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Bittere Geheimnisse
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie ein Prolog nun mal so ist: ein bisschen langweilig in der Erklärung...

Ich verspreche, dass das nächste (oder erste) Kapitel etwas mehr Interaktion mit anderen Leuten enthält! ;-)) Komplett anzeigen

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Prolog

Es war ein furchtbar verregneter Sommer. Schade eigentlich, denn es war mein letzter in Frankfurt. Die Schule beendet, Abitur in der Tasche, eine freie Zeit voller Langeweile. Man lebte einfach so in den Tag hinein, kam auf dumme Gedanken. Wie sollte man sein neues Zimmer gestalten? Neue Hanteln wären nicht schlecht. Vielleicht mal wieder auf H&M shoppen. Wie will ich mich ändern? Ab morgen nur noch gesunde Sachen! Und am Ende der Woche zum vierten Mal bei McDonalds gegessen.

Morgens aufwachen, gegen 11 Uhr in den beschissenen Himmel schauen, der weder Sonne noch Helligkeit durchlässt. Langsam aufstehen, Cornflakes essen, an den Computer setzen und abends wieder ins Bett fallen, nachdem man sich die neuen Folgen von irgendeiner scheiß Sendung angesehen hat, die so realitätsfern ist, wie es nur sein kann. Wahre Liebe. Das erste, wunderschöne, romantische Mal. Die lustigen Menschen, die immer einen Witz parat haben. Schlagfertige Menschen, die immer einen Spruch reinzuwürgen haben. Menschen in Zombiefilmen, die nie Zombiefilme gesehen haben und deswegen von ihnen gefressen werden. Doktorfolgen von Doktoren, die alle selbst mal Patienten in der Schönheitschirurgie waren. Und so weiter und so weiter.

 

Aber das sollte ein Ende haben. Einschreibung in die Universität Münchens für Zahnmedizin. Seltsames Studium, seltsamer Beruf. Aber die Vorstellung gefiel mir, anderen im Mund zu stochern, während sie auf ihrem Stuhl krebsten und vor jeder meiner Bewegungen zuckten.

Ich wurde auch tatsächlich angenommen, obwohl ich relativ weit über dem NC lag. Glück muss man auch mal haben. Und so packte ich die Sachen und verließ den furchtbaren Sommer in Frankfurt und zog in einen furchtbaren Herbst nach München. Die Jahreszeiten in Deutschland waren sowieso alle gleich: Verregnet.

Da meine Eltern seit ich klein war geschieden lebten, war es eine umso schönere Sache nach München zu meiner Mutter zu ziehen.

Er: Ständig unter Stress von der Arbeit, Kollegen, Haushalt, Katzen. Ja, unsere Katzen machten ihm Stress. Er ging so weit, dass er ihnen Fischstäbchen machte, die Panade abpellte, sie in Wasser legte und ihnen vorsetzte, weil die Katzen das so mögen. Das Katzenfutter wurde natürlich nicht nach Preis oder Belieben gekauft, sondern nach Geschmack, den die Katzen gerade hatten. Grundsätzlich gab es sechs Mal am Tag etwas zu essen für sie. Wahre Götter mussten sie für ihn sein, dass er sogar mehrmals nachts aufstand, um sie die Haustür rein und wieder rauszulassen. Wahre Götter.

Sie: Eine etwas rundlichere Frau, trotzdem stets nett und für einen Spaß bereit. Manchmal etwas zynisch vom Stress in der Arbeit, aber an sich ausgeglichen.

Keine Götter im Haushalt.

 

Traurig an dem Ganzen: Ich kannte niemanden. Außer eine alte Freundin aus Bad Soden, die jetzt in München wohnte, Felicitas. Aber niemand, der mit mir zur Uni fahren würde. Es war ein Neustart und hey, viele Studenten kennen kaum Leute, weil sie aus anderen Städten kamen. Es kann also nur gut werden! In Freunde finden war ich … ziemlich übel. Aber man kann sich ja ändern. Oder es zumindest versuchen.

Um sich kurz vorzustellen: Mein einziges Talent war Zeichnen. Und das nicht mal gut, aber immerhin ein Talent. Mehr tat ich im Grunde auch nicht. Sport war Mord, wortwörtlich. Ich wäre der einzige mit gebrochenem Fuß bei einem Schachspiel. Denn ich schaffe alles, nur anders. Groß war ich auch nicht sonderlich. Vielleicht 1,75 m. Oder 1,77 m.  Allerdings erkannte man mich immer mit meinen roten Haaren. Gefärbt natürlich, so besonders war ich dann nun auch wieder nicht. Tätowiert war ich. Und nicht wenig; irgendwie muss man ja seine Lebensgeschichte erzählen. Aber stets an Stellen, die ich gut verstecken konnte. Man will sich ja weiterhin der Gesellschaft anpassen und ja nicht auffallen. Sondern nur dann, wenn es erwünscht ist. Also bei Festivals oder Hausparties.

Und wenn ich mich so jemandem beschreiben würde, der mich nicht kennt, niemals gesehen hat und sich auch sonst nichts unter mir und meinem Körper und Charakter vorstellen kann, würde auf anhieb sagen: 'Klingt aber doch nach einem netten Mädchen. Sie hat ihre stärken und ihre Schwächen, hat sicherlich einen zurückhaltenden Charakter, aber trotzdem eine gewisse Ausstrahlung. Und hey, rote Haare klingt hübsch! Was zeichnest du denn so?'

 

Mein Name ist jedoch Constantin May und bin 19 Jahre alt. Im März 20. Ein schlag ins Gesicht ist kein Vergleich zu der ständigen Anmaßung mancher Leute, die meinen, in mir eine Frau zu sehen. Ich gebe zu, einen gewissen Touch habe ich. Schuld daran ist meine Mutter, die lieber ein Mädchen geboren hätte. Hat sie aber nicht, der Versuch blieb trotzdem nicht aus, aus mir ein Mädchen zu machen. Natürlich ist es auch vorteilhaft, wenn man nach der Mode geht, sich für andere interessiert und nicht nur Fußball guckt und Bier trinkt. Ich gebe auch ungeschoren zu, dass ich nie versucht habe 'männlicher' zu wirken. Ich fühlte mich wohl dabei, viel mit anderen Frauen zu unternehmen, da die mich akzeptierten, wie ich war. Aber eben nicht andere Männer, die nichts besseres zu tun hatten, als mich "schwul" und "weibisch" zu nennen. Immerhin hatte ich auch schon zwei Freundinnen, nix mit schwul. Eine Beziehung hielt sogar knapp ein Jahr!

...Ich bin keine Frau. Nur weil ich nicht emotional abgestumpft bin und alles um mich herum ausblende.

 

Der Umzug ging relativ schnell von statten. Ich mietete einen Kleintransporter und fuhr in den Süden. Angekommen in meinem Zimmer in der relativ großen drei Zimmer Wohnung am Stadtrand von München, packte ich die wichtigsten Dinge aus den Kartons. Meine Mutter half mir etwas, der Kleinkram blieb jedoch an mir hängen. Umzüge waren furchtbar anstrengend und ich beneidete alle, die dafür jemanden engagieren konnten. Geldprobleme hatten wir keines Falls, aber für ein Leben in Rauschzuständen reichte es eben nicht. Zumal schon mal gar nicht in München. Ein Nebenjob musste sein, zudem die Studiengebühren noch existierten und meine Eltern gewiss nicht alles finanzieren konnten und sollten. Schlimm genug, dass ich bei meiner Mutter leben sollte. Zumindest für die nächsten 2-3 Jahre, bis ich Halt gefunden hatte.

 

Die Nacht vor dem ersten Tag ist wie die Nacht vor einer furchtbaren Klausur, für die man nicht gelernt hatte. Unbrauchbar für Ruhe und Entspannung.

Mit Augenringen und einem Puls von 120 stand ich in der fahrenden U-Bahn. Vollkommen überfüllt. Und zwei Stationen vor meiner Haltestelle füllte sie sich um gefühlte weitere tausend Menschen. Fehlten nur noch die Türquetscher wie in Japan. Zum Glück stand ich direkt neben einer Tür, sodass der Schwall der Menschen an mir vorbei ging und mich nicht großartig tangierte. Trotzdem blieben Gerüche und Geschnatter unangenehm an mir haften.

 

Von weitem rannte ein blondes Mädchen auf die U-Bahn zu. Sie steuerte die Tür an, an der ich stand. Mit einer Hand griff ich noch in die zugehende Tür und bereute es schon, weil meine Finger etwas eingeklemmt wurden. Doch dann ging sie wieder auf und das Mädchen stieg ein. Völlig außer Atem lächelte sie mir zu und hauchte ein »Dankeschön«. Ich lächelte müde zurück und widmete mich wieder dem musikalisch unterlegten Geschreie, welches aus meinen iPod Kopfhörern kam. Einmal am Tag sollte man ja eine gute Tat vollbringen. Das war's, ab jetzt durfte ich wieder asozial sein.

Sie beachtete mich ebenfalls nicht weiter und tippte auf ihrem Smartphone. Sie war knapp einen Kopf kleiner als ich und erst beim zweiten Hinsehen sah sie doch ganz nett aus. Ihre blonden Haare waren zwar gefärbt, aber passten zu ihrer hellen Haut. Die schwarzen Fingernägel und ihr auch sonst rockiges Aussehen versprachen wenigstens guten Musikgeschmack. Oder Modegeschmack. Da fühlte ich mich schon gleich neutral in meiner schwarzen Lederjacke und der dunkelblauen Jeans. Aber für den ersten Tag wollte ich nicht gleich meinen eigentlichen Stil raushängen lassen. Nieten, Totenköpfe und viel Leder war nicht jedermanns Sache. Man will sich ja 'anpassen'.

Besagtes Mädchen stieg sogar mit mir aus der U-Bahn, so wie die restlichen tausend Leute. Eine leere U-Bahn fuhr ihre Wege.

Ich folgte einfach der Beschilderung, trotzdem ich den Weg schon vorher ein paar Mal abgelaufen war. Unbewusst folgte ich auch dem Mädchen. Mit schnellen Schritten steuerte sie den Campus an. Überall waren Studenten. Aber noch nicht so viele, wie gedacht. Der medizinische Komplex stand relativ weit Außerhalb. Allerdings hatte ich erstaunlich viele Kurse in der Innenstadt, also am Haupt-Campus. Der war wesentlich größer und verwinkelter, sodass ich ewig brauchte, um überhaupt das richtige Gebäude für meine Einführungsveranstaltung zu finden.

 

Ich folgte weiterhin dem Mädchen, bis sie in eine Richtung abbog, die ich nicht einschlagen wollte, da sie nicht zu meinem Komplex führte. Schade, dachte ich. Da hätte ich schon mal jemanden gefunden, aber was soll's.

Doch im nächsten Moment erschien sie wieder mit ihrem Handy am Ohr. Wahrscheinlich suchte sie einen Freund oder eine Freundin. Wie schön für sie, dass sie schon jemanden kannte. Das musste ich noch durchstehen. Aber meine Mutter sagte, das geht schneller als man denkt. Für eine extrovertierte, lustige Frau, die schon ein freundliches Erscheinungsbild hat, vielleicht. Aber für einen schüchternen, zurückgezogenen, dünnen jungen Mann eher nicht.

Aber genug, dachte ich mir, heute steige ich aus der Wanne Selbstmitleid aus und packe die Sache mal anders an. Innerlich war mir klar, dass 'anders' so gut wie 'gleich' heißen würde. Das war wie mit der gesunden Ernährung und McDonalds.

Die Beschilderung war etwas verwirrend, aber letztendlich fand ich den Audimax, wo die Studenten begrüßt wurden. Wirklich viele unterschiedliche Menschen saßen mit mir in einem Raum und ich ließ den Blick schweifen. Da und dort gab es ein paar gutaussehende Mädchen, aber genauso auch die Schar gutaussehender Männer, die die Mädchen schon anlächelten und wie in schlechten College-Filmen aus Amerika wahrscheinlich nach der Session zum Mittag einladen würden. Die Cheerleader und die Quarterbacks. Und der Loser aus der hinteren Reihe, der zu viel Filme gesehen hat.

Die Einführung war eine typische Einführung. Nichts besonderes. Einschreiben, Klausuren, Seminare, Praktika, Veranstaltungen, Hausarbeiten und, und, und. Alles schön auf einem Collegeblock notiert. Nach circa einer halben Stunde Quasselei öffnete sich die Tür und zwei junge Männer stahlen sich in den Hörsaal. Sie kicherten und veranstalteten ziemlich Krach, obwohl sie anscheinend um Ruhe bemüht waren.

Erst, als die beiden sich in mein Sichtfeld setzten, sah ich ihre Gesichter. Der eine, schwarze, längere Haare, hatte eine Nerdbrille auf, trug einen schwarz-roten Streifenpulli und war etwas schmächtiger als der andere. Dieser besaß kurze, braune Haare und hatte Tunnel; trug ein normales dunkelblaues Langarmshirt. Ich sah ein Tattoo im Nacken aufblitzen. Ein chinesisches Zeichen, nicht mein Fall, aber auf jeden Fall toll, dass es überhaupt Menschen wie mich gab. Nur sah ich an diesem Tag wirklich gar unscheinbar aus, sodass die Aufmerksamkeit der beiden Männer garantiert nicht auf mich fallen würde.

Die beiden unterhielten sich angeregt, dann zückte der Brünette sein Handy und tippte drauf rum. Der andere ließ nun auch den Blick schweifen und beobachtete ein paar Mädchen in den vorderen Reihen, die sich wohl grade gefunden hatten und nun regen Austauschbedarf hatten. Ich überlegte schon tausend Möglichkeiten durch, wie ich die beiden am besten ansprechen würde. Nicht übercool, aber schon bestimmt. Nicht zu schüchtern, eher nett und freundlich. So wie die im Fernsehen. Nett lächeln, »Hey« sagen und an seiner Schultertasche spielen. Dabei die kleine Kniebewegung machen und schöne Augen machen. Wenn ich Brüste hätte, würde das bestimmt funktionieren. ... Schade.

 

Nach der Veranstaltung gab man uns eine Stunde Mittag. Danach würde die Kurseinteilung beginnen. Oder Einschreibung. Oder ich hatte mal wieder nicht zugehört, jedenfalls wusste ich, wann ich wieder da sein musste. Langsam schlurfte ich in Richtung Mensa und folgte den anderen Studenten. Dort war es relativ voll. Natürlich mussten sich die verschiedenen Studienkomplexe eine Mensa teilen. Dementsprechend groß war sie aber auch. Das Angebot war recht zufrieden stellend, trotzdem blieb ich bei einem Salat und etwas Joghurt. Großer Hunger kam bei mir nicht auf. Beim Bezahlen drängelten sich einige vor, aber ich ließ sie einfach. Bloß keinen Streit am ersten Tag anfangen. Das war jedenfalls meine Ausrede. So etwas passiert nämlich öfter. Und ich lasse es einfach geschehen. Wieso sollte ich mich auch beschweren? Die Leute fangen dann doch nur Streit an. Und da schweige ich lieber.

Nachdem ich bezahlt hatte, stand ich, wie im Film, mitten in dem großen Gebäude und wusste nicht, wohin ich mich setzen sollte. Ein Tisch nahe der Fenster sah noch frei aus, also entschloss ich mich, diesen zu beschlagnahmen. Wenn jemand sich dazusetzen wollte, musste er mich fragen, ob noch frei wäre. Spätestens da käme man doch ins Gespräch, oder?

Nur leider war das nicht so. Filme und Realität sind nun mal wirklich weit voneinander entfernt. Ein paar gackernde Hühner setzten sich einfach neben mich, ohne mich überhaupt zu beachten. Ihre Taschen belegten ungefähr 30% der Sitzflächen. Nichtsdestotrotz aß ich gemächlich meinen Salat. Langsam legte ich alles zur Seite, stand auf und riss dabei natürlich halb die Taschen der Weiber runter. Ich bekam einen unglaublich tödlichen Blick zugeworfen, der mich schnell weitergehen ließ. Wieso muss man auch die Tasche auf einen Sitz stellen? Da will doch noch jemand sitzen...

Den unangenehmen Moment, der sich mit den anderen bisher unangenehmen Momenten vermischte und einen bitteren Beigeschmack bekam, versuchte ich so gut es ging runterzuschlucken und begab mich pünktlich zum Hörsaal. Als ich an den Türen vorbeiging, kamen mir auch die zwei Männer entgegen. Sie rochen nach Rauch. Oder zumindest der Brünette. Na ja, ich will keine Moralpredigten halten. Ein Gelegenheitsraucher sprach hier aus tiefster Seele. Am liebsten betrunken.

Die beiden gingen schnellen Schrittes zum Hörsaal und setzten sich wieder auf ihre Plätze. Als ich zu meinem gehen wollte, saß da schon jemand anderes. Wie gemein, sich einfach woanders hinzusetzen. Die erste Reihe war noch frei, sonst nur noch vereinzelte Plätze. Nur, um nicht Jemanden fragen zu müssen, ob der Platz noch frei wäre, nahm ich die Qual der ersten Reihe auf mich. In der Schule war die erste Reihe nie ein Problem. Mit den richtigen Leuten war die sogar richtig lustig. Aber ohne irgendwelche Leute wurde mein Ego auf einmal ganz klein und ich wurde wie ich war: noch schüchterner.

 

Der einweisende Mann erklärte, erläuterte und wies auf vielerlei Dinge hin. Ich fühlte mich unwohl, alle Leute im Nacken sitzen zu haben, die mich anstarrten. Vorsichtig strich ich mir immer wieder über meine Ohren. Niemand sollte meine Piercings oder meine Tunnel sehen. Auch meine Tattoos sollten geheim bleiben, bis ich jemanden gefunden hatte. Wieso ich mir so was mache, wenn ich nicht dafür einstehe? Ich stehe dafür ein. Aber nicht in solchen Situationen, wenn ich nicht auffallen will.

Nach gefühlten etlichen Stunden Einführung und Gerede wurden wir mit ein paar Infoblättern in die Freiheit entlassen. Enttäuscht ging ich alleine den Gang bis nach draußen entlang. Ich sah viele zusammen gehen. Innerlich seufzte ich. Erster Tag, Constantin. Erster Tag.

 

Zu Hause angekommen, fragte mich meine Mutter natürlich wie es war. Also erzählte ich alles in einer abgespeckten Version, wesentlich toller und freudebringender als ich es in Wirklichkeit empfunden hatte. Sogar von den zwei Jungs in meinem Alter, die wie ich aussahen. Oder zumindest den Anschein hatten. Wie eine Mutter natürlich ist, sprach sie mir Mut zu, dass ich die beiden doch einfach mal ansprechen sollte. Keine schlechte Idee, Mama, dachte ich, wäre da nicht mein Ego Problem. Aber warum nicht, immerhin wollte ich mich ändern.

In der Nacht schlief ich zwar besser als zuvor, jedoch träumte ich von meinen beiden Kommilitonen. In meinem Traum waren sie sehr nett; hoffentlich waren sie das auch in der Realität.

 

Am nächsten Tag, den Platz fast erkämpft, stand ich wieder an der Tür, während der Rest sich weiter in die U-Bahn quetschte. Und an besagter Haltestelle stieg sogar wieder das Mädchen ein. Diesmal ohne Hektik und Stress, dafür aber in eine andere Tür. Schade, dachte ich, man hätte sie ja mal ansprechen können. Innerlich war ich natürlich froh, dass sie nicht zu mir kam, sonst hätte ich sie wirklich für mein Gewissen ansprechen müssen.

Auf dem Unigelände war es vom Regen in der Nacht etwas matschig geworden. Ein kalter Wind wehte, sodass die Raucher dicht bedrängt vor dem Gebäude standen, um doch noch etwas Wärme von drinnen zu erhaschen.

Bis zum Mittag geschah recht wenig. Die Vorlesungen waren nicht sehr spannend, da sie alle das von gestern Gesagte noch einmal wiederholten. Bis schließlich alle Studenten zum Essen entlassen wurden. Mensa, sichtlich überfüllt. Das gleiche Essen wie am Vortag, der selbe Tisch wie am Vortag. Aber dieses Mal ohne gackernde Hühner, deren Taschen mehr Plätze belegten als üblich. Da erspähte ich die beiden anderen Männer etwas weiter weg sitzen. Sie unterhielten sich, lachten, dann knuffte der Brünette den Schwarzhaarigen. Auf einmal kam ein weiteres bekanntes Gesicht dazu. Das Mädchen aus der U-Bahn setzte sich neben den Brünetten und küsste ihn kurz auf den Mund. Innerlich brach in mir ein etwas frustrierendes Gefühl aus. Dass hier anscheinend wirklich jeder jeden kannte und die zwei mir am auffallendsten Menschen ein Paar sind. Sie klammerte sich an ihren Freund ran und lachte mit den beiden. Gute Freunde. Toller Freundeskreis. Da hab ich keine Chance. Schnell steckte mir das letzte Salatblatt in den Mund und trank das Wasser aus. Langsam schlurfte ich ohne weitere Beachtung an den Dreien vorbei und stellte mein Tablett ab. Ich sah sie im Augenwinkel tuscheln. Ich mag so etwas nicht. Sowieso hatte ich das Gefühl jeder tuschelte über mich und mein Aussehen. Ja, ich sah weiblich aus. Ja, ich bin schmal für einen Mann. Ja, danke, ich weiß, dass ich nach Nichts und Niemanden aussah.

Natürlich ist das absoluter Schwachsinn, wahrscheinlich bemerkte mich nicht mal jemand. Zurück zum Hörsaal.

 

Zu Hause, Geschichten für Mama erzählt, an den Computer, ins Bett. Aufgestanden, Mädchen an der U-Bahn gesehen, kein Kontakt. In der Uni gewesen, die drei in der Mensa gesehen, kein Kontakt. Die zwei Jungs in meinem Studiengang beim Rauchen draußen gesehen, kein Kontakt. Die drei auf dem Nachhauseweg, kein Kontakt. Zu Hause, erzählt, an den Computer, ins Bett.

Wie schnell wieder Routine im Leben war. Kaum zu glauben, welch Ironie sich da breit machte.

 

Die Woche verging relativ schnell. Ich wurde da und dort mal von jemandem angelächelt, aber nichts weiter. Sogar das blonde U-Bahn-Mädchen lächelte mich einmal kurz an, als ich in der Mensa an den Dreien vorbeiging. Welch Erfolgserlebnis, es kann nur bergauf gehen.

Am Wochenende traf ich mich mit meiner alten Bekanntschaft Feli.

»Und? Wie ist es so in der Uni?«, fragte sie mich schon ungeduldig, während wir in einem belebten Café saßen und noch die letzten paar Sonnenstrahlen genossen.

»Wie es nun mal ist. Uni eben«, gab ich knapp zurück und schlurfte an meiner Cola.

»Das war's? Noch niemanden kennen gelernt? Irgendwelche interessanten Leute?«

»Schon... da sind schon nette Leute, denke ich.«

»Also noch niemanden angesprochen?«

Ich schüttelte den Kopf und blickte zu ein paar Tauben, die sich am Platz der Synagoge tummelten. Feli seufzte laut und konnte nicht glauben, dass ich immer noch so war, wie sie mich in Erinnerung hatte. »Da musst du was tun, Consti. Dringend.«

»Bitte nenn mich nicht 'Consti', das klingt doof ...« Sie hob eine Augenbraue und schlürfte dann von ihrem Latte Macchiato. »Ich sag ja nur, dass du dir mal jemanden anlächeln solltest. Mehr nicht. Du kannst dein Leben auch alleine verbringen. Aber ich weiß, dass du eigentlich gerne Leute um dich hast.«

 

Ja, Feli hatte ja recht. Sie selbst studierte Architektur an der FH in München. Wieso nicht an meiner Uni? Das würde mir so viel Leid ersparen. Denn Feli war sehr extrovertiert; mit ihr hätte ich sicherlich schon tausend Leute kennen gelernt. Trotzdem sie lange Zeit weit weg wohnte und jetzt auch nicht wirklich in meiner Nähe war, so war sie doch immer mit Rat und Tat an meiner Seite, obwohl ich öfter den Beziehungsberater spielen musste, als sie bei mir. Ihre Männergeschichten waren schon interessant, so lernte man selbst als Mann auf die Fehler zu achten, die man in ihren Augen machte. Aber manchmal überzog sie ihre Ansichten auch etwas. Sie hatte den Hang zu übertreiben und Dinge gerne so zu erzählen, wie sie sie gerne hätte. Aber im Laufe der Zeit, und ich kannte sie schon knapp 5 Jahre, merkte man, wann sie flunkerte und wann sie es einigermaßen richtig erzählte.

Mit ein paar guten Vorschlägen gingen wir wieder unserer Wege. Eine neue Woche, neues Glück. Diese Woche musste etwas passieren, ansonsten hatte ich das Gefühl mein Leben lang freundschaftslos durch die Unizeit zu streifen.

Am Montagmorgen krebste ich aus dem Bett und versuchte mit einem Lächeln den Morgen zu beginnen. Doch meine Mutter war mitten im Stress, da sie bereits um halb 8 in der Firma sein wollte. Also verabschiedete sich meine Mutter mit einem schnellen Küsschen auf die Wange und rannte aus der Haustür. Und schon war sie weg.

Grade aufgestanden und schon alleine in der stillen Wohnung. Ich seufzte und versuchte trotzdem den Tag gut angehen zu lassen. Langsam aß ich meine Cornflakes, die von Tag zu Tag fader wurden.

Mit wenig Elan sah ich wie jeden Morgen in den Spiegel und seufzte. Es war dieser enttäuschte, traurige Seufzer, der mir jeden Morgen rausrutschte. Wissend, dass ich selber Schuld an meiner Situation war und sie trotzdem nicht ändern konnte.

An der U-Bahnstation, zugedröhnt von meiner Musik, starrte ich zur anderen Seite und beobachtete die Menschen, die hektisch zu ihrer Arbeit rannten. Montage schienen immer extra voll zu sein. Oder man hat sich durch das Wochenende nur entwöhnt.

Und mit überhaupt keiner Überraschung folgte ich der riesigen Menschenmenge in die eingefahrene U-Bahn. Aber der Trick an der Tür zu stehen klappte auch in der zweiten Woche.

 

Da kam sie angerannt. Sie sah mich von weitem und lachte außer Atem, während sie zur U-Bahn rannte. Ich hielt vorsichtshalber schon mal die Hand vor den Sensor. Sie huschte rein und die U-Bahn fuhr los. Wieder lachte sie und hustete ein »Danke dir!«. Ich lächelte zurück. Schweigen. Sie richtete ihre Haare und tippte wieder kurz auf ihrem Handy. Im Display stand 'Julian'. Wohl ihr Freund. Der Brünette Typ.

 

»Du studierst auch hier, ich verwechsle dich jetzt nicht, oder?«, fragte sie mich freundlich und deutete auf meine große Schultertasche. Ich riss sofort einen meiner Ohrstöpsel aus dem Ohr und nickte. »Ja, im medizinischen Komplex.« Sie nickte und lächelte.

»Ich studiere BWL. Obwohl ich jetzt schon keine Lust mehr darauf habe«, lachte sie etwas schrill und strich sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Sie war stark geschminkt, aber ihr grade geschnittener Pony verdeckte sowieso ihre Augen. »Und was genau im medizinischen Bereich?«

Wow. Sie wollte wirklich ein Gespräch mit mir anfangen. Jetzt nur nichts vermasseln. Cool klingen. »Zahnmedizin.«

Sie war erstaunt. »Ist ja krass! Mein Freund auch! Der muss hier auch irgendwo in der U-Bahn sein. Aber Montags verpasse ich grundsätzlich meinen Bus, weswegen ich dann so hierher hecheln muss.« Sie grinste. »Kennst du ihn? Groß, kurze, braune Haare? Hat so'n Tattoo im Nacken.«

»Mal gesehen«, ich zuckte mit den Schultern, um lässig zu wirken, »aber nie miteinander gesprochen.«

»Ach so. Weil du siehst cool aus. Bisschen wie mein Freund.« Bisschen weit davon entfernt, hätte ich am liebsten hinzugefügt, aber sie wollte nur nett sein.

»Ach so, danke«, murmelt ich also.

Die U-Bahn hielt an unserer Haltestelle und wir quetschten uns raus. Sie suchte verzweifelt ihren Freund. Der schien jedoch nirgends aufzutauchen. Da vibrierte ihr Handy und sie ging ran.

»Wie? Du bist mit Mike schon vorgegangen? Du Doofkopf!«, meckerte sie in ihr Handy und legte nach kurzer Zeit wieder auf. Dann lächelte sie mich an. »Der ist schon mit seinem Kumpel vorgegangen. Tja, macht ja nichts, wir sind trotzdem pünktlich.«

Ich nickte und ging mit ihr Richtung Uni. Seltsames Mädchen, aber doch nett. Sie fragte mich, welchen Notenschnitt ich hatte, woher ich kam und was ich hier sonst so machte. Sie hieß Michelle, aber sie hasste den Namen, weswegen sie alle Micky nannten. Sie war ebenfalls 19 und Studienanfängerin, doch kannte sie die Uni schon gut, weil ihr großer Bruder an besagter Uni Chemie studierte. Sie liebte Shoppen und Pferde. Aber sie ritt nicht, weil ihre Mutter das Geld an dieser Stelle falsch investiert sah. Stattdessen ging sie regelmäßig mit ihrer Freundin Susanne ins Fitnessstudio. Ihre Lieblingsfarben waren Rosa und Pink. Als ich fragte, ob das nicht dasselbe sei, wurde ich fast gesteinigt. Das seien zwei vollkommen unterschiedliche Farben und nicht das Selbe. Sie und Julian, ihr Freund, waren seit 10 Monaten zusammen und er wäre der perfekte Mann. Lieb und zuvorkommend, höflich, witzig, intelligent und immer für einen Spaß parat. Klang wirklich nach dem perfekten Mann. Vor allen Dingen musste er ein großes Ohr für sie haben, denn der Weg von der U-Bahnhaltestelle zur Uni war im langsamen Schritt keine 10 Minuten und ich kannte ihr komplettes Leben bis dato. Gebürtige Münchnerin, Eltern noch zusammen, lebte mit ihnen gemeinsam in einer kleinen Wohnung am Stadtrand. Der großen Bruder schon in einer eigene Wohnung in Hadern.

Nachdem ich also ihre Vitae kannte, verabschiedete sie sich auf dem Campus von mir und ging in ihre Richtung zum Komplex.

Vor dem medizinischen Gebäude standen wieder die Raucher und zogen sich noch ihre nötige Dosis Nikotin rein. Darunter auch Julian und wahrscheinlich der Kumpel Mike. Julian  suchte wohl seine Freundin. Ich wollte erst auf die beiden zugehen und ihnen sagen, dass Micky bereits auf dem Weg zu ihrer Vorlesung ist, doch zog ich meinen bekannten Bogen um sie herum. Wie sollte ich sie denn ansprechen ohne zittrige Knie zu kriegen? »Hey, also deine Freundin ist schon im Gebäude, hab sie grade getroffen, nettes Mädchen.« Nee. Nee, nee, nee.

 

In der Vorlesung setzte ich mich extra in die hintersten Reihen. Mike und Julian waren so ein gefundenes Fressen für meine Aufmerksamkeit. Das chinesische Zeichen an Julians Nacken hatte ich übrigens gegoogelt und war gar nicht chinesisch, sondern japanisch und bedeutete Leben. Warum nicht, dachte ich, und kritzelte es auf meinen Block. Im Grunde waren die beiden nur am rumalbern. Weniger am Zuhören. Aber meine Ohren nahmen das Gerede des Professors auch schon lange nicht mehr so genau wahr. Wie würde das nur in ein paar Semestern aussehen?

Ich hatte fast jede Vorlesung mit den beiden Quatschtanten. Und in einem kleinen Hörsaal nervte ihr Getratsche sogar manchmal. Es gab nämlich hier und dort ein paar interessante Stellen, die ich mitschreiben wollte und durch ihr Quatschen unnötig gestört wurden.

In der Mensa war es ausnahmsweise mal nicht so überfüllt; man merkte sofort, dass bei vielen Studenten schon nach einer Woche die Luft raus war und regelmäßiges Erscheinen als nicht mehr so wichtig angesehen wurde. Trotzdem war es nicht leer.

Mehr Salat für mich. Der war ausnahmsweise mal wirklich lecker, oder zumindest das Dressing. In Gedanken an eine neue Tätowierung versunken, schlurfte ich zu 'meinem' Tisch und setzte mich. Langsam aß ich meinen Salat und tippte auf meinem Smartphone. Feli postete einen erneuten Streit mit ihrem Macker, eine ältere Bekannte ist jetzt schwanger, die Mutter von der Mutter einer aus meiner Klasse ist gestorben, die Schwester eines Bekannten ausgezogen und ein Freund im Knast. Da zieht man aus seiner Heimat aus und ist auf einmal froh, nicht mehr da zu sein. Facebook sei Dank.

Gar nicht auf meine Umgebung achtend, stand ich auf und brachte das Tablett weg. Im Augenwinkel sah ich Micky lächeln. Ich blickte zu ihr und sie winkte mir fröhlich zu. Erst zögerlich, aber dann doch sicher über die Zuwendung ihrerseits, winkte ich zurück und lächelte, während ich zum Ausgang ging. Julian sah mich dabei ebenfalls an und Mike drehte sich zu mir um. Ich lächelte noch, bis ich dann wieder meiner Wege ging. Ich war doch gut, oder? Das war super. Ich war so gut. Ich bin nicht in Zittern ausgebrochen. Und ich glaubte, dass das Winken mir galt. Oder doch jemand anderem? ... Ohje...

 

Noch vor der Vorlesung bemerkte ich, dass mein Wasser bereits leer war. Schnell drehte ich wieder um und suchte im Gang nach einem Automaten.

Seufzend lehnte ich an einer Wand und wartete, bis der Typ vor mir sich etwas zu Trinken aus dem Automaten geholt hatte. Das dauerte ewig, weil er immer eine falsche Nummer eingegeben hatte. Dann zu wenig Geld. Wieso Menschen eigentlich manchmal so unfähig sein mussten, war mir unbegreiflich.

Dinge, die ich hasste: Unfähige Menschen. Langsame Menschen.

Als der Typ endlich weg war und ich voller Zynismus mich fragte, wie der es auf eine Uni geschafft hatte, warf ich ein paar Münzen ein und drückte die Zahlen des gewünschten Wassers. Auf einmal lehnte sich jemand an den Automaten.

 

Ich blickte in hellblaue Augen, die mich neugierig ansahen. Er reichte mir die Hand. »Julian. Mickys Freund. Du kennst sie aus der U-Bahn?«

Wohl sichtlich erstaunt über seine Gestik, mich anzusprechen und dann auch noch so freundlich mit einem Lächeln auf den Lippen, das mit den leichten Ansätzen von Grübchen quasi perfekt wirkte, stutzte ich.

Ich reichte ihm ebenfalls zögerlich meine Hand und lächelte zurück. »Constantin. Ja, genau, ich halte ihr öfter mal die Tür auf, wenn sie zu spät ist.« Da lachte er kurz auf und nickte verständnisvoll.

»Klingt nach ihr. Die hat eine Montagsschwäche. Aber eine ganz stark ausgeprägte.«

Ich grinste einfach und nahm mein Wasser aus dem Automaten.

»Du studierst auch hier Zahnmedizin?«, fragte er mit dem rhetorischen Unterton. Micky hatte ihm wahrscheinlich von mir erzählt. Ich nickte und starrte auf den Boden, während wir zum Hörsaal gingen. »Viele meiner Freunde haben mich damals ausgelacht. Frei nach dem Motto: Wie kann man nur sein Leben lang in andere Münder schauen wollen.« Dabei lachte Julian etwas und strich sich kurz durch sein gewachstes Haar. Ich grinste einfach. Dann redete er über die Einführungsveranstaltungen, die anderen Leute, noch einmal über Micky und wie sehr es ihn ankotzt, dass wir manchmal so weit raus fahren mussten. Ich nickte immer nur und starrte nervös auf den Boden. Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Er bemerkte schließlich meine verkrampfte Haltung und blieb kurz stehen.

»Wenn ich dir irgendwie unangenehm bin, sag das bitte sofort.«

Erschrocken blieb auch ich stehen und schüttelte schnell den Kopf. Seine blauen Knopfaugen sahen mich durchdringend an. Er erwartete wohl dann eine andere Erklärung meines Verhaltens. Ich zögerte und knibbelte angespannt am Deckel der Flasche. Jetzt sprach mich mal jemand an und ich mache alles mit meinem Verhalten kaputt! Wie kann mich jemand so nervös machen? Jemanden, den ich überhaupt nicht kannte. Aber er sah wirklich so cool aus! Allein seine Körpergröße lag sicherlich auf knapp 1,90 m. Die athletische Körperfigur unterstrich das noch mal. Seine großen Hände umfassten locker den quer liegenden Bund seiner Schultertasche. Und seine Augen … bohrten weiter. Dann lächelte er mich wieder an. »Micky sagte, du seiest schüchtern, aber so schüchtern hätte ich nicht gedacht.«

Mein Kopf, gefühlt heiß wie nach der Sauna, wurde schlagartig rot und ich suchte verzweifelt eine Antwort. Alles was ich raus bekam war ein Stammeln von Wörtern zwischen »Ich ...« und »Tut mir Leid ...«. Julian stattdessen kam mit einem Grinsen auf mich zu und legte seinen Arm um meine Schulter. Oh Gott, Körperkontakt.

»Schon okay! Glaube mir, ich werde dir dafür ganz schnell auf den Wecker gehen.« Ich sah kurz zu ihm auf und er zwinkerte mir zu. War wohl als halber Spaß gemeint, weil er so extrovertiert daherkam und das krasse Gegenteil zu mir war.

»Ich glaube nicht«, murmelte ich, »ich bewundere das eher.«

Er stoppte kurz und nahm die Hand von meiner Schulter. Dafür klopfte er mir einmal kurz auf den Oberarm.

»Wir werden sehen.« Er hörte überhaupt nicht mehr auf zu Grinsen. Wahrscheinlich habe ich mich bereits blamiert. So wie immer. Er ging in den Hörsaal und schlurfte zu Mike in die Reihe. Ich war mir nicht sicher, ob ich nun folgen sollte oder nicht und setzte mich deswegen standardgemäß eine Reihe hinter die beiden. Da drehte Julian sich um und entriss mir meine grade auf den Tisch abgelegte Tasche.

»Was machst du? Komm her!«

Mike lachte nur, drehte sich um und reichte mir über den Tisch die Hand. »Mike. Der Kumpel von dem Trottel hier.« Ich lächelte zurück und schüttelte zitternd seine Hand. Julian hatte inzwischen meinen Platz vorbereitet und hielt mir den klappbaren Stuhl runter, damit ich mich setzen konnte. Ein »Danke« kam grade noch so aus mir raus. Mir schwirrten nur wirre Gedanken im Kopf rum, dass ich die Situation nicht noch schlimmer machen sollte.

Julian unterhielt sich kurz mit Mike über irgendwas am Wochenende und dass es hoffentlich mal nicht regnen würde. Als der Professor langsam an seinen Platz nach vorne ging und seine Sachen ausbreitete, widmete sich Julian wieder mir. Und ich freute mich schon fast wie ein Wahnsinniger, dass ich es wohl nicht vermasselt hatte. Jetzt nur nichts kaputt machen!

»Und? Wie findest du es bis jetzt hier?«

Ich überlegte kurz und wollte etwas nettes sagen. »Ich glaube, jetzt wird’s gut. Davor fand ich es nicht so toll.«

Julian lächelte mich kurz an und packte seinen Collegeblock aus. »Ich find's jetzt schon kotzlangweilig, ist eben wie Schule.«

Ich nickte kurz. »Aber wesentlich entspannter als in der Schule mit dem ganzen Melden und den Hausaufgaben.«

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass das immer ein Problem für dich war, oder? Ständiges Mitmachen im Unterricht?«

Mein Puls stieg aus Peinlichkeit weitere 10 Einheiten. Seine direkte Art war gewöhnungsbedürftig.

»Ja, schon ...«

Julian knuffte mich etwas in die Seite. »War nur Spaß. Ich hab mich auch nie gemeldet, aber nur weil ich geschlafen hab.«

Mike stupste ihn kurz an und lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Ohne irgendwie nachzudenken, schlug ich die zuletzt benutzte Seite meines Blocks auf und fing an die erste Folie abzumalen. Julian erhaschte einen Blick und tippte auf die Ecke des Blattes. »Genau das Zeichen hab ich im Nacken! Heißt Leben.«

Ich wollte schon »Ich weiß« antworten, als mir auffiel, dass es doch etwas seltsam kommen würde, wenn ich ihm jetzt erzählen würde, dass ich ihn ständig von weiter hinten beobachtet habe.

»Äh, ja, ich hab's auch bei dir gesehen und fand's sehr schön, deswegen hab ich's abgemalt.«

»Echt? Wow! Du kannst echt gut Zeichnen, sieht aus wie gedruckt!« Er lehnte sich etwas weiter vor, um der mit Bleistift angefertigten Zeichnung Echtheit zu erhaschen.

Übertreib mal nicht, wollte ich sagen, aber ich nahm das Lob einfach mal an. »Danke. Ist aber nur ein Hobby.«

»Zeichnen? Was zeichnest du denn so?«

»Ach, eigentlich alles...« Mehr bekam ich nicht raus.

Julian nickte interessiert und schob mir prompt seinen Block hin.

»Mal mir mal was. Was einfaches, 'ne Blume oder so.«

Ich lächelte und nahm meinen Bleistift aus dem Mäppchen. »Was denn für eine Blume?«

»Da gibt’s Unterschiede?«, lachte Julian und wollte nur einen Scherz machen. »Ich weiß nicht. Meine Lieblingsblumen sind eigentlich Lilien, aber die sind was schwer, oder?«

Ich schüttelte den Kopf und begann den Umriss einer Lilie zu zeichnen. Er mag Lilien. Ich auch, dachte ich. Trotzdem wirkte es bei ihm wesentlich cooler, wenn er so was sagte, als wenn ich einem anderen Mann 'gestehen' müsste, dass ich Lilien mochte. Da würde die Runde erst mal lachen. Erfahrung hatte ich in so was schon gemacht.

Nach einer guten Minute war die Lilie in Centgröße fertig. Julian war begeistert. »Krass! Und so schnell! Sieht richtig toll aus! Und mit dem Talent willst du nichts machen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Was denn? Freier Maler werden ist nicht so mein Ding.«

Julian nickte verständnisvoll. »Nee, da würdest du untergehen.« Auf diesen Satz hatte ich nur ein müdes Lächeln übrig. Ja, ich würde untergehen. So wie hier. So wie überall.

»Aber«, fing er an, »wie wär's denn mit Grafikdesigner?«

»Hm ...« Nicht so mein Ding. Verstand er wohl auch. Ich strich mir meine Haare kurz zur Seite.

»Tätowierer!« Und deutete auf meine Tätowierung hinter meinem Ohr. »Das wär' doch was.« Er lächelte mich an und sah sich das Tattoo genauer an. »Ist das nicht die Fleur-de-Lis?«

Ich nickte. »Ja, genau.« Peinlich, peinlich. Wenn er mich jetzt noch, wie so viele andere, fragt, ob ich es mir wegen der Weiblichkeit hab stechen lassen, wäre er zwar lustig, aber genauso gemein.

»Hast du noch mehr?«

Ich sah ihn erstaunt an. Er fragte es tatsächlich nicht … Es schient gar kein Thema zu sein.

»So gut wie überall.« Ich merkte, wie ich etwas ruhiger wurde.

Seine Knopfaugen öffneten sich um das doppelte. »Im Ernst?«

»So gut wie. Also ich bin nicht durch und durch tätowiert.«

»Geil! Ich hab auch einige. Micky hasst sie allesamt und wünscht sich keine weiteren mehr. Dabei hätte ich noch tausend Ideen!«

»Hab ich auch andauernd«, und lachte etwas. Noch so'n Verrückter. »Aber meine Familie findet das auch nicht so toll.«

»Ach, die haben da schon lange nicht mehr mitzureden.« Julian lachte und deutete auf meinen Oberkörper. »Will ich irgendwann mal alle sehen. Die sind bestimmt interessant.«

Ich nickte. »Gerne. Aber dann will ich deine auch sehen.« Er lachte, ich lachte und irgendwie … hatte ich das Gefühl jemanden gefunden zu haben mit dem ich sehr gut klar kommen würde. Er war unglaublich nett und freundlich. Und nach jedem weiteren Satz sank meine Unsicherheit.

Er deutete kurz auf Mike.

»Der traut sich nicht. Er hätte auch gerne eins, aber irgendwie hat er zu viel Angst vor den Schmerzen.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Muss jeder für sich selbst entscheiden.«

Julian nickte und sprach Mike an, der die Folien feinsäuberlich abschrieb. »Hast gehört? Jedem das Seine. Du hast endlich jemanden gefunden, der dich nicht dazu nötigt.« Dabei wandte er sich wieder zu mir. »Das tu' ich nämlich gerne.« Und grinste mich hämisch an. Mike verdrehte die Augen und schüttelte grinsend den Kopf.

 

Die Vorlesung war stink langweilig, aber die Gespräche mit Julian umso interessanter. Er war gebürtiger Münchner und lebte bei seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester Jenny. Der Vater verstarb vor circa sieben Jahren an Krebs. Aber er kam damit ganz gut zurecht, denn sein Vater war ein netter und liebenswürdiger Mann, der sein Leben geschätzt hat und nicht in Leid gestorben ist. Seine Mutter würde ihn und seine Schwester seitdem nur irgendwie 'übermuttern'. Er fuhr mal Skateboard, hat's aber aufgegeben, weil er Angst hatte sich schwere Verletzungen zuzuziehen, weil ein Kumpel seit dem Querschnittsgelähmt war. Dumm aufgekommen, meinte Julian. So einfach mit dem Kopf abgeknickt und da wurden ein paar Wirbel durchtrennt. So genau wusste er es auch nicht, aber seitdem spielte er nur noch Basketball oder Fußball. Aber nichts im Verein, das fand er nicht so toll. Er ging gerne feiern. Und trinken tat er auch gerne, so wie ich das aus seinen Erzählungen seiner Exzesse heraus hören konnte. Ein oder zwei Joints waren auch schon dabei gewesen. Dabei erzählte er mir wieder von einem Bekannten, der jetzt in der Entzugsklinik lag und seitdem seine eigene Haut essen würde. Bei dem Gedanken ekelte es mich schon etwas …

 

Julian kannte die halbe Welt, so hatte ich das Gefühl. Er war beliebt, welch Überraschung. Seitdem ich mit den beiden in Kontakt getreten war, eröffneten sich so viele neue Wege zu anderen Menschen. Julian hatte Bekanntschaften überall in der Uni. Die lustigsten Leute, aber auch die Seltsamsten.

Am Dienstag lernte ich noch Andreas und Lucy kennen. Die beiden waren ein Paar, schon seit knapp einem Jahr. Er studierte Rechtswissenschaften und sie Psychologie. Lucy war übrigens mit einer Susanne befreundet, die die beste Freundin von Micky war. Wie klein die Welt ist.

»Die Fitnessstudiofreundin?«, fragte ich Julian. Der lachte nur und nickte.

»Ja, die beiden sind eigentlich so überhaupt nicht sportlich. Aber wenn sie denn mal dahin gehen, versuchen sie wenigstens so zu wirken.«

Andreas war so groß wie Julian und hatte kurze, blonde Haare. Er sah etwas schlägermäßig aus, aber war richtig nett. Dass er wie ein Schläger aussah, hatte mit seinem Hobby zu tun: Boxer. Und obwohl er Rechtswissenschaften studierte, hoffte er irgendwann entdeckt zu werden, um Profiboxer werden zu können. Ich drückte ihm die Daumen.

Lucy war sehr schmal, ganz anders als die etwas rundlichere Micky. Sie sah wie eine Elfe aus, so ganz blass mit glatten, schwarzen Haaren, die ihr fast bis zur Hüfte gingen. Sie wirkte sehr zurückgezogen und mystisch. Mir gefiel das Getue nicht so, denn wie es schien, galt sie auch als Seherin. Oder so was.

