetten Umarmung von mir.
Lg remi-cookie
PS: die anderen Geschichten sind auch voll nice
Antwort von:  Sky-
19.02.2016 22:23
Vielen Dank. Es freut mich zu hören, dass es durchweg unterhaltsam war und ich muss gestehen: ich bin auch ein absoluter Epilog-Liebhaber. Auch Prologe schreibe ich total gerne, die zwar im ersten Augenblick nicht in die Story passen, aber trotzdem einen wichtigen Punkt der Geschichte darstellen. Und das ist meist ein Blick in die Vergangenheit. Und Epiloge sind für mich meist das Schönste an Geschichten. Sie bilden einen wunderbaren und harmonischen Abschluss einer Geschichte und ich wollte unbedingt zeigen, was aus den anderen geworden ist. Nicht alle haben das perfekte Traum-Happyend, aber es ist realistisch geblieben. Und ich habe alle Charaktere so lieb gewonnen, dass ich sie nicht völlig ins Abseits geraten lassen wollte, während Araphel und Sam ihr glückliches Wiedersehen feiern.
Antwort von:  Remi-cookie
20.02.2016 01:17
Ja ich fand den Prolog echt passend und spannend ui makoto und dr. Heien hab ich so lieb gewonnen und und und bonni ich glaube meine Bezahlung wäre auch Fotos von gut aussehende :'D
Von:  FalkenWoelfin
2016-02-17T19:44:44+00:00 17.02.2016 20:44
richtig schönes Ende :)
ich dachte mir ja schon das du es nicht einfach so Enden lassen würdest
und bin dir wirklich Dankbar für dieses Happy End <3
Von:  -Pharao-Atemu-
2016-01-15T20:03:53+00:00 15.01.2016 21:03
Endlich schaffe ich es die ff zu lesen bitte Geduld mit mir😅
Von:  Mewney
2016-01-04T10:17:58+00:00 04.01.2016 11:17
Ein tolles Happyend. :-)
Von:  Onlyknow3
2015-12-22T06:27:20+00:00 22.12.2015 07:27
Hach das hab ich mir doch fast schon gedacht das es so endet, auch wenn es so aussah als ob Araphel tod wäre.
Da sind mir beim lesen dann doch die Tränen gekommen, doch etwas hat mich stutzig gemacht nämlich das Victor da war.
Er war der einzige der ihm helfen konnte Amerika als Lebender zu verlassen, und deshal wollte dieser auch nicht das Sam da rein geht in die Flammenhölle, aus dem er dann Araphel rettete. Anders kann es nicht gewesen sein, und das war es auch was sich wohl Sam gesagt hat. Darum war er auch so davon überzeugt, das Araphel noch lebt.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2015-12-21T19:31:06+00:00 21.12.2015 20:31
Sam kann einem hier nur leid tun, doch sein Geliebter Araphel lässt ihn zurück um ihn zu schützen.
Ob sich die beiden je wieder sehen, ist ungewiss. Doch wäre es Sam zu wünschen das es so wird.
Weiter so, freue mich auf das nächste Bild.

LG
Onlyknow3
Von:  mor
2015-12-01T16:28:14+00:00 01.12.2015 17:28
Der beste Epilog den ich bisher Gelesen habe
Von:  Seranona
2015-12-01T08:51:41+00:00 01.12.2015 09:51
hach...das ist so schön...
ein happy end...
ich musste im letzten kapitel fast weinen...als er araphel wieder gefunden hatte.
Du bist echt eine begnadete autorin ^-^

Ich muss mich bei dir einfach für diese tolle Story bedanken.
Sie hat gefesselt.
Von:  FannyNeko
2015-11-30T23:07:30+00:00 01.12.2015 00:07
gut ich pack meine fackeln und die mistgabel wieder weg, da hast du echt noch mal glück gehabt, obwohl ich von anfang an nicht geglaubt habe das er sich erschossen hat, das passte nicht.

ich bin echt froh das er noch lebt
schones ende


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