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Mesmerize Me!

The Play of Snake and Lion
von

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Die Augen eines Opfers, die Hände eines Täters

„Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.“
 

Bibel 1. Mose 9.6
 

Araphel war in seine Arbeit vertieft und versuchte sich zumindest darauf zu konzentrieren, doch leicht fiel es ihm nicht. Seine Gedanken kreisten um das, was Christine ihm erzählt hatte und als er wieder an ihre Worte dachte, dass sie Ahava damals erschossen hatte, überkam ihn blinde Wut und er warf die Tasse an die Wand. Warum nur hatte sie ihm so etwas antun müssen? Er hatte ihr immer vertraut, sie war wie eine Schwester für ihn und nach Ahavas Tod die Einzige, zu der er einen engeren Bezug hatte. Und sie belog ihn einfach vier Jahre lang. Wie hatte er sich nur so in ihr täuschen können? Christine war diejenige gewesen, die ihn nach Ahavas Tod aufgefangen und ihm Halt gegeben hatte. Auch wenn sie oft Meinungsverschiedenheiten hatten und es wegen ihrer Krankheit nicht immer leicht war, sie war immer die gute Seele im Haus gewesen, wusste immer für gute Stimmung zu sorgen und ließ sich von nichts und niemandem unterkriegen. Er hatte ihr blind vertraut und sie hinterging ihn. Wie sollte er da überhaupt noch jemandem vertrauen? Am liebsten hätte er ihr noch eine reingehauen und sie auf die Straße gejagt und sich nicht weiter darum geschert, was aus ihr wurde. Und wenn sie halt an die Yanjingshe geriet, was sollte es ihn schon kümmern, nachdem sie ihn so verraten hatte? Doch er konnte es nicht. Egal wie wütend er auch auf sie war, er konnte sie einfach nicht fortschicken und riskieren, dass sie wieder als Sexsklavin des Slave Shipping Services endete und durch dieselbe Hölle ging, die seine Schwester erleiden musste. Das konnte er ihr selbst nach diesem Verrat nicht antun. Doch Fakt war, dass es nie wieder so wie früher sein würde. Er würde ihr niemals verzeihen können, dass sie ihm seine Schwester genommen hatte, selbst wenn sie es getan hatte, weil sie Ahava helfen wollte. Sie hatte ihm das Wertvollste genommen, was er besaß und das würde er ihr nie im Leben vergeben. Er wollte sie weitestgehend aus seinem Leben streichen, sie aber dennoch hier leben lassen, damit sie wenigstens vor der Yanjingshe sicher war. Das war die einzige Geste, die er ihr noch zuteil kommen ließ.

Die Tür würde aufgerissen und Araphel, der seinen Leuten mehr als oft genug eingebläut hatte, ihn nicht bei der Arbeit zu stören, schaute auf um festzustellen, wer der Störenfried war. Es war Morphius, der ziemlich gehetzt wirkte und Sergej Camorra in Begleitung hatte. Und das war mehr als seltsam, denn der Bostoner Patriarch kam niemals unangekündigt zu Besuch. Da achtete er sehr penibel darauf.

„Schlechte Nachrichten“, keuchte Morphius und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich habe von Bonnie erfahren, dass Shen seit drei Tagen bereits wieder im Land ist. Er ist unerkannt aus Shanghai wieder zurück.“

„Was?“ rief Araphel fassungslos und stand auf. „Shen ist… Was ist mit Sam und den anderen? Hast du sie schon angerufen?“

„Keiner von ihnen geht ans Telefon. Ich hab erfahren, dass Owen erschossen wurde und ich fürchte, sie sind von der Triade verschleppt worden.“

Araphel war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Er hatte schon die ganze Zeit so ein ungutes Gefühl gehabt, doch er hatte gehofft, dass er sich irrt. Doch der schlimmste Fall war eingetreten. Shen war unerkannt wieder ins Land zurückgekehrt und hatte Sam, Christine, Asha und Yin entführt. Und er wusste nur zu gut, dass ihnen noch Schlimmes blühen würde, wenn sie sich in Shens Gewalt befanden. Das würden sie nicht überstehen. Dieses Monster würde sie seelisch brechen so wie er es mit Ahava getan hatte.

„Verdammt, ich muss sie finden und da sofort rausholen. Morph, Sam trägt noch einen implantierten Peilsender für den Notfall. Orte ihn für mich und ruf meine besten Leute zusammen.“

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden“, beschwichtigte Sergej ihn. „Ich habe da schon einen Plan.“

„Wie bitte?“ fragte Araphel und war für einen Moment irritiert. „Du und einen Plan? Wie lange weißt du schon davon?“

„Seit vorhin, als ich durch zuverlässige Quellen erfahren habe, dass die Schlange in ihr Nest zurückgekehrt ist. Wir müssen die Sache taktisch angehen, mein Junge. Du weißt, dass Shen sie gefangen hält, um dich aus der Reserve zu locken und weil er genau weiß, wie er dich am besten treffen kann. Wenn du unvorsichtig wirst, dann wirst du nur in seine Falle tappen. Also sei vernünftig und…“

„Ich sitze doch nicht untätig hier rum, während Sam und die anderen gefoltert werden und wer weiß was durchmachen müssen. Du weißt, was Shen für ein Monster ist.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen“, sagte Sergej ruhig, aber mit deutlichem Nachdruck in der Stimme. „Aber wenn du einfach so da reinspazierst, wird es in einem Desaster enden und das wissen wir beide. Er wird dich wieder in die gleiche Situation wie damals bringen und dann wird er dich so lange quälen, bis er dich zu seinem Spielzeug gemacht hat. Alleine kommst du gegen ihn nicht an und das musst du langsam mal akzeptieren. Keiner von uns kann allein gegen ihn gewinnen.“

„Und was schlägst du dann vor?“ fragte Araphel aufgebracht. „Soll ich sie im Stich lassen?“