Sie sah mich sehr lange, sehr durchdringend an und meinte schließlich zu mir, ich sei ein sehr interessanter Fall und würde noch ziemlich in meiner Studienzeit leiden. Besonders bei meiner neuen Bekanntschaft mit Julian. Ich lachte nur müde, während Julian abwinkte und ihr Gelaber für Schwachsinn erklärte. Wenn's stimmen sollte, dann waren das ja goldige Aussichten. Aber wer bitte sagt so etwas im ersten Gespräch mit einer fremden Person? Julian kannte wirklich komische Leute ...

 

In der Mittagszeit setzte ich mich das erste Mal zu Micky, Mike und Julian. Und obwohl Lucy und Andreas mit ihnen befreundet waren, saßen sie woanders.

»Warum setzen die sich nicht zu euch?«, hakte ich nach.

»Lucy und Andreas sind nett, aber ...«, antwortete Micky und kratzte sich an der Nase, »... die sind eher für sich alleine. Lucy alleine ist so ganz nett und so, aber ich habe nichts mit ihr zu tun. Nicht direkt.«

»Die beiden sind immer dabei, wenn wir feiern gehen oder an der Isar chillen, aber sonst nix«, fügte Mike hinzu. Ich nickte. Also Bekannte, keine Freunde.

»Und du kennst hier niemanden?«, warf Julian in die Runde.

Ich schwieg kurz.

»Nur eine alte Bekannte. Sie wohnt hier in der Innenstadt, aber studiert nicht hier.«

»Ach so, das ist aber schade.« Micky klaute sich ein Hühnchenstück von Julians Teller. »Du bist ja gar nicht von hier, stimmt's?«

»Ja, genau. Ich komme aus Frankfurt.«

Julian lachte auf. »Aus dem Norden? Hart!«

Ich stutzte. »Also Hessen liegt eigentlich relativ südlich-mittig Deutschlands ...«

»Quatsch, alles was über Franken ist, ist Norden«, wank Julian mit einem Zwinkern ab. Ich grinste. Die Bayer und Geografie.

»Und warum München? Gibt doch auch andere schön Städte«, fragte Mike und deutete gleich mit an, dass er Hamburg viel schöner findet.

»Hör nicht auf den. Der mag München nicht. Klingt komisch, ist aber so.« Wir lachten über Julians Einwurf, während Mike Julian unter dem Tisch trat.

Die drei unterhielten sich nach meiner kurzen Antwort über die verschiedensten Sachen, während ich still zuhörte. Da waren Konzerte, Geburtstage, Beziehungen, Bekannte, Familien. Querbeet schnitten sie die Themen an und ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Aber trotzdem war es so interessant, die drei beim Gespräch zu beobachten.

Mike war eher der Stille, aber nicht annähernd so still wie ich. Micky die schnell aufbrausende Freundin, ständig unter Strom, immer unternehmungslustig. Julian der Komiker mit ständig witzigen Erzählungen, aber auch unter Starkstrom gesetzt. Micky und Julian sahen wirklich glücklich aus. Vor allen Dingen passten sie zusammen. Obwohl es gegen Ende der Mittagszeit immer mehr nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit aussah. Denn Micky wollte am Wochenende in eine Disco, während Julian lieber an die Isar wollte, denn es sollte am Wochenende noch einmal warm werden. Doch Micky wollte partout nicht an die Isar, denn da würde sich Julian nur wieder betrinken. Der gab das ohne jegliche Rechtfertigung grinsend zu.

 

Zurück im Hörsaal, tratsche Julian mit Mike weiter über irgendwelche Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Eine leichte Enttäuschung machte sich breit, dass ich wohl jetzt schon wieder uninteressant geworden bin. Aber dann drehte er sich auch mal zu mir und fragte mich Kleinigkeiten, wie zum Beispiel: »Sag mal, magst du lieber Süßes oder Herzhaftes zum essen?« oder »Micky sagt immer, ich sollte kein schwarz tragen, das würde mich eintönig wirken lassen. Findest du das auch?«

Es waren keine großen Sachen, aber unglaublich nett und bemüht war er alle Male.

 

Am Mittwoch lernte ich Susanne kennen. In der Mittagspause saß sie nämlich schon mit Micky am Tisch und war sich rege am unterhalten. Als Mike, Julian und ich dazustießen, führte mich Micky sofort ein.

»Das ist Constantin, von dem ich dir erzählt habe. Constantin, das ist Susa, meine beste Freundin.«

Die lächelte freundlich und reichte mir die Hand. So viele Hände, wie ich sie in den drei Tagen geschüttelt habe, habe ich noch nie angefasst.

»Freut mich, Susa«, entgegnete ich und fragte mich gleichzeitig, wo sie die letzten Tage war.

Als wir saßen erzählte Susa wieso: Sie studierte schon zwei Semestern Allgemeinmedizin und hatte erst an dem Mittwoch ihre ersten Vorlesungen, die wirklich wichtig waren. Sie sah aber nicht wesentlich älter aus. Eher jünger. Ihre hellroten Haare ähnelten meinen sehr, obwohl ihre echt waren. Ein paar Sommersprossen auf ihrem Gesicht verrieten es. Auch ihre Augenbrauen und Körperhaare waren hellrot. Und obwohl sie ihre Wimpern stark geschminkt hatte, wirkte sie natürlicher als Mickey mit ihren hellblondierten Haaren und stark geschminkten Augenpartien. Susa war hellauf und lachte manchmal etwas laut; und war genauso aktiv wie die anderen um mich herum. Im Grunde fühlte ich mich wieder ganz klein, weil ich absolut nicht in die Gruppe reinpasste. Trotzdem waren alle sehr bemüht mich einzubeziehen. Ich hatte wirklich unfassbares Glück so nette Menschen gefunden zu haben, die mich nicht gleich abstempeln.

Am Donnerstag kam der erste Paukenschlag. Susa kam auf mich zu und lud mich am Wochenende zu ihrer Geburtstagsfeier ein. Am Samstag würde sie bei sich eine kleine Fete schmeißen, nix besonderes. Sie erwartete auch kein Geschenk, höchstens eine Flasche Alkohol oder derartiges. Damit würde ich sie sehr unterstützen. Ich fühlte mich gleich sehr geschmeichelt, direkt nach einem Tag zu einem Geburtstag eingeladen zu werden. Susa sah in der Tat auch sehr nett aus.

Denn am Freitag erfuhr ich von Julian, dass er, Mike und Micky ebenfalls eingeladen waren und somit der Streit um Isar oder Disco sich auf den heutigen Abend verschoben hatte. Die Mehrheit sei für Isar, weswegen sich Micky ausklinkte und keine Lust hatte. Zudem sie für ihre beste Freundin am Samstag fit sein wollte. Denn Susa kam ebenfalls nicht mit, da sie Vorbereitungen treffen wollte. Ich nickte einfach zustimmend.

Am Nachmittag standen Micky, Julian, Mike und ich in der U-Bahn nach Hause. Es war das erste Mal, dass wir zusammen zurückfuhren. Morgens traf ich mich zwar mit Julian und Mike in der U-Bahn, bis Micky dazu stieg und wir gemeinsam zur Uni gingen, aber beim Heimweg hatte sich die Woche nicht die Möglichkeit ergeben zusammen zu fahren, da Micky immer länger Vorlesungen hatte und Julian auf sie wartete oder irgendjemand noch in die Stadt musste.

Micky stieg schon nach zwei Stationen aus und hechtete zum Bus, während Mike, Julian und ich noch weiterfuhren. Wir unterhielten uns über Musik und Bands. Julian hatte in der Tat einen interessanten Musikgeschmack, da er sowohl Hip-Hop als auch Hard Rock hörte. Mike hingegen eher Klassik und Pop. Als ich meinen Geschmack dann offenbarte, wollten sie mir erst nicht glauben, dass ich Metal und Rock hörte. Und zwar die harte Schiene. Sie glaubten, ich würde R'n'B oder mal zur Abwechslung Softrock hören. Ich nahm es als keine Beleidigung auf, wäre ja auch anzunehmen bei meinem Charakter.

Als wir den Marienplatz erreichten, stiegen beide mit mir aus.

»Ich dachte immer, ihr würdet ganz woanders aus- und einsteigen ...«, gab ich zu, ohne jemals gefragt zu haben.

»Ich verabschiede mich auch hier«, sagt Mike und deutete auf den Ausgang, »Ich wohne Richtung Sendlinger Tor.«

»Voll der Trottel«, meinte Julian, »der wohnt fast in der Innenstadt und kann voll lange schlafen morgens...«

»Erstaunlich, dass ich euch trotzdem nie hier gesehen habe ...«

»Erstaunlich? Ich gehe jetzt, mal sehen, bis wann du mich noch siehst in dieser Menschenmenge!« Mike lachte und verabschiedete sich. Tatsächlich war er nach nur wenigen Metern nicht mehr zu sehen, wenn man ihn denn nicht grade angestrengt mit den Augen verfolgte. Julian zuckte mit den Schultern.

»Jetzt wissen wir ja, dass wir an der selben Station stehen.«

Ich nickte, sah dann zu ihm auf.

»Wo musst du jetzt hin?«, fragte ich ihn.

»Zur S-Bahn. Ich steige Langwied aus. Kennst du das Kaff?«

Ich stutzte.

»Ja, weil ich daneben wohne.«

Er stutzte.

»Echt jetzt?«

Ich nickte.

Wir schwiegen. Dann lachten wir und gingen gemeinsam zur S-Bahn.

»Ist ja krass! In Pasing?«

»Ja, genau. Dass wir uns nie gesehen haben ...«

»Den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen«, fügte er lachend hinzu.

Ich erwiderte sein Lachen. »Daran wird’s liegen.«

Wir warteten auch nicht lange auf die S-Bahn. Wie immer war sie voll, aber wir bekamen noch jeweils einen Sitzplatz.

»Weißt du, was du Susa schenkst?«, fragte ich Julian, da mir eine Flasche Alkohol etwas zu dumm vorkam.

Er zuckte mit den Schultern. »Alkohol?«

Ich grinste. »Okay, das hatte sie mir auch gesagt.«

»Na, also. Sonst pass auf: Ich hol heute ja eh den Alkohol für heute Abend, dann besorg ich 'ne Flasche Rum, also Captain, als Geschenk von uns beiden. Dann gibst du mir heute Abend einfach die Hälfte, okay?«

Ich überlegte. Spürte, wie ich wieder etwas nervöser wurde.

»Das ist nett von dir, aber ich bin heute Abend nicht da. Wenn du willst, kann ich dir das Geld aber auch-«

»Wieso bist du nicht da? Kannst du heute nicht?«, fiel er mir verdutzt ins Wort. Ich hielt kurz inne. Dann verstand er wohl, wo mein Problem lag. »Mensch, du kommst natürlich mit heute Abend! Isar wird richtig gut, du kennst das doch gar nicht. Da musst du mit!«

Ich musste grinsen, sah dann zu Boden und knibbelte an meinen Nägeln. »Okay … Dann bin ich heute Abend dabei. Danke ...«

»Wofür danke? War doch klar, dass du mitkommst. Wir machen das hier nicht so formal mit Einladungen schreiben, weißt du?«

Ich lachte nervös. Oh Gott, nein, das wollte ich damit nicht sagen... »Nein, nein, das hatte ich auch nicht erwartet.«

»Na, also. Dann hol ich den Captain für Susa morgen. Micky hat eh was eigenes für ihre beste Freundin.«

Ich nickte abermals und sah lächelnd in seine Augen. Ob er zu allen so offen und freundlich war?

Als meine Haltestelle kam, verabschiedete ich mich kurz von ihm und winkte ihm durch das Fenster noch zu. Er winkte zurück und fuhr mit der S-Bahn davon.

Zu Hause angekommen erzählte ich sofort alles meiner Mutter, die nur darauf brannte neue Dinge aus der Uni zu hören. Sie war hellauf begeistert, dass ich eingeladen wurde, aber weniger davon, dass es heute Abend eine Sauferei geben würde. Sie verbat mir indirekt mich abzuschießen. Ich solle die Leute erst mal kennenlernen und dann ein anderes Mal mitmachen. Denn wie die mütterliche Sorge nunmal ist: Wenn ich zu betrunken wäre, könnten die mich ja links liegen lassen oder noch schlimmer zu dummen Dingen verleiten oder mir nicht helfen, wenn ich Hilfe bräuchte. Sie könnten mich ausrauben oder vergewaltigen oder mich verschleppen und dann töten. Mütterliche Sorge eben.

 

Auch wenn ich bis in alle Ewigkeit meine Eitelkeit abstreiten würde: Ich stand knapp eine Stunde vor dem Spiegel und suchte nach etwas Passendem zum Anziehen. Nichts zu Gutes, denn Isar und Gras waren dreckig. Aber nichts zu Schlampiges, man will den ersten Eindruck ja gut überstehen. Ich entschied mich letztendlich für eine normale schwarze Jeans und ein T-Shirt mit V-Ausschnitt. So sah man etwas von meinem Tattoo auf der Brust. Trotzdem nahm ich eine Jacke und Schal mit, es könnte ja noch kühl werden. Das war auch ganz im Sinne meiner Mutter. Treffpunkt war um sieben Uhr am Isartor. Als ich in die Bahn stieg, sah ich jemanden über die Sitze winken. Sah nach Julian aus, der es in der Tat auch war. Ich ging zu ihm und setzte mich ohne ein Wort rauszubringen vor ihn.

»Was ein Zufall, dich hier zu sehen«, scherzte er und zeigte mir stolz eine riesige Flasche Rum. »Captain war im Angebot, da hab ich gleich zwei geholt, eine für heute, eine für morgen.«

Ich grinste und nickte anerkennend. »Wie viel bekommst du denn von mir?« Sofort zückte ich mein Portemonnaie.

Er winkte ab und meinte: »Schon okay, auf die 5€ kann ich verzichten.«

Ich stutzte. »Nur 5€? Bekommst du aber trotzdem, ist ja schon nett genug, dass du überhaupt für mich was mit besorgt hast.« Damit hielt ich ihm einen 5€ Schein hin. Er sah erst eine Weile auf den Schein, grinste mich dann an.

»Von mir aus. Danke dir.« Er nahm den grünen Schein und steckte ihn weg. Sofort öffnete er die Captainflasche und hielt sie mir hin. »Bitte sehr.«

Ich negierte. »Nein, danke, ich sollte heute lieber nichts trinken, ich hab kaum was gegessen.«

Julian stutzte und sah enttäuscht aus. »Ich trink die doch nicht alleine leer. Also Bitte!« Mit einer Handbewegung hielt er sie mir erneut hin. Als ich weiterhin den Kopf schüttelte, nahm er einen kräftigen Schluck. Dann sah er mir eine Weile in die Augen. »Komm, niemand erwartet, dass du dich abschießen sollst, aber so ein bisschen Spaß?«

Ich seufzte, wog ab und entschuldigte mich innerlich bei meiner Mutter. Vorsichtig setzte ich die Flasche an und nahm einen großen Schluck. Sofort musste ich vom puren Rum husten.

»Ist der stark!«, hustete ich aus und reichte Julian wieder die Flasche. Der lachte nur amüsiert über mein lächerliches Verhalten.

»Keinen Alkohol gewohnt, hm?«

Ich schüttelte nur den Kopf. Nein, nicht wirklich. Meine Bekanntschaften aus Frankfurt tranken zwar auch öfter gerne ein oder zwei Bierchen, aber ich fuhr immer mit dem Auto, damit die auch nachts wieder zurück nach Hause kamen. Also bedeutete das für mich nichts trinken.

Aber der Rum schmeckte schön süßlich und hatte einen angenehmen Beigeschmack. Julian nahm noch einen großen Schluck und holte sein Handy aus der Hosentasche.

»Mike steigt am Marienplatz zu uns. Lucy und Andreas warten schon am Isartor mit den Anderen.«

Ich überlegte kurz. »Wer kommt denn noch alles?«

»Jede Menge andere Leute, die du heute kennen lernen wirst. Ich bin ehrlich: Viele davon kenn ich auch nicht richtig. Aber es macht immer Spaß mit denen zu feiern!«

Ich lächelte leicht. »Sind wir etwa so viele?«

Julian zuckte mit den Schultern. »Anzunehmen. Werden wir sehen, wie viele letztendlich kommen.«

Am Marienplatz stieg Mike dazu. Ich wunderte mich, dass Julian Mike nichts von dem Captain anbot, aber wie sich dann herausstellte, trank der kein Alkohol. Nach seinen eigenen Angaben mag er ihn nicht und hat außer Kopfschmerzen nichts von dem Gesöff. Stattdessen durfte ich ein weiteres Mal von der Flasche trinken. Diese verschwand in Julians Tasche, in der er sie auch mitgebracht hatte.

»Die ist nur für uns«, kicherte er mir leise und schon etwas angeheitert entgegen. Ich grinste zurück und nickte nur. Nicht gut, wenn Julian mich so zum Trinken animierte. Aber er schien froh über einen Saufkumpanen, wenn Mike schon nicht trank und seine Freundin das nie richtig befürwortete.

 

»Mein Volk!«, begrüßte er schon sichtlich erheitert die Gruppe Jugendlicher an der Oberfläche der Haltestelle.

Da waren Lucy und Andreas. Direkt daneben ein paar Mädchen, sehr aufgetakelt. Daneben ganz cool die Jungs, einige sehr befremdlich angezogen. Hipster, Gangster, Tussies, Emos und so Leute, die man nicht beschreiben konnte. Insgesamt waren wir eine riesige Gruppe an Menschen. Bestimmt 30 oder mehr und alle mit Alkohol. Die Passanten sahen uns seltsam hinterher, andere wechselten sogar extra die Straßenseite.

Julian begrüßte Lucy und Andreas, direkt danach ein paar von den Emos. Wieso wunderte es mich nicht, dass er ungefähr jeden kannte ...?

»Das ist Constantin. Frisch aus Frankfurt hierher gezogen.«

Zwei Mädchen lächelten mich verlegen an, die Männer nickten mir freundlich zu. Als der erste den Mund aufmachte, um seinen Namen zu sagen, winkte ich ab.

»Das ist lieb, dass ihr euch vorstellen wollt, aber ich kann mir das jetzt eh nicht alles merken. Also ...«

Alle lachten und Julian klopfte mir auf die Schulter. »Die wirst du noch früh genug alle genauer kennen lernen.« ...Ah? Ist das so?

Im wunderschönen Sonnenuntergang gingen wir Richtung Isar. Wir fanden auch schnell eine noch freie Grünfläche, wo wir uns niederließen. Julian packte aus seiner Tasche eine kleine Decke und breitete sie aus. Direkt ließen sich die Mädchen drauf fallen. Die anderen Leute pflanzten sich um uns herum. Es wurde gelacht, geschrieen und sich lautstark unterhalten.

Ich kniete mich auf ein kleines Stück der Decke und wollte mich hinsetzen, als Julian sich neben mich quetschte. Ganz geheim zeigte er mir die Flasche Captain unter seinem T-Shirt. Er lachte. »Du weißt, was jetzt kommt?«

»Julian, ich leere die nicht mit dir. Ich kann nicht so viel Alkohol trinken.«

Er schüttelte den Kopf. »Zeig mal, dass du ein Mann bist!«

Das war gemein. Entweder hatte er mich schon durchschaut und legte es jetzt auf meinen Schwachpunkt an. Oder er wollte einfach nur den coolen Spruch loslassen, den man so loslässt, wenn man einen Mann ärgern will.

Nach kurzem Zögern entriss ich ihm die Flasche, sah ihn empört an und nahm einen gewaltigen Schluck. Dann noch einen. Nach dem Dritten setzte ich ab. Und hustete.

»Brav«, grinste Julian und trank ebenfalls ein gutes Stück, bis die Flasche halb leer war.

»Wie viel ist da eigentlich drin?«, fragte ich vorsichtig, um schon mal das Ausmaß meines Zustandes zu errechnen.

»Genau ein Liter. Sag ja, war so 'ne Aktion.«

Julian lachte nur laut und versteckte die Flasche unter seiner Tasche, welche auf der Decke lag. Ich betete nur, dass die jemand entdeckte und leer machte. Bevor ich es tun musste.

 

Der Abend verlief zu meiner Überraschung richtig gut. Irgendwann packte einer von den Gangstern seine Lautsprecher aus und klinkte den MP3-Player dran. Erst lief ziemlich miese Musik, aber irgendwann wechselte wohl mal das Gerät und man hörte angenehmen Hip-Hop; man musste ja viele Geschmäcker treffen. Doch Einigen schien das schon egal zu sein. Manche Mädchen liefen nur noch in Unterwäsche rum, die Männer packten ihre gut trainierten Oberkörper aus.

Julian, noch erheiterte als vorher, hüpfte natürlich ebenfalls oberkörperfrei auf mich zu. Und zugegeben gut trainiert.

»Du weißt, was ich sehen will«, drohte er mir spaßig und deutete auf meine Tattoos, die vom T-Shirt verdeckt wurden. »Das, was ich sehe, gefällt mir schon mal, ich will mehr sehen!«

Ich lachte sofort los, dem Alkohol ebenfalls schon verfallen. »Aus dem Zusammenhang gerissen darf dir aber niemand zuhören!«

»Doch, doch. Du weißt schon, was ich meine«, lachte er dreckig und schnappte sich die Enden meines T-Shirts. Mit einem Ruck zog er es mir über den Kopf. Dieser extrovertierte Mann kannte wirklich keine Grenzen.

Julian musterte mich eindringlich und betrachtete meine Haut. Dann deutete er an, ich solle mich drehen.

»Wow! Das denn ich mal Flügel! Die gehen dir ja bis zum Arsch!« Er schien richtig begeistert zu sein.

»Ähm, danke?« Ich kicherte wie ein Mädchen; schüchtern und nicht ganz sicher, was er mir damit sagen wollte.

»War sicher teuer, oder?«

»Mein ganzer Körper war teuer!«, spaßte ich.

Er lachte erneut und fing an mir seine Tattoos zu zeigen. Totenköpfe, Katrinas, einige Schriften. Gar nicht mal so schlecht sahen die aus. Unter der Brust, an der Leiste, am Rücken, am Oberarm, unter dem Oberarm. Am Oberschenkel hatte er auch noch eins; zwinkerte mir dabei belustigt zu, dass ich das ein ander Mal zu Gesicht bekomme.

Doch seinem durchtrainierten Körper schenkte ich viel mehr Aufmerksamkeit. Ein leicht angedeutetes Six-Pack, breites Kreuz, Schultermuskeln und gut trainierte Oberarme. Seine Adern waren gut sichtbar. Da wurde ich richtig neidisch.

»Wie oft trainierst du am Tag?«, fragte ich ihn, etwas verlegen, dass ich so dürr war.

»Einmal. Abends vor der Glotze mit den Hanteln ein bisschen, dann Liegestütze und am Wochenende, wenn Zeit ist, mal ins Fitnessstudio.« Er sah meinen bewundernden Blick. »Ist auch gar nicht so schwer. Man muss sich nur hinterklemmen.«

Ich zuckte mit den Schultern, »mit meinen Muskeln verlier ich gegen jede Frau«, und lachte. Julian schüttelte nur den Kopf.

»Eigentlich will ich jetzt nicht zustimmen, weil das gemein wäre, aber irgendwie hast du Recht.« Er grinste und schlug mir mit der offenen Hand auf den Rücken. Ich stolperte erst einmal einen Schritt nach vorne. »Du bist trotzdem cool. Wen interessieren schon Muskeln.«

Verlegen sah ich zur Seite. »Danke, das ist nett.«

Er klopfte mir auf den Kopf. »Und sei mal was extrovertierter. Mädchen stehen nicht so auf stille Mäuschen.«

»Ich hatte eigentlich auch nicht vor -«

Und da hüpfte er auch schon wieder zurück zu Mike, der bei den Gangstern stand und sich unterhielt. Julian mischte die Stimmung etwas auf und hüpfte zur nächsten Gruppe. Der war schon ziemlich dicht.

Da setzte sich ein Mädchen neben mich.

»Hey … Ich bin Linda«, begrüßte sie mich und lächelte.

»Hey, Linda. Ich bin Constantin«, stellte ich mich ebenfalls vor und lächelte zurück. Das habe ich geübt, so schnell und so einfach zu Lächeln. Und mit Alkohol ging das noch viel einfacher.

»Du bist mit Julian befreundet?«, fragte sie und deutete auf den Irren, der einen Handstand versuchte.

»Äh, also schon, ja. Nur wir kennen uns erst seit einer Woche.«

»Woher denn?« Sie grinste noch immer.

»Aus der Uni. Wir studieren beide dasselbe Fach.«

»Oh, du studierst? Was denn?«

»Zahnmedizin.«

Sie stutzte. »Interessant. Findest du es denn cool in den Mund anderer Leute zu gucken? Stell ich mir ziemlich eklig vor ...«

»Na ja, nicht so. Aber ist trotzdem interessant.« Sofort musste ich an Julians Kommentar denken, der mir eine solche Reaktion schon vorgemalt hatte.

»Ach so, verstehe. Ich mach nur eine Ausbildung in Gestaltungstechnik.«

»Klingt aber doch auch sehr interessant.« Ich wollte wirklich nett rüberkommen, trotzdem konnte ich mir den gewissen desinteressierten Unterton nicht abgewöhnen.

Sie zuckte mit den Schultern. »Geht so.« Sie lachte kurz auf und wehte ihre langen braunen Haare zurück. Es wurde langsam dunkel und der Alkohol stieg mir etwas zu Kopf, weswegen die Sicht um mich etwas verschwamm. Was sie trug, konnte ich noch sehen, aber welche Augenfarbe sie hatte, wusste ich schon nicht mehr. Bemüht um ein nüchternes Erscheinungsbild, mied ich den Augenkontakt.

Wir unterhielten uns noch ein wenig, dann reichte man uns ein paar Klopfer; Freunde von ihr anscheinend. Die Mädels lachten und flirteten mit mir. Sie fassten in meine längeren Haare und zwirbelten sie um ihre langen Finger. Danach gingen sie wieder und ich war mit Linda alleine. Wie in Trance wusste ich nicht genau, was geschah. Ich wollte mich eigentlich nut nett unterhalten, doch der Alkohol ließ mich sicherlich nicht mehr einen anständigen Satz sagen.

»Du hast so helle und weiche Haut, Constantin. Verrate mir dein Geheimnis«, bat sie mich mit erotischer Stimme. Man merkte, dass sie ebenfalls gut gebechert hatte, als sie mir unbeholfen mit ihren künstlichen Fingernägeln über meinen Handrücken strich.

»Den ganzen Tag zu Hause sitzen und nur zu dunklen Tageszeiten frische Luft schnappen?«

Sie lachte schrill und laut auf. »Du bist ja so süß! Ich mag deine roten Haare. Sie sind so schön lang.« Wieder zwirbelte sie um meine Strähnen und kam mir gefährlich nahe.

»Ich müsste sie mal wieder schneiden ...« Mehr fiel mir wirklich nicht ein. Oh, ich war so aufgeregt. Mein Puls schlug gefühlte 190 Mal die Minute und mein Kopf wurde heiß. Ich hatte innerlich gehofft, nette Leute kennen zulernen, aber doch nicht so schnell und nicht auf diese Weise. Im betrunkenen Zustand mit Mädchen rummachen war wirklich nicht meine Art. Vielleicht die von Julian, aber nicht meine. Julian, Julian, das ist dein Einsatz, dachte ich nur und hoffte innerlich einen Kuss zu vermeiden. Denn diesen erwartete sie, als sie mit ihrer Nasenspitze an meinem Hals strich und sich zu meinem Gesicht arbeitete.

»Linda, ich bin mir nicht sicher, ob -«

»Shhh«, sie legte ihren Zeigefinger auf meine Lippen, »nicht so schüchtern, Con.«

Ich könnte sie wegdrücken, überlegte ich, oder einfach um Hilfe schreien. Das zweite wäre ziemlich lahm, aber das erste ziemlich gemein.

 

»Constantin! Ich will den Rum! Rum! Rum!«, schrie Julian und lief auf uns zu. Sofort schreckte Linda zurück und sah zum betrunkenen Mann. Der stolperte ziemlich oft, bis er in meinen Schoß fiel. Ich atmete erleichtert auf. Er raffte sich auf und blickte mit Schlafzimmerblick in mein Gesicht. »Hi ...«, grinste er mir entgegen und fasste mit der rechten Hand hinter mich. Er blickte nachdenkend nach oben und legte seine Zunge an die Oberlippe, während er in seiner Tasche kramte.

»Julian, unter der Tasche«, gab ich ihm den Hinweis. Im Augenwinkel sah ich Linda nur eine Augenbraue hochziehen und seufzen.

»Julian, nimm deinen scheiß Alkohol und verpiss dich!«, schnaufte sie und reichte ihm genervt die Flasche Captain. Der äffte sie nur betrunken nach und sah zu mir.

»Du und Linda? Nee, Constantin, nimm wen anders. Die ist doof.« Da lachte er und schüttelte nur den Kopf. Er ließ sich fallen und setzte sich im Schneidersitz zwischen mich und Linda. Diese rief nur laut Julians Namen und stand auf.

»Ist ein ziemlich großer Fehler, dich mit dem anzufreunden!«, entgegnete sie mir, drehte sich arrogant von uns weg und ging zu ihren Mädels.

Julian lachte nur und klopfte mir auf den Rücken. »Kam ich ungelegen? Mochtest du sie etwa?«

»Nein ... Sie war etwas aufdringlich ...«, gab ich zu und nahm die Captainflasche.

»Ich mag Linda nicht. Sie mag mich nicht.«

»Sie hatte mich ziemlich über unsere Freundschaft ausgefragt. Jetzt weiß ich wieso«, kicherte ich und trank großzügig aus der Flasche. Ich war eh schon betrunken, dann konnte ich ja jetzt auch weitermachen.

Julian legte einen Arm um mich. »Linda war nur neidisch auf mich, dass du mein Kumpel bist und nicht mit ihr ficken wolltest.« Er nahm sich den Captain und trank weiter. Die Flasche wurde immer leerer. Die Stimmung auf dem Rasenplatz immer besser und die Leute immer betrunkener.

»Du hast mich echt vor ihr gerettet. Danke dafür«, grinste ich ihm glücklich entgegen. Der lachte und stupste vorsichtig mit der Flasche gegen meine Stirn.

»Du bist ganz schön dicht, oder?«

Ich kicherte los. »Du ja nicht!« Vorsichtig legte ich von hinten meine rechte Hand auf seine Schulter und ließ meinen Kopf fallen. Oh nein, der Alkohol wirkte zu schnell.

»Was krieg ich als Dankeschön, dass ich dich vor der Seeschlange gerettet habe?«, fragte Julian und pustete einige meiner Haare weg.

»Haha … Was willst du denn von mir?«, lachte ich heiser und trank einen schluck von der Flasche. Was er von mir will? Oh, Constantin, werde doch nicht gleich so Zweideutig.

»Also, wenn du so fragst ...«

Ich stutzte sofort, sah ihn überrascht an. Doch dann  lachten wir amüsiert über den Witz. Alles drehte sich ganz schön. Aber Julian war ja da und achtete auf mich. Nach einigen Sekunden des Schweigens, rang ich mich durch und beugt mich zu ihm. Vorsichtig, aber mit viel Liebe drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange.

»Danke!«, sagte ich selbstbewusst und klopfte ihm kurz auf die Brust. Julian sah mich grinsend an, verstrubbelte meine Haare und strich mir kurz über den Nacken. Dann nahm er sich wieder die Captainflasche.

Im nächsten Moment war mir das mit dem Kuss schon wieder viel zu peinlich, aber was passiert war, war passiert. Danke, Alkohol, dass du meine Hemmschwelle so niedrig setzt. Julian schien das jedenfalls auch nicht gestört zu haben.

 

Ich erinnerte mich nur noch daran, dass die Flasche irgendwann leer war, ich auf Julians Schulter eingeschlafen bin, in der Bahn wach wurde, er mich fragte, ob ich's noch nach Hause schaffen würde. Die nächste Sequenz war im Bad, wie ich mir die Kontaktlinsen aus den Augen nahm, sie feinsäuberlich in ihr Behältnis legte und dann ins Bett fiel.

Am nächsten Morgen wurde ich vom Vibrieren meines Handys geweckt. Auf dem Display stand 'Hase'. Ich meldete mich mit einem verblüfften »Ja?«.

»Gott sei Dank, dir geht’s gut! Ich dachte schon, du hättest es nicht mehr nach Hause geschafft!«

»Julian? Bist du das?«

»Ja, wer sonst, Scherzkeks«, lachte er, »dir geht’s doch gut, oder?«

»Doch, ja, mir geht’s gut. Ein bisschen Kopfschmerzen hab ich, aber wieso ...«

»Macht nix, heute Abend geht’s weiter, da vergisst du die schnell wieder«, sprach er mir ins Wort.

»Ach, weißt du, ich glaube, ich lass das lieber mit dem Alkohol heute Abend ...«

»Wie du meinst. Ich bring dich eh zum trinken.«

»Bitte, Julian. Ich hab voll den Filmriss von gestern ...«

Er lachte laut am Telefon. »Echt? Du sahst aber auch ziemlich weg aus.«

»Hab ich was schlimmes gemacht? Irgendwas Peinliches?«

»Jede Menge.«

Ich stockte. »Was?!«, prustete ich lautstark in mein Handy.

»Haha«, lachte er, »nix schlimmes, Con. Beruhig dich. Du bist nach der Flasche Captain ein bisschen mit mir über den Rasen gerollt, dann haben wir unsere T-Shirts vertauscht angezogen und Linda geärgert. Die hat dich dann doch noch geküsst, aber das fanden alle nur lustig, weil du dich danach übergeben hast.« An der Stelle lachte er noch einmal etwas mehr. »Dann haben wir abgebaut und sind gegangen. In der S-Bahn bist du dann voll eingeschlafen. Aber wie ich höre, geht’s dir gut und du hast es nach Hause geschafft.«

Ich stutzte, fasste mir an meine Stirn und bemerkte leichte Schrammen an meinen Armen.

»... über den Rasen gerollt ...«, wiederholte ich die Stelle. Julian kicherte.

»Du bisset, Con. Mit dir trinken macht echt Spaß.«

»Ja? Freut mich. An heute Abend würde ich mich aber gerne erinnern.«

»Wirst du schon. Wir trainieren dich jetzt.«

Ich lächelte müde. »Wenn du daran Spaß hast ...«

»Klar! Sag mal weißt du überhaupt wo Susa wohnt?«

»Sie hatte mir eine Adresse gegeben. Aber wo genau das ist, weiß ich nicht. Wieso?«

»Na ja, ist bei dir da in der Gegend. Obermenzing.«

»Echt? Praktisch...«

»Ja, find ich auch, deswegen komm ich dich abholen, dann gehen wir zusammen hin. Musst du nicht lange suchen.«

»Danke ...«, murmelte ich. »Das ist wirklich sehr nett von dir, Julian.«

Er schien zu grinsen. Ich hörte es quasi durch das Telefon. »Frag mal Linda, wie nett ich bin. Die sagt dir aber was anderes.«

»Linda hat keine Ahnung. Die war eh komisch.«

»Deswegen bin ich ja zwischen euch. Denn du stilles Mäuschen hast keine Verwendung für jemanden wie Linda.«

»Ich bin dir immer noch auch sehr dankbar darüber.«

»Selbstverständlich. Ich freue mich, dass du mal mehr redest.«

Als ich jedoch wieder schwieg, ruderte er sofort zurück. »Du warst am Anfang sehr zurückhaltend. Ich denke, das Eis ist gebrochen, jedenfalls warst du gestern bei guter Laune und hast geredet wie ein Wasserfall.«

»Oh man, wie peinlich ...«, murmelte ich in das Mikrofon.

»Nicht mal annähernd. Ich weiß jetzt zum Beispiel, dass deine letzte Ex Sandra hieß. Und dass sie eine Schlampe war. Jedenfalls hast du sie so genannt.«

»Oh bitte, Julian, vergiss das wieder ...«

»Oh bitte, Con, jeder darf mal gehässig sein. Du musst deinem Rückentattoo nicht alle Ehre machen.«

Ich lachte vorsichtig. »Na ja, ich denke, ich bin menschlich genug, wenn ich mich nicht an gestern erinnern kann.«

»Weiß nicht, ich hab noch nie einen betrunkenen Engel gesehen.«

»Haha... War gestern Premiere, hm?«

»Wenn du so willst, ja.«

Wir schwiegen. Irgendwie wurde das Gespräch etwas unangenehm.

»Sag mal, wird das nicht was teuer für dich? So über Handy?«

»Nee, ich hab Allnet-Flat. Micky hat zu Hause nur ein Telefon, das meistens die Mutter braucht, deswegen passte das damals ganz gut.«

»Ach so.«

»Ich will dich aber auch nicht von deinem Schönheitsschlaf abhalten. Du sollst ja heute Abend wieder wunderschön aussehen.«

»Wieso weiß ich, dass du mich grade verarschst?« Ich wusste aber auch, dass er es nicht böse meinte.

»Im Ernst, jedes Mädchen fand dich gestern unglaublich toll. Helle Haut, strahlende Augen, die roten, langen Haare, schmale Figur. Die dachten alle du wärst aus einem dieser kitschigen Vampir-Romane entsprungen.«

»...«

»War witzig.«

»Na ja...«

»Hab denen auch gesagt, dass du nur mein Blut trinkst«, spaßte Julian und lachte erneut auf. »Dann haben sie dich nur von weiter weg angehimmelt.«

»Julian … Du Spaßvogel, irgendwann nimmt dich noch einer ernst.«

»Ach, die wissen alle, dass ich nur Quatsch mache. Und wenn mich mal einer ernst nimmt … Tja, dann ist es eben so.«

Offenherziger Mensch. Die Angst, jemanden zu verärgern oder zu arg auf die Schippe zu nehmen, war bei mir ein ständiger Begleiter. So wie Julian mit Scheuklappen durch die Welt zu gehen konnte ich mir nicht vorstellen.

»Gut, ich bin gegen 7 da. Sei fit, Dornröschen.«

»Alles klar, mein Prinz. Ich werde fit sein.«

 

Er legte auf und ich ließ mein Handy auf das Bett fallen. Scherzkeks. Nimmt mich immer auf die Schippe.

Auch wenn der gestrige Abend so gar nicht lief, wie ich es wollte, war er eine Erfahrung wert. Vor allen Dingen schien ich in Julian einen richtig dicken Freund gewonnen zu haben. Sowieso waren die alle sehr nett. Mal schauen wie es heute Abend laufen wird, dachte ich bei mir und schlurfte aus meinem Zimmer, um gleich von den Armen meiner Mutter begrüßt zu werden. Sie hatte den Tisch gedeckt und wollte mich grade zum Frühstück wecken kommen.

»Papa hat gestern angerufen. War mächtig stolz, dass du schon unterwegs warst«, erzählte sie mir am Tisch.

»Und wie geht’s den Katzen?«

»Wie immer prächtig.«

Wir lachten beide. Unsinniges Getue mit den Tieren. Ich liebte sie sehr, aber irgendwo musste man auch mal einen Schnitt machen.

Ich erzählte in abgeschwächter Form vom gestrigen Abend; mit dazu gedichteten Dingen, wie es war. Ich konnte ihr sicherlich nicht die Wahrheit erzählen, die mir Julian am Telefon entgegen gebracht hatte. Aber es freute sie sehr zu hören, dass der Geburtstag heute wieder mit den bekannten Namen stattfand, die ich ihr bereits genannt hatte.

 

Ich schlief noch etwas bevor Julian mich abholen wollte. Ich habe ja versprochen, fit zu sein.

Seltsamerweise träumte ich von ihm. Wie wir auf der Wiese lagen, total betrunken. Er erzählte mir sinnloses Zeug, während ich angestrengt auf seine Lippen achtete. Irgendwann sagte er mir, ich sei wie ein Vampir und er müsse mich vor der Sonne schützen. Dabei versuchte ich ihm zu erklären, dass Sonne okay war. Aber er ließ nicht locker und zog mich lachend unter eine Decke. Es wurde dunkel und ich hörte ihn nur kichern.

 

Als ich aufwachte, war es bereits 6. Glück gehabt, um halb wäre mein Wecker gegangen. Ich duschte kurz und trocknete meine Haare. Als ich mich anzog, sah ich ihn schon auf der Straße entlang gehen. Erst da wurde mir bewusst, dass er meine Adresse kannte. Woher?

Er suchte anscheinend den Eingang von unserer Wohnung. Der befand sich auf der anderen Seite des Wohnkomplexes.

Ich packte schnell alles in meine Jeans und Jacke und hechtete aus der Wohnung.

Unten kam ich ihm entgegen.

»Woher bist du jetzt gekommen?«, fragte er verdutzt und deutete auf den Wohnkomplex. »Aus dem Fenster gesprungen?«

»Genau. Der Architekt hat damals vergessen eine Tür einzubauen.«

Er sah mich fragend an.

»Der Eingang ist hinter dem Haus«, klärte ich ihn auf.

»Verstehe«, entgegnete er verständnisvoll und klopfte mir auf die Schulter.

»Wir müssen einfach hier runter gehen, dann kommt ihr Haus schon.«

Ich nickte und folgte ihm erst schweigend, dann mich zu ihm wendend. »Sag mal ...«, fragte ich verwundert, »woher hast du eigentlich meine Adresse?«

»Von da, wo ich auch deine Handynummer her habe.« Er grinste mich an. »Du hast mir gestern willenlos dein Handy überlassen. Da hab ich mir einfach mal genommen, was ich wollte.«

»Nett. Danke.« Gar nicht unverschämt, Julian. Gar nicht.

»Hey, ich mach damit nichts schlimmes. Du hättest mir beides doch sowieso gegeben, wenn ich gefragt hätte.«

»Wenn du gefragt hättest ...«

»Stell dich nicht so an!« Er knuffte mich in die Seite und lächelte mich an.

Wenn sein Lächeln nicht so aufrichtig und nett wäre, würde ich an die Decke gehen. Aber irgendwie war es okay. Es war Julian. Eine Entschuldigung, die für all seine Aktionen galt.

Susa wohnte in einem riesigen Haus. Es hatte einen wundervollen Garten, liebevoll bepflanzt. Von drinnen hörte man schon einige lachen.

Julian klingelte und Susa öffnete.

»Happy Birthday!«, rief Julian und fiel ihr um den Hals. Sie lachte und bedankte sich.

»Alles Gute, Susa«, sagte ich dann auch und drückte sie kurz. Sie lächelte mich niedlich an und bekam gleich von Julian die Flasche Rum in die Hand gedrückt.

»Für dich. Die wird leer gemacht«, sagte er in einem bestimmenden Ton und zwinkerte ihr zu. Sie kicherte kurz und deutete auf die Flasche, während sie sich zu mir umdrehte: »Von euch?«

Ich nickte kurz.

»Danke! Der ist wirklich lecker, da freuen sich die Anderen.«

Damit ging sie in das Wohnzimmer. Sehr modern eingerichtet, teuer und edel. Das Wohnzimmer war fast so groß wie unsere komplette Wohnung. Ein paar Gäste waren schon da, unterhielten sich und lachten. Der Alkohol gab einen wahnsinnig penetranten Geruch ab, der durch das komplette Zimmer ging. Es lief nette Musik und ein paar schwenkten zu ihr.

Julian winkte mich zu ihm.

»Mike hat schon erzählt, dass Susa sich besonders auf dich gefreut hat«, flüsterte er und zwinkerte mir zu.

»Aha?« Wieso war ich auf einmal so beliebt? In meiner alten Heimat war das nicht mal annähernd so.

»Magst du Susa nicht so?«

»Doch, doch! Sie ist unglaublich nett, aber ...«

»Nicht dein Typ?«, hakte Julian sofort nach ohne mich ausreden zu lassen und kippte sich 2cl Wodka in die Kehle. »Dachte ich mir schon, immerhin ist sie rothaarig. Wie du. Passt selten.«

»Mein rot ist gefärbt.«

»Echt? Sieht man nicht! Sieht sehr natürlich aus«, fügte sich Mike in das Gespräch ein.

Man hörte Micky nach Julian rufen. Der freute sich und lief auf sie zu. Freudestrahlend küssten sie sich.

»Die beiden sind echt ätzend manchmal«, murmelte Mike. Er deutete auf die zwei Turteltäubchen. »Entweder sind sie unzertrennlich oder Micky rastet wegen Julians Eskapaden aus. Dann ist aber die Hölle hier am brodeln, ich sag's dir.«

Ich grinste, zuckte kurz mit den Schultern. »Julian kann aber auch sehr direkt sein.«

»Wenn dich das stört, sag's ihm einfach. Dann hört er zwar nicht auf, aber verringert es etwas.«

»Ich merk's mir. Noch geht’s.«

»Geh doch mal zu Susa, sie wird sich freuen«, riet mir Mike und sah zu ihr rüber. In der Tat sah sie an dem Abend sehr hübsch aus. Ein rotes Oberteil mit Rüschen. Dazu passend ein schwarzer Rock mit Rüschen. Es sah süß aus. Passte zu ihr.

Ich näherte mich also beiläufig und fixierte sie mit meinem Blick. Sie bemerkte mich gleich und kam auf mich zu.

»Na, gefällt's dir hier?«

»Allerdings, es ist sehr schön eingerichtet«, gab ich zu und deutete auf die Möbel.

»Und die Party?«, lachte sie und strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.

»Oh, Sorry, ja, die ist natürlich auch klasse.« Seufz, Constantin, natürlich will sie nicht hören, dass ihre Möbel toll sind.

Sie lachte. »Du bist süß, Con. Etwas schüchtern, aber süß.«

Ich nickte nur verlegen und kratzte mich am Arm. Wie macht man einem so netten Mädchen klar, dass sie nett ist, aber es mehr nicht wird? Ohne sie zu verlieren? Gleich zu Beginn?

 

Aber Susa schien nicht annähernd so zu sein wie Linda. Die im Übrigen zum Glück nicht da war. Wie ich im nachhinein im Gespräch mit Susa erfuhr, war sie grundsätzlich nicht so bei den Leuten beliebt. Sie stellte mir hier und dort ein paar Leute vor, deren Namen ich sofort wieder vergessen hatte. Dann ging sie kurz in die Küche und bereitete mit Micky die Snacks vor. Julian unterhielt sich mit Andreas.

Lucy saß alleine auf dem Sofa und starrte in ihr Glas. Leise Seufzte ich. Sollte ich das wirklich tun? Sie war gruselig... Aber sie sah verloren aus. Also ging ich zu ihr.

»Darf ich mich neben dich setzen?«, fragte ich sie höflich und deutete auf den freien Platz neben ihr.

»Aber natürlich«, antwortete sie sehr ruhig und rückte etwas.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte ich vorsichtig, als ich den Platz einnahm. Smalltalk war nicht meine Stärke, aber mir fiel nichts besseres ein.

»Sehr gut. Ich freue mich für Susanne, dass ihr Geburtstag gut läuft.«

Sicherlich keine Standardantwort.

»Ja, das ist wirklich toll.«

»Sie ist in dich verknallt.«

Ich stutzte. »Oh, äh ...« Hatte denn hier niemand Taktgefühl?

»Das hat sie zwar noch nicht gesagt, aber es ist in ihren Augen zu lesen.« Dabei strich sie über ihre glatten schwarzen Haare und blickte in meine Augen. »Du hast aber kein Interesse an ihr, stimmt's?«

»Na ja, also ... Jetzt mal ernsthaft ...«, stutzte ich, »... was bezweckst du damit? Ich mein, versuchst du deine Hellseherfähigkeiten an mir auszuprobieren?«

»Ich kann Menschen gut lesen. Wie Bücher.«

Ich nickte vorsichtig. Wie Bücher? Also wäre ich ein Drama und Julian eine Komödie? Oder wie darf ich das verstehen?

