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Mesmerize Me!

The Play of Snake and Lion
von

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Der Selbstmord

„Jedes Lebewesen stirbt für sich allein.“
 

Donnie Darko
 

Es regnete draußen in Strömen und Donner grollte so laut, dass es sogar zu spüren war. Blitze erhellten den finsteren Himmel und draußen herrschte ein unvorstellbares Unwetter. Ein solches hatte es schon lange nicht mehr in Boston gegeben und als Christine aus dem Fenster schaute, fragte sie sich, was Araphel wohl gerade machte und ob er bei de Unwetter wohl unterwegs war. Erst gestern war er abgereist, nachdem er wichtige Geschäfte erledigen musste und voraussichtlich würde er auch erst in zwei Tagen wieder zurück sein. Für die Zeit seiner Abwesenheit hatte er sie gebeten, sich derweil um Ahava zu kümmern, der es selbst nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus kein bisschen besser ging. Im Gegenteil. Sie war entsetzlich abgemagert, musste zwangsernährt werden, weil sie nichts aß, sie regte sich kein bisschen und hatte auch kein Wort mehr gesprochen. Natürlich war es ein Schock, keine Beine mehr zu haben. Ihr selbst fehlte ja auch ein Bein, nachdem sich dieser tragische Autounfall ereignet hatte, bei dem sie beide fast verunglückt werden. Zumindest war sich Christine sicher, dass es so passiert war, denn so richtig daran erinnern konnte sie sich nicht, wie das passieren konnte. Aber es klang ihr am plausibelsten, dass es ein Autounfall war und sie war sich da auch sicher. Sie selbst hatte den Verlust ihres Beines ganz gut weggesteckt, doch Ahava litt sehr unter der ganzen Situation. Kein Wunder. Sie hatte gar keine Beine mehr und sie war für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Für sie, die sowieso schon ein sehr sensibler Mensch gewesen war, war es endgültig zu viel gewesen und es würde wohl noch eine Weile brauchen, bis es ihr besser ging. Wichtig war halt nur, dass sie jemanden hatte, der ihr beistand. Araphel kümmerte sich ja schon tagein tagaus um sie, wich kaum von ihrer Seite und redete immer und immer wieder mit ihr. Beteuerte, dass alles besser werden würde und er sich immer um sie kümmern würde, egal was passierte. Doch er selbst litt ebenfalls sehr unter dieser Situation. Kein Wunder, denn er und Ahava hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander und sie bedeutete ihm alles. Sie war die einzige Familie, die ihm geblieben war. Darum war es für Christine eine besondere Herzensangelegenheit, so gut es ging zu helfen und sich um Ahavas Pflege zu kümmern, solange Araphel nicht da war. Eigentlich wäre er nie und nimmer weggefahren, doch Christine war der Meinung gewesen, dass es das Beste war, wenn er mal kurz Abstand bekam und neue Kraft sammeln konnte. Zwar konnte sie mit ihrer Prothese, die sie von einem Arzt verordnet bekommen hatte, noch nicht allzu gut laufen, aber sie war der festen Überzeugung, dass sie es ganz gut schaffen konnte. Eigentlich war sie der Meinung, dass es ohnehin besser wäre, eine gelernte Pflegekraft für Ahava einzustellen, doch mit Araphel war ja nicht zu reden gewesen. Er hatte klipp und klar gesagt, dass er keinen Menschen auch nur in die Nähe seiner Schwester lassen wollte, den er nicht gut genug kannte und dem er nicht vertrauen konnte. Nun, auf der einen Seite war es verständlich, aber andererseits hielt Christine es ja wohl doch für reichlich übertrieben, dass er so dermaßen überfürsorglich war. Ahava war sicher nicht damit geholfen, wenn sie keinen ausgebildeten Pfleger zur Seite gestellt bekam. Vielleicht konnte sie Araphel ja zur Vernunft bringen, wenn er wieder zurück war und bis es so weit war, würde sie sich um Ahava kümmern. Vielleicht konnte sie sie ja aufmuntern, wenn sie sich einen schnulzigen Frauenfilm ansahen oder vielleicht eine Runde Karten spielten. Yin und Asha würden da sicher gerne mitmachen und die beiden bekamen ja bald auch ihre speziellen Prothesen, mit denen sie bald eigenständig laufen konnten. Und eines Tages würde auch Ahava wieder laufen können, auch mit Prothesen.
 