„Das habe ich nicht von dir verlangt“, erklärte der Patriarch und nahm auf einem Stuhl gegenüber vom Schreibtisch Platz. „Ich kann dich persönlich nicht unterstützen, weil es unsere Gesetze verbieten. Aber ich werde dich indirekt unterstützen. Ich habe nämlich mit Shen ein kurzfristiges Treffen ausmachen können und ihm erzählt, es würde um dringende Angelegenheiten gehen, die sich nicht aufschieben lassen. Er kann deshalb nicht einfach seinen Berater hinschicken, vor allem weil wir Geschäftspartner sind. Ich bin dein Ablenkungsmanöver und während ich mit ihm im Gespräch bin, stürmst du mit deinen Leuten das Gebäude und holst sie da raus. Das ist vernünftiger, als Shen einfach in die Arme zu laufen. Vor allem weil du genau weißt, worauf es dann hinausläuft.“

Araphel schwieg und war innerlich hin und her gerissen. Einerseits hatte Sergej Recht und er würde nur blindlings in Shens Falle tappen, wenn er da einfach so reinging. Aber wenn er zu lange wartete, würde er weiß der Teufel noch was mit den anderen anstellen. Was, wenn er sie alle schon längst getötet hatte? Was, wenn er vorhatte, Sam die Beine zu amputieren? Wie konnte er da so ruhig bleiben?

Schließlich aber legte Sergej ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn fest an.

„Überlass Shen mir, ja? Ich werde schon dafür sorgen, dass du früh genug Unterstützung für deine Vendetta bekommst und dass du die anderen rausholen kannst. Aber lass dich nicht von deinen Emotionen beherrschen, denn dann wirst du unvorsichtig und das wird er ausnutzen. Er kennt deine Schwächen und spielt mit dir. Ich kann nichts versprechen, aber ich werde ihn in ein Gespräch verwickeln, damit du die Möglichkeit hast, Sam und die anderen zu befreien.“

„Aber wird er nicht misstrauisch werden?“ fragte der Informant nach. „Shen ist zu intelligent, um so etwas nicht zu bemerken.“

„Natürlich wird er das, aber er wird sich darauf einlassen, weil es ihm auch eine gute Gelegenheit bietet, mal wieder einen Mordanschlag auf mich zu verüben. Für ihn ist es die perfekte Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und so etwas lässt er sich garantiert nicht entgehen. Darum setzen wir alles auf eine Karte und wagen es trotzdem. Das Treffen findet in knapp zweieinhalb Stunden statt. Natürlich ist es viel Zeit wenn man bedenkt, wie Shens Charakter ist. Aber es ist nicht genug Zeit, um sie ins Ausland zu schaffen oder einen so schweren medizinischen Eingriff vornehmen zu lassen. Und es ist besser als nichts. Wenn du einfach so reinspazieren würdest, würdest auch du in Gefangenschaft geraten und könntest gar nichts mehr ausrichten. Dann gäbe es für alle keine Rettung mehr. Ich werde sehen, dass ich ihn so lange wie möglich beschäftigt bekomme und ich verlasse mich darauf, dass du das Beste daraus machst.“

„Sergej…“

„Ich habe deinem Vater versprochen, mich um euch zu kümmern, sollte ihm etwas zustoßen. Ich konnte deiner Schwester nicht helfen, aber ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass du in Shens Fänge gerätst. Nicht solange ich noch was zu sagen habe. Zwar habe ich eigene Kinder, aber du bist für mich auch fast wie ein eigener Sohn und darum werde ich auch sicher nicht mit ansehen, wie du in so eine Falle rennst. Wir kriegen das hin, okay? Lass dich nicht von deinen Emotionen beherrschen und konzentriere dich auf dein Ziel.“

Daraufhin legte Sergej einen Arm um ihn und gab ihm eine väterliche Umarmung, die Araphel Kraft spenden sollte. Doch gleichzeitig wirkte sie auch wie ein endgültiger Abschied.
 

Sam wurde auf eine ziemlich grobe Art und Weise aufgeweckt, als ihm eiskaltes Wasser ins Gesicht gespritzt wurde. Schlagartig wurde er wach und bemerkte, dass er an den Handgelenken gefesselt war und die Fesseln an einer Kette befestigt waren, die von der Decke hing. Sein Oberkörper war nackt und er sah Yin und Asha auf dem Boden liegen. Beiden hatte man die Prothesen abgenommen, sodass ein Fortlaufen für sie unmöglich war. Auch Christine fehlte die Prothese, wodurch sie deutlich eingeschränkt war. Sie blutete an der Stirn und hatte einen ziemlich heftigen Schlag abbekommen. Sowohl sie als auch die anderen beiden waren schon wach und direkt vor Sam stand eine Person, deren Anblick allein ihm schon einen Schauer über den Rücken jagte. Es war Shen Yuanxian, der Boss der Yanjingshe und einer der führenden Kräfte des Slave Shipping Services. So ein verdammter Mist, dachte er sich als ihm klar wurde, in welch eine Situation sie geraten waren. Ich war viel zu unvorsichtig. Ich hätte eigentlich schon bei der Sache mit dem Wagen in der Lagerhalle Verdacht schöpfen müssen. Aber da er dachte, Shen sei nicht im Land und der Mann wäre, nur weil er kein Chinese war, ganz harmlos. Er hatte sich zu sicher gefühlt und das war ihm jetzt teuer zu stehen gekommen.

„Beehren Sie uns also auch mit Ihrer Aufmerksamkeit, Mr. Leens?“ fragte er und ein Lächeln, welches an Falschheit nicht zu überbieten war, spielte sich auf seine Lippen, während in seinen Augen nichts als eiskalte Leere zu sehen war, als wären es die Augen eines Toten. Sam wusste, wie gefährlich dieser Mensch war und dass es einem Todesurteil gleich kam, sich in Gefangenschaft bei ihm zu befinden.

„Es ist mir wirklich eine Freude, Sie als mein persönlicher Gast begrüßen zu können.“

„Was wollen Sie von uns?“ fragte der Detektiv gerade heraus und sah ihn fest an, wobei er versuchte, sich seine Angst vor diesem Menschen nicht anmerken zu lassen. Er wollte ihm nicht noch mehr Angriffsfläche bieten und er musste diesen Kerl irgendwie beschäftigt kriegen, damit dieser nicht noch auf die Idee kam, den anderen etwas anzutun. Immer noch lächelte Shen, doch das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Es lagen tiefe Abgründe darin und sie spiegelten die Finsternis wieder, in der er aufgewachsen war.