»Mach dir nichts draus. Susanne kann damit umgehen, wenn du ihr früh genug zeigst, dass das nichts wird.«

Ich seufzte leise und sah weg. »Wenn du das sagst ...«

»Das, was dir an Zuneigung zu Susanne fehlt, baust du jedenfalls in die Beziehung zwischen dir und Julian.«

Ich hielt inne. Dann versuchte ich die richtigen Worte zu finden, um nicht zu harsch zu klingen. »Also bei aller Liebe, Lucy, ich denke nicht, dass ich -«

»Ich bin mir sicher, dass das noch kommen wird.«

Ich schwieg. Ich brachte kein Wort heraus.

Nach kurzem Schweigen und ihrem undurchdringlichen Blick, der auf mir lag, holte ich tief Luft. Na gut, dann gehe ich eben auf dein dummes Thema ein, dachte ich. »Du siehst in meinen Augen, dass ich Julian anhimmle? Verstehe ich das richtig?«

»Jedenfalls sehe ich keine Abneigung.«

»Ja, aber die wäre doch auch unbegründet ...«

»Jeder Mensch hat gegen einen anderen Menschen eine minimale Abneigungen. Das ist natürlich. Ein Sonderfall ist es, wenn man keine hat.«

»Trotzdem bedeutet das doch nicht gleich 'Liebe'. Zudem gibt es einige Dinge an Julian, die ich nicht so toll finde ...« Wäre zum Beispiel diese sehr ausgewählte Direktheit.

»Ich spreche auch nicht von Liebe. Zuneigung

Da schwieg ich wieder. Innerlich verdrehte ich die Augen. »Ich soll also eine Zuneigung gegenüber Julian haben, die ja auch eigentlich normal ist, aber mehr nicht... Ja? «

»Wahre Liebe liest man nicht in den Augen. Man liest sie im Herzen. Und da kannst nur du hineinschauen. An dieser Stelle kann ich nur Mutmaßen.« Sie sah mich durchdringend an und fing an zu grinsen. Was zum Geier erzählt sie da? Wahre Liebe? Okay, ganz ruhig, Lucy, das ist ja nicht übertrieben, oder so. Doch sie legt den Kopf nur schief und sah zur Seite. »Ist nicht schlimm, dass du mich gruselig findest. Selbst Andreas weiß manchmal nicht, was er sagen soll.«

»Tut mir wirklich Leid«, murmelte ich und sah zu Boden. Gruselig war gar kein Ausdruck.

»Wie gesagt. Macht nichts.«

»Eine Frage hab ich aber noch«, entgegnete ich ihr. Sie sah mich aufmerksam an. »Bei Beginn unseres Treffens hast du mir gesagt, dass ich noch Ärger in der Studienzeit haben werde-«

»Leiden. Nicht Ärger. Leiden wirst du.«

Ich stutzte. Danke für die Korrektur. »Äh, ja. Leiden. Hat das mit Julian zu tun? So direkt?«

»Sehr wahrscheinlich, ja. Denn Julian hat, wie du weißt eine Freundin. Wenn du dich weiterhin so auf ihn einlässt, wird das dein Verhängnis.«

»Oh Gott, werde ich sterben?!« Ganz aufgeregt kniff ich meine Hände zusammen.

»Nein. Nur Leiden.« Sie lächelte mich an. Sag es noch ein paar Mal, dann glaube ich es sogar, dachte ich zynisch und verdrehte die Augen. »Lucy, das ist irgendwie ...-«

 

»Oh, Constantin!«, rief Julian zu mir rüber. Ich sah ihn an und erblickte sofort eine große Flasche in seiner Hand. Er winkte mich rüber.

»Das solltest du besser sein lassen«, schaltete sich Lucy hinzu. Ich sah zu ihr.

»Und wenn nicht?«

»Willst du wirklich herausfinden, wie weit du bei Julian gehen kannst?«

Ich zuckte mit den Schultern und stand auf. »Eigentlich nicht, aber ich will auch nicht weiter in meine leidende Zukunft blicken.«

Mit den Worten ging ich zu Julian und Mike. Das war zwar etwas gemein, aber so was hatte Lucy sicherlich nicht zum erste Mal gehört. Wieso grinste sie mich auch bei dem Satz, ich werde leiden, so blöd an?

»Na, hat sie dir was Tolles prophezeit?«, fragte Mike und deutete auf Lucy, die jetzt wieder alleine auf dem Sofa saß und in ihr Glas starrte.

»Sie hat mir eine böse Zukunft mit dir vorausgesagt, Julian.«

»Mit mir?«, rief Julian empört. »Mit mir wirst du eine wundervolle Zukunft haben!« Dabei legte er einen Arm um meine Hüfte und drückte mich an sich. Er schien schon wieder gut gebechert zu haben.

»Glaube ich dir sofort. Du hast dich in mein Handy mit 'Hase' eingespeichert.«

Mike prustete los. »Du hast was

Julian grinste Mike an und deutete auf mich. Der Druck um meine Hüfte wurde etwas stärker.

»Con und ich führen eine Affäre. Also kein Wort zu Micky!« Er lachte auf und, als ich mich von ihm lösen wollte, kitzelte er mich, sodass ich ebenfalls anfing zu lachen. Oh, Julian, du  bist schon wieder betrunken. Guter Anfang für eine Freundschaft!

 

Der Abend blieb recht amüsant. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen so schnell so tolle Leute gefunden zu haben. Wir aßen eine Kleinigkeit, die man uns brachte. Susa schmiss ein paar Runden, die Stimmung hob sich schlagartig und alle fingen an zu tanzen. Susa tanzte mich auch einmal an. Nichts ahnend, tanzte ich erst einmal mit, bis sie meine Hände um ihre Hüfte legte. Das war dann doch zu viel. Ich lockerte meinen Griff sofort, nahm die Hände entschuldigend von ihr. Sie schien zu verstehen. Sanft lächelte sie mich an und gab mir einen Kuss auf die Wange. Mit einem Zwinkern tanzte sie weiter und vergnügte sich mit ihren Mädchen. Ich atmete erleichtert aus. Gott sei Dank.

 

Lucy und Andreas unterhielten sich im Verlaufe des Abends angeregt. Hoffentlich kein Streit, dachte ich. Auf der anderen Seite des Raumes knutschten Julian und Micky auf einem Teppich rum. Mike versuchte ein Mädchen am Tisch anzuflirten, doch die kicherte nur und wechselte rege Blicke mit ihrer Freundin gegenüber.

Typischer Geburtstag. Alle haben Spaß und meine Laune sank trotz Alkohol schlagartig. Einige Leute gingen nach draußen, um zu Rauchen. Ich folgte einfach mal, obwohl ich keine Zigaretten dabei hatte. Irgendwann fing es an etwas seltsam zu riechen und ich entdeckte zwei Männer an der Hauswand einen Joint rauchen. Na ja, gutheißen tat ich das nicht, war aber keineswegs ein Moralprediger, der ihnen das Ding aus dem Mund zog und einen Vortrag hielt. Schon gar nicht, wenn die Typen aussahen wie Andreas. Groß, muskulös und gefährlich.

Ich setzte mich unauffällig auf eine Bank, die im Garten stand und genoss die frische Luft. 'Frische Luft' war zwar etwas übertrieben, da Raucher und Kiffer in nächster Nähe standen, doch war sie besser als im Wohnzimmer.

Nach einigen Minuten, in denen ich in den dunklen Himmel starrte, setzte sich jemand neben mich.

 

Julian zündete sich eine Zigarette an.

»Du auch?«, bat er mir eine von sich an. Ich schüttelte den Kopf. Er grinste nur. »Nichtraucher?«

»Gelegenheitsraucher. Aber wirklich nur gelegentlich.«

»Jetzt wäre eine Gelegenheit.«

Wieder einmal zögerte ich. Sollte ich mich wieder verleiten lassen?

»Du bist ein schlechter Umgang, Julian«, warf ich ihm entgegen und nahm die Zigarette an. Er reichte mir Feuer.

»Ich weiß. Denk dran, du wirst mit mir leiden.« Er kicherte etwas und rauchte genüsslich seine Zigarette.

»Nein«, entgegnete ich, zog an meiner Zigarette und rauchte aus, »ich werde leiden, weil ich mit dir zu tun habe.«

»Meinste ich werde nicht leiden?«

»Glaub nicht. Jedenfalls war das nicht in der Prophezeiung drin.«

»Hm.«

Er zog abermals an der Zigarette und lehnte sich zurück, den Arm über die Lehne gelegt. Entspannt blickten wir in den Himmel.

»Du und Micky seid richtig niedlich«, warf ich in die Stille.

»Weil wir knutschend auf dem Boden lagen?«, entgegnete er mir sarkastisch.

Ich musste wegen dem Rauch in meiner Lunge kurz husten. »Na ja, eher grundsätzlich.«

»Sag das in einem Monat noch mal. Dann glaub ich dir.«

Ich lachte. »So schlimm?«

»Geht so«, sagte er mit einem gewissen Unterton, »wir haben unsere Phasen. In letzter Zeit ist es wieder etwas anstrengend. Wegen Uni und dem ganzen Mist hatten wir weniger Zeit füreinander und sie stirbt immer sieben Tode, wenn wir uns mal drei Tage nicht gesehen habe.«

»Klingt... Nervig.«

Er sah mich verwundert an.

»Also, nein ...«, stotterte ich. Das war wohl etwas zu direkt.

»Nein, nein. Du bist nur der Erste, der mir das so offen sagt.«

Ich stutzte und beließ meine große Entschuldigung erst mal in meinem Mund.

»Die meisten«, fing er an, »sagen immer: so was gehört zu 'ner Beziehung. So was gehört dazu. Sie liebt dich nun mal unglaublich und will dich dementsprechend oft sehen. Wenn du das nicht willst, fühlst du nicht dasselbe oder solltest dich mal fragen, ob es denn noch Sinn macht. So was eben.«

Ich schob die Augenbrauen zusammen und sah ihn skeptisch an. »Sehe ich anders.«

Er grinste mich an. »Danke. Deswegen glaube ich werden wir cool bleiben.«

»'Cool bleiben'? Wo hast du das denn ausgepackt?«, lachte ich, während ich immer mal an meiner Zigarette zog.

Er lachte ebenfalls und zuckte unschuldig mit den Schultern. »Was soll ich sonst sagen?«

»Dass wir uns trotzdem gut verstehen oder so. Aber 'cool bleiben' klingt auch nicht schlecht.«

 

Es war unbeschreiblich angenehm mit ihm draußen bei der noch warmen Luft zu sitzen, eine zu rauchen und in die Sterne zu schauen. Vielleicht war es auch das Passivrauchen vom Joint nebenan. Aber wen interessierte das, würde Julian sagen. Einfach locker. Wir lachten viel. Redeten ein bisschen über Micky. Dann über Mike, dass der Arme nie eine abbekommt. Lucy und Andreas, deren Sex sicherlich witzig sein muss, wenn sie in seinen Augen lesen kann, wann er kommt. Und so weiter.

 

Irgendwann gingen wir wieder rein. Aber die Stimmung war nicht mehr gut. Viele lagen schon in der Ecke, waren am schlafen. Der andere Rest hockte wahrscheinlich auf dem Klo und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Micky war ebenfalls sehr gut angetrunken und ließ sich nahe der Bewusstlosigkeit in Julians Arme fallen.

»Wir gehen lieber«, deutete Julian an. Ich nickte, verabschiedete eine betrunkene Susa und ging mit den beiden raus.

Auf dem Weg nach Hause ging Julian mit Micky huckepack neben mir her.

»Schläft sie?«, fragte er mich. Ich strich kurz ihr Pony zur Seite, um ihr Gesicht sehen zu können und nickte. »Wie ein Stein.«

Er grinste. »Dann wird sie wohl gleich schnarchen.«

Wir lachten beide, extra leise, damit sie nicht wach wurde. Als wir an meiner Wohnung ankamen, blieben wir kurz stehen.

»Danke noch für's nach Hause bringen. Geht das denn noch mit Micky?«

»Ja, sicher. Ist ja nicht mehr weit.«

»Wo wohnst du denn eigentlich?«

»Mit der S-Bahn eine Station. Gleich die Straße dann runter und eine links. Quasi 20 Minuten von hier zu Fuß im schnellen Schritt.«

»Das ist relativ nah«, gestand ich.

»Komm doch mal rum, wenn du Lust hast. Ich hab 'nen riesigen Fernseher. Kann man gut Playstation drauf zocken.«

Ich lachte. »Gerne!«

Damit verabschiedeten wir uns und er ging mit Micky weiter. Ich fiel einfach nur ins Bett und schlief.

 

Er stand da und betrachtete mich. Sagte mir, ich solle mal ernsthaft mit ihm sprechen. Ich verstand ihn ehrlich gesagt nicht. Einfach so war er sauer auf mich?

Er kam auf mich zu, wir standen im Garten von Susa. Jedenfalls war da die Bank. Er zog mich zu sich und drückte mich auf sie nieder. Ich solle ihm endlich sagen, was er für mich wäre.

Hä? Ich verstand kein Wort von dem er sprach. Er wäre mein Freund. Mein Freund. Nicht?

Und Micky?, fragte er traurig. Wieso war Micky ein Problem?

Micky sah man im Haus. Tanzen. Nichts ahnend. Julian beugte sich zu mir runter und -

 

»Guten Morgen, Schatzi. Steh auf, es ist schon fast halb 1«, weckte mich meine Mutter und öffnete ein Fenster in meinem Zimmer. Brummend verkroch ich mich unter der Bettdecke.

»Komm schon. Es ist so schönes Wetter heute. Morgen soll's schon wieder kalt werden.«

»Na und ...«, murmelte ich in mein Kissen.

 

Ein Sonntag wie jeder andere. Aber ein erfreulicher. So viele Leute wollten auf einmal bei Facebook mit mir befreundet sein. Seltsam, dabei kannte ich viele gar nicht. Waren aber mit Julian befreundet, oder mit Mike. Oder mit Micky. Susa und Lucy und Andreas hatten mich auch schon geaddet. Und obwohl ich nicht einer von denen war, die unbedingt 500 Facebook-Freunde brauchten, so freut ich mich so über jeden Einzelnen.

Am Nachmittag rief ich Feli an. Sie litt ein wenig unter ihrer letzten Beziehung.

»Ich denk, ihr wart letzte Woche noch zusammen?«, hakte ich nach, sichtlich verwundert über den raschen Wechsel.

»Nee. Der war so ein Arschloch, hat mit einer anderen geflirtet und nervt mich jetzt damit, wie leid es ihm tut. Kann ich drauf verzichten. Ständig dieses Gemecker und Geheule.«

»Ach so ...«

Und da fing sie wieder an zu erzählen. Nach einer guten Stunden hatte ich kurz die Gelegenheit von meinem Wochenende zu erzählen. Es war … schön. Nichts besonderes, aber lustig. Der Abend davor war definitiv besser, aber als ich davon anfing, musste sie Schluss machen, da es Essen gab.

 

Am Abend schrieb mir Julian eine SMS.

»Na, hast du deinen Rausch ausgeschlafen? Micky hatte furchtbare Kopfschmerzen und hat die an mir ausgelassen. Hast du noch Lust vorbeizukommen, oder eher nicht? -Hase«

 

Sehr witzig, Julian. Ja, er war noch immer 'Hase' in meinem Handy. Sollte ich mal ändern.

Schrieb ihm zurück, dass ich noch kommen würde. Warum nicht? Vorlesungsbeginn war zwar morgen um 8 Uhr, aber bis 21 Uhr dürfte drin sein. Außerdem war ich neugierig, wie Julian so wohnte.

 

Nach einigem Suchen fand ich dann am Abend sein Haus. Ein normales Reihenhaus. So wie wir eins in Frankfurt hatten. Mit einem kleinen Vorgarten.

Ich klingelte und ein Mädchen öffnete.

»Ja?«, fragte sie fordernd, fast sogar ein bisschen unfreundlich.

»Hi, ist Julian da?«, fragte ich wiederum extrem freundlich. Da kam eine Frau ebenfalls zur Tür.

»Ach, hallo, du musst Constantin sein. Julian ist in seinem Zimmer, komm doch rein.«

Die lächelte mich freundlich an und öffnete mir ein Stück weiter die Tür. Sie hatte kurze blonde Haare mit Strähnchen. Vielleicht Ende 40. Aber noch recht schlank. Sehr nett sah sie aus, hatte ein Tuch zum Abtrocknen in der Hand.

Ich betrat das Haus und mir strömte sofort der Geruch entgegen, den Julian immer an sich hatte. Kaum zu beschreiben, was es war. Weder unangenehm noch verlockend. Er war einfach typisch. Sie hatten keine Tiere, das wusste ich. Und rauchen tat auch niemand im Haus.

Das Mädchen war vielleicht grade mal 14. Aber süß, mit ihren langen braunen Haaren hatte sie auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Julian. Sie war sicherlich seine Schwester Jenny und als die Mutter sie bat, ihr weiter beim Abtrocknen zu helfen, erfuhr ich, dass es sich tatsächlich um Jenny handelte.

Ich zog mir die Schuhe aus, stellte sie zu den anderen und ging die Treppe hinauf. Das Haus hatte eine Galerie mit dunklem Geländer. Es sah sehr edel aus. Rustikal war wohl das richtige Wort.

Oben angekommen stand ich im Flur, wusste aber nicht, welches Zimmer seins war. Doch sobald ich an der zweiten Tür vorbeiging, hörte ich laute Musik mit vielen Gitarrenriffs. Ich klopfte kurz und hörte jemanden zur Tür kommen.

»Constantin! Hey, super, dass du gekommen bist«, begrüßte er mich freudestrahlend und öffnete die Tür ein weites Stück, sodass ich eintreten durfte. Ich grinste zurück.

»Immerhin hast du mich eingeladen.« Uff, Constantin, was eine doofe Antwort ...

Ich betrat sein Zimmer und schloss die Tür. »Die Kleine... ist sie deine Schwester?«

»Ja«, grummelte er, während er sich auf sein Bett setzte, welches links an der Wand stand. »Jenny, 11 Jahre alt und total nervig.«

»Bin ich froh, Einzelkind zu sein«, kicherte ich leise und setzte mich zu ihm aufs Bett.

Julian hatte in der Tat einen riesigen LCD Fernseher, welcher direkt gegenüber vom Bett stand. Dieses, ebenfalls riesig, stand direkt an der Wand. Auf der anderen Seite des Zimmers ein Schreibtisch mit zwei Bildschirmen und jeder Menge Papierkram.

»Hast du dich schon für Zusatzkurse entschieden?«, fragte ich aus heiterem Himmel, wo ich die Papiere sah.

»Hm? Noch nicht. Micky will unbedingt, dass ich Philosophie nehme, weil der Kurs von mehreren besucht werden kann. Also wären wir in einem.«

»Klingt doch nett.«

»Alter, Philo ist jetzt echt nicht mein Ding. Ich lebe und sterbe. Fertig, da muss ich mich nicht mit Dingen rumschlagen, die man eventuell, rein hypothetisch, von ganz weit weg betrachtet sich denken könnte.«

Julian, das macht dich nicht grade intellektuell. »Aber Micky würde sich freuen.«

»Deswegen werde ich mich da wohl auch einschreiben ...« Begeisterung sah definitiv anders aus.

»Ich wünsch dir trotzdem viel Spaß. Philosophie ist toll, ich hatte es einige Jahre in meiner Schule.«

»Im Ernst? Uff, wieso nimmst du es dann nicht auch?«

»Ich will euch Turteltäubchen doch nicht stören.«

»...«

Der Blick, den er mir schenkte, war eindeutig unbeeindruckt und gab mir zu verstehen, dass ich mich gefälligst einschreibe, sodass er jemanden hatte, mit dem er die langweilige Philosophiestunde totschlagen könnte. Ich zuckte die Schultern und nickte. Damit war alles in Ordnung.

 

Julian packte danach sein neustes Playstationspiel aus und zockte es mit mir. Ballerspiel. Aber es machte Spaß. Wir lachten viel, obwohl wir uns gegenseitig im Spiel erschießen mussten. Schließlich erwischte er mich nach geschlagenen drei Stunden Spielzeit.

»Sag mal, wie spät ist es eigentlich schon?«, fragte ich mehr hypothetisch, da ich bereits auf meine Armbanduhr sah.

»Keine Ahnung, so neun Uhr?«, antwortete Julian unwissend.

»Schon halb zehn sogar.«

»Ach, geht doch noch.«

Ich hob eine Augenbraue. »Also ich muss morgen um 8 Uhr wieder in der Uni sein, wie sieht's bei dir aus?«, fragte ich sarkastisch.

»Jetzt wo du's sagst: Wir studieren dasselbe Fach, also müsste es bei mir auch so sein ...«

»Dann solltest du eigentlich auch nicht zu spät ins Bett gehen.«

»Danke, Mama, aber ich brauche nicht so viel Schönheitsschlaf wie du. Bei mir ist das in den Genen.« Er kicherte und legte den Playstation-Controller weg.

»Sehr witzig«, motzte ich und warf ihm den anderen Controller in den Schoß. Er grinste mich an und stand auf, um das Spiel aus der Konsole zu nehmen.

»Du kannst gehen, wann du möchtest, ich halte dich nicht auf.« Er legte die CD ordentlich in die Hülle und stellte diese zurück in das Regal neben seinem Schreibtisch. Dann stützte er seine Arme in die Hüfte und stellte sich vor mich. Im saloppen Ton neckte er mich: »Also, Püppchen? Bleibst du noch was hier?«

Ich schwieg und sah ihn genervt an. »Bitte lass das mit den Kosenamen, okay?«

Er winkte sofort ab und schmiss sich neben mich aufs Bett. Mit verschränkten Armen lag er neben mir. »Schon klar, auch so gereizt, wenn es um ein bisschen Spaß geht.«

»Spaß hört dann auf, wenn der andere nicht darüber lachen kann.«

Er richtete den Kopf auf. »Woher hast du den Spruch denn? Aus deinem tollen Philosophiekurs?«

Ich lächelte nur müde. »Nein.«

Dann schwiegen wir uns an. Im Hintergrund lief irgendein Spielfilm im öffentlichen Fernsehen, das wohl automatisch umschaltete, wenn die Playstation ausgeschaltet wurde. Julian seufzte kurz und ließ seinen Kopf wieder auf das Bett fallen. Er schloss die Augen. Atmete ruhig. Einzelne Haarsträhnen bewegten sich ein bisschen. Sein Brustkorb bewegte sich unter dem dunkelblauen T-Shirt rauf und runter.

Er war doch jetzt nicht böse? Weil ich böse wurde?

»Also … ich will keinen Streit, Julian, ich finde nur, dass deine Namen für mich oft ein wenig -«

»Constantin!«, fiel er mir ermahnend ins Wort und schlug seine Augen auf, »Ich bin dir doch jetzt nicht böse, weil du mir gesagt hast, wo deine Grenze ist! Alles ist gut. Wenn ich schweige, ist das zwar selten, aber auch möglich.« Da zwinkerte er mir wieder in seiner bekannten Leichtigkeit zu. Ich lächelte zögernd. Dann knuffte er mich in die Seite. »Wirklich. Alles bestens. Ich bin nur auch was müde vom Wochenende.«

»Dann gehe ich lieber.«

»Ich will dich nicht rausschmeißen.«

»Darfst du ruhig«, grinste ich ihm entgegen und klopfte ihm auf die Schulter. Daraufhin erhob ich mich.

 

Er begleitete mich noch zur Tür und wir verabschiedeten uns. Kein Abschied für allzu lange, immerhin stand uns eine neue Woche bevor.

Zu Hause angekommen fiel ich einfach nur noch ins Bett und schlief ein. Einige Gedanken zur Uni kamen noch, aber dann war ich weg und dachte nur noch …

 

Julian lag neben mir. Wälzte sich hin und her. Es war irgendwie dunkel. Müde fühlte ich mich. Wie ein Stein. Sitzend. Schließlich lag Julian auf dem Rücken und schlief. Ganz fest, ich hörte seinen Atem. Ich fühlte mich so schwer und legte meinen Kopf auf seinen Brustkorb. Ganz langsam erhob sich alles, bis es sich langsam wieder senkte. Immer so weiter. Sein Herz klopfte. Oder war es meins? Warm war es. Beruhigend. Ganz angenehm. Da strich seine Hand über meinen Rücken und ich bekam Gänsehaut. Wieso hatten wir nichts an?

Der Wecker klingelte zur gewohnten Zeit um kurz nach 6 Uhr. Langsam erhob ich mich und dachte nicht weiter über diesen absurden Traum nach. Zähneputzen, Toilette, Duschen, Anziehen, zu Uni. Hallo, Alltag. Ich wollte dir eigentlich entfliehen. Aber die Woche hat ja nur sieben Tage.

Noch mit halb geschlossenen Augen und etwas Kopfschmerzen stand ich etwas gereizt an der Haltestelle. Sie war befüllt mit Menschen. Und ich hasste es, wenn Menschen sich einfach vor mich stellten. Wie als wäre ich Luft. Als wäre ich nichts. Und an diesem grauen Tag, der schon kühl und ungemütlich anfing, fühlte ich mich auch wie nichts. Einfach nur den Tag zu Ende führen.

Diese Tage kommen und gehen, dachte ich. Jetzt nur nicht wieder in die alte Form fallen. Beherrsch dich.

 

Sobald ich in die S-Bahn einstieg, sah ich Julians lächelndes Gesicht ein paar Sitze weiter. Ich versuchte zurück zu grinsen und schleppte mich durch die Menschenmenge zu ihm. Er hat mir einen Platz freigehalten.

»Ganz schön voll hier morgens immer«, bemerkte er in seiner Standardstimmlage. Gut gelaunt, wie immer. Ich brummte nur kurz und packte meinen Mp3-Player weg. Julian stutzte.

»Nicht gut geschlafen?«

»Nicht genug.«

Er lachte kurz. »Dabei bist du schon so früh gegangen. Oder bist du nicht sofort danach ins Bett gegangen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Doch, aber irgendwie bin ich trotzdem geschlaucht.«

»Verstehe. Ach, deine Laune wird sich bessern, wenn wir unseren tollen Campus erreicht haben und du in die erste Professor-Visage lächelst.«

Ich lachte müde. Er lachte mit. Ich nickte kurz und sah ihm in die Augen. Blaue Knopfaugen. Starrten mich an. Blinzelten mal. Ich merkte, wie sie sich verformten. Dann winkte er mir vor mein Gesicht. »Schläfst du jetzt schon mit offenen Augen?«

»Nein«, antwortete ich ruhig und strich mir durchs Haar. »Sorry.«

Julian grinste nur und sah dann aus dem Fenster. »Ich sag dir, wenn du wach werden musst. Noch lass ich dich mal schlafen.«

Ich nickte. »Sehr nett von dir.« Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe und schloss die Augen. Es waren nur 10 Minuten bis zur U-Bahn Station, trotzdem angenehm, kurz die Augen zu schließen. Auf einmal wurde alles immer schwerer und ich …

 

Julian rüttelte an mir. Er wollte, dass ich aufwache. Vorsichtig erhob ich mich. Er sagte mir, dass die Scheibe echt eklig sei. Ich solle meinen Kopf, wenn er so schwer sei, lieber auf seine Schulter legen. Ich setzte mich neben ihn. Legte den Kopf auf seine Schulter. Kuschelte mich an seinen Hals. Nahm seinen Geruch auf. Dieser bestimmte Duft. Nicht besonders, aber trotzdem süßlich herb. Ein Parfum? Seine Lippen berührten meine Kopfhaut. Ein seichter Kuss von ihm. Ich muss wohl träumen-

 

»Con, jetzt ist der Zeitpunkt aufzuwachen«, hörte ich seine Stimme. Seine Hand rüttelte etwas an meiner Schulter. Im nächsten Moment hörte ich die Durchsage zum Marienplatz. Ich rüttelte mich verwirrt auf. Die S-Bahn war immer noch brechend voll. Das war... ein Traum, richtig? Ich saß Julian noch gegenüber, also war es wohl... nicht real.

»Oh, ich war wirklich weg ...«, murmelte ich, während ich meine Haare im Fenster richtete.

»Hab ich gesehen.« Er lächelte mich kurz an.

Dann wurde mir kurz heiß.

»Ich habe aber nicht ... gesabbert oder dumme Sachen gemurmelt, oder?«

Er schüttelte den Kopf und lachte. »Jedenfalls nicht, dass es jemand mitbekommen hätte.«

 

Wir stiegen aus, trafen Mike und stiegen in die U-Bahn. Dort kam Micky dazu. Mein Traum aus meinem Kurzschlaf ließ mir keine Ruhe, weswegen ich mich etwas zur Seite stellte, während die drei sich angeregt unterhielten. Er fühlte sich so real an. Eine reale Abfolge. Weniger ein Traum. Aber Julian würde so etwas nie tun. Geschweige denn würde ich nie so über ihn denken. Seltsam. Ich träumte, dass ich wohl am träumen bin.

 

In der Uni angekommen, kam Susa schon auf uns zu. Sie drückte mich feste zur Begrüßung und erkundete sich über meinen Zustand.

»Doch, mir geht’s gut. Ein bisschen müde«, antwortete ich wie immer freundlich, obwohl mir an dem Tag nichts Freude bereitete.

Sie lächelte zurück. »Das ist schön. Du siehst auch was müde aus, aber dann gehst du heute Abend einfach was früher ins Bett.«

Nette Susa. Besorgt um mich. Wir kennen uns doch erst seit einer Woche. Noch nicht einmal. Alle kenne ich nicht so lange. Eigentlich bin ich doch nur ein Anhängsel.

 

Meine Gedanken wurden immer hämischer und erschreckten mich zu guter Letzt vor mir selbst. Da hatte ich neue Freunde gefunden und machte sie vor mir selbst schlecht.

Julian und Mike waren auf einmal weg. Nur Susa und Micky standen noch bei mir. Ich sah mich kurz um. Keine Spur.

»Wenn du die beiden Männer suchst, die sind noch eine rauchen gegangen.«

Ich nickte nur und verabschiedete mich. Langsam schlurfte ich alleine in den Hörsaal und breitete meine Sachen aus. Der Professor kam nicht pünktlich. Ich ließ meinen Kopf auf dem Tisch sinken. Schloss die Augen. Und gerade, als ich mich zu entspannen schien, strich mir eine Hand über den Rücken.

»Mach Platz, Süßer«, ertönte Julians Stimme neben meinem Kopf. Ich öffnete die Augen und sah in sein warmes Lächeln. Ich brummte kurz und stand auf, um beide in die Reihe zu lassen. Julian ließ sich auf den Platz neben mir fallen und packte seine Sachen auf den Tisch.

»Mensch, du hast heute ja richtig miese Laune«, bemerkte er nebenbei und sah mich nach keiner Reaktion meinerseits verwundert an. Ich zuckte nur mit den Schultern.

»Ich bewundere deine immer währende Aktivität.«

Sein Lächeln versiegte. »Meine Aktivität? Du bist eben nur mal müde, da ist doch nichts dabei. Das bin ich auch mal. Aber dabei nicht so schlecht drauf.«

»Ist halt so. Ich bin wesentlich öfter müde, als du. Wirst sehen.«

»Schönheit braucht eben seinen Preis, hm?«

Ich seufzte. Schon wieder diese Bemerkung. »Julian ...«, setzte ich schon genervt an, da fiel er mir ins Wort.

»Nimm es doch mal als Kompliment und nicht als Beleidigung.«

Mit den Worten öffnete er sein Mäppchen und schrieb einige Dinge von Mikes Unterlagen ab. Unterhaltung beendet. Innerlich seufzte ich und fasste mir an die Stirn. Tag, bitte geh vorbei.

 

In der Mensa nervte mich Micky mit ihrer zeternden und durchdringenden Stimme. Susa laberte mich die ganze Zeit an, obwohl ich nur spärliche Antworten gab. Mike und Julian spielten mit ihrem Essen.

Mir gingen alle so ziemlich auf den Keks.

 

Zu Hause angekommen, schaltete ich den Computer ein und ging zu Skype, obwohl mir nicht nach Chatten war. Meine frühere beste Freundin war auch nicht online. Machte nichts, dafür schrieb mich im nu Susa an.

 

Susa: Alles klar bei dir? Du warst heute so abwesend...

 

Ich war mir noch nicht sicher, ob ich darauf eingehen sollte. Immerhin war mir absolut nicht nach Reden. Und schon gar nicht mit Susa. Die fragte mich so viele Dinge. Zudem wollte ich doch etwas Abstand gewinnen. Aber selber Schuld, wenn ich zu Skype gehe.

 

Con: Tut mir Leid, heute war einfach nicht mein Tag. :)

Susa: Ach so! Geht's dir denn wieder was besser?

 

Con: Ein bisschen. Aber ich bin müde, ich denke, ich leg mich lieber was hin.

 

Susa: Kann ich verstehen. Ich will dich auch nicht lange stören. Nur hast du das heute Nachmittag mitbekommen? Micky und Julian haben sich ganz schön gestritten...

 

Con: Nee? Hab ich nicht mitbekommen, heute bin ich nur mit Mike zurückgefahren.

 

Susa: Ja, die beiden hatten richtig Zoff. Wohl auch mit Anschreien und so. Richtig krass. Ich dachte nur, du wüsstest wieso.

 

Con: Nein, sorry. Julian und ich haben noch nicht miteinander gesprochen. Aber ich glaube, er wird mir da auch wenig erzählen.

 

Susa: Meinste? Ich glaub schon, immerhin mag er dich ;)

 

Ich überlegte kurz, was ich darauf schreiben sollte. Ich mag ihn auch, trotzdem würde ich ihm nicht mein komplettes Leben auftischen. Aber wir sprechen von Julian, der sein Herz auf der Zunge liegen hatten.

Trotzdem: was geht es mich an? Susa wollte mich ausfragen, das war mir klar. Hintenrum an Infos kommen.

 

Con: Vielleicht hast du Recht. Ich ruf ihn nachher mal an, vielleicht hat es sich auch schon wieder geklärt.

 

Susa: Hoffentlich, Micky ist nämlich ziemlich am Weinen.

 

Con: Sag ihr gute Besserung von mir und ich rede mal mit ihm.

 

Susa: Du bist so lieb, danke dir :-*

 

Con: Kein Ding :)

 

Damit ging ich off. Wieso mische ich mich da ein?, fragte ich mich selbst und schüttelte den Kopf. Julian und Micky waren in einer Beziehung und in einer Beziehung streitet man sich auch mal. Susa sollte sich da ebenfalls nicht einmischen. Die beiden hatten es knapp 10 Monate ausgehalten, also würde es jetzt auch nicht brechen. Vor allen Dingen schien dieser Streit wie aus dem Nichts gekommen zu sein, denn am Morgen waren sie noch glücklich am rumknutschen.

 

Seufzend holte ich mir ein Eis aus dem Eisfach und durchsuchte meine Kontakte auf meinem Handy. Hase wurde sofort zu Julian umgeändert. Wo wir schon mal dabei waren. Ich wählte seine Nummer. Es wählte und wählte. Niemand ging ran. Also legte ich wieder auf und war innerlich froh, dass er nicht ranging, da mir in meinem schlechtgelaunten Zustand weitere Probleme nicht gut auf den Magen geschlagen wären.

 

Es dauerte jedoch keine zehn Minuten, da klingelte mein Handy.

»Hey, Julian«, meldete ich mich und warf den Holzstängel vom Eis weg.

»Du hattest angerufen?«

Er klang verdammt ernst.

»Hab ich gestört?«

»Etwas, Micky war da.«

»Tut mir Leid, ich wollte nicht stören. Ich hab von Susa schon -«

»Oh, bitte! Micky kann auch nicht ihr Maul halten! Susa hat mir auch schon eine Moralpredigt gehalten, bitte du jetzt nicht auch noch ...«

Ich schwieg kurz am Telefon. Er klang ziemlich niedergeschlagen. Allein, dass er direkt so aus der Haut fuhr, als ich nur Susa erwähnte, ließ darauf schließen, dass er ziemlich zur Sau gemacht worden ist.

»Nein … Nein, ich wollte mich nur nach dir erkundigen. Aber wenn es dir grade nicht gut geht, können wir auch auflegen.«

Er schluckte kurz.

»Ist vielleicht besser, ich will nicht meine Wut an dir ausladen.«

Ich lächelte etwas. »Wenn es dir danach besser geht, kannst du das aber gerne tun.« Was redete ich denn da? Julian tat mir Leid, aber ich war doch kein emotionaler Wertstoffhof!

Ich hörte ihn etwas kichern. »Nein, ich will dich damit echt nicht nerven. So schlimm ist es auch gar nicht. Micky hatte nur wieder ihre Phase. Von Sonntag noch.«

Ja, da war was, erinnerte ich mich. Weswegen er Ablenkung brauchte und ich vorbeikam.

»Wie du willst ...«, antwortete ich und ließ ihm die Entscheidung.

 

In der Tat blieb er bei seiner Meinung sich lieber alleine zu beruhigen und lag nach einer kurzen Verabschiedung auf. Der Arme, dachte ich, und sah sein trauriges Gesicht vor mir.

In dieser Woche schien genauso viel los zu sein, wie in der letzten. Ich traf so viele Menschen und hab schon den vollen Alltagsstress im Nacken. Plus den von anderen Menschen. Aber Julian ging mit seinem Problem mit Micky gegen aller meiner Erwartungen recht erwachsen um. Eine Micky oder Susa hätte mich jetzt sicherlich vollgesabbelt.

 

Ich ging früh ins Bett. Legte mich in meine Kissen und hörte draußen den Regen fallen. Lauschend dachte ich an meine Träume von Letztens und wusste, ich würde wieder träumen. Seit wann eigentlich …?

 

Plötzlich donnerte es und ich stand senkrecht im Bett. Mein Handy klingelte, Julian war dran. Wir hatten halb 2 nachts. Er stand vor meiner Tür. Durchnässt ließ ich ihn rein. War mir nicht sicher, ob es Tränen oder Regen waren. Wir legten uns in mein Bett, ich kuschelte mich an ihn. Er weinte doch etwas. Sagte, alles sei so kompliziert. Wüsste nicht wohin mit allem. Würde am liebsten gehen. Einfach weg. Mit mir. Ich musste lächeln. Er lächelte mich an. Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Da lachte er. Die Tränen trockneten. Wir schliefen ein. Wie kitschig, dachte ich.

 

Wieder klingelte meine Wecker. Ich setzte mich auf. Blickte auf die Uhr. Sah mich um. Kein Julian, natürlich nicht. Wie seltsam alles war in letzter Zeit. Traum oder Realität wurde auf einmal so nah. Aber wieso Julian? Bestimmt weil Lucy mal so eine doofe Andeutung gemacht hat. Eigentlich erst seit dem komischen Gespräch mit ihr träumte ich dumme Dinge von ihm. Aber darüber schwieg ich lieber.

In der S-Bahn setzte ich mich neben ihn. Mehr als ein »Guten Morgen« war nicht drin. Er starrte nachdenklich aus dem Fenster. Schien ihn richtig mitzunehmen; von wegen also ist nicht so schlimm. Seine blauen Knopfaugen sahen traurig aus. Er tat mir Leid.

 

Micky stieg nicht in die U-Bahn dazu. Jedenfalls nicht in unser Abtei. Denn als wir den Campus betraten sah ich sie kurz mit Lucy und Andreas entlanglaufen. Ich hatte keine Ahnung worum es ging, aber es schien doch heftiger zu sein, als gedacht. Mike entschuldigte sich kurz und lief zu einem Kerl hin, der ebenfalls bei uns im Komplex studierte. Julian und ich blieben kurz stehen, um auf ihn zu warten. Er hatte mich heute noch nicht einmal angesehen, dachte ich. Ich will in seine Augen sehen...

Ich zupfte an seiner Jacke. Er drehte sich zu mir um. Sah mich fragend an. Da waren sie, seine Augen. So traurig, als wäre der ganze Glanz der letzten Tage in ihnen mit einem Mal verschwunden.

»Bitte sei nicht so traurig«, blubberte ich völlig unbedacht raus und sah verletzt zu ihm auf. Er sah erst mich an, dann kurz auf den Boden, seufzte und lächelte gezwungen.

»Ist so unnötig alles, weißt du?«

Ich nickte zustimmend, strich ihm tröstend über den Arm. Wieso konnte ich in solchen Momenten nicht so belustigend drauf sein wie er selbst, wenn ich schlechte Laune hatte. So wie gestern. Trotzdem ich so miese Laune hatte, konnte ich mit ihm lachen. Aber das saß wohl tiefer.

Je länger unser Schweigen anhielt, desto mehr fingen seine Augen an zu glänzen. Er blickte kurz nach oben und der erste Wasserstau bildete sich.

»Julian ...«, quälte ich seinen Namen aus meinen Lippen und zerbrach schon fast an seinem Anblick. Der sonst so lustige, immer gut gelaunte Julian, stand vor mir und konnte sich keine Tränen zurückhalten.

 

Ohne darüber nachzudenken, schlang ich meine Arme um seinen Hals und drückte ihn an mich. Als ich bemerkte, wie dämlich es aussehen muss, wenn zwei Kerle sich so offen umarmten, wollte ich wieder loslassen. Doch seine Hände hielten meinen Rücken fest. Er schob seinen Kopf zwischen meine Schulter und Hals. Eine Träne rollte meinen Hals runter. Dann die zweite. Aber er weinte ganz still; ich hörte nicht einen Mucks von ihm.

Vorsichtig strich ich über sein kurzes braunes Haar. Wie ich mich auf Zehenspitzen stellen musste, um ihn so zu erreichen... Er war so groß.

»Ich bin mir sicher, dass wird sich wieder einrenken«, murmelte ich in sein Ohr und versuchte beruhigend zu wirken.

Er schnaufte kurz, gab aber keine Antwort. Ich fügte hinzu: »Auch wenn du das sicherlich immer hörst.«

Julian löste sich dann aus unserer Umarmung. Er lächelte und wischte sich mit seinem Langarmshirt über die Augen. »Du bist der Erste, der mir das sagt.«

Negativ überrascht schob ich die Augenbrauen zusammen und legte meine Stirn in Falten. Mit einer sanften Bewegung strich ich mit meinem Ärmel über eine Träne, die an seinem Kinn hing.

»Kann ich nicht verstehen ...«, murmelte ich.

 

Wir gingen dann weiter ohne noch auf Mike zu warten; seine Augen waren nur minimal rot, sodass wenigstens niemand doof schaute. Mike bemerkte ebenfalls nichts, als er wieder zu uns stieß. In der Mittagspause setzte ich mich mit Julian alleine an einen Tisch, bewusst nicht zu den anderen. Mike setzte sich zu Micky und Susa. Seine regen Blicke zu uns verrieten, worüber sie redeten.

 

»Darf ich denn erfahren, um was es ging?«, fragte ich vorsichtig nach einigen Minuten. Julian rührte apathisch in seiner Suppe.

»Micky hatte am Sonntag vom Vortag Saufen schlechte Laune und Kopfschmerzen. Sie war ja ziemlich dicht. Ich habe sie massiert und versucht nett zu wirken, aber sie wurde immer struppiger.«

Mit verzogener Miene hörte ich ihm weiter zu. Er starrte nur in seine Suppe und wechselte hin und wieder mal das Blickfeld mit mir.

»Dann warf sie mir vor, ich würde immer nur an das eine denken. Ich würde sie nur massieren, weil ich dabei an Sex denken würde. Ich würde immer in allem Hintergedanken haben.«

»Echt? Also ich kenn eure Beziehung jetzt nicht so genau, aber ...«

»Bestimmt nicht, Con«, negierte er meine Vermutung, »Ich denke zwar oft daran, aber bestimmt nicht immer. Und vor allen Dingen an dem Sonntag nicht.«

»So wie sich das anhört, klingt es mehr nach: Das ist öfter so, Sonntag war der Auslöser.«

Er lächelte müde. »Ja, du hast es erkannt. Es ist unser wehleidiges Thema. Sie hat nie Lust, ich dafür immer mehr.«

»Ich befürchte, da kann man sich nur auf ein Mittelmaß einigen.«

»Und das wäre? Sie ist ja nicht bereit mal mehr mit mir ins Bett zu gehen! Sie will ja nicht öfter als einmal im Monat!«, seine Stimme wurde lauter und angeregter. Ein wunder Punkt wohl.

»Das ist natürlich doof, wenn sie sich so quer stellt ...« Mehr fiel mir wirklich nicht ein. Das klang nach einer ziemlich aussichtslosen Situation; aber das konnte ich ihm ja bei Gott nicht einfach so sagen.

»Ja! Und wenn ich ihr sage, dass ich mir mehr Initiative von ihr wünsche, belächelt sie es nur und gibt mir zu verstehen, dass unser Sex zwar toll ist, aber es reicht, wenn er etwas Besonderes bleibt. Einmal alle zwei Wochen, oder so. Wenn überhaupt.«

Einem Mann Sex zu verweigern ist in der Tat recht unfair. Bedingt durch mehr Testosteron in unseren Körpern ist es eben libidosteigernd. Da kann eine Frau natürlich nichts für. Aber wenigstens Verständnis wäre angebracht...

»Ich weiß auch nicht, wie ihr es regeln könntet … Versuch sie zu verführen oder derartiges ...«

Er zuckte mit den Schultern und lachte verzweifelt. »Verführen tu ich sie immer. Ich erwarte ja auch nicht, dass sie mir einen bläst, sobald ich ihren Nacken küsse. Sie soll doch einfach nur Spaß daran haben. Mit mir.«

Ich seufzte und legte meine Hand auf seine Schulter. »Ich kann dir nur beipflichten es immer wieder zu versuchen und sie davon zu überzeugen, was für'n toller Kerl du bist.«

»Haha, was für ein toller Kerl ich bin? Davon ist sie ja hoffentlich überzeugt, sonst würde sie ja nicht mit mir zusammen sein.«

»Nun … Meine letzte Freundin -«

»Sandra?«

»Ja … Sandra ...« Julian merkte sich also Dinge, die ich im betrunkenen Zustand vor mich hersagte.

»War die genauso?«, fragte er wesentlich ruhiger. Ich nickte langsam und gestikulierte kurz mit meiner Hand.

»Schlimmer. Sie hat irgendwann mit einem anderen geschlafen, weil sie mich nicht mehr interessant fand.«

»Oh … Das ist ja echt mies. Das tut mir Leid...«

Ich winkte ab. »Passiert. Liebe war das eh nicht.« Liebe, tja, was war Liebe?

 

Wir redeten dann nur noch über belanglose Dinge, um das Thema Micky im Keim zu ersticken. Essen, Saufen und Party machen. Julian wollte sich am Wochenende mal wieder abschießen. Ich riet ihm davon ab, aber er wollte nicht auf mich hören. Sein Ziel: Abstand von Micky.

 

In der Tat verging die Woche sehr distanziert von den Mädchen. Ich und Julian hingen zeitweise richtig viel zusammen, Mike verschlug sich auf die Mädchenseite und gab mir nur manchmal zu verstehen, dass ich Julian in der Hinsicht nicht zu viel unterstützen sollte, sonst würde er sich nie ändern. Meine Antwort darauf, dass er sich auch nicht ändern sollte, schlug auf recht wenig verständnisvolles Gedankengut.

 

Am Freitag kam Micky nach der Uni auf Julian zu und bat ihn um ein Gespräch. Man sah ihm an, dass er Angst hatte, dass Schluss sei. Sie gingen ein paar Schritte in den englischen Garten. Ich folgte unauffällig wie ein Stalker, um Julian eventuell zu helfen, und versuchte das Gespräch grob  mitzubekommen. Sie stand ihm während des Gesprächs schüchtern gegenüber, starrte nur auf den Boden und knibbelte an den Bändern ihrer Tasche. Auf einmal nahm Julian ihr Gesicht vorsichtig in seine Hände und hob es an. Sah sie mit seinen Hundeaugen an und redete auf sie ein. Sie lächelte, schaute kurz verlegen zur Seite. Schließlich küssten sie sich und umarmten sich.

Streit vorbei.

Ich wusste nicht wie mir geschah, aber ich hatte ein seltsames Gefühl im Magen, als ich zu Hause auf meinem Bett saß und Fernsehen schaute. Die Woche mit ihm war eigentlich ganz nett gewesen - und jetzt war Micky wieder da. Das schlug sich nicht nur auf das Wochenende nieder, wo er komplett auf Weggehen und Saufen verzichtete, um mehr Zeit für sie zu haben, sondern auch auf die ganze Woche danach. Er und Micky waren auf einmal wieder das perfekte Paar und ließen keine Minute ohne den anderen verstreichen. Es wurde unglaublich schwer, Julian auch mal ohne sie zu Gesicht zu kriegen.