Vorsichtig klopfte sie an die Tür und öffnete dann schließlich. Sie sah Ahava in ihrem Rollstuhl sitzen und zum Fenster hinausstarren. Das tat sie fast jeden Tag. Sie saß unbewegt da wie eine Puppe, sagte nichts, regte sich nicht und wenn sie nicht zwischendurch blinzeln würde, hätte man wirklich meinen können, sie wäre eine leblose Puppe. Sie war blass und ihre Augen wirkten matt und leer und wirkten wie eingefallen. Ihre Lippen waren farblos und spröde. Zudem war sie ziemlich abgemagert in der kurzen Zeit und im Großen und Ganzen machte sie den Eindruck, als würde sie bereits mit einem Bein im Grab stehen. Für viele Menschen wäre es ein wirklich erschreckender Anblick gewesen, aber Christine ließ sich davon nicht abschrecken. Sie war sich sicher, dass sie es schon irgendwie schaffen konnte, eine Regung aus der 20-jährigen herauszukitzeln.

„Ein echtes Scheißwetter, was?“ fragte Christine, als sie hereinkam. Da es doch recht dunkel im Zimmer war, schaltete sie das Licht an und gesellte sich zu der Schweigsamen und betrachtete das Gewitter, was da draußen wütete. „Mensch, da wird man aber auch echt trübsinnig. Weißt du was? Da Araphel ja unterwegs ist, können wir zwei doch die Chance nutzen und uns eine richtig tolle Mädelszeit zu machen. Ich könnte dir mal die Haare hübsch frisieren und wir machen das ganze Programm: Gurkenmaske, Maniküre, dann machen wir es uns bequem und gucken uns so einen richtig schnulzigen Herzschmerzfilm an. Und wenn du nicht auf Romanzen stehst, können wir uns ja Hell’s Kitchen mit Gordon Ramsay anschauen und jedes Mal einen Kurzen heben, wenn er das F-Wort benutzt. Und dann können wir ja stockbesoffen deinen Bruder anrufen und ihm Telefonstreiche spielen.“

Keine Reaktion kam. Ahava starrte weiter aus dem Fenster und ihr Blick wirkte leer und es war nicht ein Funken Leben darin zu sehen.

„Oder weißt du was? Wir gehen einfach mal raus. Wir können ins Schwimmbad fahren, da kriegen wir ohnehin ermäßigten Eintritt und dann fühlst du dich auch gleich viel besser in dieser Schwerelosigkeit, glaub mir. Und vielleicht können wir in einem Whirlpool heiße Typen aufreißen.“