„Ich habe mir mein Eigentum zurückgeholt“, erklärte er ruhig. „Araphel hat mir vor vier Jahren Ware gestohlen und die hole ich mir eben zurück. Ich habe ihm angeboten, ihm eine Entschädigung zu zahlen, wenn er sie mir freiwillig zurückgibt, aber er hat abgelehnt, also habe ich mein Recht eingefordert und sie selbst zurückgeholt.“

„Um sie dann wieder als Sexsklaven zu verkaufen?“ fragte Sam direkt. Auch wenn er wusste, dass er sich damit selbst in Gefahr brachte, er musste ihn so lange es ging beschäftigen, damit er sich bloß nicht an Christine und den anderen vergriff. Er musste Zeit schinden, denn er wusste, dass Araphel nach ihnen suchen würde, wenn er etwas bemerkt hat. „Wieso tun Sie so etwas, wenn Sie doch genauso ein Opfer der Triade sind und Ähnliches durchgemacht haben?“

„Sie scheinen offenbar über meine Vergangenheit Bescheid zu wissen“, bemerkte Shen, dessen Gesichtszüge unverändert blieben. Er strahlte nichts als Kälte und Gefahr aus und nun sah der Detektiv auch mehr als deutlich, dass das kein Mafiaboss in dem Sinne war, sondern ein extrem sadistischer Psychopath. „Wissen Sie, Mr. Leens… das alles hier ist nur die Konsequenz der Dinge. Die Triade machte mich zu ihrem Spielzeug, nun mache ich sie zu meinem. Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu meinem Bordell. Die Menschen machten mich zu einem Monster, dementsprechend werde ich sie die Folgen spüren lassen.“

„Mit anderen Worten: Sie wollen Rache an der Menschheit üben.“

„Rache klingt ein wenig zu banal ausgedrückt. Ich befriedige lediglich die dunkelsten Begierden der Menschen und gebe ihnen das, was sie gleichzeitig verlangen und verabscheuen. Die Menschen haben diese Hölle selber erschaffen, nicht ich. Was glauben Sie wohl, warum es solche Dinge gibt, die Sie gesehen haben? Weil die Menschen von Grund auf verdorben sind. Sie sind das Gift dieser Welt und sie leben ihr ganzes Leben lang mit einer Doppelmoral, um ihre Falschheit zu verbergen. Sie haben keine Ahnung, Mr. Leens. Sie wissen nicht, wie es ist, von den eigenen Eltern im Alter von sechs Jahren an ein Bordell verkauft zu werden und tagtäglich den Tod vor Augen zu haben. Sie haben nicht sehen müssen, wie Ihr Bruder vor Ihren Augen verblutet ist und wie es ein sadistischer Freier stundenlang mit seiner Leiche getrieben hat, während Sie zuschauen mussten. Sie haben keine Vorstellungen, wie verdorben und falsch die Menschen wirklich sind. Glauben Sie wirklich, dass es eine Tugend ist, für Dinge wie Gerechtigkeit einzustehen? Gerechtigkeit ist nur die Rechtfertigung dafür, über andere urteilen zu können und die Menschen urteilen über andere, weil sie sich nicht selbst eingestehen wollen, dass es sie tief in ihrem Herzen danach lüstet, genauso solche Dinge zu tun. Ein Kind zu missbrauchen, einer Frau den Schädel einzuschlagen und sich an der Leiche zu vergehen, einen Menschen zu foltern und ihn in den Wahnsinn zu treiben. Dieser destruktive Trieb steckt in uns allen, auch in ihnen. Ich bin hier nicht der Schuldige, sondern allein die Menschen, die ihre kranken Fantasien ausleben und es den Himmel auf Erden nennen. Und ich weiß, dass auch Sie tief in Ihrem Herzen bei der Vorstellung erregt werden, ein junges und unschuldiges Kind zu haben, das Ihre tiefsten Gelüste dadurch befriedigt, indem es Ihnen allein zur Verfügung steht und nicht fortlaufen kann.“

„Das ist krank!“ rief Christine angewidert. „Was Sie sich in Ihrem Kopf zusammenspinnen, das ist Ihre Sache. Aber wir müssen uns ja wohl nicht unterstellen lassen, dass wir so etwas tun würden.“

„Christine!“ rief Sam ermahnend, doch es war schon zu spät. Sie war in Shens Visier geraten und er würde sich so etwas garantiert nicht gefallen lassen. Dazu war er einfach zu stolz. Er duldete keine Widerworte. Mit langsamen aber sehr erhabenen Schritten kam er näher und blieb einen Moment vor Christine stehen. Dann aber trat er ihr direkt ins Gesicht und als sie für einen Moment benommen und regungslos auf dem Boden lag, trat er auf ihre Hand. Es gab ein hässliches Knirschen, als die Knochen brachen und vor Schmerz schrie die Rothaarige auf. Es war ein entsetzlicher Schrei, der Sam einen Schauer über den Rücken jagte. Denn es war ein Schrei, der nicht nur von Schmerzen zeugte. Er mischte sich mit einer schrecklichen Erinnerung an eine Zeit, an die sich niemand würde erinnern wollen. Christine lag vor Schmerz schreiend auf dem Boden und hielt sich ihre gebrochene Hand. Shen genoss diesen Anblick, das sah Sam sofort. Er genoss es, Macht über andere zu haben, sie zu quälen und sie das fühlen zu lassen, was sie ihm damals angetan hatten. Er wollte sie seinen kalten Zorn spüren lassen und dabei war es ihm völlig egal, wen er damit traf. Sam erkannte, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihm und Araphel gab. Doch Araphels Zorn war ein heißer Zorn. Er verlor dann die Beherrschung, entäußerte sich seiner Wut und trug sie nach außen. Doch Shens Zorn war eiskalter Natur. Er lebte seinen Hass gegen die Menschen auf eine vollkommen gefühlskalte Ebene aus, lebte seinen Sadismus an ihnen aus und wurde dennoch nicht emotional. Wahrscheinlich war dieser Mensch auch gar nicht mehr zu Emotionen fähig. Nach alldem, was er als kleiner Junge hatte erleiden müssen, hätte man auch nicht erwarten können, dass er dazu noch imstande war. Er hatte diese Gefühle abgelegt, weil sie ihn sonst getötet hätten. Er fühlte nur Hass und Verachtung.