 

Das ging zwei Wochen so, dann die Dritte. Zum Ende der dritten Woche trafen wir uns alle an einem Abend in einem Lokal. Wir tranken Cocktails und unterhielten uns. Ich saß zwischen Susa und Lucy und bereute die Sitzplatzentscheidung sofort. Susa unterhielt sich wie immer freudig mit Micky, die ihr gegenüber saß. Julian, mir gegenüber neben Micky, hielt nur ihre Hand und tippte auf seinem Handy. Mich überhaupt nicht beachtend. Selbst nicht, als ich ihn ansprach und nur eine kurze Antwort bekam.

Es war irgendwie … Distanziert. Mit den anderen hatte ich guten Draht, nur mit Julian nicht mehr. Er hatte sich in den drei Wochen ein, zwei Mal gemeldet. Wir haben uns einmal getroffen, da haben wir nur wieder Playstation gespielt.

Das wurmte mich. War Julian doch nicht so der Typ für eine Freundschaft? Es ging sowieso alles viel zu schnell, doch ich dachte an sofortige Chemie. Die Ernüchterung war allerdings, dass Julian mit fast allen so umging. Und mit allen hatte er gewiss nicht solch großen Kontakt; eben distanziert, so wie jetzt.

Wie er einmal zu sagen pflegte: Ich kenne die Leute alle selbst nicht so, aber feiern kann man mit ihnen gut. Ja, feiern und saufen, meinte Julian, kann man mit mir auch gut.

 

Susa strich mir vorsichtig über den Ellbogen.

»Alles klar bei dir?« Sie lächelte mir freundlich zu und deutete auf das Glas vor mir, in das ich seit einer Stunde hineinstarrte.

»Ja, doch, danke der Nachfrage. Bei -« Doch als ich grade nach ihrem Zustand fragen wollte, spürte ich eine Hand an meinem anderen Arm.

»Er lügt. Ihm geht es nicht gut«, sprach Lucy zu Susa. Diese nickte nur wissend.

»Weiß ich doch. Aber ich dachte, vielleicht sagt er es mir so.«

»Nein, dazu ist er viel zu schüchtern. Außerdem sitzt der Grund ja hier zu Tisch.« Dabei deutete Lucy auf Julian, der von all dem nichts mitbekam, da er immer noch abwesend auf dem Handy rumspielte.

»Meinst du«, fing Susa an und beugte sich etwas vor mich, »die beiden haben Streit?«

»Nein«, antwortete Lucy und beugte sich ebenfalls vor mich, um besser mit Susa zu sprechen, »Ich denke, es hat mit etwas anderem zu tun, dass Julian selbst nicht merkt.«

»Oh, meinst du, weil die beiden nicht mehr so viel miteinander machen?«

»Mehr dieses Gefühl, dass er sich von Julian ausgenutzt fühlt, weil Julian nur zu ihm kam, wenn es Probleme gab.«

»Sicher? Als die beiden sich kennen gelernt habe, verlief doch auch alles super.«

»Schon, aber so ist Julian ja immer, wenn es um neue Leute geht. Am Anfang sind sie toll ...«

»... und irgendwann wird man fallen gelassen. Stimmt, das ist Julian ...«

»Deswegen denke ich ...«

 

»Stop mal hier!«, rief ich dazwischen und schob die beiden auseinander. Meine Stimme wurde bebend. »Ihr wisst schon, dass ich zwischen euch hänge? Also redet nicht über mich, als sei ich nicht anwesend!«

Wow, ich war richtig wütend. Wie konnten sie nur so leichtfertig über die Freundschaft zwischen mir und Julian sprechen, wenn beide Personen anwesend waren? Niemand hier besaß Taktgefühl oder Empathie, absolut niemand!

In diesem Moment hob Julian seinen Kopf vom Handy und sah fragend zu uns rüber, da er meine laut gewordene Stimme mitbekam.

Doch Susa und Lucy zuckten nur mit den Schultern.

»Komm schon, Con, so war das nicht gemeint«, meinte Susa und zupfte an meinem T-Shirt. Ich zog meinen Arm von ihr weg.

»Doch war es. ... Ich geh kurz raus.«

 

Damit verließ ich das Lokal und ging in die frische, kalte Luft. Die Straße war noch ziemlich belebt, einige Autos fuhren vorbei. Die Lichter verliefen in die nasse Dunkelheit. Ich setzte mich auf eine Stange, die vor einem Institut eine Abgrenzung bilden sollte. Laut schnaufte ich meine aufgestaute Wut aus.

 

Natürlich war es wahr, was sie sagten. Aber die Wahrheit kann man auch anders verpacken. Ich dachte eben, ich hätte mal einen super tollen Freund gefunden. Auch wenn Julian mir ziemlich auf den Wecker gehen konnte, wenn er so rumalberte, wusste ich genau, dass ich gerade das an ihm bewunderte. Ich strich mir durch mein Haare und beugte mich nach vorne.

Wäre Micky nicht in diesem Spiel, würde er viel mehr Zeit in unsere Freundschaft investieren.

Aber was beschwere ich mich? Ich kenne ihn jetzt seit knapp einem Monat. Da bilden sich keine festen Freundschaften. Oder doch? Keine Ahnung. Ich musste gestehen … ich war neidisch auf Micky.

Und sofort erschrak ich vor meinem eigenen Gedanken. Eifersüchtig? Neidisch? Auf seine Freundin? Natürlich ist sie seine Freundin und die hat Privilegien. Ich bin nur ein Freund. Aber es war schön, so viel Zeit mit ihm zu verbringen. Er war lustig. Nett. Immer freundlich zu mir. Hat mich zum lachen gebracht.

 

In dem Moment starrte ich einfach nach vorne. Seit wann reißt mich eine solche Kleinigkeit so ins Verderben? Es ist doch nichts vorbei, er ist weder gestorben noch weggezogen. Er hat lediglich wieder mehr Zeit mit seiner Freundin verbracht. Er ist keine Verpflichtung mit mir eingegangen. Es war schön, als er mehr Zeit für mich hatte; jetzt ist diese Zeit eben rum. Diese Freundschaft bekam allerdings einen bitteren Beigeschmack, sobald er sich mehr um Micky kümmerte. Weil es mich wie ausgenutzt fühlen ließ.

Er erzählte, dass es zu Beginn der Studienzeit nicht gut lief. Dass die beiden nicht so viel Zeit füreinander hatten. Micky stürbe doch immer sieben Tode, wenn sie sich drei Tage mal nicht sehen. Wo ist das jetzt hin? Jetzt auf einmal soll wieder alles super sein? Ich dachte, das Problem Sex wäre nicht so einfach aus der Welt geschaffen. Anscheinend wohl doch... Sex bekäme Julian wohl nun zu genüge. Sonst würde er sich doch wieder aufregen.

Julian beim Sex. Das -

 

»Was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«

Ich drehte mich um und blickte in die hellblauen Knopfaugen. Kurz zögerte ich, seufzte innerlich. Eigentlich wollte ich jetzt nicht mit ihm reden. Auch wenn ich die ganzen Wochen nach einem Moment mit ihm alleine herbeisehnte, so war ich doch nicht in der Stimmung, als er dann nun kam.

Doch dann nickte ich. Er kam auf mich zu und setzte sich zu mir auf die Stange.

»Geht's dir nicht gut?«, fragte er direkt. Ich müsste sarkastisch grinsen.

»Was haben dir die beiden denn erzählt?«, stellte ich eine Gegenfrage. Er schien zu stutzen.

»Eigentlich nichts. Ich hab nur gefragt, wo du hingehst. Sie meinten raus. Dann hab ich meinen Cocktail ausgetrunken und dachte mir, wo du nach Minuten nicht wiederkamst, dass ich mich zu dir setze. Was ist denn los?«

Ich blickte zu ihm. Er hatte also keinen Schimmer. Wie sonst auch. Julian hatte anscheinend nie sehr viel Ahnung von irgendwas. Einfach so in den Tag zu leben scheint nicht nur Vorteile mit sich zu bringen.

»Ist nur seit langem mal wieder ein Gespräch zwischen uns.«

Er sah mich verwundert hat; nicht wissend worauf ich hinaus wollte.

»Wir reden doch … in der Uni und so.«

»Schon … Aber nicht so wirklich alleine, weißt du.« Als er keine Antwort hab, sondern mich nur weiterhin verwirrt ansah, merkte ich wie doof ich klingen musste und kniff meine Augen zusammen. Wo wir beim Thema mädchenhaft wären. »Also was ich damit sagen will, ist, dass wir beide in letzter Zeit nicht mehr so viel unternommen haben. Was ich sehr schade finde.«

» … «

»Weißt du, was ich meine?«

Er schwieg noch immer und sah mich überrascht an. Seine Augen öffneten sich leicht und er fing an zu lächeln.

»Ich wusste nicht, dass du mehr mit mir unternehmen willst. Ich dachte immer, ich würde dich zu allem nur überreden ...und dass du nur deinen Spaß hast, wenn wir mit anderen unterwegs sind.«

 

Das kam unerwartet. Sehr unerwartet. Ich schüttelte den Kopf und lachte nervös.

»Ach was, nein! Ich habe mit dir auch sehr viel Spaß!«

»Das freut mich zu hören. Ist das erste Mal seit langem, dass jemand es bemängelt, ich würde mich nicht um ihn kümmern. Micky jetzt mal rausgeschnitten.«

Mein Lächeln versiegte etwas.

»Aber du bist doch beliebt. Kommt es da nicht öfter vor, dass man keine Zeit für einige findet.«

»Findest du? Ich kenne zwar viele Leute, aber so richtig befreundet bin ich mit denen ja nicht...«

Verstand ich sofort. Er war beliebt und kam bei Leuten gut an, aber richtig dicke Freunde hatte er nur wenig ausgewählte. Mike, Susa und Micky waren die einzigen, mit denen er mal mehr unternahm. Wahrscheinlich ist er direkt davon ausgegangen, dass aus uns eben nicht eine solche Freundschaft wird. Sondern, dass es so ablaufen wird, wie mit vielen seiner Bekannten.

»Und das ist der Grund, wieso du in letzter Zeit so mürrisch warst?«, stellte er fest und beugte sich zu mir vor.

»Ich war mürrisch?«

»Aber richtig!«

»Oh ...«

Er lachte laut auf. Dann klopfte er mir auf die Schulter und lachte weiter.

»Erstaunlich, wie sehr du es dir zu Herzen genommen hast. Du bist echt süß.«

»Das sagst du zu deinem Kumpel?«, murmelte ich grinsend und hob eine Augenbraue.

»Nimm es als Kompliment. Du bist wirklich einfach nur süß.«

»Mhm... Danke. Würde es mich süßer machen, wenn ich Wimperntusche tragen würde?«

»Vielleicht?«

Dann lachten wir gemeinsam. Das habe ich so vermisst. Dieses unbeschwerte Lachen.

Dann trat Stille ein. Wir starrten auf die Straße und die Lichter, die im Dunkeln so schön leuchteten.

 

Wie lange blieben wir da sitzen? Keine Ahnung. Wir unterhielten uns kurz mal über ein schnelles Auto, das vorbei raste. Dann über Weiber, die aufgetakelt ihren Weg gingen. Dann schwiegen wir wieder. Ich schloss meine Augen. Roch seinen Duft durch den Wind an mir vorbei streichen.

 

»Wir sollten wieder reingehen«, bemerkte ich sofort und sprang vom Geländer. Er sah etwas überrumpelt aus. Willigte dann aber ein.

»Ja, du hast Recht.«

Damit gingen wir zurück zu den anderen. Die Runde war weiterhin bei guter Stimmung, man unterhielt sich hin und wieder mit den anderen. Es dauerte auch nicht lange, da klebte Micky wieder an ihrem Freund. Doch anscheinend trug mein Geständnis an genannter Person bereits Früchte. Er blickte öfter zu mir und lächelte mich an. Das reichte mir schon. Er dachte an mich. Das reichte schon …

 

Wir trennten uns von der Gruppe, die sich so alngsam auflöste und ich schlurfte mit Julian zur S-Bahn. Micky schlug bereits an der Kneipe einen anderen Weg ein.

»Wolltest du heute nicht bei Micky übernachten?«, fragte ich ihn vorsichtig, da wir auf unserem Weg nicht ein Wort miteinander sprachen.

»Nein, sie will morgen früh mit ihrer Mutter nach Ingolstadt. Da würde ich nur stören.«

»Magst shoppen nicht so?«

»Doch, doch«, grinste er, »aber Micky hat auch ihre Tage für ihre Mutter. Das ist in Ordnung. Ich muss sie echt nicht jedes Wochenende um mich haben.«

»Klappt's denn jetzt was besser zwischen euch? Also auch bezüglich anderer Probleme?«

Er sah mich erst fragend an, dann schaltete er, was ich meinte.

Unsere Bahn fuhr ein. Ausnahmsweise war sie mal nicht voll, sogar relativ leer. Beim Einsteigen warf er ein gebrummtes und wesentlich ernsteres »Nein« ein.

Als wir saßen fragte ich warum.

»Sie will immer noch nicht. Ich habe ihr den Kompromiss vorgeschlagen, dass wir wenigsten zwei Mal im Monat haben könnten. Da negierte sie und meinte, dass Sex passieren muss und man keine Termine dafür ausmacht.«

»Oh man, aber in eurem Stadium der Unzufriedenheit ist das wenigstens ein Schritt in die Besserung.«

»Sehe ich auch so, aber sie nicht.«

»Und jetzt lebst du damit?«

Er zuckte mit den Schultern und grinste müde. »Hab ich 'ne Wahl?«

»Eigentlich nicht, nein ...« Wenn er denn nicht grade mit ihr Schluss machen wollen würde.

Dann schwiegen wir und starrten aus dem Fenster in die Dunkelheit. Ich beobachtete sein Spiegelbild im Glas.

»Was machst du denn jetzt am Wochenende?«, fragte Julian dann in die Stille hinein. Ich zuckte mit den Schultern.

»Soweit eigentlich nichts ...«

»Lass morgen was machen.«

Ich lachte ungewollt hämisch auf. Es dauerte etwas, bis er verstand, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte. Etwas knirschend bemühte er sich um Versöhnung. »Komm schon, Con. Ich bemühe mich jetzt wieder mehr. Versprochen.«

»Ich will nicht der Grund sein, weswegen deine Beziehung wieder den Bach runter geht...«

»Quatsch, das wird sie in ein paar Wochen eh nicht mehr. Ich bin da realistisch. Also?«

Also willigte ich ein. Und er versprach, dass wir den Abend nicht mit der Playstation verbringen würden. Höchstens, wenn ich betteln und flehen würde. Dann vielleicht.

Er spaßte natürlich wie immer nur um. Ein wirklich angenehmes Gefühl breitete sich in mir aus, dass Julian wirklich gewillt war mir wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenkte. Ich brauchte seinen immer gut gelaunten Charakter um mich. Er stimmte mich gut. Er war verständnisvoll und lieb. Wirklich perfekt. Er hat eine Furie wie Micky gar nicht verdient.

 

Dieser böse Kern in mir wuchs und wuchs. Kurz vor zu Bett gehen starrte ich in den Spiegel. Schwarze Augenringe, fahles Gesicht. Die Wochen, in denen ich nicht so viel mit Julian zu tun hatte, ließen mich ausgelaugt erscheinen. Geträumt habe ich auch nicht von ihm.

Doch als ich mich schlafen legte, spürte ich wie er in meine Gedanken huschte.

 

Wir saßen noch auf dem Geländer. Ich mit dem Kopf auf seiner Schulter. Ich zog den Geruch seines Körpers ein. Dachte erst daran, dass es nicht gut ist, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun. Man könne auf andere Gedanken kommen. Doch er legte seinen Arm um mich und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. Ich blickte lächelnd in sein wundervolles Gesicht. Diese blauen Augen starrten mich an. Dann lachte er. Erzählte mir, dass grade keiner schauen würde. Ich blickte um mich und es waren tatsächlich keine Leute dort. Nur hinter ihm erkannte ich schemenhaft die anderen am Tisch sitzen. Er wiederholte den Satz, dass niemand hier wäre und beugte sich zu mir. Strich mit seiner Nase über meine. Mein Herzschlag wurde so schnell, ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. So warm war es in seinen Armen. Er lächelte und sagte mir, ich sei der erste und einzige. Er würde alles für mich tun. So was eben, was man sich sagt. Er … küsste mich.

 

Der Samstagmorgen begann wie der Freitagabend aufhörte: absurd. Wie konnte ich ihm gestern nur diese Gefühlskacke beichten? Wie konnte ich ihn nur so anhimmeln? Wie konnte ich nur wieder so etwas träumen?

War ich denn schwul geworden? Nein! Definitiv nicht! Julian war ein super toller Freund und ich gebe zu, dass ich gerne mal kuschelte und körperbezogen war, aber doch nicht so! Unmöglich! Nein, einfach nein.

 

Meine Mutter war im absoluten Stress wegen einer Freundin, weswegen ich ganz erfreut über die Frage von Julian war, ob ich nicht gerne bei ihm übernachten möchte. Auch wenn der bittere Beigeschmack der Gefühle gleich folgte.

Ich versuchte den Rest des Tages einfach nicht mehr an diesen Traum zu denken. Absurd.

 

Abends kam ich bei Julian an. Die Mutter machte mir freudestrahlend auf.

»Hallo Constantin. Komm doch rein.«

Ich bedankte mich und zog höflich meine Schuhe im Flur aus und begab mich nach oben. Da öffnete sich Julians Tür und Jenny wurde herausgeschoben.

»Du bist voll scheiße!«, rief sie und trat nach ihrem Bruder; der lachte nur.

»Musst du mit leben, Jenny, und jetzt raus hier!« Da bemerkte er mich auf der Treppe. »Hey, Con! Komm rein, ich schieb das Biest raus.«

Ich grinste und näherte mich der Tür. Jenny streckte ihm die Zunge raus und ging in ihr Zimmer. Sah mich dabei missmutig an.

»Wie süß sie ist«, sagte ich zu Julian, der seine Miene verzog und die Arme baumeln ließ.

»Nee, absolut nicht süß. Nervig.«

Er ließ die Augen rollen und bat mich ins Zimmer. ...Ich mochte sein genervtes Gesicht.

 

Ich trat in sein Zimmer ein, der Fernseher lief, wie immer. Aber das Bett war gemacht. Dann erblickte ich auf dem Schreibtisch eine Flasche Rum.

»Wofür ist die?«, fragte ich sofort skeptischund nahm sie in die Hand. Dieses mal nur eine 0,75 l Flasche.

»Für uns natürlich!« Lachend kam er auf mich zu und stellte zwei Gläser neben die Flasche. »Aber keine Angst, dieses Mal strecken wir mit Cola.«

»Julian … Ich wollte heute eigentlich nicht ...«

»Ich weiß, willst du ja nie. Aber ich wollte heute mit dir anstoßen.« Er schüttete etwas Cola in beide Gläser und entnahm mir den Rum. Großzügig schüttete er das braune Getränk in das Schwarze.

»Hältst du es nur betrunken mit mir aus?«, fragte ich, während ich das Glas in die Hand nahm. Er stieß klirrend mit mir an.

»Nein, ich mag dich auch nüchtern. Aber betrunken redest du mehr. Und wir haben immer einen Heidenspaß.« Dabei zwinkerte er und nahm einen Schluck vom Glas. »Außerdem wollten wir uns doch mal ein Wochenende wieder betrinken, da hab ich dir doch absagen müssen, du erinnerst dich?«

»Ja, tue ich. Und soweit ich mich richtig erinnere, wolltest du dich betrinken. Von mir war eigentlich keine Rede.« Doch auch ich nahm einen üppigen Schluck von dem Getränk und setzte mich neben Julian aufs Bett. Ich hörte ihn amüsiert lachen und das glas abstellen. Auf einmal hielt er mir ein Tütchen mit Stäben entgegen.

»Dehnstäbe?«, fragte ich nach den Gegenständen, die mich bunt darin enthalten anstarrten.

»Yes. Ich will weiter dehnen. Und wenn du schon mal hier bist, kannst du mir da was helfen.«

»Ich soll dir deine Ohrlöcher dehnen? Ich tu dir aber viel zu sehr weh!«

»Deswegen«, er stieß mit seinem Glas noch mal gegen meins, »hau weg, dann tut's nicht so weh!«

Im nächsten Moment leerte er das Glas und schüttelte sich etwas. Dann sah er mich wartend an, als würde ich auch das Bedürfnis in mir verspüren, Schmerzen wegtrinken zu müssen. Ich schüttelte nur den Kopf.

»Du bist immer noch ein schlechter Umgang, Julian.«

»Dafür bist du aber schon oft bei mir gewesen.«

»Ja, ja, ja.« Damit leerte ich dann auch das Glas. Schmeckte wesentlich besser mit Cola.

 

Doch die Wirkung war gefühlt die Selbe. Julian hielt mir die Dehnstäbe und etwas Creme hin.

»Dann mal los!«, forderte er mich auf und entfernte seinen Tunnel vom rechten Ohr. Ich zögerte.

»Also ich drück dir das Ding einfach durch, ja?« Ich hatte zwar auch Tunnel, aber nicht mal annähernd so groß wie seine. Und jetzt sollte ich die noch größer dehnen?

»Versuch es nicht zu schnell zu machen, sonst reißt die Haut, aber sonst einfach rein damit.«

Ich zögerte etwas, schmierte dann den Dehnstab und Julians Ohr mit Creme ein. Sein Profil war wirklich hübsch.

»Okay, ich setze an.«

Er nickte kurz. Dann drückte ich den Stab in sein Ohrloch. Er kniff die Augen zusammen und lachte verkniffen.

»Au, au, au …«, quetschte er durch seine Zähne. Ich drückte weiter, sodass der Stab immer weiter reinrutschte.

»Sag, wenn ich aufhören soll.«

Wieder nickte er kurz. Mit einem weiteren Schub war der Stab drin. Und aus Erfahrung wusste ich, dass es genau zwei Sekunden danach anfing zu brennen. In der Tat beugte sich Julian nach vorne und gab einen quietschenden Ton von sich.

»Das tut so weh!« Doch er lachte weiter. Der Alkohol bestimmt. Denn von dem trank er wieder etwas. Doch diesmal ohne Cola.

»Julian, Julian, nicht so viel!«, rief ich und entzog ihm das Glas. »Falls du doch gleich bluten solltest, ist es ziemlich dumm, so viel blutverdünnenden Alkohol zu trinken!«

»Wie immer meine Mama«, grinste er mir entgegen und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Andere Seite! Es sollen ja beide Ohren 16 mm bekommen!«

Kuss auf die...

Er setzte sich um und hielt mir nun sein anderes Ohr hin. Ich seufzte, sammelte mich wieder und schmierte den anderen Dehnstab mit Creme ein. Das gleiche Prozedere. Und wieder beim letzten Schub weinte er ein bisschen in seinen Schoß, weil es so wehtat. Doch die Flasche Rum rettete ihn. Dieses Mal hielt ich ihn nicht ab, soll er doch trinken. Und das tat er auch. Mein betrunkener Zustand nahm Gott sei Dank wieder etwas ab. Doch beim Aufstehen, um aufs Klo zu gehen, spürte ich sofort die Wände wackeln. Doch nicht so nüchtern, wie ich dachte...

Als ich wiederkam, reichte mir Julian, der auf dem Boden lag, die Rumflasche, die nur noch wenige Schlucke enthielt.

»Leer machen«, befahl er und lächelte freundlich. Ich schüttelte den Kopf.

»Lieber nicht, ich will mich nicht besaufen.«

»Ist aber langweilig, wenn nur ich betrunken bin!« Da versuchte er sich vom Boden zu erheben und kam auf mich zu gewankt. Er lachte, als er über seine Bettkante stolperte und in meine Arme fiel.

»Komm, hier!« Er hielt mir den Flaschenhals an den Mund und kippte. Das Kleinhirn war bei ihm bereits auf Stand by geschaltet. Etwas Rum floss an meinen Mundwinkeln zur Seite. Der Rest landete in meinem Rachen. Es brannte so unvorstellbar, aber ich schluckte. Reflexartig natürlich, ich wollte ja nichts auf den Boden oder auf mich laufen lassen. Als die Flasche leer war, jubelte Julian und warf sie auf den Boden. Sofort zuckte ich bei dem Knall zusammen.

»Sei leise, Julian, wenn deine Mutter wach wird ...« Es war immerhin schon halb 1. Mit meinem Ärmel wischte ich den klebrigen Rum von meinem Hals.

»Wieso? Die ist doch hier!«, lachte er hämisch und fasst mich an meiner Hüfte. Er drückte mich an sich und umarmte mich. Seine Arme waren so stark um mich gedrückt, dass ich mich kaum befreien konnte.

»Ugh! Julian, ich bin nicht deine Mama!«

»Ich weiß, aber du bist so besorgt um mich wie sie.«

Er drückte mich aufs Bett, versuchte mich zu kitzeln, ich wehrte mich. Wir lachten. Einmal schlug ich ihm aus Versehen ins Gesicht. Entschuldigte mich bei ihm, doch er lachte weiter. Kitzelte mich, lachte und lachte. Das liebte ich an ...

 

Irgendwann lag ich auf seinem Bauch und hörte seinem Herzschlag zu. Sein Atem war ganz ruhig. Irgendwann summte er kurz. Dann hörte er wieder auf. Starrte an die Wand, ich auf sein Gesicht. Alles drehte sich noch. Ich war unglaublich besoffen.

»Meinst du, dass Mike vielleicht schwul ist?«, fragte mich Julian aus heiterem Himmel. Ich erhob mich vor Entsetzen, als hätte er mich erwischt.

»Niemals! Wie kommst du darauf?«

Er lachte mich an und strich über meine Haare. »Weiß nicht, er hatte noch nie eine Freundin. Ich meine, er ist 20. Da sollte man doch annehmen, dass da mal was passiert?«

»Schon, aber du kannst es ja nicht herbei zwingen. Wenn sich kein Mädchen finden lässt, klappt's eben nicht.« Damit ließ ich meinen Kopf wieder auf seinem Bauch nieder. Er spielte dabei mit meinen Strähnen. Zwirbelte sie um seine Finger. Kurz musste ich an den Isarabend denken, wo Linda mit ihren künstlichen Fingernägeln mit ihnen spielte. Aber Julian tat dies wesentlich ruhiger, sanfter, schöner. Ich kuschelte mich noch ein wenig mehr auf seinen warmen Körper.

»Weiß nicht, ich fänd's komisch«, murmelte er.

»Wenn Mike schwul wäre oder dass er mit Mädchen abhängen würde?«

»Schwul sein.«

»Hm, muss jeder für sich selbst entscheiden.«

»Kann man das denn entscheiden?«

Gute Frage, Julian. Gute Frage. Ich zuckte mit den Schultern und vergrub mein Gesicht in sein T-Shirt. Ich wollte dieses Thema irgendwie nicht hören. Wollte es nicht ansprechen.

Seine andere Hand lag auf meinem Arm. Ruhig und entspannt. Es schien, als wäre das Thema beendet. Doch da lag noch was im Raum. Und ich fragte einfach drauf los:

»Wie würdest du damit umgehen, wenn er schwul wäre?«

Julian schien kurz zu überlegen, dann grinste er.

»Ich würde es, denke ich, hinnehmen. Ich hab nix gegen Schwule. Also selber schwul sein könnte ich nie, aber ich denke, es ändert nicht den Charakter, nur weil man seine … wie ist das Wort?«

»Präferenzen?«

»Ja, genau, Präferenzen woanders hat.«

»Süß gesagt, Julian.«

»Danke.«

Ich lächelte ihn an und er lächelte zurück. Nichts gegen Schwule, aber auch nichts für sie. Das klang ganz nach Julian. Irgendwie beruhigte es mich. Wieso? Weil ich die Befürchtung hatte, Lucys Prophezeiung könnte wahr werden? Dass ich mich in ihn verlieben würde? Was sie ja nicht wortwörtlich meinte, aber so bei mir ankam.

Ob es jemals so weit kommen würde? Alkohol, oh, Alkohol. Wieso denke ich darüber nach?, fragte ich mich und ließ meine Finger über seine Brust gleiten.

»Wo wir aber grade von schwul reden ...«, begann Julian seinen Satz und hörte abrupt mit dem Fingerspiel an meinen Haaren auf. »Sorry, das ist vielleicht etwas übertrieben grade, oder?«

Sofort zog ich meine Hand von seiner Brust. Doch als er mich erwartungsvoll nach einer Antwort ansah, lächelte ich und platzierte seine Hand zurück auf meinen Kopf. »Nein, das ist angenehm.«

Er hauchte ein »Okay« in die Luft und spielte weiter. Strähne für Strähne. Sanft und weich umschlang er meine Haarsträhnen. Ich schloss meine Augen.

So würde ich nie reden, wenn ich nicht betrunken wäre, dachte ich. Ich würde nie zugeben, dass das angenehm wäre. Was denkt er nur von mir? Dass ich schwul bin? Hoffentlich nicht …

Ich bemerkte nicht, wie meine Augen immer schwerer wurden, ich den Moment genoss und seinen Duft einatmete. Alles war mit ihm gefüllt. Ich liebte Körpernähe. Und besonders seine, musste ich mir eingestehen. Und es war nicht mal so erschreckend, dass ich mir das endlich eingestand. Es war schon okay.

Irgendwann leuchtete der Fernseher nur noch nervig in den dunklen Raum hinein. Julian schaltete ihn aus, sofort war es dunkel. Wir rutschten etwas weiter auf das große Bett, Julian stülpte die Decke über uns. Warm und kuschelig. Alles roch nach ihm. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust. Hoch und runter. Hoch und runter. War das ein Traum? Oder war das Realität? Lag ich grade wirklich auf der Brust meines Kumpels, der noch immer mit meinen Haaren spielte? Der sich irgendwann im Schlaf drehte und ich in der Kuhle seiner Arme lag?

 

Ein Kuss auf mein Deckhaar wäre schön gewesen.

 

Am nächsten morgen klopfte die Mutter ganz freundlich an unsere Tür. Wir erhoben uns beide und starrten in ihr lächelndes Gesicht.

»Frühstück, ihr beiden. Wollt ihr gleich runterkommen?«, fragte sie nett und extra leise in das dunkle Zimmer hinein. Unten hörte man Jenny schon rumspringen. Julian brummte ein Wort, was Ja oder Nein hätte heißen können. Doch sie schloss wieder die Tür und ging.

Ich lag auf dem Bauch, ließ meinen Kopf in das Kissen fallen und strich mit der Hand über das Laken. Julian neben mir, lag auf der Seite zu mir gerichtet und begrüßte mich mit einem »Morgen«. Ich grummelte ihm ein »Morgen« zurück.

»Kopfweh?«, fragte er mich leise.

»Etwas, du?«

»Ohrschmerzen.«

»Oh!«

Ich richtete mich auf und betrachtete seine gedehnten Ohren.

»Blutet aber nichts.«

»Gott sei Dank, es brennt nämlich.«

»Am besten gleich mal mit Fenestil einschmieren oder so.«

»Alles klar, Mama.«

Ich wollte schon dagegen protestieren, doch dann lächelte er mich von unten aus zuckersüß an und wuschelte durch meine Haare. Er richtete sich auf und krabbelte aus dem Bett.

»Wir sind ja noch komplett angezogen!«, stellte er fest, als er die Rollläden hochzog.

»Ja, wir sind auf einmal eingepennt ...«

Und sofort kam alles Peinliche von gestern Abend hoch. Julian lachte wie immer amüsiert.

»Stimmt. Ich hab dich gefragt, ob Mike schwul ist.«

Okay, Julian ist wohl nichts peinlich. Selbst betrunkenes Gebrabbel nicht. Auch kein Kuscheln mit dem Kumpel. Aber irgendwie … freute mich das. Er nahm es hin. Es war also nichts Schlimmes. Weder schwul noch ganz besonders hetero. Aber in Ordnung. Wir verloren kein Wort darüber. Es war einfach ein schöner Abend.

Am Frühstückstisch, der liebevoll gedeckt war, unterhielt er sich mit seiner Mutter und Jenny. Dann fragte die Mutter mich einige Dinge, woher ich kam, was ich so in der Freizeit machte. Sie lobte mich inständig, dass ich nicht so viel dumme Sachen bisher gemacht habe, wie ihr Sohn, der wohl mal ziemlich stoned nach Hause kam und in der Badewanne geschlafen hat. Ab dem Zeitpunkt wurden dann die peinlichen Geschichten ausgepackt. Jenny erzählte dann auch noch ein paar über ihren Bruder und jegliches Eis brach. Sein Leben bestand bisher aus Exzessen, die er nur belächelte. Doch irgendwie lachten wir alle drüber, selbst die Mutter. Sie schien eine herzensgute Dame zu sein, die ihre Kinder sehr liebte, egal was kam. Sicherlich durch den Verlust ihres Mannes verstärkt, was aber auch verständlich war. Sie bot mir dann am Tisch gleich das Du an. Annette hieß sie. Gerne nahm ich es an. Eine persönliche Atmosphäre machte sich breit.

Wir räumten den Tisch ab, während Jenny hoch in ihr Zimmer und die Mutter Wäsche waschen ging.

Beim Spülen entschuldigte sich Julian für diverse peinliche Geschichten.

Es war wie im Traum.

Es war aber keiner, oder?

 

Julian lächelte mich an.

»Alles in Ordnung bei dir?«, erkundigte er sich einfach mal so. Ich nickte sofort und sah ihn lächelnd an.

»Und bei dir?«

»Alles bestens. Das Brennen hat nachgelassen.«

»Das freut mich.«

Dann lächelten wir uns beide an. Irgendwie seltsame Stimmung. Ich trocknete einen Teller ab, den mir Julian nach dem Spülen reichte. Dann eine Tasse. Ein Glas. Ich fing an das Besteck zu zählen.

Auf einmal spritzte es in mein Gesicht. Julian lachte und spritzte noch einmal Wasser in mein Gesicht.

»Lass das, Julian!«, lachte ich und versuchte ihn mit dem Tuch in meiner Hand abzuwehren. Er lachte laut auf, bis Jenny die Treppe runter gepoltert kam und uns beide ansah.

»Was macht ihr da?«, fragte sie fordernd frech. Julian schnaufte nur, ließ sofort die glückliche Miene aus dem Gesicht verschwinden.

»Was kleine Schwestern nichts angeht.«

»Wieso? Knutscht ihr rum?«

»Geh weg, Jenny, du nervst.«

»Wieso?«

»Jenny ...«

»Ja, aber wieso?«

Man bemerkte Julians Faden, der immer dünner wurde, bald reißen. Jenny bohrte natürlich immer mehr.

»Jenny, wie wär's wenn du schon mal ins Bad gehst, weil wir das gleich nutzen wollen?«, schlug Julian geknirscht vor und deutete auf das Bad im obersten Stockwerk. Sie raunte genervt auf und stolperte die Treppe wieder hoch.

»Du bist doof, Julian. Echt doof.«

Damit verschwand sie. Julian seufzte und grinste mich an. »Nervig, hm?«

»Geht. Aber nach mehr als 48 Stunden würde ich auch am Rad drehen.«

Julian knuffte mich in die Seite und belächelte meine bestätigende Antwort. Wir schwiegen kurz, bis er die Stille direkt wieder brach.

»Tut mir noch mal Leid, dass ich dich die letzten Wochen so übergangen habe.«

Ich stutzte und sah ihn verwundert an.

»Ist doch wirklich nichts dabei gewesen. Immerhin hast du es ja auch sehr lieb aufgenommen.«

»Klar, ich will doch niemanden vernachlässigen.«

»Manchmal passiert das eben. Oder ist von Nöten ...«, gab ich zu seinem Schutz zu.

»Wieso sagst du das jetzt?«, fragte er leicht verärgert. »Ich bemühe mich um Ausgleich zwischen dir und Micky, okay? Da wird niemand vernachlässigt.«

Erst wusste ich nicht, was ich sagen sollte, dann kam ein warmes Gefühl in mir hoch. Ich fühlte mich geschmeichelt.

»Danke, das weiß ich zu schätzen.«

»Hoffe ich doch, Hase.«

Ich lachte leise. »Ich denk, du bist Hase?«

»Stimmt. Du bist Engel.«

»Oh, echt? Wegen meinem Tattoo?«

»Auch so trifft es dich ziemlich gut.«

»Das … ist so ...«

»Was? Sprich dich aus, Engelchen.« Sofort beugte er sich zu mir und grinste breit.

Da konnte ich nichts mehr zu sagen, außer lachen. Er spritzte mich wieder kurz nass, ich schlug ihn mit meinem Tuch auf den Hintern.

Wäre ich ein Mädchen.

Wäre das doch ganz offensichtlich, oder nicht?

Oder ist das einfach nur seine Art?

Die Zeit verging wie im Fluge. So fühlte sich alles wie in Watte gehalten an. Ich träumte regelmäßig von Julian und mir. Je mehr ich mit ihm unternahm, desto absurder wurden die Träume. Manchmal wachte ich auf und vermisste ihn ganz schrecklich, weil ich von einem gemeinsamen Kuschelabend geträumt habe. Meistens bekam ich den auch einen Tag danach. Julian sagte nichts, wenn ich meinen Kopf auf seine Schulter legte. Auch nicht, wenn ich ihn einfach so umarmte. Ebenfalls nicht, wenn ich mich auf seiner Brust schlafen legte. Oder ich in seinen Armen einschlief. Das passierte mir zugegeben ziemlich oft. Während ich seinem Herzschlag lauschte. Oder er mit meinen Haaren spielte. Grade in so einer Zeit wusste ich nicht, wo mir der Kopf stand. Was genau taten Julian und ich? War das noch Freundschaft? Oder schon mehr? Wie viel mehr? Und war es nur mein eigenes Empfinden oder dachte er das Gleiche?

Micky und er hatten ihre zerstrittene Phasen, wie von Julian vorhergesagt. Sie stritten sich wieder ziemlich heftig, dann war wieder alles gut. Doch zu meiner Überraschung bemängelte sie an Julian den Zeitaufwand, den er mir entgegenbrachte. Er erzählte mir beiläufig bei einem Film, dass Micky eifersüchtig auf mich war. Ich spuckte fast die kompletten Chips aus meinem Mund. Die Rollen hatten sich wohl wirklich vertauscht. Doch Julian zuckte nur mit den Schultern und schien damit leben zu können, wie es war. Eigentlich trafen wir uns nur ein bis zwei Mal die Woche. Manchmal auch drei Mal. Eine Woche dann gar nicht, weil da großes Familienfest bei Micky war und Julian das komplette Wochenende weg war. Als es Winter wurde und die Tage kürzer, wurde jeder ein bisschen müder. Die Stimmung gegen Ende des Semesters wurde lahm und niemand hatte mehr so richtig Lust. Weihnachten stand vor der Tür, ich fuhr für ein paar Tage in die alte Heimat. Julian und ich chatteten jeden Tag und telefonierten sogar.

Manchmal konnte ich sogar vor Sehnsucht nicht einschlafen. Aber für mich war das Humbug, so etwas gibt es nicht. Ich war sicherlich nur ausgelaugt.

 

An Silvester gab's eine große Fete. Alle möglichen Leute fanden sich zusammen und betranken sich. Julian natürlich auch; der mich, wie nicht anders zu erwarten, ebenfalls animierte, mich abzuschießen. Im Großen und Ganzen war es ein gelungener Abend, an den ich mich nicht unbedingt gut erinnern konnte. Micky meckerte sogar nur einmal, ansonsten ließ sie Julian in Ruhe.

Etwas unangenehm war allerdings die Frage eines entfernten Bekannten, ob Julian mein fester Freund sei.

Alle lachten nervös, als ich es schlagartig negierte. Gott sei Dank hatte Micky davon nichts mitbekommen. Julian hingeben sah das als Einladung mich den Rest des Abends allen Unbekannten als meinen Freund vorzustellen. Im Nachhinein klärte Susa alle wieder auf, dass das nicht der Fall war und handelte sich einen kleinen Streit mit Julian ein, der nur betrunken dahinbrabbelte.

 

Im neuen Jahr stand sofort die Klausurphase an. Stressig wohl bemerkt, aber Julian und ich lernten mit Mike immer sehr eifrig, auch wenn wir Julian mehr dazu überreden mussten, als das er es freiwillig getan hätte. Trotzdem alle dem hatte Julian immer genug Zeit für seine Freundin. Sie fuhren sogar mal zur Versöhnung in ein Spa-Hotel. Es war also nicht so, als hätte Micky nicht genug von Julian gehabt. Aber die sieben Tode, die sie starb, wenn er mal bei mir war, zeigte sie deutlich durch genervte SMS.

 

Da waren dann die Semesterferien. Ende eines Semesters. Julian und ich hatten unseren Spaß zusammen, gingen sogar einmal Ski-Fahren, obwohl ich noch nie gefahren bin. Er war wirklich bemüht um mich. Das merkte ich sehr. Und ich merkte, wie wichtig er mir war. Ich wollte nie kleben, doch freute ich mich immer, ihn zu sehen. Dass er mir viel bedeutete, habe ich ihm einmal im Suff gebeichtet. Er lächelte mich an, gab mir einen Kuss auf die Wange und sagte mir, dass er mich lieb hätte. Ich weiß noch, wie glücklich mich das machte. Und immer mehr verfiel ich dem einen Gedanken. Diesen einen Gedanken, den mir Lucy eingepflanzt hat. Ohne sie würde ich nie auf die Idee kommen. Oder doch?

 

Das neue Semester begann. Ich war sehr bemüht darum, die gleichen Kurse mit Julian zu wählen. Leider kamen wir nicht immer in die gleichen Gruppen, aber das machte nichts. Gemeinsames Essen, Hin- und Zurückfahren und abendliche Treffen waren immer noch Usus. Und ich liebte gemeinsame Wochenenden. Ich fieberte regelrecht hin, erledigte sogar extra vorher schon meine Hausarbeiten, nur, um mit Julian ein freies Wochenende zu haben. Nur, um mit ihm gemeinsam im Bett zu liegen und stundenlang nichts zu tun. Nur... um in seinen Armen zu schlafen und diesen herblich-süßen Duft in meiner Nase zu spüren.

Als ich Geburtstag hatte, ließ ich das mal gekonnt unter den Tisch fallen. Im Nachhinein haben das alle mitbekommen und mir noch eine nachträgliche Fete geschmissen. Ich war zutiefst geschmeichelt, als sie mir alle ein neues Grafiktablett geschenkt haben, welches ich natürlich von Julian überreicht bekommen habe. Sogar mit einem Küsschen auf die Wange, welches ich im Suff von ihm eingefordert hatte. Da es mein Geburtstag war, hat aber niemand was dazu gesagt.

 

Der folgende Sommer war wundervoll warm. Wir gingen oft Schwimmen, hatten Spaß. Susa küsste mich sogar an einem Lagerfeuerabend. Doch dann blubberte ich aus, dass ich kein Interesse an ihr hätte. Sie weinte danach in meiner Abwesenheit und alle mussten sie trösten. Nach ein paar Tagen sprachen wir uns aus. Alles war gut, dachte ich, da sie es wirklich sehr human annahm. Nach dem Vorfall suchte sie einen Monat Distanz, aber das war vollkommen in Ordnung. Sie blieb trotzdem eine gute Freundin, der ich auch hin und wieder mal beim Shoppen half. Normalerweise sollte das mein Highlight gewesen sein, aber Susa, und wie so alles andere, lief nur an mir vorbei und hinterließ keinerlei Spuren. Julian blieb mein Mittelpunkt. Egal, ob in der Klausurphase oder in den Ferien. Ob er eine Woche weg war oder nicht. Es war immer Julian. Auch an seinem Geburtstag hatte ich das Gefühl, dass er mir mehr Aufmerksamkeit schenkte, als Micky von ihm einforderte. Irgendwann war sie so genervt, dass sie einfach gegangen ist. Er hatte sich einen neuen Bass gewünscht, für den wir alle zusammengelegt hatten. Am Ende des Abends hat er sogar ein Lied gespielt. Alleine. Mit mir. In seinem Zimmer. ... Ich dachte wirklich, ich zerschmelze, als er auch noch so liebevoll zu mir blickte und mich fragte, wie ich es fand. Einfach himmlisch sagte ich und handelte mir wieder ein Küsschen auf die Wange ein.

 

Im Herbst, als das dritte Semester begann, wollte Julian wieder mehr trinken gehen. Natürlich beim Oktoberfest, wo ich jedoch nur einmal mitging und zudem noch kränklich-nüchtern im Bierzelt neben Betrunkenen sitzen durfte. Gefiel mir gar nicht. Außerdem konnte ich der Trachtenkleidung herzlich wenig Sympathie entgegenbringen. Den Frauen fielen die Brüste raus, den Männern die Augen.

 

Da war dann noch der Geburtstag von Andreas. Er hatte einen Partykeller, aus dem noch nie jemand nüchtern entkommen sei. In der Tat konnte ich mich an das Wenigste erinnern. Doch Videos berichteten, dass ich mehr in Julians Schoß lag und schlief, als irgendwen belästigt zu haben. Natürlich musste Julian das ausnutzen und mir Salzstangen in die Ohren stecken. Peinlich.

Micky wurde mir gegenüber immer distanzierter. Am Anfang war sie der Grund, weswegen ich überhaupt alle kennen gelernt hatte und nun war sie die wohl am weitesten entfernte Person von allen aus der Gruppe. Einmal fragte ich Julian, wieso sie auf einmal so seltsam mir gegenüber war. Und er berichtete die selbe Leier von vor einem halben Jahr. Sie sei immer noch eifersüchtig auf mich, weil Julian alles tun würde, was ich von ihm verlangte. Das lag aber meines Wissens nur daran, dass die Dinge, die ich ihm vorschlug, alle auch in seinem Sinne waren. Skifahren, ins Kino gehen, auf Game-Messen gehen, Trinken gehen, Paintball spielen und so weiter. Micky verlangte lediglich Dinge wie Shoppen gehen, Massieren, Party machen, Kuschelabende. Eben das, was Julian nicht so toll fand. Kuschelabende bekam ich auch, aber nicht unter dem Vorwand, dass es einer sei. Da lag der Unterschied. Und umso schlimmer war es eigentlich, dass Julian es zuließ. Er gab mir einen Finger, ich nahm mir die Hand und er belächelte es. Dann der Arm und er freute sich. Bald war es der andere Arm und er sprach mir zu. So konnte das nicht weitergehen. Metaphorisch gesprochen.

Julian, dachte ich oft, du darfst mir nicht so viele Freiheiten lassen. Sonst nehme ich dich irgendwann zu mir und lasse dich nicht mehr los.

Was er über mich dachte, war mir eh ein Rätsel. Für jeden war es mittlerweile doch offensichtlich, was wir für ein Spiel spielten, oder?

 

Susas Geburtstagsfeier fiel aus, weil sie sich ein Bein gebrochen hatte, als sie mit Micky nach dem Feiern betrunken auf Kopfsteinpflaster mit ihren Pfennigabsätzen ausgerutscht war. So kamen ihre engsten Freunde nur zum einem Brunch am Sonntag. Zum großen Leid von Julian, der eigentlich Saufen wollte. So langsam nervte es mich ebenfalls, dass er immer nur ans Trinken dachte. Aber ich bekam, was ich wollte, wenn er betrunken war. Also holte ich die Sauferei am folgenden Wochenende mit ihm nach und erhielt meinen lang ersehnten Kuschelabend.

 

Der Winter kam immer näher und es wurde schleichend kalt. Am Tag des ersten Schneefalls, kam die Idee, Glühweintrinken zu gehen, wie im Vorjahr. Auf dem Weihnachtsmarkt in der Innenstadt. Alle zusammen. Micky, Susa, Lucy, Andreas, Mike, Julian und ich. Eigentlich eine wirklich nette Idee, doch die Mädchen wollten mehr Buden-shoppen, als Glühweintrinken. Julian willigte sofort ein, Andreas nur nach einem Ellbogen von Lucy. Die mir im übrigen noch einmal beiläufig eine erschreckende Vorhersage gab: »Der Tag rückt näher, Constantin.«

... so was von gruselig.