Christine zwinkerte ihr scherzhaft zu und ließ sich auch nicht beirren, als selbst hier keine Reaktion kam. Auch wenn es ihr selber immer schwerer fiel, die Fröhliche zu spielen und zu lachen, während da eine gerade mal 20-jährige Studentin ohne Beine in einem Rollstuhl saß und wirkte, als wäre ihr Leben vorbei. Christine spürte diese Kälte, die von ihr ausging. Zwar besaß Ahava Körperwärme, aber sie strahlte dennoch eine Kälte aus wie der Tod selbst. Und es war nur allzu deutlich, dass sie nicht aufgemuntert werden wollte. Sie wollte keine tröstenden Worte, kein Mitleid, keine Pläne. Sie hatte aufgegeben und vegetierte nur noch vor sich hin. Still in sich gekehrt, niemanden an sich heranlassend. Und es schien, als konnte niemand ihr mehr wirklich helfen. Und obwohl etwas tief in Christines Herzen wusste, dass es für die 20-jährige kein Licht mehr in ihrem Leben gab, kein Hoffnungsschimmer und keine Freude in ihrem Leben, wollte sie nicht aufgeben. Ein Teil von ihr hoffte noch, dass sie noch etwas ausrichten konnte und das Leid der beiden Geschwister beenden konnte. Sie wollte Araphel diesen Schmerz und die Schuldgefühle nehmen, die ihn innerlich zerfraßen und sie wollte Ahava wieder Hoffnung machen. Araphel schaffte das nicht, sondern machte sich jedes Mal schwere Vorwürfe, wenn er bei ihr war und fühlte sich jedes Mal genauso elend. Wie sollte Ahava da bloß neuen Mut fassen, wenn Araphel selbst vor die Hunde ging, wenn er sie in diesem Zustand sah? Damit war wirklich niemandem geholfen. Ahava brauchte einfach wieder etwas Alltag, anstatt ständig wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Dann würde es ihr auch bald wieder besser gehen. Spätestens, wenn sie genauso wie Yin und Asha die Spezialprothesen bekam, würde sie wieder selber laufen können wie ein normaler Mensch. Und spätestens dann würde sie auch wieder lachen können. Zumindest hoffte Christine das, doch sie zweifelte auch daran. Nichts deutete bis jetzt darauf hin, dass Ahava überhaupt Hilfe wollte. Sie wies jeden durch ihr Schweigen ab, wollte ganz für sich alleine sein und sprach mit niemandem. Immer mehr kapselte sie sich von der gesamten Welt ab, weil etwas in ihr beschlossen hatte, dass es nicht mehr weitergehen würde. Es war, als würde sie eigentlich nur noch auf ihren Tod warten und das war für Christine einfach nur schmerzhaft und sie musste Kraft aufwenden, um nicht selbst in diese hilflose Verzweiflung zu geraten wie Araphel. Sie musste stark sein für die beiden. Wenn sie es nicht war, dann kein anderer. Ahava brauchte jemanden, der in ihr einen winzigen Hoffnungsschimmer wecken konnte und Araphel brauchte jemanden, der in dieser so schweren Zeit für ihn stark war und ihm Halt gab. Es war eine unsagbar schwere Last und Christine war sich nicht sicher, ob sie diese überhaupt stemmen konnte. Aber sie wollte es dennoch tun. Beide lagen ihr so sehr am Herzen. Sie waren ihre Familie und sie leiden zu sehen, schmerzte sie mehr als alles andere auf der Welt. Sie wollte, dass beide wieder glücklich wurden. Egal, was es dafür benötigte.
 

„Erinnerst du dich daran, wie das hier passiert ist?“

Erstaunt hielt Christine inne. Es war das erste Mal seit Wochen, dass Ahava gesprochen hatte. Zuerst glaubte sie, dass sie sich das nur einbildete, aber es war tatsächlich passiert. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Ahava zum allerersten Mal ihr Schweigen gebrochen und das Wort an sie gerichtet. War das ein gutes Zeichen? War sie auf dem richtigen Weg?

„Du meinst den Autounfall?“ fragte sie verwundert und hatte immer noch nicht so ganz realisiert, dass das gerade wirklich passierte. „Wieso? Was ist damit?“

„Verstehe…“, murmelte Ahava leise. Ihre Stimme klang rau und heiser und man konnte hören, dass sie schon länger kein Wort mehr gesprochen hatte. Aber für Christine war es ein positives Zeichen, dass endlich mal wieder etwas Leben in die 20-jährige zurückkehrte. Und jetzt durfte sie bloß nicht nachlassen. Das war immerhin der erste Durchbruch! Allein der Gedanke daran, wie glücklich Araphel dann sein würde, wenn er sie wieder reden hörte, motivierte Christine dazu, weiterhin stark zu bleiben und an dieser Stelle weiterzumachen.

„Wie geht es Araphel eigentlich?“ fragte die 20-jährige mit müder Stimme.

„Nun, er macht sich halt sehr große Sorgen um dich und es nimmt ihn schon sehr mit. Er will doch nur, dass du wieder lachen kannst, ich und die anderen ebenso. Natürlich ist es schlimm, wenn man ein Bein oder sogar beide Beine verliert, aber das ist nicht das Ende der Welt. Asha und Yin hatten auch keine Beine und dank der Spezialprothesen, an denen ich zurzeit arbeite, werden sie bald wieder laufen können. Und du kriegst bald auch welche und kannst dann wieder laufen, wenn du mit der Reha durch bist. Es wird schon besser werden. Du weißt ja, du kannst dich auf mich verlassen und wir können auch so viel Spaß haben. Immerhin bin ich doch fast so was wie deine große Schwester. Und hey: es gibt genug Menschen, die mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben und ich denke…“