„Offenbar hast du vergessen, dass Abschaum wie du nicht in solch einem Ton mit mir zu reden hat. Wie es scheint, hast du zu viel Freiheiten genossen, als du bei Araphel warst.“

„Hören Sie auf damit!“ rief Sam, woraufhin er noch ein „Bitte!“ hinzufügte, um die Situation nicht noch weiter zu verschlimmern. Es wäre absolut nicht förderlich gewesen, wenn er Shen noch weiter provozierte. Shen wollte, dass man sich ihm unterordnete und ihm das Gefühl von Macht gab. Wenn er ihm das gab und auf ihn diese Weise milder stimmte, würde es hoffentlich nur bei der gebrochenen Hand bleiben. Yin und Asha sagten gar nichts. Sie hatten zu viel Angst, als dass sie auch nur einen Ton hätten hervorbringen können. Vielleicht war dies ja auch besser so. Ansonsten wäre die ganze Situation noch völlig unüberschaubar und chaotisch geworden.

Shen wandte sich wieder ihm zu und damit hatte Sam erreicht, was er wollte. Solange dieser Kerl Christine vorerst keine Aufmerksamkeit schenkte, reichte das völlig.

„Du bittest mich?“ stellte er fest und wieder war da dieses eiskalte Lächeln. Selten hatte ein Mensch Sam solch eine Angst eingejagt wie Shen, doch er hielt seinem Blick stand.

„Ja“, bestätigte der Detektiv kleinlaut. „Bitte tun Sie ihr nichts.“

„Da gibt es nur einen Haken“, erklärte Shen. „Sie ist mein Eigentum, genauso wie diese anderen beiden. Ich habe Reesa von den Kinderhändlern gekauft und damit gehört sie allein mir. Sie sind Ware, nicht mehr und nicht weniger. So funktioniert nun mal die Welt der Mafia. Wer mittellos ist, der gerät in ihre Fänge und wird als ihr Eigentum gekennzeichnet.“

Sam sagte nichts, sondern sah Shen nur an. Es musste für Araphel wirklich die Hölle gewesen sein, es wochenlang bei ihm aushalten zu müssen, weil er dachte, seine Schwester auf diese Art und Weise retten zu können. Allein der Gedanke an diese Narben ließ ihn aufs Neue erschaudern. So etwas wollte er weder selbst erleben, noch wollte er es den anderen zumuten.

„Ein weiteres Problem ist, dass ich mit ihnen nichts mehr anfangen kann. Weißt du, meine Kunden stehen auf junge Ware. Maximal 28 Jahre, danach mache ich nur Verlust mit meiner Ware.“

„Und warum haben Sie sie dann entführt?“

„Es geht mir ums Prinzip“, erklärte Shen mit eiskalter Stimme. „Was mir gehört, das hole ich mir zurück.“

Sam wusste noch einen Grund. Shen nutzte sie als Köder, um Araphel in eine Falle zu locken, weil er genau wusste, dass dieser sofort kommen würde.

„Es geht Ihnen um Araphel, nicht um uns“, sagte er deshalb. „Es ist Ihnen immer schon um Araphel gegangen.“

„Und wenn dem so wäre?“ fragte der 42-jährige daraufhin mit einer unheimlichen Selbstüberzeugung.

Christine, die sich halbwegs von den Schmerzen erholt hatte, schrie schon längst nicht mehr, hielt sich aber immer noch die lädierte Hand. Sie setzte sich auf und ihr Gesicht war blass. Ernst lag in ihrer Miene und sie wirkte in diesem Moment viel älter als sie eigentlich war.

„Er wird nicht kommen“, erklärte sie. Natürlich erregte das wieder Shens Aufmerksamkeit und er wollte wissen, warum sie sich da so sicher war.

„Weil ich seine Schwester getötet und ihn hintergangen habe. Meinetwegen wird er ganz sicher nicht kommen, darauf können Sie lange warten.“

Nun lachte Shen. Sam gefiel dieses Lachen nicht, es bedeutete nichts Gutes.

„Ach wirklich? Na das ist ja eine nette Geschichte. Hattest du seine Schwester etwa von ihrem Leid erlösen wollen? Oder war dein Wunsch nach einer Familie so stark, dass du ihren Platz einnehmen wolltest, weil du dachtest, du könntest ihn glücklich machen? Ich glaube du irrst dich, meine liebe Reesa. Er wird ganz gewiss kommen. Während mich der so geschätzte Patriarch in ein Gespräch verwickeln will, wird Araphel kommen, um euch zurückzuholen.“

„Ich bin nicht mehr Reesa!“ rief Christine. „Und ich bin auch nicht mehr dein Spielzeug, deine Ware oder die Sexsklavin von irgendjemandem. Genauso wenig wie die anderen und ich werde nicht zulassen, dass du irgendjemandem etwas antun wirst. Selbst wenn du mir beide Arme brechen und mir das andere Bein nehmen solltest, dann werde ich dir den Schwanz abbeißen, damit du dich nie wieder an irgendjemandem vergehen kannst!“

Was macht sie da, fragte sich Sam und spürte Angst. Wenn sie so weitermacht, wird er ihr etwas antun. Sie wird doch nicht etwa das Gleiche vorhaben wie ich und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, um mich zu beschützen?

„Christine, hör auf!“ rief er und versuchte an seinen Fesseln zu zerren, doch es brachte nichts. „Sei still!“

„Ach wie rührend“, meinte Shen und schmunzelte. „Jeder will den anderen beschützen und stellt sich dafür als Zielscheibe zur Verfügung. Wirklich reizend. Macht ihr das vielleicht, weil ihr Zeit schinden wollt? In dem Fall muss ich euch enttäuschen. Von euch wird nur einer hier lebend herauskommen. Nämlich ohne Arme und Beine.“

Und dabei schaute er Sam an, dem das Blut in den Adern gefror. Dieses Bild tauchte vor seinen Augen auf. Er in derselben Lage wie Ahava vor vier Jahren. Verstümmelt und gebrochen. Doch er würde auch seine Arme verlieren. Shen bluffte nicht, er meinte es todernst. Entsetzt sah er zu Yin und Asha, die völlig verängstigt in der Ecke kauerten und sich klein machten, um bloß nicht in Shens Blickfeld zu geraten. Sie mussten Todesangst vor ihm haben, Christine sicherlich auch. Doch sie versuchte zumindest stark zu bleiben und Shen möglichst davon abzuhalten, irgendjemandem von ihnen etwas anzutun. Und wenn sie sich dann eben opfern musste.