 

Am Abend vor dem Glühweintrinken hockte Julian bei mir im Zimmer. Wir sahen fern, ganz gemütlich, wie ein altes Ehepaar. Zu meiner Überraschung hatte wirklich lange nichts mehr an Alkohol getrunken. Desto mehr freute er sich auf das Glühweintrinken.

»Das wird richtig gut! Endlich wieder saufen! Die werden alle so depressiv im Winter, verstehe ich nicht.«

»Ich schon, nicht jeder steht dauerhaft unter Starkstrom wie du, Julian.«

Ja, ich hatte gelernt ehrlich zu ihm zu sein. Ganz offen. Denn er nahm es immer humorvoll an. Jede Kritik. Das führte manchmal auch dazu, dass er sie grundsätzlich nicht ernst nahm. Aber beim mehrmaligen Wiederholen raffte er es auch.

»Schon klar. Trinkst mit mir, oder?«

»Weiß ich noch nicht. Ich bin nicht so der Glühweinfan.«

»Macht nichts. Ich nehme gerne Kurze für Zwischendurch mit.«

Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. »Gibt's eigentlich auch noch ein anderes Hobby bei dir außer Trinken?«

»Hm, ja, ich spiele Bass. Aber das weißt du doch.«

»Na ja, das machst du auch nicht wirklich.«

»Doch, ich übe wieder.«

»Ich geb' dir 'ne Woche.«

Er lachte verbittert. »Danke, Schatz.«

»Bitte, Schatz.«

Wir kicherten und sahen schweigend auf den Fernseher. Ich liebte solche Abende. Wir saßen einfach im Bett, stopften uns irgendetwas Ungesundes rein, während ich mich an ihn kuscheln durfte. Er fragte nie. Er wunderte sich nie. Er wehrte sich nie. Als ob er es einfach hinnehmen würde. Aber ich machte sicherlich keiner Anstalten das zu ändern.

Ich schloss meine Augen, ergriff seinen Arm und umschlang diesen mit meinen. Meine Beine legte ich angewinkelt auf seinen Schoß.

»Bist du schon müde?«, fragte er mich ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen. Meine eingekuschelte Stellung verriet wohl mein Gemüt. Ich nickte vorsichtig.

»Du nicht, oder? Weil... sonst würde ich vorschlagen, dass wir bald ins Bett gehen.«

»Ach, ich übernachte hier?« Verwundert sah er mich an. Ich sah ihn an, zuckte mit den Schultern und gab ihm zu verstehen, dass ich das ganz ihm überlassen würde. Er nickte; ohne ein Wort zu sagen, stand er auf und entledigte sich seiner Jeans, kroch zu mir zurück ins Bett und nahm wieder exakt die gleiche Position ein, sodass ich mich wieder an ihn schmiegen konnte. Er blieb also. Ich freute mich, ihn wieder eine ganze Nacht bei mir zu haben. Wieso ...

Wir sahen noch ein wenig Fernsehen. Irgendwann rollte sein Kopf auf meinen. Er wurde immer schwerer und schwerer. Bis ich ihn ansprach und keine Antwort kam.

Da bemerkte ich seine ruhige Atmung. Er war tatsächlich vor mir eingeschlafen. Das erste Mal seit knapp einem Jahr. Ich entzog ihm vorsichtig meinen Kopf, ohne dass er wach wurde.

Natürlich war es nicht das erste Mal, dass ich ihn schlafen sah, aber so war es anders. Er ist bei mir eingeschlafen. In meiner Nähe. Nicht betrunken oder derartiges. Ganz normal, aus Erschöpfung. Ich strich vorsichtig über seine glatt rasierte Wange und musste grinsen. Constantin, was tust du da?

Für einen Moment starrte ich einfach in sein ruhendes Gesicht. Wenn ich mich vorbeuge ... dann...

Da entschied ich mich ihn zu wecken, damit wir schlafen gehen konnten.

Er brummte etwas, ließ sich seitlich ins Bett fallen und schlief sofort weiter. Ich kuschelte mich einfach zu ihm und schlief ebenfalls ein.

 

Er rutschte auf mich zu. Zog mich auf sich. Strich mir über den Nacken, den Rücken, bis er schließlich unter meine Boxershorts fasste. Mit einem leichten Druck umfasste er meine Backen. Wir küssten uns. Leidenschaftlich umschlang meine Zunge seine und umgekehrt. Ich spürte, wie seine Erregung gegen meine drückte. Er flüsterte meinen Namen. Ich flüsterte seinen. Dann drückte er mich auf den Rücken, küsste mich am Hals, leckte meine Brust und knabberte kurz an meiner Brustwarze. Ich stöhnte kurz auf, als er meine Erregung in die Hand nahm. So angenehm warm und doch bestimmend. Seine weichen Lippen küssten die Eichel, dann umschlang seine Zunge den Rest. Es war so heiß. So heiß.

 

Ich wurde wach, weil er einen Arm unter mir wegzog, auf dem mein Kopf lag. Sofort drehte ich mich zu ihm um. Er schlief noch, der Arm war wohl nur eingeschlafen, weswegen er ihn unbewusst weggezogen hatte. Stirn an Stirn legte ich mich wieder zu ihm. Unsere Beine berührten sich, lagen aufeinander. Wieso … Eine Hand von ihm lag neben meiner. Doch ich beherrschte mich, sie nicht zu ergreifen. Nach diesem wieder verrückten Traum wäre das fatal gewesen.

 

Um circa zehn wachte er auch auf. Und wie immer, ohne eine Bemerkung über unseren physischen Zustand zu machen, wünschte er mir einen guten Morgen und berichtete mir wieder über seine Vorfreude auf das Trinken.

Wir frühstückten, er duschte sich, ich duschte mich, wir zogen uns an und verbrachten den Tag noch kurz bei ihm, da er sich frische Kleidung anziehen wollte. Dass Julian unsere Kuschelei immer als Selbstverständlich hinnahm, machte mich immer verrückter. Was sollte ich nur davon halten? Er war mir wichtig, ich ihm sicherlich auch. Aber ich wusste auch, dass er seine Zuneigung zu Niemandem wirklich versteckte. Wenn er jemanden mochte, wurde demjenigen das genau so gezeigt, wie jemandem, den er nicht mochte.

Ich konnte nicht ewig so weiter machen. Ein uns beobachtender Dritter würde die Sache klar abhandeln. Und ich wollte nicht schon wieder das eine Wort in meinen Gedanken fassen. Denn ich war es nicht und Julian konnte sich es ebenfalls nicht vorstellen. Bromance hieß das auf Neudeutsch, aber so richtig mit dem Gedanken der einfachen guten Freundschaft konnte ich mich nicht anfreunden.

Der Abend rückte näher. Julian packte tatsächlich ein paar Schnäpschen ein und verlangte bereits bevor wir losgingen, dass ich mit ihm einen trank.

 

Dann ging es auch schon los. Mike sagte leider ab, weil es ihm nicht gut ging. ... Besser für ihn, er roch wahrscheinlich schon den Absturz.

Wir trafen alle am Hauptbahnhof, von dem aus wir dann zum überfüllten Weihnachtsmarkt gingen.

Micky schlenderte sofort an Julians Seite hin und her. Das nahm mir die Möglichkeit bei ihm zu sein. Ich hatte so dieses Gefühl, dass Micky und ich uns da abwechseln würden. Mal bekam ich ihn, mal sie. Und da war wohl der Fehler. Ich bin Julians bester Freund, sie aber seine Freundin. Trotzdem sind wir gleichgestellt. Der einzige Unterschied eben: ich hielt kein Händchen mit Julian. Noch küssten wir uns oder hatten Sex.

Doch meinen Träumen konnte ich nicht entrinnen. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt. Was man eben gewöhnen nennen kann; es war immer noch erschreckend, wozu mein Kopf imstande war.

 

Susa ging mit Lucy schon mal zu einem Schmuckstand, während Micky Julian zu einem Taschenstand schleppte. Andreas blieb bei mir, wir warteten einfach in der Mitte.

»Wundert mich, dass du heute so wenig mit Crombach machst«, bemerkte Andreas.

»Julian? Hm, na ja, muss ich ja nicht, oder?« Ist ja auch nicht so, als hätten wir bereits über 24 Stunden miteinander verbracht. Aber das ließ ich mal unter den Tisch fallen.

»Micky beschwert sich nämlich andauernd.« Er grinste mich hämisch an. »Nimmst ihr wohl ihren Freund weg.«

»So'n Quatsch. Es ist auch Julians Entscheidung wie viel er mit mir Unternehmen will.«

»Klar, ich gebe nur das wieder, was ich höre.«

»Hasst sie mich jetzt also?«

Er zuckte mit den Schultern. »Glaube nicht. Aber so richtig toll findet sie das nicht.«

»Kann ich verstehen. Ich hab mich ja auch mal bei Julian wegen Vernachlässigung beschwert.«

»Der arme Kerl, hängt ja ziemlich zwischen den Fronten.«

Wir sahen gleichzeitig zum besagten Pärchen Micky-Julian. Micky bewunderte eine Tasche und hielt sie sich an. Fragte Julian wohl grade, ob sie ihr stände. Er nickte, war aber nicht sonderlich begeistert.

»Ich glaube, mit dir hat er wesentlich weniger Probleme«, stellte Andreas beiläufig fest, während er das Schauspiel am Taschenstand beobachtete.

»Vielleicht weniger, aber dafür andere.«

»Echt? Ihr beide habt Probleme? Ihr seid doch das Dreamteam.«

Ich sah ihn fraglich an. »Dreamteam?«

»Klar«, lachte er, »ihr beide? Euch kennt man nur zu zweit und immer gut gelaunt. Wenn mal einer schlechte Laune hat, dann sorgt der andere schon für das Gegenteil.«

»Wir sind einfach gut befreundet ...«

»Ich mein ja nur.«

»Aber mal ehrlich ...«, fing ich meinen Satz an, brach ihn jedoch ab. Meine Frage erschien mir als zu offensichtlich.

»Hm? Du willst meine Meinung hören? Zu was denn?«, bohrte Andreas nach. Fühlte sich an, als wüsste er schon worauf ich hinaus wollte.

»Ähm … Ihr haltet uns aber nicht für ...«

»Nein, nein. Also ich jedenfalls nicht. Ihr seid echt niedlich zusammen, wie Brüder, verstehst du?«

Das erleichterte mich immens. »Wie Brüder klingt eigentlich ganz gut.«

»Was allerdings meine Freundin von euch hält, muss ich dir ja nicht schildern. Das hat sie dir sicherlich schon persönlich gesagt.«

»Allerdings. Ich würde mit ihm leiden

»Haha! Ja, so in etwa.«

 

Susa und Lucy kamen nach einigen Minuten auf uns zu.

»Wollen wir uns einen Glühwein holen? Mir ist nämlich voll kalt«, schlug Susa vor und zeigte auf einen Glühweinstand, an dem viele Menschen standen. Andreas rief Micky und Julian zu uns rüber. Micky legte traurig die Tasche weg und folgte Julian zu uns rüber.

»Na, haben wir dich vor einem Taschenkauf gerettet?«, fragte Andreas Julian, der nur grinste und vorsichtig nickte. Sein Blick zeigte deutlich, dass er die Tasche furchtbar fand und nur für Micky gekauft hätte, um Streit zu vermeiden.

 

Doch um ehrlich zu sein, fing da die schlechte Laune von Micky so richtig an. Sie wollte die ganze Zeit an Julians Hand laufen, als der sich doch beim ersten Glühwein diesem Wunsch entzog, um seine Tasse zu halten, fing sie an völlig unbegründet traurig und enttäuscht in die Welt zu schauen.

Ich unterhielt mich sehr gut mit Andreas. Lucy kam schließlich auch mal dazu, als Susa und Micky in ein Gespräch verwickelt waren.

»Wie geht es dir Constantin?«, fragte sie in ihrer typisch monotonen Stimmlage.

»Gut«, antwortete ich gelassen und schlürfte an meinem Glühwein. »Und dir?«

»Danke, auch gut. Julian anscheinend nicht so.« Sie fackelte nie lange mit ihren seltsamen Themen rum.

»Ja, der Arme hat mit Micky zu kämpfen.«

»Wieso rettest du ihn nicht?«, fragte sie mit diesem gewissen Unterton. Andreas fiel in unser Gespräch.

»Lass ihn doch. Micky hat eben ihre Phasen. Constantin hat damit doch nix zu tun.«

»Aber ich bin überzeugt, dass Julian das freuen würde.«

»Sicher würde ihn das freuen, aber -«, fing Andreas an, doch ich unterbrach.

»Ich bin nicht sein fester Freund, okay? Sein bester Freund. Und ich bin nicht für Beziehungen zuständig, er soll das bitte selbst regeln.«

Lucy sah mich überrascht an. »Constantin, wieso so überreizt?«

»Ich bin nicht überreizt, ich stelle das nur mal klar. Ich will mich nicht in die Beziehung zwischen den beiden einmischen.«

»Weil sie dich stört?«

»Lucy, bitte ...«, mahnte Andreas seine Freundin, die ihren Blick nicht von meinen Augen abwendete.

»Nein, wieso sollte sie mich stören?« Meine saloppe Frage war wohl etwas zu locker, denn sie ließ Lucy Vermutungen anstellen.

»Also redest du dir selbst ein, dass sie dich nicht stört, doch in Wirklichkeit wünschst du dir Julian für dich alleine, oder etwa nicht?«

»Lucy, es reicht jetzt. Das ist gemein«, fiel Andreas ihr wieder ins Wort und versuchte sie zu beschwichtigen.

»Ich verstehe nicht, was in deinem Kopf vorgeht«, bemerkte ich, »Ich und Julian verstehen uns bestens, da gibt’s nichts zu rütteln. Und komm mir nicht wieder mit Liebe.«

»Der einzige, der immer von Liebe spricht, bist du, Constantin.«

»Okay, das ist der Zeitpunkt, wo wir das Thema wechseln«, rief Andreas und schob Lucy weg. Sie blieb erst stehen, sah Andreas leicht wütend an, ging dann aber doch ihrer Wege zurück zu Susa.

»Echt, sorry. Sie übertreibt es gerne und wird manipulativ«, entschuldigte sich Andreas für seine Freundin. Ich zuckte mit den Schultern.

»Mir ist schon klar, dass sie mich für schwul hält. Sind wir mal ehrlich, Andreas, Susa hält mich auch für schwul.«

Andreas' Schweigen und das Zusammenpressen seiner Lippen gaben mir Recht. »Du und Julian, ihr seid euch schon sehr nah. Der Gedanke ist eben nicht von irgendwo hergeholt.«

»Mein Gott, wir hängen doch nicht aufeinander?«

»Ihr küsst euch regelmäßig auf die Wange. Das ist schon grenzwertig unter Männern.«

»Du also auch, ja? Vorhin waren wir noch wie Brüder ...«

»Nein, Constantin, ich denke nur Crombach versteht das alles selbst nicht ganz.«

»Weil Julian auch so intelligent auf dem Gebiet ist, oder was willst du damit sagen?«

Ich war mir selbst nicht so sicher, wieso mich das in Rage brachte. Wieso mich Lucys Art so ärgerte und Andreas Vermutungen meinen Puls hoben.

»Crombach ist eben ein bisschen verpeilt. Er hat dich bestimmt furchtbar gern und macht das alles mit, weil er dich nicht verlieren will.«

»Du glaubst also, dass Julian mich auf diese Weise bei sich hält? So ein Quatsch!«

»Komm schon, Constantin, wenn du es doch mal zum Beispiel von meinem Standpunkt aus betrachtest, verhaltet ihr beiden euch manchmal schon wunderlich.«

»Wunderlich? Erst ist es brüderlich, grenzwertig, dann wunderlich. Was kommt als nächstes? Sonderbar?«

»Ich will dich nicht beleidigen. Aber das ist nun mal, wonach es aussieht. Wenn ihr beiden nicht wollt, das man so über euch denkt, dann solltet ihr aneinander feilen.«

»Ich bin glücklich wie es ist. Mich regt es nur auf, dass jeder darauf rumreitet. Mädchen dürfen sich umarmen, aber Männer nicht?«

»Darum geht es doch nicht ...«

Ich merkte, wie sehr ich Andreas in Erklärungsnot brachte. Ich seufzte laut und winkte schließlich ab. Schnell trank ich meine Tasse leer und stellte sie zurück auf den Tresen. Schnell kassierte ich meinen Pfand und steckte das Geld weg.

»Ich geh kurz meinen Kopf abkühlen, okay?«, murmelte ich ihm zu.

»Klar. Wir bleiben hier.«

Ich sah in seinem Blick, wie sehr es ihm Leid tat, so mit mir gesprochen zu haben. Mir tat es auch Leid.

Für jemanden, der das Spiel der "falschen Liebe" aus reiner Überzeugung tat, so wie Julian, wäre es kein Problem gewesen das mit Schulterzucken abzutun. Immerhin ist Julian einer, der sich nicht viel aus den Meinungen anderer macht. Er nimmt sie an, denkt drüber nach. Das war's. Über Ändern spricht keiner, es sei denn, es wird inständig von ihm verlangt.

 

Doch ich war mir selbst nicht sicher. Alles in mir zerbrach Stück für Stück. Immer schneller. Weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. So etwas ist mir noch nie passiert.

Ich beschwerte mich immer über Menschen, deren Liebesgeschichte hollywoodgleich war. Ich ärgerte mich über Paare, die vor meinen Augen knutschten. Ich hasste glückliche Menschen. Ich hasste im Grunde manchmal alle um mich herum.

Doch den einzigen, den ich seit schon mehr als einem Jahr anhimmelte, war Julian. Ich mochte ihn. Ich liebte seine Gegenwart. Für ihn fing ich sogar das Rauchen an, nur um mit ihm mehr Zeit zu verbringen. Er brachte mich zum Lachen. Er nervte mich manchmal mit seiner immer glücklichen Art. Aber dieser direkte und schon wieder liebenswürdige Charakterzug von ihm war es, der mich alles vergessen ließ. Wenn er bei mir war, könnte die Welt untergehen. Mich störte nichts mehr. Alle um uns herum könnten uns hassen. So lange ich ihn hätte, wäre es doch egal.

Aber ich wusste, dass er nicht so dachte. Für ihn war ich, wie Andreas vermutete, ein Bruder. Wir machten spaßige Dinge, verrückte Dinge. Wir lackierten unsere Nägel, lachten über seltsame Menschen, weinten über unsere wenigen Muskeln, tauschten unsere Klamotten untereinander, aßen zusammen Fastfood, hatten Angst vor Bienen, schliefen zusammen ein, schauten nur Horrorfilme und Liebkosten uns.

Da genau war der Fehler. Sah er es denn als Liebkosen an, wenn er durch meine Haare strich? Oder wenn er mich massierte? Oder wenn er mich liebevoll anlächelte und mir dabei über den Nacken strich?

Oder wenn ich mich an ihn kuschelte? Wenn ich ihn am Hals küsste? Wenn ich ihm am Ohr knabberte? Oder wenn ich seine Hand nahm? Wenn ich ihn umarmte? Wenn ich …

 

Mein Blick fiel starr in den Schnee.

Es begann zu schneien.

So weiß.

Wie mein Kopf.

So blank.

 

Wieso? Wieso sah ich ihn auf mich zu taumeln?

»Oh man, Con, ich sag dir, Micky nervt so was von!«, schnaufte er mir entgegen und richtete seinen Schal. »Hat die mich schon wieder angebrüllt, ich würde immer nur abwesend sein, wenn ich mit ihr unterwegs bin. Bla, bla, bla!«

Ich bemühte mich zu lächeln. Er blieb kurz vor mir stehen.

»Sorry, ich will dich echt nicht immer mit meinen Problemen nerven. Grade die mit Micky.«

Ich winkte ab. »Ich hör dir immer zu, egal was es ist. Und ich bin mir sicher, wenn du deinen Hundeblick einsetzt, wird sie schon wieder ruhig werden. So wie immer, weißt du doch.«

Er lächelte mich an. Man sah an seinen roten Wangen, dass er angetrunken war.

»Komm mal her«, sagte er sanft und umarmte mich. Drückte mich an sich. Strich über mein Haar. »Danke, dass du immer für mich da bist. Ich glaube, ich wäre schon längst verrückt geworden, wenn ich dich nicht hätte. Du bist echt alles für mich, Constantin.«

 

Oh.

 

Oh nein.

 

»... ich hab dich wirklich sehr lieb ...«, murmelte ich in seinen Schal. Ich hörte ihn leise lachen.

»Ich dich auch, Con. Danke.«

 

Die erste Träne kullerte mir aus meinem Auge. Dann die Zweite. Folgend die anderen tausend. Auf einmal löste Julian sich von mir, strich mir übers Gesicht, sagte irgendetwas zu mir. Irgendwie war seine Stimme so weit weg. Wahrscheinlich wollte er wissen, wieso ich weinte.

Wusste ich selber nicht genau.

Wahrscheinlich wegen diesem ewig leidigen Thema.

Alles verschwamm in meinen Tränen.

Oh, Julian.

 

 

Ich liebe dich.

 

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Schwärze. Etwas bewegte sich auf und ab. Herzschläge tönten in mein rechtes Ohr. Meine komplette rechte Körperseite war eingeschlafen. Warm war es. Kuschelig. Ein bisschen wie …

Ich öffnete die Augen und sah in Julians schlafendes Gesicht. Erst lächelte ich sanft, doch mit einem Schlag kamen alle Erinnerungen an gestern Nacht wieder. Getrunken, Flaschendrehen, Petting, wankend schlafen gegangen.

Mein Herz schlug immer schneller, immer heftiger. Konnte das wirklich alles passiert sein? Wie peinlich! Wie furchtbar! Und jetzt?!

Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte mich zur beruhigen. Im Moment konnte ich sowieso nichts ändern. Es war passiert. Jetzt war nur noch die Frage, wie viel Julian noch davon wusste.

Aber was machte ich mir vor? Als würde er nach sofortiger Erkenntnis mit Micky Schluss machen und zu mir rennen. So ein Quatsch.

Das war ein einmaliges Erlebnis. Das war... eben betrunken sein auf höchstem Niveau.

Nach dieser Ernüchterung fand ich meine Gelassenheit wieder. Es würde sich nichts ändern.

Lächelnd beobachtete ich sein Gesicht.

Sein Arm lag ruhend auf meiner Taille, sein Bein lag unter meinem Bein. Sein Kopf war zu mir gedreht. Sanft bewegte sein Atem einige Haarsträhnen von mir. Vorsichtig strich ich mit meinem Zeigefinger über seine leicht geöffneten, trockenen Lippen. Sollte ich wirklich? Vielleicht weckte ich ihn auf? Aber vielleicht wäre das auch das letzte Mal?

Vorsichtig näherte ich mich ihm ...

... und berührte zärtlich seine Lippen. Ich konnte mich nicht beherrschen. Sein Duft, seine Haut, seine Lippen, alles an ihm machte mich so verrückt. Ich schloss die Augen. Ewig hätte ich so mit ihm verharren können …

»Bist du wach, Constantin?«, flüsterte eine bekannte Stimme hinter mir. Abrupt löste ich mich von Julian und drehte mich um.

»Susa ...«, murmelte ich und sah sie hinter einem Sofa hervorlugen.

Sie grinste. »Ich wollte dich nicht ... von Dingen abhalten, aber hier sind noch andere ... und, äh...«

Erst da drehte ich mich weiter um und bemerkte, dass alle Gäste im Wohnzimmer schliefen, inklusive Julian und mir. Eine leichte Röte machte sich über mein Gesicht breit.

»Macht doch nichts«, winkte Susa ab, »Ihr wart beide gestern ziemlich lange im Bad ...«

Ich nickte verlegen.

»Habt ihr wirklich das getan, was ich mir denke?«, fragte sie neugierig. Ich ließ meinen Kopf auf den Boden sinken.

»Fast ...«, flüsterte ich ihr entgegen.

»Fast? Also hattet ihr keinen Sex?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nur so was ...Spaß.«

Susas Grinsen versiegte. »Oh je, Con, was tust du dir da nur an?«

»Er hat mich verführt, wenn ich das hier richtig stellen darf!«

»Echt jetzt?«

»Ja! Er hat mir in mein Ohr geflüstert, dass wir alles auch woanders fortsetzen könnten. Und er ist mir ins Bad gefolgt und hat angefangen, mich zu küssen!«

Susa sah mich entsetzt an.

»Glaubst du, dass er vielleicht auch Interesse an dir hat?«

Ich überlegte. Schwieg. Flüsterte dann weiter.

»Ich glaube nicht.«

»Wieso nicht? Immerhin, so wie es klingt -«

»Nein. Er hat Micky. Wieso sollte er was mit mir anfangen wollen? Er ist nicht schwul.«

»Warst du ja vor ihm auch nicht.«

»Schon, aber ...«

»Na?«

»Geht's auch was leiser dahinten?«, hörte man Mike brummen. Susa und ich kicherten nach einigen Schweigeminuten. Mike drehte sich nur um und raunte kurz.

»Ihr beide werdet eh darüber reden müssen«, fügte Susa unserem Gespräch hinzu.

»Bezweifle ich, immerhin war er echt betrunken.«

»Meinst du, er hat alles vergessen?«

Vorsichtig nickte ich. »Jedenfalls wäre das wünschenswert.«

Susa wollte schon nachfragen, wieso, doch einige erhoben sich. Auch Julian drehte sich in meine Richtung und hielt mich fest im Arm.

Susa grinste mir zu. »Ich wünsche dir trotzdem alles Gute.«

Traurig, aber um ein Lächeln bemüht, bedankte ich mich bei ihr. Nicht weiter eine Konversation eingehend, kuschelte ich mich in seine Arme. Genoss die letzten Minuten dieses Geburtstages zusammen mit ihm. Diese Verlustängste würden mich noch umbringen ...

 

Als er wach wurde, wunderte er sich über Nichts und Niemanden. Er klagte über furchtbare Kopfschmerzen. Und wie erwartet konnte er sich an nichts erinnern.

»Auch nicht ans Flaschendrehen?«, hakte Mike nach. Julian schüttelte benommen den Kopf, während er an seiner aufgelösten Aspirin nippte. Alle anderen verfielen in gefräßige Stille, da Susa uns Brötchen gebracht hatte und wir gemeinsam am riesigen Eichentisch saßen.

»Ist alles was schwammig. Ich kann mich daran erinnern, dass ich die Flasche gedreht habe, aber was genau wie passiert ist … Tja.«

Mike schüttelte nur den Kopf. »Du solltest wirklich weniger trinken.«

 

Susa hatte netterweise alle anderen darüber informiert, dass Julian nichts weiter erfahren sollte. Weder vom Kuss noch von der Badgeschichte. Um Mickys Willen natürlich wurde ihnen dieses Gebot aufgetischt. In der Hoffnung, dass alle dicht halten würde, stopfte ich mir das letzte Stück Brötchen in den Mund.

»War's denn sonst gut? Kannst du dich an was erinnern?«, fragte mich Julian plötzlich und lächelte mich an. Ich zögerte etwas. Was sollte ich denn antworten, was nicht zu viel verraten würde, aber trotzdem glaubwürdig erschien?

»Doch, war lustig. Aber auch bei mir ist vieles nur schwammig.«

»Willst du was?« Dabei hielt er mir sein Glas Aspirin hin. Ich nahm es dankend an und nahm einen Schluck. In der Tat brummte auch mir etwas der Schädel, aber aushaltbar. Die Sorgen um das "einmalige Ereignis" bereiteten mir mehr Schmerzen.

 

Nachdem alle den Tisch abgeräumt hatten, gingen Julian und ich in die Küche und spülten das Geschirr, was nicht in die Spülmaschine gepasst hatte.

»Micky hatte heute morgen schon angerufen ...«, seufzte Julian. Ich horchte auf, während ich einen Teller abwusch.

»Ja? Auf deinem Handy?«

Er nickte. »Ja, eigentlich süß von ihr, dass sie sich erkundigen wollte, wie es mir geht. Sie meinte, als sie ging, war ich schon gut dabei. Und um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht genau, wann sie gegangen war.«

»War glaube ich so um Mitternacht rum.«

»Ach so.«

»Hm.«

Stille machte sich in der Küche breit. Im Nebenzimmer hörte man einige lachen, während sie aufräumten. Susa und ein paar andere brachten den Müll weg.

»Ist was zwischen uns passiert? Oder warum bist du so … komisch drauf?«, fragte Julian aus heiterem Himmel. Ich schreckte auf und ließ aus Versehen ein Glas wieder zurück in die Spüle fallen.

»Ich bin komisch drauf?«, fragte ich nervös lachend.

»Schon, so etwas distanziert ...«

»Echt? Nee, sorry, ich bin einfach nur fertig von gestern, eigentlich ist nichts passiert ...«

Wieso musste ich ihn nur anlügen? Lügen war noch nie mein Ding, obwohl ich es gerne mal in gewissen Situationen zu meinem Vorteil tat. Aber das hier war so gemein und hinterhältig ... ihm nicht zu sagen, was genau passiert war.

»Dann schau mir doch mal in die Augen«, forderte er mich auf. Er kannte meine Schwäche. Wenn ich lügte, konnte ich niemandem dabei in die Augen sehen. Tatsächlich konnte ich meinen Blick nicht vom Spülwasser abwenden. Was, wenn er in mir lesen würde, dass doch was passiert war? Was, wenn er Verdacht schöpfen würde? Was, wenn …

»Constantin!«, forderte er mich ein zweites Mal auf und schien wesentlich ungeduldiger als sonst.

»Julian, mir geht es einfach nicht gut ...«, quetschte ich gequält aus meinen Lippen.

 

Auf einmal legte er das Tuch weg und griff mein Gesicht. Erschrocken sah ich ihn an.

»Es ist doch was passiert! Ich bin schon mit so einem mulmigen Gefühl aufgewacht! Wie du schon an mir hingst … Hab ich was doofes zu dir gesagt? Wenn ja, dann -«

»Nein!«, rief ich und drückte seine Hände weg.

Etwas erschrocken blieb Julian still. Ich rang nach Worten. Nach Erklärungen. Nach einer angemessenen 'Wahrheit'.

»Wir beide … hatten einen kleinen Streit, mehr nicht. Ich weiß, dass du das nicht so gemeint hast, trotzdem bin ich etwas durch den Wind ...«

Was für eine Lüge. Wir würden uns nie streiten. Nie.

Er ließ seine Hände sinken. Überlegte. Atmete tief ein. Seine Mundwinkel fielen nach unten.

»Was auch immer ich gesagt habe, es tut mir Leid ...«, formulierte er kleinlaut und sah beschämt zu Boden.

Oh, nein, jetzt habe ich ihm ein schlechtes Gewissen eingeredet, dachte ich. Und sofort kam auch in mir dieses Gefühl hoch.

»Nein, nein! Ist doch in Ordnung!« Sofort ging ich wieder auf ihn zu und berührte seine Arme.

»Ja, aber wirklich, Con, ich würde dich nie beleidigen wollen oder derartiges!«

»Weiß ich doch … Ist alles in Ordnung!«

Ich versuchte zu Lächeln. Doch er sah mich nicht an. Mit einer leichten Bewegung nach unten, schaute ich zu ihm auf, sodass er gezwungen war, in meine Augen zu blicken. Sofort grinste er belustigt über meine Verrenkung und nickte.

Ich spürte Julians Arme um mich, wie sie mich an ihn drückten und versöhnend streichelten.

»Sorry, echt ...«, murmelte er erneut reumütig in mein Ohr.

Ich fühlte mich noch schlechter als zuvor. Es tat ihm so unglaublich Leid. Er würde mich nie beleidigen oder mit mir streiten, schon gar nicht betrunken. Wir beide waren doch das Dreamteam, wie Andreas mal meinte.

»Mir tut's auch Leid, Julian ...«, quetschte ich aus meinen Lippen. Vorsichtig schlang ich meine Arme um seinen Nacken und seufzte enttäuscht. Enttäuscht von mir selber.

Da fiel mein Blick unter sein Ohr.

 

Oh, oh.

 

Da war ein Knutschfleck auf seinem Hals.

 

Und was für einer …

 

Shit, das würde er sehen. Micky würde es sehen. Alle würden es sehen. Dann wäre es aus mit uns. Freundschaft hin oder her, alle wären sauer. Bestimmt auch Julian.

Sofort drückte ich meinen Kopf in seine Schulter. Alles verschwamm vor meinen Augen. Dann kullerte die erste Träne an seinem Hals entlang. Dann die Zweite.

»Con? Weinst du?«, fragte er ganz leise.

Ich nickte stumm.

»Wieso denn? Wegen mir?«

Ich schwieg, schluchzte kurz auf. Sein Griff um mich verstärkte sich. Tröstend streichelte er über mein Haar.

»Hey … Con ...«, murmelte er.

Ich konnte mich irgendwie nicht beruhigen. Immer mehr Tränen fielen. Immer wieder erinnerte ich mich an unseren ersten Kuss. Dann an seine Küsse in meinem Nacken. Der Blick, der so ernst war, dass ich mir nicht sicher war, ob es ein Spiel sein sollte, oder doch nicht. Dann seine große Hand, die meine Erregung umschlang. Seine Erregung. Seine Lippen. Sein Haar. Sein Duft. Alles an ihm klebte an mir wie das Blut des Opfers am Täter.

 

Irgendwann kam Susa in die Küche, um den Mülleimer mitzunehmen. Die erwischte mich natürlich im vollen Heulkrampf und ließ empört den Eimer fallen. Sofort entzog sie mich Julians Umarmung, der mich erst nicht hergeben wollte, mich dann doch freigab und uns schließlich nur perplex hinterher sah.

Wir gingen schnellen Schrittes in den Garten, dort setzte sie mich auf die Bank, bei der Julian und ich letztes Jahr eine geraucht hatten. Da war noch alles in Ordnung.

Und sofort weinte ich wieder los. Ich hörte Susa immer wieder auf mich einreden. Sie reichte mir Taschentücher, bis sie sich schließlich neben mich setzte und versuchte tröstend zu klingen. Gleichzeitig hörte ich aber auch Dinge wie »Ich habe dir gesagt, dass es wehtun wird« oder »Du wusstest, wo dich das hinbringt« oder »Er wird jetzt sicherlich eine Erklärung haben wollen, an der übst du besser schon mal«.

Sie war sauer. War auch verständlich. Sie hatte mich immer wieder vor Julian gewarnt. Im Grunde hatten das alle getan. Julian, der lustige, lockere Typ. Der gerne mal über die Strenge schlug. Der gerne mal jemanden auf den Arm nahm. Ich war ihm wichtig, das wusste ich. Das hatte er mir gesagt. Aber wie wichtig?

Es dauerte wohl ziemlich lange, bis ich mich beruhigt hatte, denn Julian verabschiedete sich irgendwann kleinlaut von uns und ging bedrückt seinen Weg nach Hause, nachdem ich es nicht geschafft hatte, ihn anzusehen.

 

Gegen Nachmittag packte auch ich meine Sachen zusammen und verabschiedete mich. Susa gab mir für den Weg ein Päckchen Taschentücher mit:

»Falls dich irgendeine Straße an ihn erinnern sollte.«

 

Zu Hause starrte ich den Rest des Tages an die Decke. Weiß. Blank. Kahl.

Da rief am Abend Feli an. Ich erzählte ihr alles. Auch, dass wir uns im Bad angefasst hatten. Sie war schockiert. Genau wie Susa.

»Er hat dich angefasst?«

»Ja, aber ich ihn doch auch.«

»Und davon weiß er nix mehr?«

»Nein. Oder er verschweigt es, genau wie ich.«

»Ja, toll. Aber er weiß, dass du in ihn verknallt bist?«

»Natürlich nicht!«

»Das solltest du ihm aber mal sagen!«

»Bist du verrückt? Nein!«

Ich wurde immer hysterischer am Telefon und das merkte sie auch.

»Werd mal wieder locker. Also im Grunde hast du zwei Möglichkeiten, Con.«

»Die da wären?«

»Entweder du verschweigst es bis an dein Lebensende und versuchst ihn zu vergessen, was auch Kontakt abbrechen heißen würde oder ...«

»... Ich sag's ihm?«

»Ja, genau. Da hast du denke ich eine 50/50 Chance, dass er drauf eingeht, oder es lässt.«

»Wie kommst du auf eine 50/50 Chance? Er ist nicht schwul und ich bin nur sein bester Freund. Micky ist seine Freundin, die wird er nach zwei Jahren Beziehung für etwas, von dem keiner sicher sein kann, ob es überhaupt klappen wird, nicht hängen lassen..«

»Wie du immer alles schlecht reden kannst! Wieso nicht? Er mag dich doch!«

»Du magst mich auch, trotzdem gehen wir nicht aus.«

»Das ist was anderes.«

»Ach, jetzt auf einmal.«

»Con, wenn du schlechte Laune hast, lass die woanders aus. Du hast die Wahl: Schweigen oder Reden. Und nur bei einem hast du die Chance glücklich zu werden. Nutze sie.«

»Danke, Feli, ich überleg's mir.«

Sie seufzte laut ins Telefon und fing an von ihrer Beziehung zu sprechen, von der ich wieder nichts wusste. Das übliche, meinte sie. Er wäre ziemlich seltsam und eigentlich wolle sie keine Beziehung, aber er wolle unbedingt eine. Also hat sie sich mal drauf eingelassen, jetzt bereute sie es.

 

Unter der Dusche dachte ich nach. Der Brausestrahl massierte meinen Kopf. Trotzdem erleichterte das nicht meine Schmerzen.

Es ihm sagen? Und dann die ganze Freundschaft aufs Spiel setzen? Ich könnte nicht ohne ihn. Lieber versuche ich ihn zu vergessen, aus eigenem Antrieb heraus. Ich würde es so konzipieren, dass man sich einfach etwas im Alltag verliert bis man sich nicht mehr meldet. Das wäre das Beste. Niemand wäre sauer auf den anderen. Niemand würde Dummes über den anderen denken.

Doch dann kam letzte Nacht zurück. Seine Hände auf meinem Körper, ganz sanft, dann rau. Feste umschloss er meine Härte. Rieb an ihr.

Ich war so in meinen Gedanken, dass ich erst, nachdem das Wasser anfing kälter zu werden, bemerkte, dass ich mich selbst berührte. Er war so steif, dass selbst kühles Wasser nichts half. Also verlor ich mich in meinen Gedanken. Erinnerte mich wie er mich berührte. Wo er mich überall küssen würde, wenn er hier wäre. Wie es wäre, wenn er jetzt einfach mit mir in die Duschen kommen würde. Mich von hinten umarmen würde. An meinen Brustwarzen spielen würde. Dann vielleicht meine Härte massieren und an meinem Hals spielen würde.

Vielleicht würde er auch einen Finger in mich einführen. Dann den zweiten. Würde mich von innen berühren.

»Ah ...«, rutschte mir raus, als ich eine angenehme Stelle in mir fand. Kurz kam mir der Gedanke von Pein, wie es wohl aussehen muss, wie ich mich selbst fingerte, doch dieser verflog so schnell wie er gekommen war.

Er würde mich an die Wand drücken. Langsam meinen Rücken entlang streichen. Vielleicht müsste ich sogar darum flehen, dass er ihn endlich in mich einführen solle?

Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er mit seiner Größe in mir rein und aus rutschen würde? Wie stark würde er mich penetrieren? Jeder Stoß würde mich treffen. Wie in meinen Träumen. Nur wesentlich realer.

So lange würde er in mich stoßen, bis ich kommen würde. Ich spürte jeden Muskel in mir sich anspannen. Ich verkrampfte mich kurz, mein Schließmuskel, in den ich noch meine Finger eingeführt hatte, zog sich zusammen.

Sofort danach kam ich stöhnend unter dem Wasserstrahl.

 

Völlig von mir selbst enttäuscht, lag ich in meinem Bett und starrte wieder die Wand an. Meine Augen waren knallrot, weil ich nach meinem Akt wieder weinen musste.

Wieso schmerzte es so? Wieso waren diese Gefühle für ihn so stark? Sowohl psychisch als auch physisch?

Meine Gedanken drehten sich nur um ihn. Die ganze Zeit …

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Mit noch restlichen Tränen in den Augen stand ich an der S-Bahn Haltestelle und wartete auf die Bahn. Gleich würde ich in seine Augen sehen. Was sollte ich ihm sagen? Entschuldigen würde ich mich, aber sonst? Ich verschwieg ihm die Wahrheit, habe deswegen ein schlechtes Gewissen. Er denkt, wir hätten uns ordentlich gezofft und macht sich Vorwürfe...

Besser konnte es ja nicht kommen …

Ich stieg mit gemischten Gefühlen in die volle Bahn ein und suchte nach ihm. Ich ging hin und her, soweit das in der Masse möglich war, doch nirgendwo sah ich ihn. Leichte Panik machte sich in mir breit. Ich habe ihn doch nicht verärgert? Oder ist er krank geworden? Er hatte sich nicht bei mir gemeldet, also -

Jemand zog an meinem Hosenbein.

»Wie oft willst du denn noch, an mir vorbeigehen?«, lächelte Julian mich sitzend an. Ich seufzte sofort erleichtert auf und bemühte mich ebenfalls um ein Lächeln.

»Ich habe dich wirklich nicht gesehen ...«, entschuldigte ich mich und stellte mich neben ihn.

»Komm, setz dich«, forderte er mich auf und klopfte auf seinen Schoß. Ich zögerte jedoch. Nach diesem Traum... Nach allem, was passiert ist...

»Passt schon, die 10 Minuten kann ich stehen. Wir sitzen sonst auch den ganzen Tag.«

»Wirklich, du kannst dich ruhig setzen ...«, bat er ein zweites Mal. Ich verneinte freundlich. Dann stand er abrupt auf.

»Setz dich.«

Das klang harsch, dachte ich. Ich blickte in seine Augen, etwas verwirrt, suchte ich zwischen seinen Pupillen einen Anhaltspunkt für seine Ungeduld. Und nach einem Grund, wieso ich mich unbedingt setzen sollte.

»Okay … danke«, murmelte ich und setzte mich auf den Platz. Jetzt stand er zwischen den Leuten und schwieg, während er sich an meinem Sitz festhielt.

Wir mieden jeglichen Augenkontakt. In den Fensterscheiben konnte ich ihn jedoch in Ruhe beobachten. Ein leidender Gesichtsausdruck formte seine sonst schönen Züge. Er sah streng zu Boden. Kaum ein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Eine furchtbare Stimmung lag auf uns.

Erst als Mike an der U-Bahnhaltestelle zu uns stieß, lockerte sich die drückende Stille. Julian unterhielt sich mit ihm über einen neuen Film. Ich hörte einfach nur schweigend zu.

Meine Gedanken schweiften irgendwann ab. Sahen den grauenvollen Julian sich an mir vergehen. Brutal und unerbittlich. Schmerzvolle Erinnerungen, die mir Gänsehaut bescherten. Als wäre der immer noch tief sitzende Schmerz von Samstagnacht nicht schon genug gewesen.

Als Micky grade noch so die U-Bahn erwischte und zu uns stieg, merkte die natürlich sofort, dass mit ihrem Freund was nicht stimmte.

»Alles klar, Schatz? Du bist heute so abwesend«, erkundigte sie sich bei ihm mit dem gereizten Unterton, den sie seit Wochen an den Tag legte. Julian starrte nur aus dem Fenster in die Dunkelheit der U-Bahn. Mike klinkte sich sofort aus dem Gespräch und spielte mit seinem Ipod.

»Hm, bin noch was müde«, antwortete Julian knapp und kaum hörbar. Mickys Miene wurde schlagartig finster. 'Abwesenheit' war ihr Lieblingsthema bei Julian.

»Was? Du bist doch sonst nie müde!«

»Entschuldigung, dass ich es mal bin!«, zischte er ihr wütend entgegen. Mit einem Mal zuckte sie zusammen. Ich glaube, ich habe Julian noch nie so aggressiv sprechen hören. Doch Micky ließ sich das nicht gefallen und gab Konterschlag.

»Ach, lass deine scheiß Laune nicht an mir aus!«

»Tust du doch auch immer, Fräulein.«

»Red nicht so mit mir!«

»Ich rede, wie ich will!« Seine Stimme wurde immer bebender.

»Aber nicht mit deiner Freundin!«

»Du bist ein Mensch, wie jeder andere in meiner Umgebung!«

»Wie bitte?!«, schrie Micky schließlich los. Die Leute um uns herum hoben bereits ihre Blicke und starrten uns an. Mike hob beide Augenbrauen und sah überrascht zu Julian.

»Nerv mich einfach nicht, klar?«, murmelte Julian immer noch genervt und drehte sich um, sodass wir nur noch seinen Rücken sehen konnten.

Micky dagegen hob nur abwehrend die Arme und drehte sich zu uns.

»Was ist denn mit dem los?«, fragte sie empört und sah mir dabei feste in die Augen, als hätte sie bereits eine Vermutung, wer wieder Schuld an allem war. Ich zuckte mit den Schultern.

»Constantin? Habt ihr euch gestritten, oder was?«, hakte sie so laut nach, dass es auch Julian mitbekam. »Denn, wenn, so war der ja noch nie drauf!«

»Nein, wir haben uns nicht gestritten«, gab ich zurück und deutete an, dass ich keine Lust hatte, darüber zu reden. Micky schüttelte nur erneut den Kopf und ließ es gut sein, indem sie sich ihren Mp3-Player in die Ohren steckte und jeglichen Augenkontakt bis zur Uni vermied.

Wieso Julian auf einmal so schlechte Laune hatte, konnte ich mir auch nicht wirklich erklären. Na ja, oder vielleicht doch ...

 

In der Mittagspause kam Susa auf mich zugestürmt. Verärgert. Mit einem richtigen fiesen Gesichtsausdruck.

»Ich muss mit dir reden.«

»O-Okay?«

Damit zog sie mich von der Mensa weg und schleifte mich auf den Campus. Mike sah uns nur verwundert hinterher, während die anderen unser Verschwinden nicht weiter bemerkten.

»Du hast Julian gesagt, dass ihr euch gestritten habt?«, fragte sie mit leicht empörten Unterton.

»J-Ja … Aber was sollte ich denn sonst sagen?«

»Irgendetwas anderes! Aber doch nicht so was! Der Arme macht sich die übelsten Vorwürfe, weil sein ganzer Rücken aufgeschürft ist!«

Oh.

Der Rücken.

Das ...

»Er glaubt doch nicht, dass wir gekämpft haben?«

»Oh, doch, genau das denkt er nämlich!«

Ich schluckte.

Super, Constantin. Das hast du ja mal wieder richtig gut hinbekommen.

»Ich habe ihm gesagt, dass ihr euch einfach nur einen Spaß erlaubt habt, deswegen auch der Knutschfleck«, fuhr sie fort, »doch er wollte mir nicht glauben.«

»Hat er deswegen auch so … schlechte Laune?«

»Schlechte Laune hat er? Keine Ahnung, ich hab ihn heute noch nicht gesehen. Er mich gestern angerufen, nachdem du weg warst und hat sich nach seinen Wunden erkundigt. Ob ich wüsste, woher die stammen. Und dann stand ich ziemlich in Erklärungsnot da, als er mir deine Lüge aufgetischt hat.«

Wieder schluckte ich.

»Es tut mir Leid, Susa ...«, murmelte ich kleinlaut und spielte nervös an meiner Tasche.

»Bei mir brauchst du dich nicht entschuldigen. Mach das mal lieber mit Julian aus. Der Arme macht sich Vorwürfe ohne Ende.«

Ich seufzte und nickte.

Verdammt, das schient wirklich von Nöten zu sein; eine Erklärung. Eine richtige Erklärung. Ihm sagen, was los war.

»Und keine Lügen.«

»Keine Lügen«, stimmte ich leise zu und behielt meinen Blick reumütig gen Boden.