„Hör auf damit.“

Christine blieb still und sah, dass selbst diese Worte Ahava nicht aufbauen konnten. Die Rothaarige seufzte und ihr Blick nahm etwas Trauriges an. Es tat ihr genauso weh wie Araphel, Ahava so sehr leiden zu sehen und sie wünschte sich nichts Sehnlicheres, als sowohl sie als auch Araphel glücklich zu sehen. Doch egal was sie alle auch taten, Ahava wollte sich nicht helfen lassen. Sie hatte sich aufgegeben und solange sie sich nicht helfen lassen wollte, würde sich auch nichts ändern. Hilflosigkeit überkam die Rothaarige, die sich für einen Moment fragte, ob es nicht vielleicht schon zu spät für Ahava war und es keine Rettung mehr für sie gab. Sie wünschte sich wirklich, ihrer besten Freundin helfen zu können, die für sie genauso eine Familie war wie Araphel, Yin und Asha. Sie war es gewohnt, zu kämpfen und nicht einfach so aufzugeben. Notfalls würde sie bis an ihre äußerste Belastungsgrenze gehen, um ihrer Familie zu helfen. Aber zu wissen, dass sie Ahava nicht helfen konnte, ließ in ihr Verzweiflung aufkommen. Und sie fragte sich, wie lange sie noch so stark sein konnte für beide Mason-Geschwister. Denn auch eine Kämpferin wie sie hatte ihre Grenzen. Und sie sah sich, nüchtern gesehen, nicht in der Lage, beide gleichzeitig zu retten, das schaffte sie unmöglich.
 

„Könntest du mir einen Gefallen tun?“ fragte Ahava schließlich, ohne Christine auch nur anzusehen. Stattdessen starrte sie immer noch aus dem Fenster.

„Klar“, antwortete die Rothaarige. „Was kann ich für dich tun?“

„Bring mich bitte in Araphels Arbeitszimmer.“

„Wozu?“

„Ich wollte dort etwas holen und ich möchte es gerne selbst tun.“

„Kein Problem“, meinte die Rothaarige und schob Ahavas Rollstuhl in Richtung Tür. Zwar konnte sie sich keinen wirklichen Reim darauf machen, was Ahava in dem Arbeitszimmer wollte, aber wenn diese schon eine Bitte äußerte, erfüllte sie ihr diese natürlich gerne. Normalerweise wäre Ahava selbst im Rollstuhl ins Arbeitszimmer gefahren, doch da sie sich kaum bewegte und so abgemagert war, hatte sie für so etwas kaum Kraft, weshalb sie sich entsprechend helfen lassen musste. Und vielleicht tat es auch mal ganz gut, wenn sie aus ihrem Zimmer herauskam. Ansonsten lag sie die ganze Zeit nur im Bett oder saß im Rollstuhl, weil sie nicht raus wollte und Araphel so besorgt um sie war, dass er regelecht Angst hatte, sie vor die Tür zu lassen, selbst für einen Spaziergang. Er hatte Angst, sie zu verlieren und dass ihr noch mehr zustoßen konnte. Er engte sie ein, was im Grunde wie Gift auf Ahavas Zustand wirkte. So hatte Christine nicht selten Marco gerufen, einer von Araphels Leuten, der für Ahavas persönlichen Schutz zuständig war. Dann war sie mit ihm zusammen mit Ahava rausgegangen, um wenigstens ein bisschen im Garten zu sitzen und die Sonne zu genießen oder um einen kleinen Spaziergang zu machen. Hauptsache, Ahava kam mal vor die Tür und merkte für sich, dass es diese Welt außerhalb ihres Zimmers immer noch gab und sie nach wie vor in greifbarer Nähe war, selbst ohne Beine. Es sollte eine Art heilsame Therapie sein und Christine hatte auch überlegt, ob es nicht ratsam war, wenn Ahava vielleicht mal eine Wassertherapie machte. Während Araphel kaum von der Seite seiner Schwester gewichen war, hatte Christine unermüdlich im Internet nachgeforscht, was es alles für Angebote gab, damit es Ahava nicht nur körperlich, sondern vor allem auch seelisch besser ging. Es gab sogar Delfintherapien und Musik- oder Kunsttherapien könnten vielleicht auch infrage kommen. Stundenlang hatte sich Christine durch die Kliniken durchtelefoniert, Ärzte und Psychologen abgeklappert und Broschüren gesammelt und unermüdlich gesucht, um Hilfe für Ahava zu finden. Denn sie dachte realistischer als Araphel. Nämlich dass es professionelle Hilfe brauchte und weder sie, noch Araphel oder sonst irgendjemand in diesem Haus wirklich helfen konnte. Sie waren dieser Situation nicht gewachsen und auch wenn ein Teil von ihr für sich bereits wusste, dass die Studentin schon aufgegeben hatte und sich auch nicht mehr helfen lassen wollte, so wollte sie nicht so ohne Weiteres aufgeben. Einfach aus dem Grund, weil sie eine Kämpfernatur besaß. Sie wollte nicht eher aufgeben, bevor sie nicht wirklich alles versucht hatten. Und erst dann, wenn sie wirklich alles versucht hatten und es rein gar nichts gebracht hatte, dann würde sie einsehen, dass es vielleicht besser war, Ahava gehen zu lassen, wenn sie es wollte. Denn niemand konnte sie zwingen, dieses Dasein weiter zu ertragen, wenn es für sie eine solche Qual bedeutete. Auch wenn es der wohl schlimmste Moment in Christines Leben sein würde und sie für sich wusste, dass sie sich das wohl niemals verzeihen würde… Sie würde die Kraft aufbringen, wenn sie dann wusste, dass Ahava dann nicht mehr leiden musste. Doch es war noch zu früh dafür, so etwas zu denken. Noch bestand Hoffnung. Vielleicht konnte man ja noch etwas machen und ihr helfen.