Schließlich machte der Chinese einen kleinen Schritt rückwärts und breitete die Arme aus.

„Nun? Wollt ihr mich denn nicht länger hinhalten? Warum machen wir nicht gleich ein kleines Spiel daraus? Wer will denn anfangen und sich heldenhaft für die anderen opfern?“

Sam biss sich auf die Unterlippe. Wenn er nichts unternahm, dann würde einer von den anderen sterben, so viel stand fest. Und wenn er erst mal ein Bein verlor, er würde es verkraften. Yin und Asha lebten immerhin gänzlich ohne Beine. Es würde schlimm sein, aber er konnte dann vielleicht den dreien das Leben retten. Doch gerade, als er den Mund aufmachen wollte, um etwas zu sagen, da kam Christine ihm zuvor, die fest entschlossen war, nicht zuzulassen, dass ihm etwas passierte. Denn sie wusste, dass er Araphel wichtiger war. Wenn er Sam verlor, würde es ihn endgültig brechen und das durfte sie nicht zulassen.

„Dann fang mit mir an, wenn du es nicht lassen kannst, du kranker Scheißkerl!“

Wortlos ging Shen daraufhin zur Tür raus und verschloss sie hinter sich. Keiner konnte sich so wirklich erklären, was das zu bedeuten hatte. Doch Sam ahnte nichts Gutes. Und tatsächlich kam Shen kurz darauf wieder zurück. Er hatte etwas bei sich, was der Detektiv schon mal auf Farmen gesehen hatte, nämlich ein Glüheisen, welches bei Tieren benutzt wurde, um ihnen ein Brandzeichen zu verpassen. Doch wen würde es treffen? Wen hatte er im Visier?

„Tja meine liebe Reesa… Dein Engagement für diesen jungen Mann ist durchaus löblich, aber mir gefällt dein Ton nicht.“

Christines Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie wusste, was der 42-jährige vorhatte und versuchte ihn daraufhin mit ihrem gesunden Arm festzuhalten, um ihn daran zu hindern.

„Nein! Lass Sam in Ruhe! Fass ihn nicht an!“

Sam sah mit Entsetzen das glühende Eisen, welches leicht qualmte. Auf dem Siegel war eine Schlange zu sehen, das Zeichen der Yanjingshe. Mit so einem Eisen war auch Araphel vor vier Jahren gebrandmarkt worden. Der Detektiv bekam Angst, vor allem weil er wusste, dass es unumgänglich war. Er versuchte ruhig zu atmen und nicht in Angst zu verfallen. Araphel hatte das auch durchstehen müssen und wenn er das nicht ertrug, würde Shen stattdessen die anderen foltern. Auch wenn dieser verdammte Psychopath längst seinen Plan durchschaut hatte, Zeit zu schinden und dies zu seinem Vergnügen ausnutzte, er musste es den anderen zuliebe durchstehen.

Einen Moment lang geschah nichts, wahrscheinlich wollte Shen ihn noch ein klein wenig zappeln lassen. Dann aber spürte er, wie sein Shirt hochgezogen wurde und dann brannte sich auch schon das glühende Eisen in seinen Rücken. Ein infernalischer Schmerz durchfuhr seinen Körper und er schaffte es nicht, seine Stimme zu unterdrücken, um Shen diese Genugtuung nicht zu gönnen. Er schrie laut auf, als das glühend heiße Metall seine Haut versenkte und die Luft vom beißenden Gestank von verbrennendem Fleisch erfüllt wurde. Dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu jenem, den er zu Anfang von Araphel zu spüren bekommen hatte. Dieser hier war bei weitem schlimmer. Für einen Moment hatte er sogar das Gefühl, durch diesen höllischen Schmerz das Bewusstsein zu verlieren. Tränen sammelten sich in seinen Augen und für eine Weile nahm er nichts anderes wahr außer dem Schmerz und diesem widerlichen Geruch nach verbranntem Fleisch. Und er glaubte, auch Christine schreien zu hören, wie sie Shen anflehte, damit aufzuhören. Ihre Stimme klang verzweifelt und flehend, er sah die Angst in ihren Augen Doch es war nicht die Angst vor Shen, sondern die Angst um ihre Freunde… ihre Familie.

Schließlich wurde das glühende Eisen von Sams Haut genommen, doch der Schmerz pochte immer noch nach. Er war wie benommen und schaffte es nicht, seine Konzentration zusammenzuraffen. Immer noch war ihm, als würde sein ganzer Körper lodern und es tat so unendlich weh. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und er war kreidebleich. Durch den Schmerz befand sich sein Körper momentan in einer Art Schockzustand, wodurch seine Wahrnehmung betäubt wurde, aber gleichzeitig sank auch seine Fähigkeit, klar und vernünftig denken zu können. Ein widerlicher Kupfergeschmack lag auf seiner Zunge, der ihm Übelkeit bereitete.

Benommen sah er zu Shen, der sich an diesem Anblick regelrecht weidete. In diesem Moment fragte er sich wie viel ein Mensch in seiner Kindheit hatte ertragen müssen, um zu solch einem Monster zu werden, das nur davon lebte, anderen wehzutun.