 

Als wir zur Mensa zurückgingen, saß Julian ganz alleine an einem Tisch; weit weg von Micky und Mike. Verwundert, aber doch ohne weiter nachzudenken, setzte ich mich zu ihm. Erst dann bemerkte ich, dass Susa mir nicht folgte, sondern zu einem Tisch schräg gegenüber ging, an dem Micky und Mike saßen.

»Was ist denn hier los?«, fragte ich zurückhaltend und sah Julian in die Augen. Er hob eine Augenbraue und gab mir eine schroffe Antwort.

»Wundert mich, dass du hierher gekommen bist.«

»... Ich sitze immer bei dir... was ist denn passiert?«, fragte ich erneut.

Er zuckte mit den Schultern und wendete seinen Blick ab.

»Die haben keine Lust auf mich. So wie alle hier.«

»Alle? Ich habe Lust auf dich«, versuchte ich aufmunternd zu lächeln.

»Achja? Meidest seit neuestem ja auch meine Nähe.«

»... Das war doch nur heute morgen«, setzte ich zu meiner Verteidigung ins Gespräch.

Tut mir Leid, Julian. Ich muss dich vergessen. Und bei dir auf dem Schoß sitzen macht es nicht einfacher.

Wieder zuckte er mit den Schultern und stocherte in seinem Essen rum. »Jedenfalls sind die jetzt alle verärgert.«

»Oh je...«

Er nickte und tat so, als wäre es ihm egal. Ein bisschen trotzig sah er aus.

»Darf ich denn... fragen, was los ist? Warum du so gereizt bist? Ist es wegen mir?« Eigentlich wollte ich gar nicht fragen. Am liebsten hätte ich den kompletten Abend in den Papierkorb geschoben und die Partition neu aufgelegt. Einfach Neustart drücken.

Aber so was geht nur bei Computern. Im echten Leben braucht es einen neuen Weg. Vergessen war die Devise.

Er schien zu überlegen. Zumindest zögerte er lange, bis er das Wort ergriff. Wieder schroff und empört zugleich.

»Das fragst du noch so scheinheilig? Immerhin hast du mir den Rücken vor Wut zerkratzt! Ich weiß gar nicht, was ich gemacht haben muss, dass du mich auf einmal so hasst? Das wurmt mich. Und niemand will mir sagen, was jetzt eigentlich los war. Du ja mit eingeschlossen.«

Ich fing an zu zittern. Holte tief Luft und sah auf mein Tablett.

»Ich war nicht sauer auf dich, ich wollte dich ärgern und hab etwas zu tief gegriffen … Tut mir Leid.«

Constantin, das war eine Lüge.

»War das vor oder nach dem Streit?«

»Ich denke.. äh, davor. Weswegen wir uns gestritten haben, weiß ich wirklich nicht mehr. Aber es war nicht wild.«

Eine erneute Lüge.

»Erzähl mir nicht, dass es nicht wild war. Du meidest mich seitdem wie die Pest. Wenn ich betrunken bin, greife ich gerne mal über die Strenge, das weiß ich. Aber, dass das so ausgeartet sein muss, ist mir neu.«

Ich zögerte. Suchte nach einer passenden Aussage. Die Wahrheit wäre passend gewesen. Aber ... es musste natürlich eine weitere Lüge her.

»Du … du hast mich einfach ein bisschen aufgezogen.«

»Worüber?«

Sein Blick bohrte verlangend.

»Wieso willst du das so genau wissen? Ist doch wieder alles in Ordnung und wir belassen es dabei?« Ich wurde immer nervöser. Er sollte aufhören zu fragen, mir gingen die Lügen aus.

»Pf... dann sag mir wenigstens woher ich diesen riesigen Knutschfleck habe. Ich konnte ihn grade so vor Micky verstecken.«

Ich biss mir auf die Unterlippe.

»... Von mir.«

Er schien nicht überrascht. Stattdessen nickte er einfach nur und setzte ohne weitere Fragen das Essen fort. Kein Wundern. Kein Hinterfragen. Da war es wieder. Dieses stille Hinnehmen. Dieses »es ist mir egal, dass du das gemacht hast, weil du darfst alles«.

»Stört dich das nicht?«, fragte ich ernüchtert. Er sah mir wieder in die Augen.

»Wieso? ... Sollte es?«

»Typen machen sich normalerweise keine Knutschflecken, oder?« Ich lächelte vielsagend.

Doch er senkte seinen Blick. Überlegte kurz. Nickte dann. »Ja, da hast du Recht.«

Trauer spiegelte sich in seinen Augen wieder. Sein Blick, ich konnte ihn nicht weiter deuten. Was dachte er? War das jetzt alles? Er gab mir Recht und gut ist?  Auf der einen Seite so locker und auf der anderen ging die halbe Welt unter? Nahm ihn das wirklich so mit? Oder wusste er insgeheim die Wahrheit und wollte nur, dass ich darüber mit ihm rede? Oder war er traurig über die Tatsache, dass es nicht mehr so goldig zwischen uns lief?

Ich griff nach seiner Hand, die auf dem Tisch ruhte. Er wechselte den Blick dorthin.

»Es tut mir Leid ...«, flüsterte ich grade so noch hörbar. Ich glaube, ich war schon wieder den Tränen nahe. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Zu viele Lügen umgaben mich.

»Constantin ...« Er drückte seinen Daumen gegen meinen. »Was ist denn nur los mit uns?«

Da war Zittern in seiner Stimme.

Ahnte er es endlich?

Was ich damit zeigen wollte?

Hatte er selber Angst davor, was passieren würde, wenn es einmal so weit käme?

 

Auch der Dienstag verlief nicht schöner. Wir redeten zwar wieder mehr in der Bahn, wenn wir alleine waren, aber über so unglaublich oberflächige Dinge, dass wir uns auch genauso gut erst ein paar Tage kennen würde. Da waren die Gespräche in unserer Kennenlernzeit intensiver und tiefgründiger gewesen.

In der Mittagspause fragte mich Julian erneut, was mit uns los sei. Um Tränen zu kaschieren, umarmte ich ihn einfach. Er drückte mich an sich, fragte wiederholt. Ich antwortete einfach nicht, tat so, als hätte ich es nicht gehört.

Alles spitzte sich zu.

Susa mahnte mich mit jedem Blick, es ihm endlich zu sagen. Mike verdrehte nur ständig die Augen, wenn er Julian und mich trauernd nebeneinander sitzen sah. Micky war dauergenervt von ihrem Freund, der sie wohl sehr vernachlässigte und wieder einmal mehr Energie in die Beziehung zu mir als zu ihr investierte.

 

Jedes Mal musste ich mich in seiner Nähe dazu zwingen nicht in alte Muster zu fallen. Nicht wieder an ihm zu kleben, seine Hand zu nehmen oder ihn auf die Wange zu küssen.

Manchmal glaubte ich zu verstehen, wieso Julian so traurig war. Es war die fehlende Liebe.

Dieser Entzug, auf den ich ihn und mich setzte, tat niemandem gut. Wahrscheinlich verstand er einfach nicht, wieso ich mich von ihm distanzierte und machte sich Vorwürfe, es läge an ihm.

Ob er sich die alte Zeit herwünschte?

 

Diese Gedanken fraßen mich auf.

Ich konnte einfach nicht mehr. Langsam brauchte ich ein Ventil, um Luft auszulassen. Ich brauchte Raum für meine Gedanken. Zuflucht. Meine letzte Anlaufstelle, nämlich Julian, hatte ich mir auch verbaut.

Wonach mir war …

 

Lucy kam am Mittwoch auf mich zu.

»Du leidest, wie ich sehe«, begann sie unser Gespräch nach den Vorlesungen mitten auf dem Campus. Ich steckte mir eine Zigarette an.

»Danke, und wie geht es dir?«, antwortete ich sarkastisch und drehte mich ein Stück von ihr weg. Da kamen schon wieder Tränen. Seit wann war ich so nah am Wasser gebaut?

»Das ist aber gewiss keine Lösung.«

Ich wusste erst nicht, was sie meinte, doch ihrem Unterton zufolge, störte es sie gewaltig. Ihr Blick durchbohrte mein Gesicht. Als ich mich langsam wieder zu ihr umdrehte, entnahm ich ihren Augen einen Hauch von Wut.

Schließlich deutete sie mit einem Kinnnicken auf meine Fußfessel. Zwischen Hose und Schuhe blitzte ein weißer Verband. Ich sah verlegen weg.

»Es geht mir danach besser.«

»Weiß Susanne davon?«

»Nein.«

»Ich schätze Julian auch nicht.«

»Ja.«

»Gibt es davon noch mehr?«

»Wieso fragst du, du siehst doch sonst alles in meinen Augen«, gab ich ruppig zurück und rauchte passiv-aggressiv meine Zigarette.

»Du vermeidest aber jeglichen Augenkontakt mit mir.«

Ich schnaubte aus. »Was willst du?«, fragte ich schroff. Lucy blieb unbeeindruckt und bewegte sich keinen Millimeter.

»Entweder du sprichst dich mit Julian aus oder du gehst. Aber ihn drei bis vier Mal am Tag weinend zu umarmen ist keine Lösung für immer. Julian leidet mittlerweile genauso sehr wie du.«

Ich hielt die Zigarette zittrig vor meine Lippen. Diese Sucht hatte ich Julian zu verdanken. Und sie gab mir nicht den Halt, den ich hoffte, zu erreichen.

»Gibt's denn überhaupt Hoffnung?«, quälte ich durch meine Lippen.

Lucy blieb regungslos. Als nach mehreren Sekunden keine Antwort kam, winkte ich zynisch lachend ab.

»Sag doch einfach nein.« Damit ging ich.

 

Den Rest der Woche versuchte ich Julian aus dem Weg zu gehen. Ich stieg extra in einen anderen Wagon, aß alleine auf dem Campus und schwieg während der Vorlesung. Er versuchte immer wieder mit mir zu sprechen. Jedes Mal, wenn ich mir keine Träne mehr zurückhalten konnte, ergriff ich die Flucht. Julian hinterließ ich mehr oder weniger genauso traurig.

 

Zu Hause war die Schere mein Freund. Es war so unglaublich dumm, so etwas zu tun. Und genauso unglaublich dumm fühlte ich mich auch, während ich es tat. Ich schnitt, wenn ich weinte, wenn ich an ihn dachte, wenn ich nichts spürte. Wenn ich es mir besorgte und an ihn dachte.

Ich befriedigte mich oftmals drei Mal in der Nacht. Jedes Mal träumte ich von Julian, wie er mich misshandelte. Wie er mich erniedrigte und schlug. Wie er mir Schmerzen zufügte und sich alles mit Lust zusammenfügte.

Jedes Mal, wenn ich kam, ein Schnitt. Es fühlte sich richtig an. Ich Lügner. Ich war selbst Schuld. Ich hasste mich für jeden Gedanken, den ich an ihn verschwendete. Ich wollte ihn doch vergessen.

Eine einzige Enttäuschung, das war ich.

Wieso hatte es nur diesen Lauf genommen?

Wann würden diese Träume enden? Wann würde das alles enden?

Wann könnte ich aufhören, ihn zu lieben?

Wieso konnte es ihm nicht egal sein?

Mit seinem ständig verzweifelten Gesicht, machte er es mir nicht einfacher.

 

Wieder verging eine Woche. Das Wochenende blieb ich zu Hause. Susa rief ein Mal an. Besorgt fragte sie, ob es mir gut ginge. Natürlich war nichts in Ordnung, aber soweit war es okay. Sie hatte von Lucy gehört, dass ich mich selbst verletzen würde. Da wollte sie Bestätigung. Die bekam sie auch. Entsetzt bat sie mich, damit aufzuhören. Sagte ebenfalls, es sei keine Lösung. Und ich sagte, es gab auch nie eine.

 

Die Watte kam in mein Leben zurück und umhüllte mich. Ich rauchte viel, ich schnitt viel. Das einzige, wovon ich Abstand hielt, war der Alkohol. Der erinnerte mich viel zu sehr an Julian. Als ich es einmal probierte hatte betrunken zu sein, weinte ich die ganze Nacht durch.

Seitdem kein Alkohol mehr. Nur Kippen.

 

In der Woche darauf lief es ähnlich zur Woche davor.

Julian kam einmal auf mich zu, zog mich an der Hand zum Campus und stellte mich zur Rede. Ich schwieg einfach.

»Was ist los, Constantin? Was habe ich dir angetan, dass du mich so meidest? Auf der einen Seite weinst du in meinen Armen unerbittlich und auf der anderen Seite behandelst du mich wie irgendjemand von der Straße! Wieso verschließt du dich so?«, sagte er sichtlich verletzt. Ich sah ihm tief in die Augen. Verzweiflung, Trauer und Unverständnis.

Ich ging mir mit dem Handgelenk über die Augen. Sagte aber nichts.

Als es anfing zu regnen, gingen wir in die Eingangshalle, wo es sich wesentlich schlechter unterhalten ließ. Zu meinem Vorteil. Ich umarmte ihn noch einmal feste, entschuldigte mich und versprach ihm, dass ich bald damit aufhören würde. Dann ging ich. Beziehungsweise ließ er mich schweren Herzens gehen.

 

Ich merkte, wie sehr ihm meine Verfassung auf den Magen schlug. Dass er sich so um mich bemühte war doch ein Zeichen, oder?

Aber ich traute mich nicht.

Was, wenn er mich abweisen würde? Jetzt nach all dem Theater hatte er sicherlich keine Lust mehr.

Ich befand mich in der Spirale der Verdammnis und ich sah keinen Weg hinaus.

 

 

Am Donnerstag kam Susa auf mich zu. Mit ernster Miene drückte sie gegen meine Augenringe im Gesicht.

»Du siehst furchtbar aus«, teilte sie mir monoton mit.

»Danke, ich finde dein Kleid heute sehr hübsch«, gab ich mit einem müden Lächeln zurück.

»Ich hab's ihm gesagt. Alles.«

 

Mein Lächeln versiegte. Die Gesichtszüge entgleisten schlagartig. Mir hing ein Kloß im Hals. Meine Temperatur stieg, mein Atem wurde schneller, genauso mein Puls. Mit einem Mal zerbrach alles. Die sicht wurde schwammig.

»Du hast was?«, quietschte ich verzweifelt aus.

Sie nickte ernst. »Es war nötig. Du gehst damit unter und ziehst ihn gleich mit. Jetzt weiß er's.«

»Moment, du hast ihm gesagt, was ich für ihn empfinde?!«, brachte ich nun weitaus lauter heraus. Schockiert, blamiert und gefühlt dem Tode nahe.

»Nein, nein. Das habe ich ihm nicht gesagt. Aber mit ein bisschen Menschenverstand wird er da wohl selbst draufkommen. Hab ihm gesagt, dass ihr euch geküsst habt, dass ihr im Bad wart und wahrscheinlich Petting hattet. Deswegen die Kratzer und der Knutschfleck am Hals, den Micky übrigens gesehen hat und deswegen wahnsinnig sauer ist.«

Ich wendete meinen Blick ab. Schluckte mehrmals, seufzte und schüttelte den Kopf.

Susa fuhr einfach fort:

»Ich hab ihm auch gesagt, dass du deswegen so schlecht drauf bist und ihn versuchst zu meiden. Nicht, weil es dir peinlich ist, sondern weil du vor seiner Reaktion Angst hast.«

Ich hielt mir langsam die Ohren zu und schüttelte weiter den Kopf.

»Er war … Etwas erschüttert, hat es jedoch besser hingenommen, als erwartet, wirklich. Du kannst mir glauben, dass er nicht wütend auf dich ist. Diese Entscheidung es ihm zu sagen, haben Lucy, Mike und ich gemacht. Wir konnten nicht weiter tatenlos zusehen, wie ihr beiden euch gegenseitig zerstört. Zudem verletzt du dich selbst, das muss ein Ende haben. Ich denke er wird -«

»Halt's Maul!«, rief ich verzweifelt aus dem Affekt. »Halt einfach deinen Mund!«, rief ich erneut, die Hände zittrig um mein Gesicht geschlungen. »Wie konntest du nur? Wie?«

Das war also ein totaler Nervenzusammenbruch. Wenn die Ohren klingeln, die Sicht schwarz wird, das Herz gegen die Brust hämmert und man sich selber als Echo wahrnimmt.

Ich packte unkoordiniert meine Sachen in die Tasche und verschwand so schnell ich konnte. Sie rief mir noch irgendetwas hinterher, was genau, konnte ich nicht verstehen.

Es regnete.

Ich weinte.

Wie passend.

Danke, Hollywood, das muss natürlich dramatisch werden. Denn ich lief wie ein Verrückter durch den Regen zur U-Bahn. Tränen verschlechterten mir die Sicht, manchmal stolperte ich etwas. Ich glaube, einmal bin ich sogar gegen einen Baum gerannt.

 

Ich schlenderte den Weg vom Bahnhof wie ein Halbtoter nach Hause. Auch in der S-Bahn konnte ich mich nur minimal beruhigen. Meine Augen waren immer noch rötlich gereizt und voller Wasser, sodass ich den Weg nur erahnen konnte. Das Herz beruhigte sich genauso wenig wie mein Gemüt. Jetzt wäre alles zu Ende. Mein bester Freund wusste nun alles. Und ich war selbst daran Schuld, dass wir daran untergingen.

 

Als ich nach vorne sah, ums Haus ging und die Haustür halb blind ansteuerte, saß er davor.

Durchnässt.

Traurig.

Verletzt.

Und nicht minder überrascht als ich, als sich unsere Blicke trafen.

Wir sahen uns eine Weile an. Schwiegen und warteten darauf, dass einer von uns das erste Wort fasst.

Dann stand er auf.

»Wieso?«, fragte er mit zittriger Stimme.

Ich sah beschämt zu Boden.

»Wieso hast du mir nichts gesagt?«, wiederholte er seine Frage ausführlicher.

Ich presste meine Lippen aufeinander und drückte die Augen zusammen. Bitte, geh einfach.

»Constantin, wieso?«, fragte er nun wesentlich lauter. Da entwich mir ein lautes Schluchzen.

Er kam sofort auf mich zu, streckte eine Hand nach  mir aus.

Instinktiv wich ich einen Schritt nach hinten und hielt schützend die Arme vor meine Brust.

»Wieso, fragst du?«, schrie ich ihn an. »Weil du mich so verdammt unsicher machst! Du bist wie ein Buch mit sieben Siegeln, das macht mir Angst!«

Er sah mich überrascht über mein plötzlich aggressives Verhalten an; verstand wohl nicht ganz, worauf ich hinaus wollte. Trotzdem streckte er erneut seine Hand aus, um mich zu umarmen. Ich ließ meine Tasche demonstrativ auf den Boden fallen. Sofort wurde auch der Rest des Leders in Wasser getränkt.

»Fass mich nicht an...«, wimmerte ich wehleidig. Er zuckte zusammen.

»Ich verstehe dich nicht, Constantin! Wieso bist du jetzt so abweisend? Wir beide haben rumgemacht, okay, aber wir waren doch betrunken!«

»Ist das deine Erklärung? Betrunken sein? Vögelst du jeden, der betrunken ist?« Meine Stimme bebte vor Angst. Gleich wäre alles vorbei.

»Was...? Natürlich nicht - warum sagst du so etwas? ... Ich will nur damit sagen, dass das doch nichts schlimmes ist; wir beide waren einfach nicht ganz zurechnungsfähig. Wieso machst du da so eine große Sache draus? Was ist dein Problem?«

»Du bist das Problem!« Verzweifelt warf ich meine Hände über den Kopf.

»Ich? Dann... erklär mir doch, was ich falsch gemacht habe!«

Julians Knie zitterten.

Das war alles, was ich von ihm sah.

Ich konnte meinen Blick nicht nach oben wenden. Sein Blick würde mich in tausend kleine Stücke brechen lassen.

Mit viel Überwindung fasste ich die Gedanken in meinem Kopf zusammen. Da war Wut, da war Trauer. So viele Gefühle auf einmal und eigentlich wollte ich ihm nur um den Hals fallen, ihm "Ich liebe dich" ins Ohr flüstern und mich von ihm ins  Bett tragen lassen, wo wir für immer drin liegen bleiben würden.

Doch alles, was aus mir herauskam, waren Vorwürfe.

»Raffst du es denn wirklich nicht? Wieso, glaubst du, hing ich immer so viel bei dir? Wieso, denkst du, bin ich dir auf Schritt und Tritt gefolgt; wie so ein räudiger Köter?«

Wieso war ich nur so aggressiv? Ich verstand es selbst nicht. Wieso konnte ich ihn nicht einfach umarmen und ihm sagen, dass ich ihn liebe? Dann würde er vielleicht lachen und sagen, dass er sich geschmeichelt fühlt. Oder so was. Aber da war so viel Aufgestautes. So viel Kummer und Leid von all dieser Zeit. All das wollte raus. Jetzt. Und ich warf es ihm vor, als wäre er Schuld an allem.

Dabei war ich der Schuldige.

Als keine Antwort kam, sah ich doch hoch.

Sein Blick war unergründlich. Das Gesicht vom Regen durchnässt und kreidebleich. Da war kein Glanz mehr in seinen Augen.

Diese Knopfaugen, die so Blau wie der Himmel waren, wirkten nur noch grau.

Ich habe ihnen den Glanz genommen.

Ich war schuld an seinem schwindenden Lächeln.

Ich war der Grund, wieso er nicht mehr lachen konnte.

Seine Mundwinkel fielen immer weiter nach unten. Wurden seine Augen etwa glasig?

»Hast du denn nie ein Problem gesehen? ... So wie wir uns verhalten haben? Kam dir das nicht mal ... komisch vor?«, fragte ich wesentlich ruhiger und wischte mir immer wieder Tränen und Regen aus dem Gesicht.

Julian schien zu überlegen. Langsam fiel sein Blick zu Boden, er fuhr sich kurz mit der Zunge über die Lippen und zog leicht die Schultern an. Er öffnete den Mund, brachte erst kein Wort raus, sah mich wieder an und murmelte weinerlich vor sich hin.

»Wieso, hätte ich? War doch in Ordnung mit uns, wie es war, oder nicht?«

»Nein, war es nicht«, wurde ich schlagartig wieder lauter. Hat er denn wirklich nie etwas gesehen? Jeder hat es gesehen, nur er nicht? Für ihn war mein Verhalten normal?

Bitte, sag doch einfach, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst!

Während ich nach Worten suchte, ihm weiterhin durch die Blume zu verstehen zu geben, dass ich mich in ihn verliebt hatte, wurde er ungeduldig.

»Constantin, rede doch mal Klartext mit mir! Was ist los? Wir hängen viel miteinander ab, haben Spaß und sind glücklich. Das war doch alles perfekt, oder nicht? Wir haben einen kleinen Fehler gemacht, aber das kann's doch nicht sein? Wo ist dein Pro -«

 

Mein Problem?

Du.

Und bitte schön, dann werde ich eben klarer in meiner Aussage.

 

Ich machte einen Ausfallschritt auf ihn zu, noch bevor er seinen Satz beenden konnte, griff nach seinem Gesicht und warf mich an seinen Körper. Mit all meiner Liebe drückte ich ihm meine Lippen auf seine.

Regentropfen fielen zwischen unsere Lippe und tropften von Nase und Kinn.

Julian blieb wie angewurzelt stehen, riss sehr wahrscheinlich die Augen auf. Sicher war ich mir nicht, denn ich kniff meine so weit es ging zu.

Trotz des Regens roch ich kurz seinen typischen Duft.

Zog ihn ein, nahm ihn auf.

Ich spürte seine Hand sich bewegen. Doch sobald er mich berühren konnte, löste ich mich von ihm.

Langsam öffnete ich meine Augen und suchte seine. Überrumpelt von meiner Aktion, fixierte er mich mit offen stehendem Mund und brachte kein Wort raus. Für einen kleinen Moment lehnte ich mich erneut gegen ihn und berührte kurz seine Lippen.

»Das ist der Klartext«, flüsterte ich gegen seine nasse Haut und strich ihm ein letztes Mal über die Wange.

Mit traurigem Blick ließ ich letztendlich von ihm ab und ging einen Schritt zurück. Julian blieb weiterhin wie eine Salzsäule erstarrt, sah dann meiner Hand hinterher, die ihn an der Wange berührt hatte. Verzweifelt suchte er nach einer passenden Antwort.

»Constantin, ich weiß nicht, was …«

Doch ich hob die Hand, die ihn sofort mitten im Satz stoppen ließ.

»Lass einfach gut sein. Ich kann mir denken, was du mir sagen möchtest. Und es ist in Ordnung.«

Ich blickte traurig zu Boden, um nicht weiter in seine entsetzten Augen zu blicken.

Er schwieg.

Es kam keine gegenteilige Antwort.

Er bestritt nichts.

Er nahm mich nicht in den Arm. So wie er es sonst tun würde. Er sprach mir nicht zu, er versuchte nicht mich aufzumuntern.

Es war vorbei, richtig?

 

Ich musste auch nicht lange auf eine Bestätigung meiner Gedanken warten.

 

 

»Es tut mir Leid ...«, flüsterte er schließlich.

 

 

Meine Lippen zitterten. Erneut schossen Tränen in meine Augen.

Bis vor einer Sekunde hatte ich unterbewusst noch die Hoffnung gehegt, er würde meine Gefühle erwidern können.

Auch wenn ich es abstritt, diese Hoffnung nährte mich all die Wochen.

Und mit nur einem Satz starb sie mir weg.

Mit einem mal wurde es taub um mich herum.

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte ihn anzulächeln. »Mir tut es Leid, dass ich unsere Freundschaft zerstört haben.«

 

Mit diesen Worten nahm ich meine durchnässte Tasche und ging schnellen Schrittes zu unserer Haustür. Er blieb starr stehen, mit dem Rücken zu mir. Verlassen, irgendwo zwischen den Welten.

Als ich im Haus war, schloss ich schnell die Tür und brach noch im Flur zusammen.

So viele Tränen, ich weinte unerbittlich. So laut und so intensiv, dass ich mich selbst verschluckte und manchmal keine Luft bekam. Auf allen Vieren krabbelte ich den Boden in mein Zimmer entlang. Weinte und Weinte. So wie noch nie. So schmerzhaft wie noch nie.

Es war aus.

Ich hatte es ihm gestanden.

Er entschuldigte sich dafür, dass er meine Gefühle nicht wiedergeben konnte.

Wie immer höflich, bis zum Ende.

Es war einfach zu Ende.

Vielleicht war es gut so.

 

Vergessen. Das musste ich jetzt tun.

 

Kurz vor zu Bett gehen schnitt ich noch einmal in meinen Arm. Das Blut quoll raus, einzelne Tropfen verliefen. Vorsichtig, aber doch zugleich fasziniert, strich ich über die frische Wunde und verschmierte das Blut auf die daneben liegenden, bereits Verkrusteten.

Ich legte die Schere weg.

Starrte sie wie meinen Erzfeind an.

Das muss jetzt aufhören, sagte ich mir. Das muss aufhören.

Nachdem ich meinen Arm verbunden hatte, erhaschte ich einen Blick aus dem Küchenfenster. Julian stand nicht mehr vor unserer Tür, natürlich nicht. Er hatte sich auch seitdem nicht mehr gemeldet, natürlich nicht. Und so natürlich wie alles war, schwänzte ich den Freitag und ließ mich nicht in der Uni blicken. Vorsichtig machte ich meiner Mutter klar, dass ich wahnsinnige Bauchschmerzen hätte. So richtig krampfartig, dass ich lieber zu Hause lernen würde. Es war wie in der Schule, dass ich mich verteidigen musste, wieso ich mal wieder keine Lust auf Leute hatte.

Die Bauchschmerzen waren nicht mal groß gelogen. Julian löste in der Tat Bauchschmerzen in mir aus.

 

Als ich den Tag im Bett lag, dachte ich an unser erstes Treffen. Wie genervt ich von diesem Typen am Getränkeautomat war. Dann sprach er mich an. Seine ersten Worte: »Julian. Mickys Freund. Du kennst sie aus der U-Bahn?«.

So unspektakulär.

Doch irgendwie passte jedes Wort zu ihm. Sein Name, ganz kurz und bündig, nicht weiter ausgeschmückt. Gefolgt von seiner Freundin, Micky, ein Gesprächsanfang. Locker lehnte er an der Wand. Reichte mir ebenso locker die Hand. Als wäre nichts dabei. Als wäre es eine einfache Sache gewesen mich vom ersten Moment an zu begeistern. Er hat mich mitgezogen in seine Welt voller Alkohol und Drogen. So ein schlechter Umgang er auch war, es war faszinierend, wie gut er trotzdem mit allem klar kam. Er war weder dumm noch sonderlich intelligent. So oft er auch trank, die Uni litt nicht mehr als notwendig darunter. Zeitlich teilte er alles wie ein Organisationstalent auf. Zwei Mal die Woche Treffen mit Micky. Zwei Mal die Woche Treffen mit mir. Einen Tag für sich. Der andere Tag mit allen Freunden. Und ein Tag war flexibel.

Am liebsten zockte er vorm PC oder Fernseher. Ballerspiele. Er nahm immer den blauen Soldat, weil blau seine Lieblingsfarbe war. Kühl und doch vertraut wie das Meer.

An den Strand wollte er unbedingt mal. Da war er mit Micky im Urlaub. Ohne mich. Am liebsten würde ich auch mal mit ihm in den Urlaub. Doch meine Treffen mit ihm waren jetzt schon gestrichen. Da würde nie ein zustande Urlaub kommen. Nie würde ich jemals wieder auf seinem Bett sitzen und ihn beim Playstationspielen anschauen. Nie wieder dürfte ich in seinen Armen einschlafen. Nie wieder ihn derartig berühren, wie ich es für eine Gewohnheit hielt.

Ob er das genauso leidvoll betrachtete?

Ob er mich vermissen wird?

Ob er mich jemals wieder so ansprechen kann, wie er es einst tat? Locker, ohne jegliche Hintergedanken?

 

»Constantin, ich muss mit dir reden«, flüsterte er mir in mein Ohr. Vorsichtig drehte ich mich zu ihm um. Wieso lag er neben mir?

»Ich muss mit dir reden«, flüsterte er erneut.

»Ich höre«, säuselte ich zurück und kuschelte mich in seine Arme. So warm und angenehm.

»Liebst du mich?«, fragte er ruhig, während sein Atem auf meinen Haaren lag. Ich nickte, gefolgt von einem gehauchten »Ja«.

»Wieso ich?«

»Weil du der tollste Mensch auf Erden bist ...«

»Findest du?«

Ich nickte erneut.

»Wenn ich dich ficke, schreist du aber mehr, als dass du mich liebenswürdig in deine Arme schließt.«

Ich stockte. Erhob mich. Etwas hinderte mich daran, Ein Halsband, dessen Leine in Julians Hand lag.

»Aber ich empfinde wirklich Liebe! Du bist alles in meinem Leben!«, versuchte ich seine Stimmung zu heben. Doch seine Mundwinkel blieben unten. Ich hatte ihn verärgert?

»Beweis es«, forderte er.

Ich musste schlucken. Wieso war er so gemein zu mir?

Oh ja.

Richtig.

Ich war ja unartig. Hatte ihn angelogen.

Und jetzt das mit der Liebe.

Ich rutschte also nicht weiter fragend an ihm runter, platzierte mich zwischen seine Beine und griff nach seinem Geschlecht. Vorsichtig küsste und leckte ich es, bis es an Größe gewann. Immer wieder saugte ich es mit meinen Lippen an, umschlang es mit meiner Zunge. Julians Hand lag in meinem Nacken und gab den Rhythmus vor, mit dem ich ihn beglücken sollte.

Irgendwann tat mir der Mund weh. Zögernd sah ich auf und machte deutlich, dass ich nicht mehr konnte und eine Pause bräuchte. Er grinste sofort hämisch auf und zog mich wieder zu sich hoch.

»Dann mal rauf mit dir, ich warte immer noch auf dich.«

Ohne eine Antwort von mir abzuwarten - als hätte er auch keine erwartet - steckte er mir zwei seiner Finger in den Mund. Gierig befeuchtete ich sie mit meinem Speichel, sodass er sie mit Leichtigkeit in mich einführen konnte. Es schmerzte für einen kurzen Moment, doch ich hatte mich langsam an die Praktiken gewöhnt, sodass ich mich schnell entspannen konnte. Ich stöhnte und keuchte zum Stoßen seiner Finger. Seine andere Hand umfuhr meine Hüfte, während seine wunderbaren Lippen mein Schlüsselbein umspielten. Es dauerte auch nicht lange, da erlöste er mich von seinen Fingern und führte seine Härte an mich heran.

Bestimmend packte er meine Taille und drückte mich runter, sodass sein Glied ohne weitere Schwierigkeiten in mich hinein glitt.

Ein wundervolles Gefühl machte sich in mir breit.

Ich ritt ihn so gut ich konnte; so hart ich konnte. Er stöhnte zufrieden auf und lobte mich über meinen Tatendrang.

Ich sah noch sein Lächeln; dieses glückliche Lachen, welches er mir immer schenkte.

 

Doch auf einmal hustete Julian. Ich hörte auf, mich zu bewegen und tastete seine Brust ab.

Blut. Blut. Überall rot.

Blutüberströmt lag er vor mir. Seine Augen weit aufgerissen.

Ich erschrak, sprang von ihm, rief seinen Namen, fiel vom Bett. Fiel immer tiefer. Alles wurde dunkel.

Ein seltsamer Laut durchdrang meine Ohren.

Ich schrie.

 

Hatte ich ihn umgebracht?

 

Als ich die Augen öffnete, regnete es kräftig gegen meine Fenster. Draußen donnerte es. Kurz danach auch ein Blitz. Wieder Donner.

Es war dunkel, wohl mitten in der Nacht. Mein Herz klopfte wie verrückt. Kalter Schweiß lag mir auf der Stirn. Vorsichtig wischte ich ihn weg.

»Was war das?«, murmelte ich vor mich hin und starrte entsetzt an die Decke, während ich dem Gewitter lauschte. Ein furchtbarer Alptraum. Der erste seit knapp einem Jahr. Der erste mit Julian.

Sonst waren es immer nur Sexträume. Oder zumindest schöne Träume, die zwar nicht immer ein gutes Gefühl hinterließen, aber an sich angenehm waren.

»Wie furchtbar ...«, flüsterte ich erneut in die Stille meines Zimmers.

Der Donner antwortete mir mit einem Grollen. Wieder erhellte ein Blitz kurzzeitig den Raum.

 

Irgendwann schlief ich wieder ein.

Unruhig. Nicht erholsam.

 

Den Freitag verbrachte ich im Bett.

Den Samstag ebenfalls.

Über Sonntag muss ich nicht reden.

 

Jeden Tag fühlte ich mich elendiger. Immer mehr Gewissensbisse traten in mir hervor, störten mein Bewusstsein. Ich hatte es echt vermasselt mit meiner Angst. Mit diesem scheiß introvertierten Getue. Hätte ich doch einfach mal schneller das Maul aufgemacht, wäre Julian vielleicht noch bei mir. Weder gebrochen noch bis aufs Lebensende gegenüber Männerfreundschaften skeptisch.

Das einzige, worauf ich stolz sein konnte, war die Abstinenz der Schere. Ich hatte mich am Wochenende nicht geschnitten.

Die Wunden heilten langsam ab, doch die Letzte blieb schmerzhaft.

Am Sonntagabend ging sie in der Dusche auf. Das Blut tropfte, vermischt mit dem Wasser, auf den Boden und floss in den Ausguss.

Ich konnte meinen Blick nicht abwenden.

Es war so wunderschön.

Immer wieder tropfte es.

Tropf.

Tropf.

Mein Kopf war so leer.

Tropf.

Tropf.

Ich vermisste seine Nähe.

Tropf.

Hätte ich nicht ewig so mit ihm weitermachen können? Einfach so tun, als wäre es eine Freundschaft gewesen?

Dummer Alkohol hat alles zerstört. Hätten wir doch nie rumgemacht.

Tropf …

 

Ich litt einst unter dem Alltag. Er gab mir nicht viel Antrieb und ich verlor mich in Routine.

Mittlerweile litt ich unter Allem. Alltag, Freunde, Familie und besonders mir selbst.

Am Montagmorgen griff ich ein bisschen Make-Up von meiner Mutter ab, um die Augenränder zu kaschieren; ein bisschen Puder gegen die Blässe. Doch ich hatte das Gefühl, dass ich es nur noch schlimmer machte.

Ich nahm extra eine Bahn früher, um niemanden anzutreffen, doch Andreas hielt mich sofort an der Tür ab, als er mich auf dem Campus erspähte.

»Ich muss mit dir über Crombach reden.«

»Ich aber nicht mit dir ...«, murmelte ich niedergeschlagen und ruppig. Doch Andreas ließ sich nicht abwimmeln und versperrte mir den Weg in die Uni; sah mich finster an. Mir wurde schnell bewusst, dass ich wenig mitzureden hatte, ob wir nun redeten oder nicht.

Wir gingen ein paar Schritte vom Unigelände in den nahe gelegenen Park und blieben schließlich unter einem Baum stehen, der noch vereinzelt vom Regen in der Nacht tropfte.

Tropf.

Tropf.

 

Die Welt war wieder einmal so grau wie ich mich fühlte. Verregnet, kühl und einsam.

 

»Crombach war am Freitag nicht da und Micky meinte, sie hat ihn nicht auf dem Handy erreicht und seine Mutter ließ niemanden rein. Was ist passiert?«, platzte Andreas mit den Tatsachen ins Gespräch und verschränkte erwartungsvoll seine Arme.

»Wieso machst du die Geschichte zu deinem Bier, Andreas?«, stellte ich eine müde Gegenfrage. Ich wusste nicht genau, ob ich genervt, entmutigt oder einfach nur emotionslos klang. Jedenfalls stieß Andreas einen gereizten Seufzer aus.

»Wieso das mein Bier geworden ist, weiß ich auch nicht. Aber immerhin geht’s hier ja auch um Micky, die mit Susa rumhängt, die mit Lucy abgeht. Wir sind ein Freundeskreis. Da ist es nun mal ein Stellen nach der Uhr, wann es auch mich erreicht.«

Auf den Boden starrend, zuckte ich mit den Schultern. »Ist das so? Na, wenn du dich unbedingt damit beschäftigen willst... Ich habe Julian alles über meine Gedanken erzählt, nachdem Susa es schon zum Teil übernommen hatte. Er ist wahrscheinlich furchtbar enttäuscht und will mich nicht mehr sehen. Es lief ein bisschen aus dem Ruder.«

Andreas zog skeptisch die Augenbrauen zusammen.

»Ihr habt also Streit?«

»Nein, wir ...« Ja, was ist das jetzt? Irgendwie einfach nur nicht mehr Freunde. Nicht mal Streit, einfach ... Sense.

Als keine weitere Antwort von mir kam, ließ Andreas seine Arme gen Boden sinken und stampfte einmal entnervt auf.

»Also Constantin, mal Ernsthaft: Ich hab nix gegen Schwule, aber euer Theater geht mir etwas auf die Eier. Schon seit Monaten können wir nicht richtig was mit euch unternehmen ohne Geheule von mindestens einer Seite zu kriegen -  und jetzt das.«

»Was heißt hier euer Theater? Julian ist nicht schwul ... im Grunde ist es doch nur meine Schuld«, gab ich kleinlaut zu verstehen, dass, wenn Andreas schon sauer ist, es wenigstens nicht noch bei Julian abladen sollte.

»Ist mir ziemlich ralle, wer hier wo schwul für wen ist. Macht das einfach mal untereinander aus, was das jetzt zwischen euch ist.«

»Du sagst das so einfach ...«

»Ja, weil es das auch ist.«

»Nein? Es ist nicht leicht! Weil Julian eben nicht dasselbe empfindet, wie ich für ihn. Ich will seine Gefühle doch auch dabei respektieren und nicht mit der Tür ins Haus fallen.«

»Hat er dir das denn gesagt? Dass er kein Interesse hat?«

»Nicht direkt, aber ...«

»Aha.«

Das klang eindeutig nach: Siehst du, es ist doch noch gar nichts geklärt.

»Jetzt hör auf, darüber so leichtfertig zu reden! Hat er dir gegenüber denn das Gegenteil erwähnt?«

»Nein, aber genau weil keiner weiß, was genau in ihm vorgeht, würde ich mal fragen.«

»Dann kannst du das ja gerne tun!«

Ich presste die Lippen aufeinander und verließ auf der Stelle seine Gegenwart. Entnervt ging ich zum Hörsaal, ignorierte etwaige Begrüßungen und setzte mich in die erste Reihe.

Ich hatte Mike bereits in der Mitte sitzen sehen; ohne Julian. Er sah mir verwundert hinterher, machte aber keinerlei weiteren Anstrengungen auf mich zuzukommen. Auch bei den Vorlesungen danach nicht.

Ich war ja so eine Heulsuse geworden. Oder es hat sich verschlimmert. Wie auch immer: Ich weinte viel zu viel. Bei jeder Kleinigkeit fing ich das Flennen an.

Männlich.

 

Am Dienstag sah ich seit Tagen Julian. Von weit weg. In der Bahn. Er stand zwischen den Menschen und starrte auf den Boden. Mit Kopfhörern auf den Ohren. Geistesabwesend. Müde.

In der Uni hingegen schien er wie ausgewechselt zu sein. Er kam auf Micky zu, küsste sie und umarmte sie mit einem Lächeln. Mit den anderen tratschte er kurz, bis er auf einmal in den Komplex vorging.

Nach einigem Tuscheln in der Gruppe, winkte mich Susa zu ihnen. Vorsichtig kam ich auf die Gruppe zu; knibbelte missmutig an meiner Tasche.

»Julian ist schon mal vorgegangen, weil er noch auf Klo muss«, meldete Susa.

»Habt ihr eigentlich Stress? Schon wieder?«, hakte Micky wie immer unwissend nach.

Julian hatte wohl nichts erzählt.

Wohl auch besser so.

Ich zuckte bemüht um Coolness mit den Schultern. »Irgendwann lebt man sich auch auseinander.«

»Ging aber ziemlich schnell... so von heut auf morgen.«, stellte sie kurzerhand fest. Lucy griff nach ihrem Handgelenk.

»Komm, Micky, wir gehen auch schon mal«, sagte sie in ihrem anmutigen, aber bestimmenden Ton.

Etwas verwundert ging sie mit Lucy und Andreas mit. Susa blieb noch bei mir, vergewisserte sich, dass die drei weg waren und sah mich schlagartig böse an.

»Du hast das also geklärt

Ich nickte eingeschüchtert und sah zu Boden.

»Fühlst dich wahrscheinlich kein Stück besser, hm?«

»Doch, etwas. Ich habe aufgehört, weißt du?«

»Damit

Ich nickte wieder. Sie atmete ein Stück auf, der böse Blick blieb.

»Gott sei Dank. Na ja, zumindest halb. Dich scheinen wir ja wieder auf die Beine bekommen zu haben, dafür krebst jetzt Julian durch die Gänge und sieht aus wie ein Toter.«

»... Warum eigentlich?«

»Warum? Na, weil ihr beide anscheinend eure Freundschaft gekündigt habt. Oder so was. Ist sich hier ja keiner wirklich sicher, was jetzt Sache ist. Jedenfalls säuft er sich die Hucke voll, so sehr riecht er nach Alkohol.«

»... Dass ihn das so belastet ...«, murmelte ich vor mich hin und knibbelte weiter an meiner Tasche. Er trank wieder?

... das war also seine Art mit Problemen umzugehen. Sie weg zutrinken.

»Ich denke mal, ihr habt das auf ganz schnelle Art und Weise zwischen Tür und Angel geklärt, oder? Wie wär's, wenn ihr das noch mal besser klärt?«

»Niemals...«, brummte ich ihr entgegen, »Niemals. Das eine Mal hat mir gereicht. Ich hab mich erst nach 2 ½ Tagen beruhigen können. Und Julian war auch nicht gerade emotional stabil, als wir miteinander sprachen...«

»Oh ...«, war alles, was Susa da noch raus brachte.

»Also bitte nicht mehr reden und Co. vorschlagen.«

»Ich glaube aber, Julian macht sich Vorwürfe. Wäre es da nicht besser, du würdest es wenigstens noch einmal versuchen?«

»...Weil du so gut über seine Gefühlslage Bescheid weißt? Ich denk, niemand weiß so recht, was mit ihm los ist?«, zischte ich ihr entgegen.

Susa wusste doch gar nichts. Niemand wusste irgendetwas. Was zwischen Julian und mir lief, kann keiner verstehen. Denn niemand war dabei. Niemand hatte dieses Empfinden, dass nur Julian und mich verband.

»Du warst auch mal netter! Du hast mich schon das letzte Mal zusammen geschnauzt! Dabei will ich dir nur helfen!«, gab sie genervt zurück und winkte schließlich ab. »Dann mach, was du willst. Aber wenn ihr beide so weitermacht, wird einer von euch beiden früher oder später aus dem Freundeskreis fliegen. Oder eben beide.«

»Na dann ...«

Da war ich mir ja bereits sicher, wer das wohl sein könnte …

 

In Philosophie saß Julian vor mir. Neben ihm Micky. Eine interessante Vorlesung, die ich gerne mit ihm verbracht hätte. In der er wieder nur Quatsch gemacht hätte. Mir mit Fineliner auf den Arm gemalt und blöde Witze gerissen hätte.

»Die Kugelmenschen, die in Platons Werk Symposion erwähnt werden, sollen die Macht des Eros erklären. Sie hatten zwei Köpfe, vier Beine und vier Hände«, erklärte der Professor an seiner Folie, auf der man eine seltsame Gestalt erkannte. »Es gab drei verschiedene Gestalten von Kugelmenschen: Frau-Mann, Mann-Mann und Frau-Frau. Platon erklärt hier im Dialog das erotische Verhalten des Menschen. Denn aus Wut, dass die Kugelmenschen zu mächtig und stolz waren, trennte sie Zeus. Die sexuelle Neigung basiert nach Platon also auf das Bedürfnis seine verlorene Hälfte wieder zu finden. Daraus schließt sich die sexuelle Präferenz ...«

 

Oh wie passend. Danke Herr Professor für diesen außerordentlich passenden Vortrag. Meine verlorene Hälfte. Die suche ich?

 

Julian?

Micky lehnte sich nach dieser Passage verliebt an Julians Schulter. Doch ich sah seinen Kopf die andere Richtung einschlagen; Micky meidend.

 

Oh, Julian! Ich wollte nie, dass es so endet! Wirklich nicht! Bitte verzeih mir, ich wollte dich nie verletzen oder anlügen! Ich wollte nur nicht, dass wir uns trennen; und welch Ironie des Schicksals, genau das ist passiert. Das ist so traurig.

Ich vermisse dich. Ganz schrecklich.

Ob du mich auch vermisst?

 

Diese Frage ließ mir keine Ruhe.

 

Nach der Vorlesung schwänzte ich die Restlichen. Mir ging es nicht gut.

Sowohl körperlich als auch seelisch.

Auf meinem Weg zur U-Bahn entschied ich mich kurzerhand doch für einen Spaziergang durch den englischen Garten, um einen klareren Kopf zu bekommen. Graues Wetter ließ den sonst so schönen Garten wie ein Friedhof wirken.

Der Herbst sollte eigentlich schön werden. Mit bunten Blättern und ein bisschen Sonne. Stattdessen regnete es in einer Tour, die Bäume verloren die ersten Blätter und überzogen den Weg mit einem eher grauen Matsch-Schleier.

Wie ein Gespenst lief ich die Straße entlang. Irgendwann stieß ich auf eine Bank. Zum Glück war sie durch vorangegangene Platznehmer nicht mehr nass.

Vorsichtig setzte ich mich und starrte in den Himmel. Als ein wenig Wind aufkam, vergrub ich meine Hände in meinen Mantel. Der Atem, den ich ausstieß, wurde sofort ein weißer Schleier vor meinem Gesicht. Dabei war es erst Ende Oktober.

Ich schloss die Augen. Lehnte mich zurück. Dachte an die Arme, die mich jetzt umarmen würde, wenn ich darum bat. Diese Arme, die nie gefragt hatten, wieso oder warum. Diese Arme, so warm und vertraut, die immer für mich da waren.

Ich kniff die Augen zusammen, um die Tränen zu unterdrücken.