Es war noch zu früh, sie aufzugeben. Und aus diesem Grund würde Christine weiterhin stark bleiben und versuchen, Ahava ein Stückchen Alltag zurückzugeben, damit sie aus ihrer Lethargie herauskam.
 

Als sie das Arbeitszimmer erreicht hatten, ließ Ahava sich bis zum Schreibtisch schieben und immer noch war Christine tief in Gedanken versunken und überlegte angestrengt, was sie am besten tun konnte. Vielleicht konnte sie Ahava noch mal die Idee mit dem Mädelsabend schmackhaft machen. So etwas war für jede Frau ein verlockendes Angebot und es war zumindest besser, als die ganze Zeit in diesem Zimmer eingesperrt zu sein und den ganzen Tag nur aus dem Fenster zu starren. Das tat ihr einfach nicht gut. Sie musste da raus und wenn sie halt in irgendwo feiern gingen und sich wenn nötig volllaufen lassen würden. Ahava hatte ja Marco als Bodyguard und Christine spekulierte darauf, dass sie vielleicht einen Rabatt bekamen. Entweder als Behindertenbonus (denn sie wusste auch ihr Handicap zum Positiven einzusetzen), oder aber sie ließ den Barkeeper halt auf ihren Ausschnitt glotzen. Auch wenn sie nur ein Bein hatte, hieß das nicht, dass sie keine vollwertige Frau war. Wer etwas anderes behauptete, der durfte sich warm anziehen.

Ahava musste einfach mal wieder unter Leute kommen, dann würde sie auch diese ganzen Dinge vergessen, die sie so sehr quälten.

Schließlich wandte sich die 20-jährige an Christine, schaute sie mit ihren eisblauen Augen an, die erschreckenderweise sehr matt und leer wirkten und sagte „Ich möchte, dass du gehst und mich alleine lässt.“

Doch so leicht wollte sich die 28-jährige sich nicht abwimmeln lassen. Sie wollte Ahava nicht alleine lassen, denn irgendeine seltsame Vorahnung ergriff von ihr Besitz. Ein böser Verdacht, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn sie jetzt ging.

„Ach was, ich kann auch warten“, sagte sie und winkte ab. „In deiner jetzigen Verfassung kannst du dich sowieso kaum fortbewegen, das wäre doch Quatsch. Ich warte hier.“

Ahava hielt einen Moment lang inne und schien nachzudenken. Aber dann schob sie den Rollstuhl zum Tresor, der sich nicht weit vom Schreibtisch entfernt befand und öffnete ihn. Da Christine auf der anderen Seite des Schreibtisches stand, konnte sie nicht genau erkennen, was Ahava da machte und was sie da herausholte. Sie ahnte auch nichts Genaueres, doch sie war besorgt und das sah man ihr an.