„So und nun bin ich an der Reihe, zu entscheiden“, sprach der Chinese und ein eiskaltes Lächeln spielte sich auf seine Lippen. „Da Reesa die Entscheidung gefällt hat, dich zu retten, wird dafür ein anderer den Preis zahlen müssen.“

Und damit ging Shen auf Yin und Asha zu, die verängstigt da in der Ecke kauerten und nicht fliehen konnten. Sie waren vollkommen wehrlos und wussten, dass sie Shen nichts entgegensetzen konnten. Angsterfüllt hielten sie einander im Arm, zitterten am ganzen Körper und nackte Todesangst spiegelte sich in ihren Augen. Dann aber packte Shen Yin an den Haaren und zerrte sie von Asha weg. Als Christine das sah, mobilisierte sie ihre ganze Kraft und versuchte, irgendwie zu ihnen zu gelangen, doch mit nur einem Bein und einem gebrochenen Arm war das eigentlich vollkommen sinnlos. Sie schrie sich fast die Seele aus dem Leib und rief immer „Lass sie los! Nein bitte! Lass sie los!“

Noch nie hatte Sam sie so verzweifelt gesehen. Sie war eine Kämpferin, die sich nicht so leicht einschüchtern ließ, aber diese Situation war für sie die Hölle. Zu wissen, dass jemand gleich vor ihren Augen sterben würde und sie nichts tun konnte, um das zu verhindern, war mehr als sie ertragen konnte. Sie konnte nichts tun, um Yin zu retten und das nur, weil ihr dieses eine gottverdammte Bein fehlen musste und man ihr den Arm gebrochen hatte. Sam erkannte nun trotz seiner Benommenheit, wie Shen seine Gegner wirklich vernichtete: er hielt ihnen ihre eigene Unfähigkeit und Machtlosigkeit vor Augen, während er ihnen das nahm, was ihnen am wichtigsten waren. Er ließ sie das alles mit ansehen, um sie somit zu brechen.

Sam, durch Christines verzweifelte Schreie wieder einigermaßen bei klarem Verstand, begann wieder an seinen Fesseln zu zerren. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht rein, doch das Einzige, was er erreichte, war nur, dass er sich die Handgelenke aufscheuerte, doch seine Fesseln gaben nicht nach. Und so blieb ihm nur hilflos mit anzusehen, wie Shen ein Schwert aus einer vergoldeten Scheide hervorholte, Yin an den Haaren hochzerrte und ihr dann die Kehle durchschnitt, die Klinge immer tiefer ins Fleisch schnitt und ihr dann schließlich den Kopf abtrennte.
 

Blut… überall war da Blut… Sam kam sich für einen Moment vor wie in einem schrecklichen Alptraum. Das alles konnte nie und nimmer wahr sein. Ja, wahrscheinlich war das alles bloß ein schrecklicher Alptraum, der so real erschien und doch nur ein Traum war. Er wünschte sich, dass er schweißgebadet und mit rasendem Herzen in seinem Bett aufwachen würde und alles in Ordnung wäre. Doch es war kein Traum, es war Realität. Genauso real wie die enthauptete Leiche von Yin, die reglos in einer Blutlache lag, die sich weiter ausbreitete. Shens Hand war immer noch in ihre Haare verkrallt, ihre Augen waren leer und tot, ihr Mund geöffnet, als hätte sie noch um Gnade flehen wollen.

Christine schrie und weinte und hielt immer noch ihre gesunde Hand nach ihrer Freundin ausgestreckt. Tränen flossen ihre Wangen hinunter, doch Sam weinte nicht. Er war wie in eine Schockstarre verfallen, in der er nicht zu Emotionen fähig war. Das alles kam ihm so unwirklich und schrecklich vor, dass sein Verstand es nicht als reales Geschehen einordnen konnte. Seine Augen ruhten auf Yins Kopf, den Shen achtlos wie ein Stück Abfall zu Boden fallen ließ. Es gab ein leises, dumpfes Geräusch, als er auf dem Boden aufschlug und er rollte ein klein wenig weiter, bis er reglos liegen blieb und die toten Augen ruhten auf Christine, die sich fassungslos eine Hand auf den Mund presste und versuchte, gegen die Tränen anzukämpfen.

„Und?“ fragte Shen und wischte sich mit einem Taschentuch das Blut von der Klinge und seiner besudelten Hand. „Wer möchte sich als nächstes freiwillig opfern?“

Lauernd ruhten Shens Augen auf Sam. Offenbar erwartete er eine Antwort von ihm. Der Detektiv schluckte, doch seine Kehle fühlte sich trocken an und sein Kopf fühlte sich leer an. Was sollte er ihm antworten? So langsam beschlich ihm das Gefühl, dass es, egal was er auch sagte, darauf hinauslaufen würde, dass es nicht ihn, sondern die anderen erwischte. Die Schlange spielte mit ihrer Beute und trieb sie zur Verzweiflung, indem sie diese in ein teuflisches Spiel hineinzog, in welchem der Gewinner schon von Anfang an feststand. Egal was er sagte, es würde auf das Gleiche hinauslaufen. Wenn er ihn bat, Christine und Asha zu verschonen und stattdessen ihn zu foltern, würde Shen es nicht tun und wenn er sagte, er könne den anderen ruhig etwas antun, dann würde es ebenfalls geschehen. In beiden Fällen würden Christine und Asha leiden und bei ihm würden die Schuldgefühle bleiben.

„Es ist doch egal, was wir sagen“, murmelte er und war erschrocken, wie gleichgültig und tonlos seine Stimme klang. So als hätte er schon längst aufgegeben. „Sie spielen doch nur Ihre abartigen Spielchen mit uns. Egal was ich sage, Sie werden doch sowieso nur das machen, was Sie wollen. Und ich spiele dieses Spiel sicher nicht mit.“

„Wie schade“, meinte Shen mit hochmütiger Stimme. „So schnell geben Sie auf? Keine sehr lobenswerte Eigenschaft für einen Detektiv. Wenn Ihnen das Leben Ihrer Freunde so egal ist, dann kann ich ja gleich weitermachen.“

Christines Augen wanderten zu Sam und sahen ihn fassungslos an. Als könnte sie nicht glauben, dass er einfach so kampflos aufgab uns sie quasi auslieferte. Doch dem war nicht so. Aber er wollte sich nicht mehr diesem Psychoterror aussetzen. Nun sah er Shen mit einer festen Entschlossenheit an und irgendwie schaffte er es, neue Kraft zu schöpfen.