Ein Geräusch neben mir ließ mich aufsehen.

War es- ?

 

Eine alte Dame hatte sich mit ihrem Hund neben mich gesetzt. Fröhlich sprach sie mit ihm und kraulte ihn. Es zauberte mir zumindest ein Lächeln auf die Lippen.

Doch sogleich musste ich an die unterbewusste Hoffnung denken, dass es Julian hätte sein können. Still schweigend hätte er sich hier hingesetzt. Hätte mit mir in den Himmel gesehen. Ich hätte meinen Kopf vorsichtig auf seine Schulter gelegt und wir hätten einfach nur geschwiegen. Ohne Worte.

Ja, Julian verstand mich immer ohne Worte. Wir beendeten unsere Sätze. War es nicht das, was man sich unter einer funktionierenden Beziehungen vorstellte?

Sex hin oder her.

Küssen hin oder her.

Ich brauchte einfach nur Liebe. Und ich würde meine ganze Energie darauf verwenden sie im gleichen Maße an Julian zurückzugeben.

 

 

 

Ich seufzte leicht vor mir hin, als ich nach mehreren Minuten immer noch regungslos vor seinem Haus stand. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, da ich absolut nicht einschätzen konnte, was als nächstes auf mich zukommen würde.

Doch alles in mir schrie nach Klärung. Obwohl ich mich so sehr gegen Susas Vorschlag, es noch einmal mit einem Gespräch zu versuchen, gewehrt hatte, stand ich doch wieder hier und suchte seine Nähe. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung, wie Andreas meinte. Julian hasste keine Schwule, vielleicht könnten wir uns auf was einigen? Woher ich die plötzlich neue Euphorie nahm, wusste ich auch nicht. Doch ich war froh, dass sie da war. An diesem kleinen Licht hing meine ganze Motivation, Julian wieder für mich zu gewinnen.

 

Mit viel Überwindung klingelte ich.

Es dauerte etwas, bis ich Schritte hörte.

Mein Herz fing wieder an gegen meine Brust zu hämmern.

Die Sekunden wurden unerträglich.

 

Doch dann machte mir Annette die Tür auf und lächelte positiv überrascht.

»Constantin! Das ist aber eine schöne Überraschung, komm rein!«

Nach leichtem Zögern, ob ich nicht vielleicht doch wieder gehen sollte, biss ich die Zähne zusammen und trat ein.

Sofort strömte mir sein Duft in die Nase.

Dieser ... typische Duft... den ich zu Beginn als weder besonders gut noch besonders schlecht beschrieben hatte, war jetzt ein Ding der Sehnsucht.

»Julian ist noch nicht da, er wollte noch etwas einkaufen gehen, aber du kannst sicherlich auf ihn warten.«

Er war nicht da.

Was ein Glück.

»Oh, ich will keine Umstände bereiten, ich komm sonst ein ander' mal wieder …«, murmelte ich und war schon auf halbem Wege zur Tür, als mich Annette zurückpfiff.

»Bleib ruhig hier. Du warst lange nicht mehr da.«

Für einen Moment hielt ich inne, bis ich stumm nickte und mich auf das Sofa im Wohnzimmer setzte. Sie brachte mir sofort ein Glas Cola. Dankend nahm ich es an, danach setzte sie sich zu mir. Erst schwiegen wir, ich schlurfte meine Cola.

Normalerweise erzählte sie mir von ihrem Tag, von Jenny oder von Julians Eskapaden, die ich noch nicht kannte.

Doch die Luft war mit Anspannung geschwängert. Letztendlich brach sie die Stille:

»Ich möchte nicht taktlos erscheinen, aber ... Julian hat mir erzählt, was vorgefallen ist.«

Mit einem Mal verspannte ich mich und hätte beinahe meine Cola verschüttet.

»E-Echt? Also … alles?«, fragte ich zögerlich und sah ihre tadelnden Augen schon bildlich vor mir.

Doch Annette nickte nur freundlich.

»Sicherlich in seiner ganz persönlichen Fassung, aber ich denke über das Wesentliche bin ich informiert. Tut mir Leid, wenn dich das in Verlegenheit bringt... Ich dachte nur, ich spreche es mal an und höre mir deinen Teil an.«

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass Annette weder böse noch negativ gegenüber des Problems eingestellt war. Ganz im Gegenteil: sie suchte nach einer Lösung. Sie wollte meine Seite hören.

Nach kurzem Überlegen schüttelte ich den Kopf. »Schon okay... Ich fühle mich nicht überrumpelt«, lachte ich doch etwas nervöser als beabsichtigt. Annette blinzelte mir verständnisvoll zu.

»Weißt du, mein Sohn war immer etwas schwer unter Kontrolle zu bringen. Immer tat er das, was er nicht tun sollte. Und seine Exzesse in der Drogenszene, auch Alkohol, nahmen mir ein wenig Überhand, sodass ich wirklich über eine Therapie nachdachte. Und dann kamst du. Ihr beide wart so glücklich miteinander. Du hast ihm so viel abgewöhnt. So einfach. Das, was ich in all den Jahren irgendwie nie geschafft habe.«

Vorsichtig hob ich meine Augenbrauen. Das wusste ich gar nicht ... Ich dachte mir schon, dass Julian manchmal etwas problematisch sein konnte. Aber nicht, dass Annette wirklich keine Lösung fand und an Hilfe Dritter dachte.

»Dabei hatte ich immer das Gefühl, er animierte mich mitzumachen ... Als das Gegenteil, ihn von Dummheiten abzuhalten.«

Da lachte sie amüsiert auf. »Das will ich nicht abstreiten. Sicherlich habt ihr beiden viel Dummheiten gemeinsam gemacht, die Julian sonst alleine durchgezogen hätte. Trotzdem hat es sich wesentlich reduziert. Der letzte Intensivstationsbesuch ist schon lange her. Dafür danke ich dir sehr.«

Ich schluckte unangenehm berührt, als ich in ihr zufriedenes Gesicht sah. Ob Julian ihr wirklich alles erzählt hatte?

So langsam machte sich in mir die Befürchtung breit, dass er über das Gefühlsthema geschwiegen hatte.

Etwas peinlich berührt blickte ich zu Boden.

»Annette … Julian und ich ... sind nicht mehr miteinander befreundet...«

»Ich weiß. Er ist sehr traurig darüber.«

Ein großer, dicker Klumpen bildete sich in meinem Hals. »Ich ebenfalls ...«

»Bist du deswegen hier? Um das noch mal mit ihm zu überdenken?«

Ich nickte langsam. Stumm sah ich in mein Glas. Als keine Antwort von mir kam, seufzte Annette leise vor sich hin. »Es wäre wirklich schön, wenn ihr beiden wieder zusammenfinden würdet. Julian läuft hier wie ein Geist rum. Redet ständig davon, dass es ihm Leid täte.«

»Und dabei tut es mir so unfassbar Leid ...«

Oh, Julian ...

»Sag ihm das doch. Ich denke nicht, dass Julian in irgendeiner Weise sauer auf dich ist. Ganz im Gegenteil. Er hat dich sehr gern.«

»Aber ... eben nicht so gern, wie -«, ich stockte kurz, »...ich ...ihn.«

Wieder Schweigen.

Redete ich wirklich mit der Mutter meines früheren besten Freundes über meine Gefühle zu ihm?

Scheu blickte ich in ihr Gesicht. Ihr Blick sagte mir so viel und doch nichts. Hatte Julian sich bei ihr ausgeheult? Wusste sie mehr als ich? Oder wollte sie mir nur Mut machen?

 

Dann klingelte es an der Tür. Ich zuckte zusammen. Sofort sah ich in den Flur.

Julian.

»Gib ihm doch was Zeit. Er braucht sie. Wir wissen doch, dass er nicht der schnellste ist...«

Damit stand sie grinsend auf, ging an mir vorbei in den Flur und öffnete die Tür. Julian platzte mit einer Tüte voller Glasflaschen hochprozentigem Alkohol ins Haus.

»Ich hatte wieder nur Idioten vor mir, alle fuhren mir so dicht auf den Wagen auf, dass die mir in den Kofferraum gekrochen sind!«, beschwerte er sich und zog sich die Schuhe aus. Annette schwieg einfach und schloss etwas enttäuscht über das Geklimper des Alkohols die Tür.

Als Julian den Schal von seinem Hals abwickelte, bemerkte er mich auf dem Sofa sitzen. Sofort trat Stille ein und er verharrte in seiner Bewegung. Sein Blick wurde schlagartig starr. Ich sah direkt in seine Augen und bemerkte eine gewisse Unsicherheit.

»Hey ...«, sagte ich sanft, um ein Lächeln bemüht und stand auf.

Ohne den Blick von mir abzuwenden, ließ er seine Hand, welche den Schal umfasste, sinken und sah weiterhin starr in meine Richtung. Schließlich flüsterte er ein zögerliches »Hey« zurück.

»Geht doch nach oben in dein Zimmer, Julian. Wenn ihr was braucht, sagt einfach Bescheid«, sang Annette fröhlich vor sich hin und deutete auf die obere Etage. Sie ging an mir vorbei und strich fast unbemerkt meinen Arm.

Julian nickte mit unergründlicher Miene und ging mit der raschelnden Tüte vor. Ich folgte ihm stumm mit meinem Colaglas in den Händen.

Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer, ich trat mit ein und schloss sie hinter mir.

Unangenehmes Schweigen machte sich breit, bis er die Tüte mit den Flaschen lautstark auf seinem Schreibtisch abstellte und anfing auszupacken.

»Hattest du vor, die alle zu trinken?«, fragte ich leise, um das Schweigen zu brechen.

Und als wäre ich nicht anwesend gewesen, hob er nicht mal seinen Blick, um mir zu antworten.

»Ja, schon.« Er zuckte mit den Schultern, als sei es keine ernstzunehmende Tatsache gewesen, dass das viel zu viel Alkohol für einen Menschen war.

»Heute?«

Er nickte; packte dann die Plastiktüte in seinen Mülleimer.

»Du wirst aber doch nicht zum Alkoholiker, oder?«, lachte ich zögerlich, um die Stimmung ein wenig aufzubessern. Doch er drehte sich mit einem verbissenen Gesichtsausdruck zu mir um und sah mir deutlich in die Augen. »Besser Alkoholiker als Emo, oder?«, zischte er mir bereits mit einer Fahne zu. Ich zuckte zusammen. Er ist mit Alkohol am Steuer gefahren?

»Wovon redest du bitte?«, stellte ich mich dumm. Susa hatte doch nichts erzählt …?

Auf einmal griff er abrupt nach meinem Handgelenk und drückte kräftig zu.

»Du weißt genau, was ich meine! Wieso tust du dir das nur an? Hm?«, schrie er mich an. Seine laute Stimme hallte in meinem Kopf.

Das war das erste Mal, dass er mich anschrie. In all den Jahren hatte er nicht einmal seine Stimme gegen mich erhoben.

Aber egal woher er es wusste, er wusste es einfach. Und er war wütend darüber. Er war mir noch nie wegen etwas böse gewesen ...

Ich drehte verlegen den Kopf von ihm weg. Ich wollte nicht in sein wütendes Gesicht sehen.

Und da fing es schon wieder an. Die zitternden Lippen, die wackeligen Knie und der abgehackte Atem. Er berührte mich, er stand vor mir, der Duft in meiner Nase, seine Stimme in meinem Ohr.

Doch je länger ich schwieg, desto mehr bestätigte ich seine Unterstellung, dass ich mich schnitt.

»Wieso …?«, wiederholte er nun mit zittriger Stimme. Seine Augen suchten verzweifelt eine Resonanz in meinen. Ich schüttelte nur den Kopf.

»Weiß nicht ...«, flüsterte ich zurück. Julian seufzte lautstark und nahm mir mein Colaglas aus der Hand. Er stellte es etwas unkoordiniert auf den Schreibtisch ab; nahm dann mein anderes Handgelenk in seine Hand. Sofort sah er mich wieder fordernd an. Doch einen unterschwelligen hilflosen Blick konnte er nicht vermeiden.

Ich stand ihm gegenüber, die Handgelenke in seinen Händen liegend und sah ihm fest in die Augen. Das war ein ... romantischer Moment, oder?

Es war, als würde er meine Hände halten.

Es war, als würde er mir wieder so nahe stehen, wie zuvor.

Als wäre nie etwas geschehen.

Irgendwann musste ich lächeln.

Er wusste doch jetzt alles, oder? Jetzt durfte ich ihm doch auch sagen, was ich dachte, oder?

Julian konnte mein Lächeln nicht deuten und sah mich fragend an.

»Ich habe dich vermisst«, sagte ich ihm schließlich direkt ins Gesicht. Mein Herz klopfte so laut, dass ich mir sicher war, er würde es hören.

Doch anstatt mir zu antworten, formte Julian seine Lippen zu einer graden, schmalen Linie. Ungezwungen lächelte ich ihn weiter an.

»Ich habe dich wirklich sehr vermisst«, wiederholte ich - und es fühlte sich gut an. Einfach frei raus zu reden.

Julian seufzte erneut und sah schließlich zu Boden. War ihm etwa nicht nach Versöhnung?

Oder brachte ich ihn nur in Verlegenheit?

»Seit … Seit wann eigentlich? Das alles?«, fragte er vorsichtig.

Aha, das beschäftigte ihn. Wahrscheinlich konnte er seine eigene Blindheit nicht so ganz fassen.

»So richtig bemerkt habe ich es bei unserem Glühweintrinken letzten Jahres im Winter. Da habe ich es mir eingestanden ... dass ich...«

Julian fiel mit entsetzt ins Wort: »So lange schon?« Ich nickte abermals voller Hoffnung, dass er es hinnehmen könnte. Und wir wieder Freunde sein würden.  Es konnte doch jetzt nur besser werden, oder?

»So lange schon«, bestätigte ich mit einem Hauch Erleichterung. Er ließ kurz mein Handgelenk los, fasste sich zittrig an die in Falten gelegte Stirn. Nach einigen Sekunden ließ er wieder von ihr ab.

»Und du hast die ganze Zeit nichts gesagt ...«, stellte er murmelnd fest und suchte noch immer auf dem Boden nach Antworten.

»Wie auch? Ich wollte weder deine Beziehung zu Micky zerstören noch unsere aufs Spiel setzen. Ich dachte, ich könnte dich einfach irgendwann vergessen ... oder es wäre nur eine Phase gewesen.«

»Dem war aber nicht so?«, hakte er mit hochgezogenen Augenbrauen nach. Immer noch sichtlich erschöpft von der Tatsache, dass ich schon so lange nach ihm schmachtete.

»Nein, leider nicht … Es tut -«

»Hör auf dich zu entschuldigen! Für Gefühle muss man sich nicht entschuldigen ...«, fiel er mir erneut ins Wort, ließ dann auch mein anderes Handgelenk los und drehte sich von mir weg.

Er setzte sich erschöpft auf sein Bett. Etwas vorgebeugt legte er sein Gesicht in seine flachen Hände. Ich hörte ihn immer wieder aufatmen.

Trotzdem ich den traurigen Julian schon oft vor mir gesehen hatte, war es doch ein Schlag ins Gesicht ihn jetzt wieder so zu erleben. Und diesmal war nicht Micky schuld, sondern ich selbst.

Vorsichtig setzte ich mich neben ihn. Verständnisvoll versuchte ich mit sanfter Stimme zu sprechen.

»Sag, was denkst du darüber?«

Er zuckte regelrecht zusammen, als hätte er diese Frage nicht erwartet. Langsam hob er seinen Kopf und blickte in meine Richtung.

Oh, er war so nah.

Und mit diesem Hundeblick, den er mir schenkte, konnte ich kaum an mich halten, ihm nicht um den Hals zu fallen.

»Was ich darüber denke?«, stellte er eine Gegenfrage. Wahrscheinlich war er sich selbst nicht sicher. Jedenfalls strahlten das seine Augen aus.

Er zuckte mit den Schultern und wendete seinen Blick wieder gen Boden.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll ...«

Mein Herz klopfte deutlicher und lauter. Wirklich?, dachte ich. Wirklich? Er dachte über uns nach? Verstand ich das richtig?

»Wie darf ich … das verstehen?«, fragte ich unsicher nach.

»Wie du das verstehen darfst? Keine Ahnung! Du hattest immer leicht Reden über dieses Thema, wie ich im Nachhinein herausgefunden habe!«, stieß er auf einmal aus. »Du warst schon immer der Kerl, den man als seine beste Freundin ansah! Du warst immer derjenige, der sich an alle ankuscheln durfte, ohne dabei schräg angeschaut zu werden! Für alle war es doch vollkommen in Ordnung, dass du für die andere Liga spielst!«

Ich hielt inne. Er wollte damit doch nicht etwa sagen …?

»Als rauskam, dass du und ich da andere Spiele spielen, überraschte das keinen was dich bezog. Aber ich? Ich wurde schräg angeschaut! Und Micky durfte und darf von nichts erfahren, weißt du eigentlich wie schwer das ist?«

Er machte mir Vorwürfe, dass ich es mit meiner Art so leicht habe?

Moment, dachte ich, das war sonst immer andersrum gewesen. Er war doch immer derjenige, der von allen akzeptiert wurde.

Doch was blieb mir anderes übrig, als seine Vorwürfe runterzuschlucken? Das Letzte, was ich wollte, war gegen ihn zu reden.

Also nickte ich stumm. Mein Euphemismus nahm schlagartig ab.

War ihm denn nicht sonst auch immer egal gewesen, was andere über ihn gedacht haben?

»Ich kann … Nein, ich weiß nicht, ob es eine gute Idee wäre, Micky davon zu erzählen.«

»Nein!«, fügte ich energisch seiner Mutmaßung zu. Er sah mich perplex an, überlegte und nickte sofort.

»Ja, du hast Recht… besser ist es, ihr nichts zu sagen.«

Micky hin oder her, das ist noch einmal eine ganz andere Baustelle. Vielmehr wurmte mich aber, dass es angeblich wegen den anderen zu scheitern schien.

»Aber wieso ist es so ein Problem, die anderen mit einem Spiel in der anderen Liga zu überraschen...? Seit wann scherst du dich um andere Meinungen?«

»Eigentlich tue ich das auch nicht. Aber ohne Freunde lässt's sich irgendwie nicht so toll leben.«

»Moment ...«, jetzt fasste mich der Mut. Einfach der Gerechtigkeit halber zwischen mir und ihm. »Willst du mir grade sagen, dass, wenn unsere Freunde dir und mir ein Okay geben würden, du nur noch das Problem Micky siehst, ansonsten wäre alles nicht der Rede wert? Gefühle oder so spielen keine Rolle? Ist das ein indirektes Wir könnten es versuchen, aber unsere Freunde

 

Da schwieg er. Sah auf. Sah zu Boden. Sah mich an. Suchte nach Worten.

Hatte ich einen wunden Punkt getroffen?

Nach mehreren Sekunden schweigen, schüttelte er schließlich leicht den Kopf.

»Ich will dir einfach nicht wehtun ...«

Diese Unsicherheit in seinen Augen zu sehen. Er wollte mir tatsächlich nicht das Herz brechen, aber ...

»Das tust du aber bereits ... indem du mir keine Antwort gibst.«

»Ich weiß.«

»Julian, im Ernst ...« Mit aller Kraft führte ich meine Hand sanft an seine Schulter und strich über den T-Shirtstoff seines Langarmshirts. »Was denkst du über mich

Er presste seine Lippen zusammen und schloss seine Augen. Als wolle er diese Frage einfach nicht hören, geschweige denn sie beantworten.

 

»Ich liebe dich wirklich sehr, Julian. Bitte sag mir, ob du damit umgehen kannst, oder nicht … mehr verlange ich nicht«, flehte ich ihn an. Mein Herz pochte mir bis zum Kopf. Hatte ich tatsächlich ihm meine Liebe wortwörtlich gestanden? Zum ersten Mal? So richtig ins Gesicht?

 

Er griff nach meiner Hand auf seiner Schulter und drückte sie. Sah dann starr zu Boden und schien zu überlegen. Die ganze Situation überforderte ihn maßgeblich, das konnte ich sehen. Wahrscheinlich machte er nun das durch, was ich vor 2 Jahren durchgemacht hatte. Trotzdem kam keine klare Antwort.

»Bitte verlang keine Wunder von mir, Constantin.«

Seine Stimme zitterte. Unglaublich eigentlich, den starken Julian in so einer Position zu sehen. Und genau das war wahrscheinlich das, was ihn selbst so störte. Was alle anderen überraschte. Was mich jedoch unglaublich glücklich stimmte. Weil es bedeutete, dass er sich unsere Situation sehr zu Herzen nahm. Dass er darüber nachdachte und mich nicht abschieben wollte.

Dass ich ihm wichtig war.

Vorsichtig beugte ich mich zu ihm vor und drückte meine Lippen gegen seine Wange. Ich hörte, wie er den Atem anhielt und sich für einen Moment verkrampfte. Da ließ ich wieder von ihm ab.

»Das verlange ich nicht. Ich will dich aber auch nicht verlieren«, sagte ich sanft und versuchte ihm deutlich zu machen, dass ich wirklich versuchen würde, wieder in alte Zeiten zu rutschen.

Doch als würde er genau darin eine Schwelle der Überwindung sehen, ließ er meine Hand los und raunte müde auf.

»Ich will dich auch nicht verlieren. Nicht, nach alldem, was wir erlebt haben. Besonders will ich nicht, dass wir beide weiterhin wie Trauerklöße rumsitzen und uns gegenseitig Vorwürfe machen. Ich trinke viel zu viel alleine hier in meinem Zimmer, während du dich selbst verletzt.«

Verlegen presste ich die Lippen aufeinander. Wie wir mit Stress und Trauer umgehen war in der Tat verschieden.

Er betrank sich also.

Um den Gedanken zu entfliehen.

Verdammt, so etwas wollte ich doch niemals erreichen!

Wieder den Tränen nahe, strich ich mir verlegen über die Arme. Wohin hat das nur geführt?

»Ich will dich wieder Lächeln sehen ...«, flüsterte er mir zu.

Langsam hob ich meinen Kopf und sah zu ihm.

Hatte er das gerade wirklich gesagt? Ein großer Schub von Wärme durchfloss meinen Körper, als ich seine Worte vernahm. Das war wie eine unterschwellige Liebeserklärung...

Sehnsuchtsvoll fing ich an zu lächeln.

»Dann vergessen wir das einfach?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Vergessen? Du willst das jetzt einfach so in den Wind blasen?« Unverständnis breitete sich in seinen Augen aus. Als wäre ich nicht ganz bei Trost.

»Wäre das nicht das Beste?«

» … «

»Nicht?«

Er wendete wieder seinen Blick ab. »Du bist mein bester Freund, Constantin. Ich weiß nicht genau, wann ich diese Linie mit dir überschritten habe, aber jetzt einfach wieder einen Schritt zurück gehen? Geht das überhaupt?«

»Julian ...«

Mit was auch immer er mir Mut machte, ich war so froh, dass er mich nicht verachtete. Ich war so froh, dass er darüber nachdachte. Dass ich ihm wichtig genug war, dass er es eben nicht einfach so fallen lassen wollte. Dass er mich nicht fallen lassen wollte.

Das ließ mich so viel Selbstvertrauen schöpfen. Einfach die Tatsache, dass er mir kein Brett vor den Kopf stieß.

»Es gibt zwei Möglichkeiten für uns: Wir belassen es einfach dabei und ich gebe meine Bestes, dass wir nicht weiter damit konfrontiert werden oder ...«

Er atmete geräuschvoll aus.

»Ich kann Micky nicht verlassen«, murmelte er.

Natürlich fragte ich mich sofort, wieso er das nicht konnte, wollte ihn das aber bei gutem Gewissen nicht fragen.

»Dann die erste Möglichkeit.« Ich versuchte aufbauend zu lächeln. Ich wollte ihm die Entscheidung leicht machen, mir einen Korb zu geben. Ich wollte ihm zeigen, dass es mir nichts ausmachte. Dass er sich kein schlechtes Gewissen mehr machen soll. Dass alles gut wird und ich mich damit abfinden kann. Solange er mir erlauben würde, bei ihm bleiben zu dürfen.

Doch anscheinend erreichte ich das genaue Gegenteil. Sein Gesicht verzog sich.

»Klingt, als wäre es dir irgendwo egal, was jetzt passiert«, raunte er mich von der Seite an. Sofort versiegte mein Lächeln.

»Was? Nein! Ich liebe dich, Julian! Es gäbe nichts schöneres, als mit dir zusammen sein zu dürfen! Aber ich will deine Entscheidung respektieren und genau deswegen bin ich bereit wieder zurückzugehen... damit ich eben bei dir bleiben kann«, gab ich sofort zurück. Es war doch schwieriger, als ich dachte, ihn zufrieden zu stellen. Aber was hatte ich auch schon erwartet? Ein einfaches okay hätte er mir niemals gegeben.

Er seufzte abermals. »Könntest du dir wirklich eine Beziehung mit mir vorstellen? Also, dazu gehören ja auch andere Dinge ... wie ...« Seine Stimme wurde zum Satzende hin immer leiser. Er schämte sich wohl, ein solches Thema anzusprechen. Das machte ihn schon wieder so unfassbar süß, wo er doch sonst immer so offen mit diesem Thema umging.

Doch ich nickte zuversichtlich. »Na, sicher«, schoss es wie aus der Pistole aus mir heraus. Wenn ich mir über eine Sache sicher war, dann, dass ich alles für Sex mit Julian tun würde.

Perplex sah er mich an, dass ich mir da so sicher war.

»Dein voller Ernst? Aber ... ich bin doch auch ein Mann...«

»Ja … Aber ich liebe deinen Körper, deine Zuneigung und alles was damit verbunden ist.«

»Das klingt echt komisch aus deinem Mund ...«

»Wieso? Wenn Micky dir das sagt, ist es doch okay, oder nicht? Liebe ist Liebe.«

Julian grinste auf den Satz hin nur verletzt. »So was sagt sie aber nicht.«

» ... Ich schon.«

»Grade das macht es nicht so viel besser!«

 

Wir seufzten beide. Dann schwiegen wir wieder.

Natürlich konnte ich ihm nicht vorhalten, dass das genau einer der vielen tausend Punkte wäre, wieso ich mich als einen besseren Partner für ihn sah als es Micky je sein könnte.

»Hast du denn Erwartungen an mich?«, fragte ich entmutigt. Sofort legte Julian seine Stirn in Falten und strich über sein Gesicht.

»Keine Ahnung ...«

»Das hilft mir nicht wirklich dir entgegen zu kommen.«

»Ich weiß!«, giftete er mir entgegen. Augenverdrehend setzte ich mich ein Stück weiter auf das Bett.

»Dann machen wir es wie beim Psychologen: Frage-Antwort-Spiel!«, begann ich wieder fröhlich daher zu plappern. Es war ziemlich schwer meine Gefühle jetzt zu unterdrücken. Am liebsten wäre ich weinend in seine Arme gefallen und hätte die Nacht durchgeheult. Aber das würde uns kein Stück weiter bringen. Und ihn nur unnötig belasten.

Er sah mich ungläubig an. Ein hauch Sarkasmus streifte seine Lippen, als er sagte: »Du? Du spielst jetzt den Psychologen? Du gehörst selbst zu einem.«

»Davon sehen wir jetzt mal ab, okay?«, raunte ich genervt und wendete mich ihm zu. »Ich frage dich einfach was, du antwortest mit Ja oder Nein. Direkt, ohne Nachdenken, okay? Das ist instinktiv. Da kommt bestimmt was bei rum.«

Er sah wenig beeindruckt von meinem Vorschlag aus. »Ich fühl mich doof dabei, wenn wir das so kleinkindmäßig regeln«, murmelte er.

»So kommen wir aber weiter, bestimmt.«

Wieder hob er eine Augenbraue, sah mich noch einmal ungläubig an und seufzte abermals.

Mit einem Zeichen signalisierte er mir, dass ich fragen durfte. Nach kurzem Überlegen fing ich an:

»Findest du meine Gegenwart denn eigentlich angenehm?«

»Ja, klar.«

»Bist du jemals auf den Trichter gekommen, ich könnte mehr für dich empfinden?«

»Nein … Nicht wirklich.«

»Also lag das vielleicht daran, dass du unser gegenseitiges Verhalten für normal empfunden hast?«

»Vielleicht.«

»Nur ja oder nein!«

Er raunte auf und presste die Lippen aufeinander.

»Dann ja … Ja, ich empfand es als normal.«

Julian schien schon von den paar Fragen genervt. Doch ich näherte mich einfach der Sache, die mich am meisten interessierte und ignorierte sein trotziges Verhalten.

»Mochtest du es, wenn ich dich umarmt habe?«

Er schien kurz zu überlegen. Starr blickte er gen Boden. Dann nickte er. »Ja.«

»Hat es dich jemals gestört, wenn ich in deinen Armen eingeschlafen bin?«

»Nein. Wieso sollte es?«

Da entfuhr mir ein leichtes Seufzen. Na, weil das nicht unbedingt die typisch männliche Art ist zwischen Freunden schlafen zu gehen. Doch ich ließ mich nicht weiter beirren und fragte dümmlich weiter.

»Siehst du mich als deinen besten Freund?«

»Ja, natürlich! Hab ich doch schon tausend Mal gesagt!«

»Dann räumst du mir Privilegien ein, die nur ich habe, richtig?«

Er nickte.

»Dann darf ich zum Beispiel mit dir kuscheln, während andere das nicht dürfen, richtig?«

Er überlegte wieder einen Moment, nickte dann zustimmend.

»Wenn Mike jetzt dein bester Freund wäre, dürfte er das auch?«

Er stutzte. »Er ist aber nicht mein bester Freund.«

»Stell es dir doch mal vor.«

Julian sah vom Boden auf und spielte mit seinen Fingerkuppen. Er überlegte. Und überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen.«

Okay, ich gab zu, dass es schwer war, sich jemanden anderen in meiner Position vorzustellen.

»Fändest du es jetzt unangenehm, wenn ich dich umarme?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, wieso? Tust du doch ständig.«

»Würdest du mich ...dich denn auch küssen lassen?«

 

Da stockte sein Atem und er sah in meine Augen. Vorsichtig wendete er den Blick wieder ab. Wartend betrachtete ich ihn. Ich erwartete ein »Keine Ahnung« bis »Nein«. Er antwortete nicht. Und als mehrere Sekunden verstrichen, setzte ich erneut an.

»Okay, anders gefragt: Fändest du es unangenehm, wenn ich dich jetzt küssen würde, ohne dein Einverständnis?«

Wieder schwieg er. Ein paar Mal setzte er zum Satz an, brach aber wieder ab.

Das schien der Knackpunkt zu sein, an dem auch er scheiterte. Wie gerne hätte ich gewusst, was in seinem Kopf vorginge.

Ein lauter Seufzer von Julian folgte.

»Das hat keinen Sinn, Con ...«, murmelte er irgendwann. »Ich weiß es einfach nicht.«

»Du hast also kein Empfinden darüber, ob dich das stören würde oder nicht?«

»Das ist es nicht! Es wäre mir schlichtweg egal. Ganz einfach. Wenn zwischen uns beiden nicht diese Gefühlsdusselei wäre und du einfach auf mich zukommen würdest, mich küssen würdest … würde ich stutzen, aber es wäre nicht weiter tragisch.  Weil … es eben so ist. Wenn du so etwas tust, ist das einfach ein Zeichen deiner Zuneigung. Wenn Mike das täte, würde ich viel nachdenklicher reagieren.«

So wie also Es ist Julian bei mir immer die Ausrede für alles war, wenn er etwas Dummes tat, so war Es ist Constantin die Ausrede, wenn etwas Intimes passierte.

»Also ist doch die Antwort ganz einfach nein, es wäre dir nicht unangenehm.«

»Wenn ich dir das jetzt aber sage, würde das bedeuten, dass ich auch sicherlich nichts dagegen hätte, wenn du mich küssen würdest. Das bringt mich aber in Schwierigkeiten mit Micky!«

Micky, Micky. Wenn sie nicht wäre, dann würden wir hier doch längst harten und hemmungslosen Sex haben. Das konnte mir keiner erzählen, dass ich Julian, wenn er Single wäre, nicht auf diese Dummheit bringen könnte, es nicht wenigstens mal auszuprobieren.

»Sie ist doch nicht hier«, platzte es aus mir heraus. Woho, Constantin, woher die frechen Antworten?

Julian schob sofort seine Augenbrauen zusammen und zischte mir wütend zu:

»Aber mein Gewissen ist hier. Ich habe eigentlich strikt was gegen Fremdgehen.«

Da zuckte ich doch etwas zusammen. Ich sah verschämt zur Seite. Constantin, wie konntest du dich grade nur so verleiten lassen, Julian zum Fremdgehen zu animieren? So etwas passt wirklich gar nicht zu dir. Obwohl mir auch die Antwort im Kopf schwebte, dass er es ja eigentlich schon getan hatte; Fremdgehen. Und zwar richtig. Doch das wollte ich ihm nicht vorhalten. Streit war das Letzte, was ich gebrauchen konnte.

»Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht zu irgendetwas animieren.« Verlegen kratzte ich mich am Nacken.

»Schon okay. Mir tut es Leid, dass ich dir keine richtige Antwort geben kann.«

Julians Miene wurde wieder sanfter und nahm der Stimmung sofort den unangenehmen Beigeschmack.

»Fazit von heute ist also: Wir verstehen uns wieder gut und das Problem Liebe stellen wir weiter hinten an?«

Er musste über meine trockene Zusammenfassung grinsen, nickte dann und sah zuversichtlich zu mir. Als ich dann auch lächelte und nickte, streckte er mir seine Arme entgegen.

»Ich denke, das dürfte schon drin sein«, zwinkerte er mir zu.

Wieso ich ihn liebte? Genau wegen solchen einfachen Gesten. Er wusste wahrscheinlich ganz genau, dass ich mich seit Tagen nach genau diesen Armen sehnte und wollte mir Erlösung schenken.

Ohne zu zögern ließ ich mich in seine Arme fallen.

Ah, sein Duft. Weiches Langarmshirt. Grobe Haut, ein paar Bartstoppel am Hals, die er nicht erwischt hatte. Ich strich ihm sanft über den Nacken. Spürte, wie seine großen Hände über meinen Rücken fuhren.

Das war so wunderschön.

»Tut mir Leid wegen dem Knutschfleck. Micky ist bestimmt sauer gewesen, oder?«, murmelte ich in seine Halskuhle.

Er zuckte mit den Schultern. »Relativ. Sie war eher sauer, dass sie mir nie welche machen durfte und du auf einmal damit anfängst.«

»Magst du keine Knutschflecken?«

»Ich find's so … albern, wir sind keine Teenager mehr.«

»Ach, na ja. Wenn man sie unter dem Vorwand macht, anderen zu zeigen, dass man einen Partner hat, ist das sicherlich kindisch. Aber wenn sie im Gefecht der Leidenschaft entstehen?«

Da lachte er laut los. Ungezwungen. Einfach herzlich am Lachen. »Im Gefecht der Leidenschaft? Constantin! Wo packst du das denn aus?«

»Aus der selben Schublade , wo du auch Cool bleiben ausgepackt hast! Du erinnerst dich?«, lachte ich angesteckt von seinem Frohsinn mit.

»Ja, ich erinnere mich! Aber ich finde ein Gefecht der Leidenschaft wesentlich witziger«, amüsierte er sich weiterhin über meinen unbewussten Witz und strich mir fester über den Rücken.

So schön. Endlich wieder mit ihm lachen. Unbeschwert, nicht weiter darüber nachdenkend.

 

Irgendwann löste ich mich aus seiner Umarmung. Er fragte mich blauäugig, ob ich den Abend noch bleiben wollen würde, doch ich negierte. Lieber nicht, sagte ich. Nicht, dass ich noch auf dumme Gedanken kommen würde.

Dabei zwinkerte ich ihm natürlich zu, als wäre es ein Witz gewesen.

Natürlich war es keiner.

Das war mein voller Ernst.

Aber die Leichtigkeit kehrte wieder in unser Leben zurück. Dieses klärende Gespräch war wie ein Wunder. Wir unternahmen wieder viel zusammen. Auch mit den Anderen. In der Uni redeten wir wieder viel, saßen nebeneinander. In der Bahn setzte ich mich auf seinen Schoß. Ich umarmte ihn, wann mir danach war. Keine Träne floss mehr, als er Micky vor mir küsste. Das mulmige Gefühl der Eifersucht blieb natürlich erhalten. Doch jedes Mal, wenn er mich wieder anlächelte, war meine Welt wieder heile. Denn er schenkte mir seine Zeit, seine Liebe, ohne von mir etwas zu verlangen. Also wollte ich ihm diese nette Geste zurückgeben.

Aber irgendwie …

 

An einem Abend bei mir im Zimmer, zog ich mein T-Shirt aus, um mich in meine Schlafsachen zu begeben. Julian, auf meinem Bett sitzend, hielt inne, sah vom Fernseher weg und fasste zögerlich nach meinem Körper.

»Constantin ...«, flüsterte er entsetzt, als er meine Narben an der Hüfte sah. »Wieso so viele?«

Ich beobachtete wie seine Fingerkuppen über meine Brust glitten. Dann über meine Hüften.

Wow, das war angenehm …

Ich bekam Gänsehaut.

»Die Zeit war lang, in der ich mich nicht gut fühlte ...«, säuselte ich lächelnd.

Mit traurigem Blick strich er über die einzelnen Narben. »Versprich mir, das nicht mehr zu machen, ja?«

»Wenn du mir versprichst, mich nicht mehr zu verlassen?«

Dabei grinste ich ihn frech an.

Julians Augen formten sich zu einer geraden Linie.

»Du machst mir das echt nicht leicht, Con. Das nennt man auch Erpressung«, sagte er schließlich und ließ seine Hand sinken. Ich hob eine Augenbraue.

»Was? Erpressung? Und wieso mach ich es dir nicht leicht? Ich geb' mir wirklich Mühe, damit du es nicht so schwer hast!«

»Natürlich, aber ich spüre die unterschwellige Erwartung, die bei jeder deiner Handlungen mitschwingt«, gab er schließlich lächelnd zu verstehen und ließ mich mein T-Shirt anziehen.

»Ein Kuss wäre schön, aber den erwarte ich nicht. Das ist nur ein Wunsch«, grinste ich ihm entgegen. Vorsichtig spitzte ich meine Lippen.

Julians Lächeln versiegte. Er sah mir in die Augen und schien zu überlegen. Sein Atem wurde schneller und er verkrampfte sich zunehmend. Sein ganzes Innenleben schien außer Kontrolle. Ich kam näher auf ihn zu und legte meine Arme um seinen Nacken. Da er weder auswich, noch mich wegdrückte, lehnte ich mich weiter zu ihm vor, kniete mich aufs Bett und presste langsam meine Lippen auf seine Haut.

Vorsichtig küsste ich ihn auf den Mundwinkel. Er spannte sich furchtbar an, sein Atem blieb sogar stehen, als sich unsere Lippen ein kleines Stück berührten.

Als ich mich von ihm löste, atmete er erleichtert auf.

»Und? War schlimm?«, fragte ich etwas neckisch.

Er seufzte nur laut aus und schüttelte verständnislos den Kopf. »Du bringst mich noch in die Klapse.«

 

Richtige Fortschritte verzettelten wir aber nicht. Denn im Grunde mieden wir das leidige Thema wie die Pest. Julian musste nur hin und wieder mit meinen Knutschattacken rechnen, die er aber mehr oder weniger als lustig empfand. Was mich nur wieder in die Schublade führte, dass es Spaß war. Nur ein Spaß.

Aber das war es ja schon lange nicht mehr.

 

Irgendwann kam Susa auf mich zu, setzte sich zu mir auf eine Bank im englischen Garten, wo ich genüsslich eine rauchte. Diese Angewohnheit bezwang ich nicht so gut, zumal mir Julians Sucht dabei nicht gerade half.

»Zwischen euch beiden läuft's ja wieder richtig gut«, stellte sie fest. Ich nickte zufrieden, rauchte schnell auf und drückte die Zigarette in meinen Taschenaschenbecher.

»Julian und Micky funktionieren anscheinend auch. Obwohl ich die Beziehung immer noch oberflächig finde.«

»Ach, findest du?«, hakte ich nach. »Dass du manchmal so über deine beste Freundin redest …?«

»Sie ist eben manchmal ein Biest, trotzdem ist sie nett und wirklich immer für mich da. Und dass die beiden ihre Höhen und Tiefen haben ist ja wohl allseits bekannt.«

»Wenn du meinst«, sagte ich ein bisschen schnippig, da mir nicht weiter einfiel, was ich darauf sagen sollte. Wollte sie mich verhören?

Susa fing an mit den Füßen im Kies zu scharren.

»Kommt Julian heute nicht zu dir?«, fragte sie neugierig.

»Äh, nein. Heute ist unser privater Tag. Wir brauchen beide ein bisschen Ruhe.«

»Ruhe? Schade. Wir beide haben lange nichts mehr gemacht.« Das klang schon fast vorwurfsvoll.

»Das tut mir Leid, Susa. Aber in letzter Zeit war es wirklich schwierig, sich auf andere Dinge zu konzentrieren ...«

»Ja, ich weiß. Julian stand ja schon immer bei dir auf Platz eins. Ist okay.«

Klang es aber nicht.

»Wirklich, Susa, ich bemühe mich wieder mehr. Nächste Woche? Machen wir da was?«

»Sehr gerne, aber du musst nicht deine kostbare Zeit für mich opfern«, sagte sie im Lächeln, doch der zynische Unterton war deutlich spürbar.

»Oh, Susa. Bitte, gib mir 'ne Chance. Ich will, dass es wieder besser wird. Mit allem.«

»Davon sehe ich wenig.« Auf einmal hörte sie auf zu Scharren und sah mich böse an.

»Bist du jetzt sauer auf mich?«, fragte ich sichtlich überrascht, da Susa mir doch sonst immer zusprach in den Dingen, die ich tat. Oder zumindest mit Rat und Tat zur Seite stand. Doch die letzten Wochen schienen auch bei ihr nicht unbeschadet von dannen gezogen zu sein.

»Ich bin nicht sauer, nur enttäuscht. Es ist so schade, dass du der Frauenwelt verloren gehst. Julian hat dich überhaupt nicht verdient! Er tut dir mit seinem ständigen Hin und Her nur unnötig weh«, brummte sie in den Wind. Ich verstand zwar nur die Hälfte, doch wusste genau worum es ging. Auch nach 1 ½ Jahren gab sie nicht auf. Ich belächelte es müde. Was blieb mir anders übrig?

Sie hatte einfach keine Chance bei mir. Gegen Julian kam niemand an.

»Susa, ich hab dich lieb, aber ...«

»Ich weiß. Aber Julian

Ich seufzte, sah sie entschuldigend an. Doch ihr Blick ging ins Leere. Etwas verbittert drückte sie ihre Lippen aufeinander.

»Weißt du was, Con?«, sagte sie schließlich, »Ich liebe dich auch ziemlich.«

Ich zuckte zusammen und ein Schauer lief mir über den Rücken. Unangenehme Stimmung trat auf.

»Aber ich lass dich mit Julian tun und lassen, was du willst. Die Zukunft wird zeigen, was aus euch wird. Ich kann dir nur das Beste wünschen. Und hoffen, dass du mit ihm glücklicher wirst, als du es in den letzten Tagen warst.« Sie schien traurig und enttäuscht, versuchte ruhig zu bleiben, um mich nicht anzuschreien. »Ich kann mit Schwulen nicht so, Con. Und gerade Julian ist so ein Typ Mann, der mich sehr an meinen Ex erinnert. Der wurde nämlich nach der Beziehung mit mir schwul. Das war hart. Zudem er mit einem Kommilitonen durchgebrannt ist. Die beiden hatten dann harten Sex auf meiner Toilette zu Hause. Und da seid ihr beiden auch gelandet. Vielleicht sollte ich damit mal Werbung machen? Die Parallelen sind einfach zu stark, haha«, kicherte sie sarkastisch. Dann wurde sie wieder ernst. »Im Ernst, Con. Ich habe seitdem ein etwas gespaltenes Verhältnis zu Schwulen. Aber du bist süß und sehr liebenswürdig mit deiner ruhigen und stillen Art. Deswegen kann ich, glaube ich, trotzdem noch mit dir befreundet sein. Auch wenn es das zweite Mal ist, dass man mich wegen eines anderen Mannes auf Glatteis setzt.«

Ich biss mir auf die Unterlippe.

Das war natürlich eine harte Story. Dass sie die allerdings genau jetzt auspackte, hinterließ bei mir einen bitteren Beigeschmack.

»Es tut mir so Leid, Susa …«

Ich fühlte auf einer gewissen Ebene schon mit ihr mit. Immerhin war es mit Julian nicht sonderlich differenzierter. Trotzdem verstand ich den Vergleich zum Exfreund nicht. Sie wusste von vornherein, dass ich kein Interesse an ihr hatte.

Susanne zuckte mit den Schultern. Dann grinste sie mich an. Als sie kurz an mir vorbei sah, versiegte ihr Lächeln schlagartig. Als hätte sie einen Geist gesehen. Verwundert über ihre Reaktion, wollte ich mich auch in die Richtung umdrehen - da spürte ich ihre kühlen Hände auf meinen Wangen, die mich in ihre Richtung zogen.

Sofort drückte sie mir ihre nach Erdbeere schmeckenden Lippen auf. Meine Augen öffneten sich ein Stück. Doch so schnell wie der Kuss kam, so schnell hörte er auch auf.

Ich sah sie nur perplex an, brachte kein Wort raus. Sie grinste, stand auf und ging mit ihrer Tasche in der Luft schwingend. Völlig verwirrt ließ sie mich sitzen.

Was zum Geier war das?, fragte ich mich und ging mir mit dem Handgelenk über die Lippen. Der Lipgloss klebte unangenehm auf der Haut.

Ich verstand absolut nicht, wieso sie mich küsste und was der Anlass dazu war. Erst, als ich mich in die Richtung umdrehte, wo sie den Geist gesehen hatte, sah ich in erstaunte, blaue Augen.

 

Weiter weg stand Julian mit einer Aktentasche und Rucksack. Er starrte mich an, seine Augenbrauen weit nach oben gezogen. Dann zogen seine Lippen die bekannte strenge Linie, wann immer er nicht zufrieden war. Er nickte, als hätte er verstanden, was er gerade gesehen hatte. Mit einem Mal legte er seine Stirn in Falten und ging weg.

Irgendwie hatte mich die Situation noch nicht ganz gepackt. Immer noch sichtlich verwirrt, saß ich auf der Parkbank und starrte auf die Stelle, wo Julian stand.

»Er ...«, flüsterte ich.

Da bahnte sich was an. Aber, was zur Hölle war das denn grade?

 

Tatsache. Er ging nicht an sein Handy. Den ganzen Nachmittag und Abend versuchte ich es. Zu Hause ging auch niemand ran. Vielleicht war wieder irgendein Reit-Turnier von der Schwester. Aber er hatte nichts erwähnt. Zudem er nie dorthin mitgehen würde. Und allgemein weggehen würde er auch nicht, es war Mittwoch. Auch als er nach 23 Uhr nicht an sein Handy ging, machte ich mir Sorgen, schnappte mir mein Fahrrad und fuhr zu ihm.

 

Als ich ankam, stand das Haus im Dunkeln. Nur ein kleines Licht schien im oberen Stockwerk zu leuchten.

Jemand war also zu Hause.

Ich klingelte.

Niemand öffnete.

Ich klingelte erneut. Kurzes Warten.

Ich wollte schon Annettes Nummer wählen, da hörte ich Schritte. Ein Schloss wurde betätigt. Nach einer kurzen Weile, öffnete sich schließlich die Tür. Eine schwarze Gestalt stand hinter hier und öffnete nur so weit wie nötig.

»Julian?«, fragte ich ins Dunkel, da die Gestalt von der Grüße her niemand anders hätte sein können. Da öffnete sich die Tür ein Stückchen mehr.

»Was willst du?«, ertönte es in einer seltsamen Stimmlage.