„Ich hätte es lieber gehabt, wenn mich niemand dabei sieht“, murmelte Ahava und senkte traurig und hoffnungslos zugleich den Blick. „Aber da du es eh vergessen wirst, muss ich kein allzu schlechtes Gewissen haben. Ich möchte aber trotzdem, dass du weißt, dass es mir leid tut, dass du das miterleben musst.“

Nun sah Ahava sie direkt an. Mit einem Mal war diese leblose Mattigkeit aus ihrem Blick verschwunden. Stattdessen sah man jetzt allzu deutlich die unendliche Verzweiflung, der tiefe Schmerz und die Hoffnungslosigkeit in diesen eisblauen Augen, die sonst wie Kristalle funkelten. Tränen glänzten in ihren Augenwinkeln und nun sah Christine auch, dass Ahava sich eine geladene Pistole an den Kopf hielt. Ihre Hand zitterte und unaufhörlich rannen Tränen ihre kreidebleichen Wangen hinab.

„Ich will das nicht mehr und ich will meinem Bruder nicht noch mehr Kummer bereiten. Bitte kümmere dich gut um ihn, ja?“

Christines Augen weiteten sich vor Entsetzen als sie erkannte, was Ahava da vorhatte. Sie rief noch „Nein, nicht!!!“ Doch als sie zu der Studentin eilen und ihr die Waffe aus der Hand reißen wollte, fiel der Schuss und Blut spritzte, als die Kugel Ahavas Kopf durchbohrte und sie tötete.
 

Christine stand da und sah das Grauen vor ihren Augen. Sie war wie gelähmt, konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Und dann realisierte sie es: es war ihre Schuld… Sie war schuld daran, dass das passiert war und Ahava gestorben ist. Sie hatte ihr geholfen, an die Waffe zu gelangen und hatte sie auf dem Gewissen. Ihre beste Freundin, die sie doch retten wollte. Es war ihre Schuld… Ihretwegen war Ahava tot. Sie hatte die Familie zerstört.

Ein Schrei des Entsetzens und der Verzweiflung entwich der 28-jährigen. Sie wich vor dem Anblick zurück, rang mit der Fassung und den Tränen, durch den Schock setzte dann aber der Verstand bei ihr aus und sie verlor das Bewusstsein. Und als sie wenig später erwachte, als Asha, Yin und ein paar andere von Araphels Leuten herbeikamen, die von dem Schuss alarmiert waren, war die Szene bereits wieder aus Christines Gedächtnis gelöscht worden. Sie erinnerte sich schon gar nicht mehr daran, was gerade eben noch passiert war. Und doch blieb ein spürbarer Schmerz in ihrem Herzen zurück, den sie nicht vergessen konnte. Ein Schmerz, der ihr verriet, dass es allein ihre Schuld war, dass Ahava sich das Leben genommen hatte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Bevor es spannend weitergeht, wollte ich einen kurzen Flashback machen, nämlich zu dem folgeschweren Tag, als Ahava starb und was wirklich passiert ist. Nämlich dass Ahava ihren Entschluss schon längst gefasst hatte und Christine benutzt hat, um sich das Leben zu nehmen. Dass sie es nicht aus böser Absicht tat, zeigt sich ja dadurch, dass sie Christine eigentlich den Anblick ersparen wollte. Man kann ihre Frage an Christine, ob sie sich an die „Geschehnisse“ erinnert, in der Hinsicht deuten, dass sie sich vergewissern wollte, ob Christine wirklich alles Traumatische vergisst, was ihr widerfährt. Denn für den Fall, dass Christine den Raum nicht verlasen würde, hätte sie wenigstens die Gewissheit, dass diese zumindest die schrecklichen Bilder vergessen würde. Über Ahavas Selbstmord zu schreiben, hat mich ein Stück weit Kraft gekostet. Es ist immer schlimm, über so etwas zu schreiben, aber es stellt gleichzeitig den wichtigsten Punkt dieser Fanfiction dar. Denn der Kern dieser FF dreht sich um ihren Tod. Aus diesem Grund habe ich auch kein Zitat zu Anfang des Kapitels verwendet, was Rache thematisiert, sondern den Film Donnie Darko zitiert. Dieser eine Satz hat mich schon ziemlich beschäftigt und war auch die Inspiration für diese Szene. Lediglich hier und im Kapitel, wo es um Christines Krankheit geht, habe ich andere Zitate verwendet, da diese am besten passte.