„Was bringt es Ihnen eigentlich, so etwas zu tun? Macht das Ihre Vergangenheit ungeschehen, oder bringt es Ihnen Ihre Familie oder Ihre Kindheit zurück? Als jemand, der genau weiß, wie schrecklich so etwas ist, sollten Sie doch eigentlich der Letzte sein, der so etwas anderen antun will.“

Damit hatte er scheinbar einen wunden Punkt bei Shen getroffen, denn nun verfinsterte sich der Blick des 42-jährigen. Seine lächelnde Fassade bröckelte und für einen Moment konnte er hinter diese Maske schauen. Und was er sah, hatte er damals im Keller bei Araphel gesehen. Diesen eiskalten und unbändigen Zorn, der wie ein schleichendes Gift seinen Verstand befallen und vollständig verschlungen hatte.

„Sie haben doch keine Ahnung, Mr. Leens“, sprach Shen ruhig, doch man konnte den Zorn und den Hass in seiner Stimme hören. Den Hass gegen jene, die ihm seine Kindheit gestohlen, seine Familie genommen und seine Seele für immer verdorben hatten. Wie Morphius damals richtig erkannt hatte: Shens Hass galt nicht der Mafia, sondern der gesamten Welt. Und die Menschen waren für ihn schon lange keine Menschen mehr, sondern Ungeziefer, dass er zertreten konnte. Er war wie ein Kind, das einem Insekt zum Spaß die Flügel und Beine ausriss um zu sehen, oder das einen Wurm zerhackte um zu sehen, wie lange diese armen Geschöpfe noch weiterleben wollten. Nur besaß Shen nicht die naive Unschuld eines Kindes, das nicht wusste, was es da für eine schreckliche Sache tat. Er war sich im vollen Bewusstsein darüber, doch es war ihm egal. Er sah sich nicht als Mensch wie die anderen und da ihm jegliches Mitgefühl fehlte, war es ihm auch egal.

„Sie wissen nicht, wie es ist, in diese Welt hineingezerrt und auf ein einfaches Objekt reduziert zu werden. Sie wurden nicht von ihren eigenen Eltern an die Mafia verkauft, damit diese sich selbst retten konnten. Sie sind in einer gewöhnlichen Familie aufgewachsen in einer behüteten Welt, in der Sie sich darüber beschweren, wenn Sie als Schüler eine Klausur schlechter als gut geschrieben haben. Und genauso wie alle anderen halten Sie sich für ein vorbildliches Exemplar des Homo Sapiens und verleugnen Ihre kranken Fantasien und ihre Neugier. Sie wissen genauso gut wie ich, dass auch Sie ab und zu diese Neugier haben. Die Neugier, wie es ist, jemanden gewaltsam zu nehmen, vielleicht auch ein Kind. Vielleicht haben Sie sich auch schon mal solche Videos angesehen, einfach nur um Ihre Neugier zu befriedigen. Es steckt in uns allen, sowohl in Ihren Genen, als auch in meinen und allen anderen. Vielleicht haben Sie sogar mal mit dem Gedanken daran gespielt, sich auch so eine Frau wie Reesa zu besorgen. Eine Frau, die nicht weglaufen kann und die immer zur Stelle ist, um Ihre Gelüste zu erfüllen. Warum sollten wir das leugnen und bekämpfen? Weil es unmoralisch oder pervers ist? Wir leben unser ganzes Leben in diesem Zwiespalt, dass wir diese Fantasien und Veranlagungen haben, die andere als krank und abartig empfinden und sie unbedingt ausleben wollen. Doch gleichzeitig verdammen wir sie, weil es den ethischen und moralischen Grundsätzen einer intakten Gesellschaft widerspricht. Man hat mir damals keine Wahl gelassen, ich wurde einfach in diese Welt hineingezogen und bin zu einem Teil von ihr geworden.“

„Wir treffen alle unsere Entscheidungen!“ rief Sam. „Jeder entscheidet selbst, was er tut und was nicht. Wenn ein Mann die Veranlagung hat, ein Kind zu missbrauchen, dann liegt es immer noch in seiner Entscheidung, ob er diesem Drang nachgibt oder nicht. Genauso wie sich ein Missbrauchsopfer entscheidet, selbst irgendwann als Erwachsener Kinder zu missbrauchen. Was Sie da von sich geben, ist doch nur zynisches und selbstgerechtes Gerede. Sie sind selbstgerecht und spielen mit anderen, nur um sich überlegen zu fühlen und damit Sie aus dieser Rolle von damals rauskommen.“

„Da mögen Sie vielleicht Recht haben“, gab Shen ohne weiteres zu. „Doch was kümmern mich die Belange der anderen? Was kümmern mich die?“

Damit verwies er auf Christine und Asha und die tote Yin.

„Die Menschen sind von Grund auf verdorben und ich bilde da keine Ausnahme. Sie haben mich zu dem gemacht, der ich wurde. Ich bin kein Monster, ich bin die Konsequenz der Dinge.“

Damit holte er mit dem Schwert aus und schlug zu. Noch ehe einer von ihnen hätte reagieren oder protestieren können, spritzte erneut Blut, als Ashas Kopf vom Hals fiel und sein Körper leblos zusammensank wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Christines verzweifelter Schrei durchhallte den Keller, verwandelte sich dann aber in einen entsetzlichen Schmerzensschrei, als die Klinge des Schwertes ihr Bein abtrennte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nun erleben wir das wahre Ausmaß von Shens Schrecken und sehen in die tiefen Abgründe seiner Person und seine Sicht der Dinge. Ich kann mit Verlaub sagen, dass das der wohl schlimmste Psychopath ist, den ich je erschaffen habe. Und ich dachte schon, dass Sigma der Eyeball Killer oder Scarecrow Jack krank sind. Und das Fatale ist: auf eine verdrehte Art und Weise hat er zu einem gewissen Teil Recht. Er, das sadistische Monster, ist die Konsequenz der grausamen Verbrechen, die die Yanjingshe und seine Eltern ihm angetan haben. Es ist ein schrecklicher Teufelskreis, in der die Opfer von damals selbst zu Tätern werden, um ihrer Opferrolle zu entfliehen und dabei anderen jenes Leid antun, welches sie selbst erleiden mussten. Auf der einen Seite habe ich mich wahnsinnig darauf gefreut, Shen endlich mal selbst ins Rampenlicht zu stellen, doch ich hatte auch wirklich Tränen in den Augen bei der Vorstellung, dass Yin und Asha sterben müssen. Auch wenn sie nur eine vergleichsweise unbedeutende Rolle einnehmen. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (10)

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Von:  mor
2015-10-04T20:20:41+00:00 04.10.2015 22:20
Opfern werden zu Tätern......Nun das gibt einen schon zu Denken.
Von:  niki28
2015-10-04T15:54:16+00:00 04.10.2015 17:54
Mann alle tot das ja grausam
ja ich hoffe auch das Arpfhael zu zeit kommt ,aber ich glaube net das er sam was antut immerhin weiß er das sam so was wie ein betthase für arphael ist willeicht möchte schen ihm auch besitzen oder so!
Hoffe das hat ein guten ende!!!!
Von:  Onlyknow3
2015-10-04T15:52:50+00:00 04.10.2015 17:52
Puh erst mal ausatmen, das war heftig, und ich frage mich ob Araphel es wirklich schaft Sam zu befreien. Christine, Yin und Asha werde dann ja leider nicht mehr leben. Aber ich befürchte das auch Sam es nicht schaft, denn wenn sich die Aufregung legt wird sich sein Asthma benerkbar machen und mit gefesselten Händen kann er nich an sein Spray gelangen.
Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel, dann hoffentlich mit besseren Nachrichten.

LG
Onlyknow3
Von:  Seranona
2015-10-04T14:05:46+00:00 04.10.2015 16:05
Ach du Schande....
Das ist grausam....
Und das alles nur mit wenigen Stunden Vorsprung, die shen hat.
Hoffendlich kommt araphel noch rechtzeitig um Christine und sam zu retten o_o
Antwort von:  Sky-
04.10.2015 16:19
Tja, er will halt auf Nummer sicher gehen. Und Typen, die erst mal ihren ganzen Plan erklären und sich so lange Zeit lassen, bis der Held kommt und alle rettet, sind leider ein absolutes Klischee und kommen meist nur in Filmen vor. Im realen Leben sieht es leider ganz anders aus und das bekommt man hier ziemlich deutlich zu spüren.
Antwort von:  Seranona
04.10.2015 16:26
Das stimmt wohl..
Aber ich hoffe, dass er wenigstens noch einmal Christine sehen kann und sich nochmal alles klärt...
Es ist echt alles ziemlich krass.
Aber ich bin schon gespannt auf das nächste Kapitel.
^^
Antwort von:  Sky-
04.10.2015 16:34
Nun, wenn ich ganz ehrlich bin, sah mein ursprünglicher Plan etwas anders aus. Da sollten Yin und Asha nach Shanghai verschleppt und dort wieder verkauft werden, Sam ebenfalls und Christine sollte vor Araphels Augen verbrannt werden. Letztendlich bin ich mit Plan B deutlich zufriedener.
Antwort von:  Seranona
04.10.2015 16:52
Ich entscheide das lieber ein anderes mal ;p
Antwort von:  ruehrbesen
04.10.2015 17:10
:O Was einen nicht gerade beruhigt darüber grübeln lässt, was wohl Plan B sein mag... Ich liebe diese Geschichte immer noch, aber um Gottes Willen, sie macht mich fertig. Und Shen macht einem einfach nur Angst! @@
Antwort von:  Sky-
04.10.2015 17:26
Ja, ihm würde ich ehrlich gesagt auch lieber nicht begegnen wollen. Er entspricht eben dem Bild von Psychopathen, die insbesondere wegen ihrer Grausamkeit und abartigen Vorgehensweise in die Geschichte eingehen. Wenn ich Psychopathen kreiere, lasse ich mich gerne von realen Vorlagen wie zum Beispiel Jeffrey Dahmer, John Wayne Gacy, Dennis B.T.K. Rader, Edmund Kemper oder Fritz Haarmann inspirieren.
Von:  Sayuri_Hatake
2015-10-04T09:41:53+00:00 04.10.2015 11:41
Holy shit !!
Verdammt nochmal, ich glaube mein Herz setzt gleich aus.
Diese Geschichte ist so krass und wird von Kapitel zu Kapitel noch brillanter, dass ich kaum noch Worte finde, wie ich dich für diese Arbeit loben kann.
Du hast wirklich meinen vollsten Respekt und mach weiter so !
Lg Sayu
Antwort von:  Sky-
04.10.2015 11:43
Dankeschön-^^-
Es freut mich wirklich, dass dir meine FF so gefällt und ich hoffe, dass es auch weiterhin so gut klappen wird.
Von:  San-Jul
2015-10-04T09:20:46+00:00 04.10.2015 11:20
Hey,
Ich wusste ja schon, das es ein Massaker gibt, aber das jetzt schon die beiden Lieben, Yin und Asha, sterben mussten hätte ich nicht gedacht.
Und Christine musste schon wieder Seelische und Körperliche Qualen ertragen.
Sam wurde gebrantmarkt und Aphrael kann noch nichts tun. Hoffentlich gelingt es ihm und Sergei die beiden überlebenden noch zu befreien.
Shen ist echt ein Monster, teilweise kann man ihn, wie du gesagt hast, aber auch verstehen.
Ganz liebe Grüße
San-Jul
Antwort von:  Sky-
04.10.2015 11:46
Ja, das ist leider so ein Zwiespalt mit Shen. Auf der einen Seite ist er auch nur ein Opfer der Yanjingshe und hat entsetzliche Dinge im Kindesalter erleben müssen. Doch auf der anderen Seite hasst man ihn einfach nur dafür, was er den anderen angetan hat bzw. antut. Zwischendurch sind seine Erzählungen etwas lang geworden, aber Psychopathen zeichnen sich auch ein Stück weit dadurch aus, dass sie sich gerne selbst ins Rampenlicht stellen, ihre Überlegenheit demonstrieren und ihre Taten rechtfertigen. Und ich glaube, das ist mir auch ganz gut gelungen. Irgendwie hab ich ein Händchen für Psychos (ob mir das mal zu denken geben sollte?)
Antwort von:  San-Jul
04.10.2015 20:14
Nein, ich denke nicht das es dir zu denken geben sollte ;)
Du bist halt sehr empathisch und verstehst so was halt ehr als die meisten anderen Menschen ;)


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