Die Frage ist nun, ob es vielleicht hätte anders verlaufen können, wenn Christine gewusst hätte, dass da eine geladene Pistole im Tresor war. Was glaubt ihr? Hätte Ahava noch gerettet werden können, oder wäre so oder so jede Hilfe vergebens gewesen? Hätte es überhaupt einen Sinn gemacht, sie zum Leben zu „zwingen“, oder wäre es das Beste gewesen, sie einfach gehen zu lassen, damit sie von ihrem Leid erlöst wird? Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Onlyknow3
2015-10-02T07:51:44+00:00 02.10.2015 09:51
Das denke ich auch, wenn jemand schon so weit geht, dann hat er sich innerlich schon von seinem dasein verabschiedet.
Ahva war eigendlich nur noch eine Hülle, und durch ihre Erlebnisse Seelenlos. Hartes Wort aber es trifft wohl zu, da sie ja nicht nur ihre Beine eingebüst hat sonsern ihr noch andere schlimme Dinge angetan wurden.
Zum Kapitel davor stellt sich mir die Frage, warum haben sie die Falle nicht gerochen gerade Sam als Schnüffler hätte den Braten riechen müsse so fooensichtlich war das mit dem Oldtimer in der Garage. Bin jetzt echt mal neigierig, wie Araphel reagiert wenn er erfähr das sein Bodygard tot ist und alle anderen in der Gefangenschaft der Schlange. Hoffe das keinem was passiert und sie alle heil da raus kommen. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Sky-
02.10.2015 11:46
Tja, sie haben sich leider zu sicher gefühlt und gedacht, es würde schon nichts passieren, solange Shen nicht da ist. Immerhin ist er ja die treibende Kraft der Triade. Im Grunde waren sie alle etwas naiv und hätten besser auf Araphel hören sollen.
Von:  mor
2015-09-29T18:33:30+00:00 29.09.2015 20:33
zur Frage ob Ahava's Tod hätte verhindert werden können lautet meine Antwort: Nein.
Selbst wenn es nicht zum Schuss mit der Pistole gekommen währe so hätte Ahava so oder so einen anderen Weg zum Selbstmord gefunden. So Traurig es auch ist in der Hinsicht finden Menschen immer einen Weg.
Von:  Yuutas
2015-09-29T12:43:11+00:00 29.09.2015 14:43
Also diese frage ob Ahava besser weiter gelebt hätte oder es besser gewesen wäre sie zu erlösen beschäftigt mich nun auch ziehmlich. Schließlich kann ich ja verstehe dass die option sie vom ihren Leid zuerlösen das einfachste wäre
dennoch würde ihr Tod nur noch Mehr Leid mit sich bringen.
Nennt mich selbstsüchtig aber ich hätte mir gewünscht das sie mit den Prothesen weiter lebt und sie aus ihrem Elend entkommen kann und einfach wieder LEBEN kann

Antwort von:  Sky-
29.09.2015 18:59
Ja, das ist eine wirklich schwierige Frage. Auf der einen Seite ist fraglich, ob man es Ahava wirklich zumuten kann, mit diesen schweren Traumata zu leben. Sie wurde von dem Menschen verraten, den sie geliebt hat und von dem sie ein Kind erwartete. Sie verlor ihr ungeborenes Kind, wurde verstümmelt, gefoltert und wochenlang brutal vergewaltigt. So etwas wünscht man ja nicht mal seinem schlimmsten Feind. Aber andererseits haben Yin, Christine und Asha auch die Kraft gefunden, wieder neue Hoffnung zu schöpfen und Ahava hätte es verdient, wieder glücklich zu werden. Man will natürlich immer diesen Menschen helfen, aber die Frage ist: würde man selber diese Kraft aufbringen, wenn man in dieser Situation wäre? Mein Religionslehrer pflegte zu diesem schwierigen Thema zu sagen „Wir können solchen Menschen nur beistehen und ihnen helfen, wieder Mut zu finden. Aber wir haben nicht das Recht, sie zum Leben zwingen. Immerhin versagen wir anderen das Recht, über das unsere zu entscheiden.“
Von:  Scorbion1984
2015-09-29T05:02:38+00:00 29.09.2015 07:02
Schade ,dies war wohl dann das letzte Kapitel das ich von dieser Geschichte gelesen habe ! Ich komme mit so ausgeprägter Gewalt ,wie Du sie beschreibt ,nicht klar !
Antwort von:  Sky-
29.09.2015 08:31
Das ist schade, aber das muss halt jeder selbst wissen, wie viel Gewalt und Drama er verpacken kann.


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