»Du bist weder an dein Handy noch an das Haustelefon gegangen. Ich hab mir Sorgen gemacht ...«

»Aha.«

Damit wollte er die Tür wieder schließen. Sofort rutschte mein Schuh durch den Schlitz. Es tat ziemlich weh, als er es erst nicht bemerkte und weiter zudrückte.

Da kam mir dieser Geruch entgegen.

»Hast du etwa getrunken, Julian?«, fragte ich aufgeregt. »Wo ist Annette? Oder Jenny? Bist du alleine?«

»Was geht’s dich an?«, raunte er immer noch von drinnen und ließ mich nicht eintreten.

Und das mitten in der Nacht, dachte ich.

»Lass mich rein, Julian!«

»Geh weg!«

»Julian, lass mich rein, oder ich hau dich um!« Ich musste etwas über meinen Kommentar grinsen. Niemals würde ich Julian umrennen können. Geschweige denn zu Fall bringen. Das verbat mir schon meine Statue.

»Sehr witzig -«

Doch der Alkohol spielte heute Abend mal für mich: Ich drückte mich mit meinem gesamten Gewicht gegen die Tür und öffnete sie tatsächlich so weit, dass ich eintreten konnte. Etwas rumpelte laut. Schnell sprang ich ins Haus, schloss die Tür und schaltete das Licht ein.

Julian lag auf dem Boden und hielt sich die Hände vor die Augen, geblendet vom Licht. Man sah sein blasses Gesicht und die rot unterlaufenen Augen.

»Und ich dachte, ich wäre das Problemkind ...«, seufzte ich, zog mir die Schuhe aus und fasste Julian unter die Arme, um ihn aufzurichten. Doch er wehrte sich, sodass er wieder zu Boden fiel.

»Verpiss dich!«, schrie er mir entgegen. Das war wohl der aggressive, betrunkene Julian, von dem uns Micky immer erzählte.

»Julian, du bist betrunken.«

»Und du ritzt dich!«, rief er aufgebracht. Ich seufzte wieder. Ruhig stand ich neben dem sich wendenden Körper, der versuchte aufzustehen. Als er sich aufgerichtet hatte, fasste er sich an den Kopf. Ohne auf den Weg zu achten, den er mit seinen Füßen ging, griff er blind zur Türklinke.

»Geh«, befahl er ein weiteres Mal, doch er bekam die Klinke nicht zu fassen. Er wankte viel zu sehr, brauchte mehrere Anläufe, um überhaupt die grobe Richtung abzuschätzen, in die er griff.

»Wir gehen in dein Zimmer«, schlug ich stattdessen vor und ging schon zur Treppe.

»Wir gehen nirgendwohin!«, lallte er und spuckte etwas, als er mich anschrie.

»Dann gehst du und ich folge dir.«

»Bestimmt nicht! Du... du... scheiß Homo!«, schrie er wieder und fasste sich ein weiteres Mal an die Stirn. Meine Lippen verkrampften sich. Er ist betrunken, Constantin, er ist betrunken, dachte ich. Das ist nicht der Julian, der mir sonst gegenüber stand.

Ich war mir ziemlich sicher, dass die Sache mit Susa der Auslöser war, so seltsam wie dieser Moment zwischen ihm und mir ablief. Was sonst?

Also versuchte ich erneut ein Gespräch anzufangen.

»Julian, bist du sauer wegen Susa?«

»Interessiert mich 'n Scheiß mit Susa! Fick die doch, wie du lustig bist, aber an mich lass ich dich sicher nicht ran«, lallte er abermals, manche Worte kaum verständlich. Er verlor kurz das Gleichgewicht, hielt sich an einer kleinen Kommode fest. Dann winkte er passiv-aggressiv ab und bewegte sich zur Treppe. Vorsichtig tätigte er einen Schritt nach dem anderen. Zwischendurch hustete er, als hätte er drei Mal so viele Zigaretten geraucht wie Flaschen Alkohol getrunken. Er verkrampfte sich am Geländer, um nicht zu fallen. Vorsichtshalber stellte ich mich ans Ende der Treppe, um ihn bei einem Fall rechtzeitig auffangen zu können.

Als er oben angekommen war, schlich er in sein Zimmer und beachtete mich nicht weiter. Langsam folgte ich ihm und betrat sein offen stehendes Zimmer, in dem der Alkoholgeruch seinen Zenit erreichte.

»Wo sind denn die anderen beiden?«, fragte ich immer noch bemüht um ein ruhiges Gemüt. Er stand an seinem Schreibtisch und trank einen weiteren Schluck von der Whiskeyflasche. Dann zuckte er die Schultern.

»Irgend eine Klassenfahrt ...«, säuselte er. Schließlich ließ er sich auf sein ungemachtes Bett fallen. Natürlich mit der Whiskeyflasche.

Ich überlegte, wie ich an diese Flasche käme, ohne seine Fäuste in meinem Gesicht zu spüren, doch das  schien schlichtweg unmöglich.

Im Fernsehen lief ein Porno. Man sah die Frau sich leidenschaftlich auf dem Mann bewegen, während sie zwei weitere Schwänze hingehalten bekam, um die sie sich gewissenhaft kümmerte.

Ich seufzte. Mir blieb nichts anderes als zu seufzen. Was tat er denn da? Wollte er sich ernsthaft extra "hetero" zeigen?

»Deine Schuld ...«, murmelte er und sah gequält zum Fernseher, als fände er es genauso eklig, wie ich. »Schuld ...«, murmelte er erneut. Ich zog meine Jacke aus, legte sie auf den Schreibtischstuhl und beobachtete dabei mehrere Zigarettenstummel im Aschenbecher. Er hatte im Haus geraucht. Und das nicht nur einmal. Annette wird das gar nicht gefallen, dachte ich bei mir.

Nicht weiter darauf achtend, setzte ich mich vorsichtig zu ihm aufs Bett.

»Woran bin ich denn Schuld?«, fragte ich ihn wie ich ein Kind fragen würde, in der Hoffnung eine verständliche Antwort zu bekommen. Er sah mich mit seinen geröteten Augen an, wehleidig und weniger aggressiv als vor ein paar Minuten.

Er richtete sich schlagartig auf und tippte mir mit seinem Zeigefinger schmerzlich auf meine Brust.

»... dass ich beim Sex mit Micky an dich denken muss! Wie es wohl wäre, mit dir zu schlafen, du Homo! Wieso denk ich so 'ne Scheiße? Fuck!«, rief er erneut und trank von seinem Whiskey. Ich versuchte die Flasche zu fassen, doch er zog sie weg und rief ein deutliches »Nein«.

Oh, dachte ich, da habe ich wohl mehr in ihm ausgelöst, als gedacht.

»Deswegen betrinkst du dich?«

»Was soll ich sonst machen? Dann fühl ich mich wenigstens … besser … und so. Kann vergessen …«

»Besser? Du siehst ziemlich fertig aus, Julian.«

»Ach ja?«, schrie er wieder und kam mir bedrohlich nah, »Aber du fühlst dich nach deinem Ritzen nicht besser? Na klar, sonst würdest du es doch nicht machen!«

Emotionslos sah ich in seine Augen. Wie gemein er werden konnte. Wirklich erstaunlich.

Dann nickte ich einfach. Julian schnaubte aus. Wieder ein Schluck von dem rotbraunen Gesöff. Dann stellte er die Flasche freiwillig weg.

Die Frau aus dem Porno stöhnte wieder auf, als der zweite Mann seinen Penis in sie einführte.

»Könntest du das bitte ausmachen, Julian?«, fragte ich zögerlich.

»Wieso? Ich find's geil.«

Ich seufzte, denn ich war mir ziemlich sicher, dass er das nicht geil fand. Ich stand auf und schaltete einfach den Fernseher aus ohne auf die anderen Geräte zu achten. Da protestierte er großspurig.

»Ey! Mach das sofort wieder an! Du scheiß -«

»Ich was?«, fragte ich sofort in einem lauten und gereizten Ton, drehte mich zu ihm um und sah ihn auffordernd an.

Julian verkrampfte nur sein Gesicht. Anscheinend hatte er nicht mit einer solch wütenden Reaktion gerechnet. Langsam ließ er sich wieder auf das Bett sinken und wankte selbst im Sitzen.

»Sag's ruhig. Homo, Arschloch, Idiot oder Hurensohn?«, schlug ich ihm vor und sah ihn erwartungsvoll an. Meine überlegene Situation ließ mich Mut schöpfen.

»Alles ...«, murmelte er, den Augenkontakt jedoch nicht abbrechend.

»Alles, aha.«

Dann schwieg er. Er deutete erneut auf den Fernseher. Weniger auffordernd, mehr bittend. Doch ich schüttelte den Kopf.

Enttäuscht sah er weg, seufzte laut auf und lehnt sich etwas nach hinten.

»Dann blas mir wenigstens einen.«

Was?

Gerade eben war ich doch noch der scheiß Homo und jetzt soll ich ihm einen blasen?

»Julian, ich blase dir bestimmt jetzt keinen.«

»Ach? Aber bei Susas Feier war's okay? Gib's zu, du kannst das nüchtern nämlich gar nicht!«, warf er mir vor. Meine Statue verkrampfte sich.

Julian, du bist furchtbar, wenn du so betrunken bist, dachte ich bei mir. Und entschuldigte mich zehnfach bei  Micky, der ich nämlich nie Glauben schenken wollte, wenn sie mir von diesem Julian berichtete.

Er sah mich immer noch erwartungsvoll an.

»Julian, du kannst das nicht nüchtern. Da liegt der Unterschied.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich bin ja auch nicht schwul, du bist hier der Homo«, grinste er verschmitzt. Kurz darauf wurde das Grinsen zu einem Lachen.

Das war zu viel.

 

Ich holte aus und ließ meine Handfläche gegen seine Wange schnellen. Der Schlag hallte im Zimmer nach. Julian hustete sofort los, räkelte sich auf dem Bett, hielt sich seine Wange.

Das war wohl ein bisschen zu feste, dachte ich noch und bereitete mich auf einen Konterschlag von Julian vor.

Doch der erwartete Wutausbruch seinerseits blieb aus. Ich atmete tief ein und aus.

Hatte ihn das jetzt zur Vernunft gebracht? Oder nur die restlichen Gehirnzellen getötet?

Als er regungslos auf dem Bett liegen blieb und nichts weiter tat, als sich seine Wange zu reiben, schnaubte ich aus.

»Ich hol dir ein Glas Wasser«, quetschte ich durch meine Zähne und verließ das Zimmer. In der Küche nahm ich ein Glas und eine Wasserflasche aus dem Kasten neben der Spüle. Immer noch gereizt und mit heißem Kopf, den Geruch des Alkohols in der Nase, schüttete ich ihm etwas ein und brachte beides zurück in sein Zimmer.

Julian saß mittlerweile an der Bettkante und starrte den Boden an. Emotionslos gab ich ihm das volle Wasserglas. Schweigend nahm er es an. Trank einige Schlucke davon. Setzte ab. Nippte wieder. Ich schüttete ihm etwas nach, stellte die Flasche schließlich neben sein Bett und schnappte mir die Whiskeyflasche, die ich sofort zuschraubte.

»Hast du noch mehr Alkohol hier im Haus?«, fragte ich nun im verbissenen Ton. Er nickte und zeigte auf seine Kommode. Als ich sie öffnete, lächelten mich weitere sieben Flaschen Alkohol an. Darunter Rum, Sherry, Kräuterlikör und vieles mehr. Ich stellte die Whiskeyflasche dazu und schloss die Kommode wieder.

»Diesen Schrank rührst du in nächster Zeit nicht mehr an, klar?«, befahl ich.

Wie ein reumütiges Kind nickte er abermals. Ich bezweifelte zwar stark, dass er die Disziplin aufbringen würde, sich wirklich vom Alkohol fernzuhalten, aber was blieb mir im Moment noch, als ihm zu vertrauen. Julian nippte noch einmal am Wasserglas.

Er sagte nichts, machte nichts. Trank einfach nur sein Wasserglas und versuchte weiterhin nicht im Sitzen zu Wanken.

Während ich ihn so betrachtete, kamen in mir die altbekannten Schuldgefühle hoch. Es tat mir Leid, wie ich mit ihm gesprochen hatte und vor allen Dingen, dass ich ihn geschlagen hatte. Ich hatte die Beherrschung verloren. Dabei war ich doch der Nüchterne von uns beiden und verhielt mich letztendlich genauso neben der Spur.

Doch als ich schon zur Entschuldigung ansetzen wollte, hörte ich ihn aufschluchzen. Tränen fielen auf seine Jeans. Er hielt sich die Hand vor sein Gesicht und schluchzte erneut. Das Wasserglas zitterte in seiner Hand und schwank gefährlich vor sich hin.

Erschrocken über seinen plötzlichen Ausbruch, kam ich sofort auf ihn zu und setzte mich neben ihn; nahm das Wasserglas ab und stellte es auf die Kommode.

»Julian, es tut mir Leid, nicht weinen, bitte«, flehte ich ihn an, strich ihm über den Rücken und hoffte auf ein abebben seines Ausbruchs. Doch er weinte immer schlimmer, hörte gar nicht mehr auf. Als ich meine zweite Hand nach ihm ausstrecken wollte, schlug er sie weg.

»Du bist an allem Schuld! Hätten wir nicht für immer einfach Freunde sein können? Wieso weckst du in mir solche Gedanken?«, rief er, schluchzte zwischendurch, schluckte und vermied jeglichen Augenkontakt mit mir. Ich suchte nach passenden Worten, fand jedoch keine. Egal, was ich jetzt sagen würde ... er würde mich sicherlich eh nicht verstehen.

Julian trank, um den Gefühlen auszuweichen, die er von mir vorgetischt bekam und verfiel ihnen letztendlich stärker, als nüchtern.

Es war, als würden die Gedanken nur so aus ihm heraussprudeln.

Ich strich einfach weiter über seinen Rücken.

»Es ist nicht fair«, schluchzte er erneut. Sein Brustkorb hob und sank immer wieder. Unregelmäßig atmete er in seine Hand, die er weiterhin vor sein Gesicht hielt. »Wieso? Wieso, Constantin?«

Ich sah nur verletzt zur Seite. Keine Ahnung, Julian ... Ich weiß nicht mal, was dich gerade beschäftigt, dachte ich und beobachtete weiter den traurigen Julian.

»Als Susa dich geküsst hat … Eigentlich müsste es mir egal sein ...«, setzte er ein weiteres Mal an. Ich verstand nur schwer, was er von sich gab. »Ich dachte … Wieso? Wieso küsst sie ihn? Und wieso lässt … wieso lässt er es zu? Er liebt doch mich!«

Meine Augen weiteten sich etwas und das Bild um seinen Gefühlsausbruch wurde klarer.

»Ich war … Ich war so sauer! Ich hätte sie am liebsten in Stücke gerissen, wieso machte sie das? In meiner Gegenwart, nur um mich zu ärgern! Du liebst doch mich!«

Er war also eifersüchtig auf Susa? Weil sie mich geküsst hatte?

»Und dann … War ich so enttäuscht von allem, besonders von mir, weil ich immer dachte, dass ich dich nur ... als Freund sehe... Aber ich war auf einmal so sauer... hab mich mit allem geirrt ... und dann traf's mich wie ein Schlag... weil ich dachte, dass du jetzt aufgehört hattest … mich zu lieben, also … Weil du mit ihr … Und weil ich dir ja eine Abfuhr gegeben habe … Ich hab dich warten lassen … so lange … keine Lust mehr auf mich ...«

Einzelne Wortfetzen aus seinem Schluchzen klangen wie Musik in meinen Ohren. Aber die Tatsache, dass er vor mir unaufhörlich weinte, seine Gefühle mir entgegen schluchzte und es kein Ende zu nehmen schien, machte mich so unglücklich wie noch nie.

Nach einer weiteren Weile von unzusammenhängenden Wörtern und Schluchzen, richtete er sich etwas auf und sah mich mit seinen tränenüberlaufenden Augen traurig und enttäuscht an.

»Ich dachte, du verlässt mich ...«, murmelte er. Ihn so zu sehen, ließ meine Augenbrauen zusammenziehen. Gequält sah ich in seine Augen.

»Es tut mir so Leid ...«, flüsterte ich. Vorsichtig strich ich über seine Wange und entfernte eine Träne von ihr. Sanft bewegte ich meinen Daumen auf und ab. »Ich liebe dich. Ich würde dich niemals auf eine solche Weise verlassen.«

Er fing an zu lächeln. Ah, da war es wieder. Dieses Lächeln, das mich vergessen ließ, wie blöd es eigentlich um uns stand.

Die Situation entspannte sich schlagartig, als ich ihn in der Gewissheit wog, ihn nicht zu verlassen.

»Ich bin … furchtbar betrunken ...«, grinste er mir einmal aufhicksend entgegen. »Tut mir so Leid ...«

Ich schüttelte den Kopf. »Ist okay. Nur bitte versprich mir, dass sich das revidiert, ja?«

Er nickte sofort zustimmend. »Falls doch nicht, darfst du ruhig wieder hauen.«

»Ich wollte dich nicht hauen«, lachte ich über seine kindliche Wortwahl.

Er lächelte, als wären nie Tränen geflossen. Trotzdem strich ich weiterhin mit beiden Händen über seine feuchten Wangen und versuchte die restlichen Tränen aus seinen Augen wegzuwischen.

»Stinke ich sehr nach Alkohol?«, fragte er schließlich.

»Wie ein Schnapsladen.«

Er kicherte über meine schnelle und nüchterne Antwort.

»Darf ich dich trotzdem küssen?«

 

Ich hielt den Atem an. Verunsichert lächelte ich weiter. »Du willst mich küssen?«

»Darf ich nicht?«

Ich stockte. »Doch, natürlich, aber sonst -«

 

Ah, da spürte ich sie schon auf mir. Trocken, wie immer. So rau, wie immer. Sie schmeckten nach Whiskey und Tabak. Wie immer.

Julian löste sich innerhalb von Sekunden wieder von mir, sah in meine Augen und suchte mein Einverständnis.

Dann küsste er mich wieder. Und wieder und wieder. War es jetzt also in Ordnung, dass wir intim wurden? Ich knabberte vorsichtig  und herantastend an seiner Unterlippe. Er grinste in den Kuss hinein und berührte meine Lippen mit seiner Zunge.

Sofort versanken wir in einem innigen Kuss voller Zuneigung. Er war betrunken, wie sollte es anders sein. Aber ich bekam, was ich wollte. Ließ mich das wirklich kalt? Dass es nur auf dieser Ebene zu Zuneigungen kam? Machte mir das also nichts aus?

 

Leidenschaftlich spielten unsere Zungen miteinander. Im nächsten Moment spürte ich seine heißen Hände unter meinem Pullover. Sie strichen über meinen Rücken. Sofort bekam ich Gänsehaut. So schön, so angenehm. Hingebungsvoll hätte dieser Moment ewig dauern können. Als er sich über mich beugen wollte, um mich in die Kissen zu drücken, stoppte ich jedoch sofort den Kuss.

»Julian, begeh den Fehler nicht ein zweites Mal«, mahnte ich ihn. Er hielt inne.

Eine leichte Erkenntnis streifte seine Mimik. Dann verstand er wohl, was ich meinte.

Er löste sich von mir und setzte sich aufrecht hin.

»Entschuldige.«

»Du weißt, ich würde dich sonst nicht zurückweisen, aber ...«

Doch er winkte sofort ab und lächelte. »Du hast ja Recht. Kein Sex vor der Ehe und so.«

Ich musste lachen und setzte mich ebenfalls wieder auf. »So ähnlich.«

Er stieß einen lauten Seufzer aus, immer noch sichtlich betrunken und nuschelte vor sich hin. »Trotzdem weiß ich nicht, was ich machen soll ...«

»Tut mir Leid, das kann ich dir auch nicht sagen.«

Er blinzelte mir zu, als würde er mich nicht richtig erkennen. »Und wenn wir es ausprobieren?«

Ich hustete kurz, dann hob ich eine Augenbraue. »Ausprobieren? Ich hör wohl nicht richtig?«, lachte ich mit einem gewissen Unterton.

Er zuckte mit den Schultern und lächelte mich zweideutig an. »Überzeuge mich doch, dass es mit dir besser ist.«

»Julian, du bist jetzt einfach vom Alkohol spitz und rollig. Frag mich das noch mal, wenn du nüchtern bist, dann lass ich mit mir reden«, sagte ich entnervt und strich ihm über sein Gesicht. Er grinste.

»Okay, morgen frag ich dich noch mal.« Mit diesen Worten küsste er meine Handinnenfläche.

»Tust du eh nicht.«

War Micky jetzt auf einmal kein Thema mehr? Ich dachte, er hätte streng was gegen Fremdgehen?

»Wenn doch musst du ja sagen.«

»Ist das jetzt eine Wette?«, lachte ich erneut über seinen Irrsinn auf.

»Wenn du mich erpresst, dich zu ritzen, sobald ich gehen sollte, kann ich auch eine solche Wette mit dir abschließen!«

Sein Kopf schien klarer zu sein, als vorher, aber bei Verstand war er bei langem nicht. Sein Sprechen klappte besser, doch seine Ideen wurden nicht nüchterner.

Ich schüttelte grinsend den Kopf. »Ich kann bei der Wette nicht verlieren, Julian, also bitte mache jetzt nichts, was du bereuen wirst!«

Er griff nach meinem Kopf und küsste mich erneut. Hm, dachte ich, daran könnte ich mich gewöhnen. Regelmäßig von ihm geküsst zu werden, so spontan. Der Kuss wurde schnell intensiver und ließ mich sehnsüchtig seufzen. Doch Julian löste sich eher von mir, als ich dachte, und flüsterte gegen meine Lippen

»Ich nenne das jetzt mal Selbsterziehung. Ich bin mir sicher, dass wir Spaß haben werden.«

Selbsterziehung? Dass du deinen Gefühlen nachgeben wirst?

Sehnsuchtsvoll leckte ich ihm über die Lippen. Er schnappte sie sich mit den Zähnen und biss vorsichtig auf sie. Ich lachte sofort, als er mich auf das Bett drückte und weiterhin mit Küssen übersäte.

Ja, der Überzeugung, dass wir ganz viel Spaß miteinander hätte, war ich auch. Am liebsten hätte ich sofort mit ihm geschlafen … Am liebsten auf der Stelle seinen Schwanz in mich geführt. Am liebsten gleich …

 

Doch ich behielt Julian auf Distanz. Wir küssten uns immer wieder leidenschaftlich auf die Lippen, teilweise spürte ich sogar seine pralle Erregung durch die Hose. Alles in mir schrie nach Vereinigung - mein Verstand behielt die Oberhand.

Wir kuschelten schließlich eng ineinander geschlungen für mehrere Minuten.

Irgendwann schlief er ein; sein Streicheln auf meinem Rücken hörte auf. Vorsichtig richtete ich mich auf und sah in sein schlafendes Gesicht.

»Ich soll also dann hier schlafen, ja?«, fragte ich in den stillen Raum und sah auf die Uhr. Halb 2. Schnell schrieb ich meiner Mutter, dass ich morgen nicht zur Uni gehen würde, da es Julian nicht gut ginge und ich bei ihm blieb. Zur Hälfte gelogen.

Ich zog Julian seinen dicken Pulli aus, was ihn weniger störte, da er einfach weiterschlief, und warf das Stück Stoff in eine Ecke, gefolgt von meinem Pulli. Vorsichtig kuschelte ich mich in seine Arme und küsste ihn ein letztes Mal auf die Lippen, nachdem ich ein Gute Nacht flüsterte.

Er hatte mich geküsst.

Er hatte mich geküsst.

Er …

Sein heißer Atem in meinem Nacken weckte mich. Vorsichtig drehte ich mich noch verpennt um und musste grinsen, als ihm etwas Speichel aus dem Mundwinkel lief. Ich strich ihn vorsichtig weg, bemüht ihn nicht zu wecken. Doch da zuckte er schon zusammen und öffnete schließlich seine roten Augen.

»Constantin?«, fragte er sichtlich überrascht mich an seiner Seite zu sehen.

»Guten Morgen, Sonnenschein. Soll ich dir eine Aspirin holen?«, begrüßte ich ihn etwas sarkastisch und strich ihm ein Haar aus dem Auge. Er stöhnte kurz auf, fasste sich an die Stirn und nickte still. Sofort erhob ich mich, stieg über ihn aus dem Bett und ging in die Küche runter. Natürlich waren wir immer noch alleine. Annette und Jenny blieben wohl länger weg.

Nach einigem Suchen entdeckte ich sowohl Aspirin als auch neue Gläser und nahm mir bei der Gelegenheit gleich einen Orangensaft mit. Langsam ging ich wieder in sein Zimmer und ließ die Aspirintablette ins Wasser fallen.

Julian hatte sich mittlerweile aufgesetzt und saß noch halb unter der Bettdecke. Ich reichte ihm das Glas und gesellte mich wieder zu ihm. Vorsichtig nippte ich am Orangensaft, während er sich die Aspirin rein kippte.

»Wann bist du gekommen?«, fragte er heiser. Ich grinste, sichtlich über seine raue Stimme amüsiert.

»Gegen halb 12.«

»Oh je. Daran kann ich mich gar nicht erinnern ... Hab ich was Dummes gemacht?«

»Jede Menge.«

»Oh, nein. Oh ...« Er fasste sich an die Stirn und rieb die Schläfen. Wieso kam mir dieses Gespräch, nur in verdrehten Rollen, so bekannt vor? Julian entwich ein Seufzer. »Hau raus, was ist passiert? Und bitte diesmal die Wahrheit.«

Mein Lächeln versiegte. »Wirklich?«

»Ja, hau raus! Ich find's furchtbar, wenn du Dinge weißt, von denen ich nichts weiß, bei denen ich aber beteiligt war.«

»Was ja auch schon öfter vorgekommen ist ...«, ermahnte ich ihn und hob eine Augenbraue.

»Ich weiß. Der Alkohol.«

»Hör einfach damit auf, okay?«

Er schwieg einfach und vermied den Augenkontakt. Verwies dann einfach wieder auf seine Bitte, dass ich ihm alles erzählen sollte. Schulternzuckend begann ich mit der Einleitung, dass er mich nicht reinlassen wollte, mich als Homo beschimpft hat und schließlich betrunken auf dem Boden landete. Er entschuldigte sich sofort, als ich die Beleidigung erwähnte. Jedoch winkte ich ab und erachtete es als nichtig.

Denn an dem Abend fielen noch weitere beleidigende Worte, wie ich ihm berichtete. Dann noch, wie er sich einen Porno angeschaut hat und wie er mich danach bat, ihm einen zu blasen. An der Stelle versank sein Gesicht in eine Starre und er verfolgte nur schwer meine Erzählung.

Als ich ihm von der Ohrfeige erzähle, nickte er und gestand ein, dass sie verdient war. Ich grinste und entschuldigte mich trotzdem noch einmal. Aus Spaß hielt er mir den Teddy hin, den ich ihm geschenkt hatte. »Den musst du hauen, hab ich doch gesagt«, scherzte er und setzte ihn zwischen seine Beine, um ihn während meiner fortführenden Erzählungen zu kraulen.  

Dann kam ich zum großen Weinen. Er schluckte einen riesigen Kloß runter, als ich ihm in etwa den Grund für das Weinen beibrachte. Genau konnte ich ihm nicht wiedergeben, was er mir sagte, aber erzählte ihm die wichtigsten Punkte seiner mehr oder weniger verständlichen Rede.

Zwischendurch schloss er die Augen und atmete energisch aus. Wahrscheinlich schämte er sich. Doch ich konnte ihn beruhigen, dass ich mich trotz der haarigen Situation sehr über seine Worte gefreut hatte. Doch mehr als ein müdes Lächeln bekam er nicht zustande.

Zu guter Letzt berichtete ich ihm von unserem Kuss. Und dass er derjenige war, der die Initiative ergriffen hatte. Mehrmals. Leidenschaftlich. Innig und sehnsuchtsvoll. Sofort vergrub er seinen Kopf in seine Hände.

»Will ich weiter wissen?«, fragte er zittrig und spähte durch einen Schlitz seiner Finger.

Ich konnte mir ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen.

»Ich hab dich abgehalten. Aber du hättest gerne.«

Er seufzte von sich selbst enttäuscht laut auf. »Es tut mir so Leid. Ich muss dir sicherlich immer das Gefühl geben, dass es super läuft und jetzt, wenn ich wieder nüchtern bin, mach ich alles kaputt.«

»Wo wir zur Wette kämen ...« Das süffisante Grinsen wandelte sich in ein hämisches. Eigentlich wollte ich die Wette unter den Tisch fallen lassen, aber ... Julian sollte schon von sich selber erfahren, wenn er betrunken war. Und Betrunkene sagen doch immer die Wahrheit oder?

Er stutzte sofort. »Wette …?«

»Du hast mit mir die Wette abgeschlossen, dass, wenn du dich traust mich im nüchternen Zustand nach Sex zu fragen, ich ja sagen muss. Wenn du dich nicht traust, darf ich dir vorwerfen, dass du feige bist und ich mir eine Gemeinheit überlegen darf. Sozusagen zur Strafe, dass du deinen Wetteinsatz nicht einlöst.«

Sein Atem stockte. Verunsichert sah er mich an und zog eine Augenbraue hoch. »Eine solche Wette habe ich mit dir abgeschlossen?«

Ich nickte.

»Unter welchem Vorwand?«

»Damit wir es ausprobieren und du dann weißt, ob es gut wird, oder nicht.«

»... Klingt nach mir«, seufzte er erneut. »Wie kann ich so oberflächig werden, wenn ich getrunken habe? Als ob alles aus Sex bestände ...«

»Tja«, sagte ich und zuckte die Schultern, »du bist ziemlich rollig, wenn du getrunken hast.«

»Es tut mir so Leid ...«, entschuldigte er sich zum tausendsten Mal. Mein Lächeln versiegte sofort und ich sah ihn ernst an.

»Dann hör auf zu saufen.«

Julian hielt die Luft an. Seine Lippen zogen sich nach unten. »Ich war eben enttäuscht ... und wütend.«

»Hat man gemerkt.«

»Sorry, echt.«

»Dann rede doch vorher mit mir.«

»Du weißt, dass ich das Thema, wenn möglich, nicht anschneide.«

»Ich weiß. Aber eine Lösung bringt Trinken nicht mit sich.«

Als Julian mir keine Antwort darauf gab, sondern nur leer auf die Decke starrte, trank ich einfach meine Orangensaft weiter.

Dann hörte ich ihn sich kurz räuspern.

»Du bist jetzt wieder enttäuscht, oder?«, fragte er kleinlaut.

Ich überlegte gespielt lange. »Ganz ehrlich?«

»Ich bitte drum.«

»Ja, und zwar ziemlich«, gestand ich ein und sah ihn durchdringen an. Natürlich konnte ich mich weitaus besser fassen, als an Susas Geburtstag. Grade weil Julian Bescheid wusste, er mir seine Eifersucht und die Angst, ich könnte das Interesse an ihm verlieren, gestand. Das machte mir mehr Mut als zuvor. Aber davon wollte ich ihn nichts spüren lassen. Ich wollte seine unverfrorenen Gefühle noch einmal hören und zwar nüchtern.

Doch er schwieg. Spielte mit seinen Fingern an dem Glas in seinen Händen und nickte. Wahrscheinlich traute er sich nicht mehr irgendetwas dazu zu sagen, aus Angst, er könne es noch schlimmer machen.

 

»Küss mich«, befahl ich ihm. Erwartungsvoll lächelte ich ihn an und sah in seine Augen. Überrumpelt traf mich sein verwirrter Blick.

»Constantin, ich gehe Micky nicht fremd.«

»Julian, das bist du schon. Und das schon zum zweiten Mal«, bemerkte ich spitz.

Er zuckte heftig zusammen und kniff verletzt die Augen zusammen. »Ich weiß«, murmelte er schließlich und schien sich selber zu verfluchen.

Ich schüttelte nach mehreren ungenutzten Sekunden einfach nur den Kopf.

»Du musst es nicht tun, wenn du es nicht willst. Aber verstehe, dass ich nicht schlau aus dir werde, wenn du gestern noch mit mir schlafen wolltest und dich jetzt nicht mal mehr traust, mich zu küssen.«

»Ich weiß ...«, murmelte er wieder kaum verständlich. »Ich … Ich will dir nur keine Hoffnungen machen und sie dann zerschlagen, wenn es doch nichts wird. Verstehst du?«

Wie immer besorgt. Es war echt immer was anderes, was ihn davon abhielt, mir entgegen zu kommen. Dabei war es so einfach! Es ging nie um Gefühle, als wäre das gar nicht Thema. Sondern einfach nur Kleinigkeiten, die ihm im Weg standen. Als müsste vorher alles perfekt sein, bis wir eine Beziehung beginnen könnten.

Nicht mit einem Wort stand jemals das Thema Homosexualität im Raum. Jeder normale Mann hätte mir einfach zu verstehen gegeben, dass er nicht auf Männer stand.

Nicht Julian. Der würde, wie ich nun auch bereits aus seinem betrunkenen Mund gehört hatte, sich sofort mit mir in die Kiste begeben; nur um es mal auszuprobieren. Einfach mal gucken, wie es ist, einen Mann zu vögeln.

Dann könnte man sich ja immer noch entscheiden. Aber genau diese immerwährende, lockere Art von ihm, machte es so schwer, einen Startpunkt zu finden. Einen Punkt, von dem ich ausgehen konnte. Von dem auch er ausgehen konnte. Er stand sich selber im Weg.

»Ich verstehe, dass du mir nicht unnötig wehtun willst. Aber ich bin ein Masochist, es ist also okay, wenn es ein bisschen wehtut«, ließ ich es zweideutig im Raum stehen. War ja nicht mal gelogen …

Er grinste sofort und sah mich kopfschüttelnd an. »Du bist doch kein Masochist.«

»Natürlich. Ich ritze mich. Und wenn ich dir den Hintergrund dafür erzähle, wirst du mir zustimmen.«

Eine Augenbraue hob sich und das Lächeln verschwand aus Julians Gesicht. »Hintergrund? Ich dachte... du tätest das aus Trauer? Es hat also einen anderen Hintergrund? Und es hat sicherlich mit mir zu tun, oder?«, fragte er misstrauisch.

Ich wartete einige Sekunden bis ich zustimmte.

»Wenn du es wissen willst, musst du auch über deinen Schatten springen.«

»...Und schon wieder erpresst du mich! Lass das, das schürt keine gesunde Beziehung.«

»Noch haben wir keine, also nutze ich die Dinge, die gut  funktionieren«, lachte ich hämisch auf und knuffte ihn in die Seite.

»Oh, man, oh, man. Constantin ... Dass du jemals so ehrlich zu mir sein würdest, hätte ich in meinem Leben nicht gedacht. Dabei warst du immer so ein Mäuschen...«

Nicht weiter von seiner Erkenntnis, dass ich ihm gegenüber kein Mäuschen mehr war, stören lassend, rutschte ich ein Stück auf ihn zu und berührte sein Ohr mit meiner Nase. Dann flüsterte ich mit schnellem Herzschlag kaum hörbare Worte hinein…

 

Mit einem Mal wich er zurück. Große Augen starrten entsetzt in meine. »Was? Das ist dein Ernst?«, fragte er sichtlich geschockt.

Ich nickte.

»Du stellst dir vor, dass ich … dass ich … Also, ich mein, so richtig? Ich würde dir nie so weh tun!«, rief er abermals empört.

Ich nickte weiterhin.

»Weiß ich doch.« Auch wenn es irgendwo schade war, dass er niemals der böse Julian aus meinen Träumen sein wird. Nicht, dass ich extremer Fan von so etwas war, doch einen gewissen Reiz hatte eine sanfte Bestrafung.

Besonders eine von Julian.

Er schluckte, noch die Informationen verarbeitend, einen Kloß runter.

Schließlich gestand er ein, dass ich nicht ganz Unrecht hatte. »Okay, ich muss eingestehen, dass du … jedenfalls die Tendenz dazu hast. Also zum Masochisten.«

Ich lachte leicht verlegen und legte meinen Kopf auf seine Schulter.

»Küsst du mich jetzt?«, hakte ich nach.

Julian schien über den Deal weiterhin nicht sehr erfreut zu sein.

Aber nach dem gestrigen Abend konnte er mir nicht mehr weiß machen, dass er nicht auch darüber nachdachte, es zumindest mal mit mir auszuprobieren. Dass da nicht auch Gefühle im Spiel sind, von denen er nun wusste, dass sie für mich schlagen. Natürlich war meine Bitte Micky gegenüber sehr hinterhältig. Ich verführte Julian, obwohl der klar und deutlich angegeben hat, dass er Micky nicht fremdgehen wollen würde. Doch ich spielte die Trumpfkarte "bester Freund" und begann in Julian ein Rad zu drehen.

Welches sich jetzt von alleine drehte.

 

Mit einer langsamen, überlegten Bewegungen, legte er seinen Kopf auf meinen. Einige Sekunden verstrichen schweigend. Anscheinend dachte er über meine drängende Bitte nach.

 

Dann hielt er mir den kleinen Finger hin.

»Versprich hoch und heilig, dass niemand, absolut niemand erfahren darf, dass wir so etwas getan haben, tun und tun werden.«

Vorsichtig hob ich meinen Kopf von seiner Schulter und sah ihn überrascht an.

Ernsthaft? Ein Deal?

»... Absolut niemand?«

»Nicht einmal deine Mama.«

Ich kicherte los. Tat ich das grade wirklich? Ich tätigte einen Packt mit Julian, der ein Schweigen auf unsere Affäre legte? Julian war wirklich bereit dieses Risiko einzugehen? Und überhaupt: Tat er das grade wirklich? Er versuchte es mit mir?

Er ging mit mir eine Affäre ein?

Ohne weiter über sein Angebot nachzudenken, drückte ich feste mit meinem kleinen Finger seinen. »Versprochen«, flüsterte ich ihm entgegen, als ich meinen Hals nach ihm ausstreckte. Unsere Nasenspitzen berührten sich etwas. Er lächelte sanft. »Brich es nicht.«

 

Unsicher berührten sich unsere Lippen. Für eine ganze Weile verharrten wir bewegungslos.

Der erste Kuss.

Nüchtern.

Mit beidseitigem Einverständnis.

Nach einigen Sekunden löste ich mich von seinem Finger und strich über seine Wange.

Und als wäre meine sanfte Berührung ein Umschaltknopf gewesen, begann kurz darauf ein inniger Kuss, während seine Hand auf meinem Bein ruhte. Immer und immer wieder küssten wir uns leidenschaftlich, bis er sich abrupt von mir löste, aber kaum auf Abstand ging.

»Rieche ich noch sehr nach Alkohol?«, fragte er schüchtern. Ich zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?«

»Micky hasst es, wenn -«

»Ich bin aber nicht Micky, denk dran«, flüsterte ich ihm unterbrechend zu und küsste ihn zur Bestätigung sanft auf die Lippen.

Julians Blick sank auf die Bettdecke.

Als würde ihm immer klarer werden, dass ich seine Eigenarten wesentlich großzügiger tolerieren würde, als Micky es je getan hatte. Dass vor ihm Constantin saß, sein ehemaliger bester Freund, und nicht Micky, die nervige Freundin.

»Ich kann kaum glauben, dass wir das wirklich machen … So verrückt. Aber das bin ich dir nach allem wirklich schuldig... «

Wieder zuckte ich die Schultern. »Es liegt ganz in deinem Ermessen, was wir tun oder lassen.« Ich zwinkerte ihm kurz zu.

Meine Zweideutigkeit ließ ihn auflachen. Er lachte so natürlich und rein, wie schon lange nicht mehr.

Und genauso glücklich, wie er zu sein schien, packte er mich an den Armen und drückte mich auf sein Bett, nur um mich erneut leidenschaftlich zu küssen. Vorsichtig führte ich meine Zunge in seinen Mund und ertastete sein Innenleben. Immer wieder umspielte seine Zunge meine, bis sie schließlich in meinen Mund glitt. Fest umschloss ich seinen Kopf.

Vereinigt.

Ich hörte ihn hin und wieder kichern, wenn ich an seiner Lippe knabberte.

Zusammen.

Zwischendurch pausierten wir die Küsse und strichen wir mit unseren Nasen auf der Haut des jeweils anderen.

Unzertrennlich füreinander gewonnen.

Mein Herz sprang nur so in die Höhe. Endlich gehörte er mir. Zwar nicht nur mir, aber er schenkte mir eine derartige Zuneigung, wie ich sie mir immer gewünscht hatte, freiwillig. Ohne Alkohol.

Nur er und ich.

Küssend auf seinem Bett.

Jetzt hätte ich sterben können.

 

 

Und das tat ich buchstäblich, als ich Julian und Micky am Freitag in der U-Bahn küssend betrachten musste. Zwar sah man Julian an, dass es ihm unangenehm war, sie zu küssen, während ich dabei stand, aber das war der Pakt. Und schon bereute ich, einen solchen Vertrag jemals geschlossen zu haben. Es war einfach zu schön um wahr zu sein, dass ich dieses Fegefeuer betreten habe. Traurig blickte ich an dem Freitagmorgen einfach aus dem schwarzen Fenster. Jeden Tag wurde es immer dunkler und kälter.

Ich war am Donnerstag noch bei Julian geblieben. Wir kuschelten uns ineinander, schauten etwas fernsehen, schoben uns eine Pizza rein und küssten uns hin und wieder. Julian war furchtbar schüchtern, wenn ich auf ihn zukam. Er gestand, dass es wirklich eine Umstellung war, mich von nun an als "Partner" zu sehen. Ich belächelte es einfach. Natürlich ist es eine Umstellung, jemanden zu küssen, den man gar nicht liebt und auch noch das 'falsche' Geschlecht hat. So zumindest stellte ich mir Julians Innenleben vor. Obwohl er einen gewissen Grad an Zuneigung nicht abstritt, als ich ihn über seine Gefühlslage fragte. Er war sich nur nicht sicher, wie er diese zu deuten hatte. Bis dato würde ich definitiv davon profitieren, versprach er mir. Er würde alles daran legen, dass wir beide aus unserem 'Loch' entkommen würden.

Aber Micky. Sie lag mir quer in der Magengegend. Wie würde sie drauf reagieren, wenn sie es erfahren würde? Entweder würde sie mich steinigen, oder Julian. Oder uns beide. Doch weil sie so unsterblich in ihn verliebt war, auch nach knapp zwei Jahren, wäre ich wohl das Opfer. Mir würde ja niemand glauben, dass Julian im betrunken Zustand meine Nähe suchte und nicht umgekehrt.

 

Als ich Susa in der Mittagspause am Kantinentisch sitzen sah, wie sie sich mit Lucy unterhielt, machte ich einen großen Bogen um sie und setzte mich extra an das andere Ende des Tisches. Sie bemerkte mein abweisendes Verhalten sofort und sah mich verkniffen an. Entweder bereute sie ihre Aktion oder hielt mich für eine eingeschnappte Zicke.

Aber sie war diejenige, die mich und Julian mit dieser Kuss-Aktion ausspielen wollte. Sie war die Böse. Nicht ich.

Als Julian sich mit seinem vollen Tablett neben mich setzte und nicht neben Micky, protestierte diese:

»Och, Schatz. Ich will neben dir sitzen ...«, quengelte sie aus welchem Grund auch immer. Doch Julian konterte geschickt:

»Du sitzt mir gegenüber. Dann kannst du mir in die Augen sehen, das ist doch viel schöner.« Dann lächelte er sie wieder mit seinem perfekten Lächeln an. Sie zuckte nur die Schultern und begann zu essen. Ob ich auch irgendwann so resistent gegen sein Lächeln werden würde? Im Moment zerschmolz ich jedes Mal, wenn er es einsetzte.

Während sich die anderen gut unterhielten, spürte ich kurz seinen kleinen Finger an meinem Bein streicheln. Als ich zu ihm aufsah, sah er mich entschuldigend an und bot mir den besagten Finger an. Ich lächelte und umschloss seinen Finger mit meinem. Unser Versprechen. Geheim unter dem Tisch, bei versammelter Mannschaft. Mehr war nicht drin, aber mehr als erwartet. Als jemals auch nur erdacht.

Lucy sah mich durchdringend an. Dann Julian. Sie ahnte es wahrscheinlich schon. Wieso sie und Andreas seit einiger Zeit bei uns saßen, verstörte mich etwas. Ihr Blick ähnelte immer dem von Alma. Ganz zu schweigen von ihrem äußeren Erscheinungsbild. Genauso schien sie auch in uns lesen zu können. Ihr Blick fiel sofort danach zu der unwissenden Micky, die fröhlich mit Susa plapperte.

 

Und als hätte ich es geahnt, kam Lucy nach den Vorlesungen auf mich zu, während ich auf Julian wartete.

»So, so. Herzlichen Glückwunsch«, begrüßte sie mich kühl.

»Ich glaube, da verstehst du was falsch«, gab ich schnippisch zurück, ohne den Hintergrund von der Gratulation abzuwarten. »Da läuft im Grunde immer noch nichts.«

»Die anderen magst du vielleicht täuschen, aber mich nicht.«

»Aha. Was hast du denn gesehen?«, fragte ich mit einer angehobenen Augenbraue. Normalerweise vergrub ich meine Hände in meiner schwarzen Röhrenjeans und würde Kreise auf den Boden schaben. Aber bei Lucy half eine schüchterne Art und Weise einfach nicht.

»Julian ist dir verfallen.«

»Schön wär's.« Ich musste lachen. »Micky ist immer noch die first Lady

»Vielleicht spielt er  und das vor, aber wenn ich dir ein Kompliment machen darf: Du hast wirklich gute Arbeit geleistet den Armen so auf dich zu fixieren, dass er die Rollen von dir und Micky vertauscht hat.«

»Hey, sag mal, warum so giftig? Ich dachte immer, ihr würdet es befürworten, dass es läuft?«

»Wir befürworten dein Wohl und das von Julian. Wenn ihr es gemeinsam findet ist das eine Sache, aber dass Micky dabei die unwissende Leidende spielt, ist nicht richtig.«

»Du verweist also auf Betrug?«, fragte ich gereizt. Ich habe ihr von der Suppe erzählt, um ein wenig Ballast loszuwerden, aber doch nicht, damit sie drin schwimmen würde.

»Micky ist eine Freundin von mir und Julians feste Freundin. Er geht mit ihr aus, hat aber gleichzeitiges Techtelmechtel mit dir. Das nennt man Betrug.« Ihre Augen stachen feste durch ihren langen schwarzen Pony. Doch ich ließ mich nicht beeindrucken.

»Soll ich jetzt also den Helden spielen und Julian sagen, dass es so nicht weiter geht? Und was heißt Techtelmechtel? Ich wusste nicht, dass das schon beim Umarmen beginnt.«

»Ich dachte, du willst eine gesunde Beziehung mit Julian und ihn für dich alleine? Und jetzt gibst du dich als Zwischenmahlzeit zufrieden? Nur, um das zu bekommen, wonach dir ist? Ist das nicht etwas schlampig -«

»Constantin! Hey, Lucy«, begrüßte uns Julian mit einer Zigarette in der Hand. In der anderen hielt er einige Papiere. »Bin fertig im Sekretariat. Können also los«, lächelte er mich an. Doch dann bemerkte er die kühle Atmosphäre zwischen Lucy und mir. Er sah hin und her, zog an der Zigarette. Dann ratterte es wohl.

»Es geht also grade um was Ernstes? Lasst mich raten ...«, raunte er sogar etwas amüsiert vor sich hin.

»Sei einfach gewarnt, Constantin.«

Damit verabschiedete sich Lucy und ging ihre Wege. Julian sah mich nur fragend an, während ich zähneknirschend ihrer Person mit den Augen folgte.

»Alles klar? Hat sie wieder gemutmaßt?«

»Tz. Die hat mich Schlampe genannt. Das nenn ich mehr als Mutmaßen.«

Sofort zuckte Julian zusammen und stellte sich mit weit geöffneten Augen in mein Sichtfeld. »Sie hat dich wie genannt? Das hat die doch nicht ernst gemeint?«

»Ich denke schon. Lass uns gehen, dann erzähl ich dir alles.«

Sofort gingen wir in den englischen Garten, wo wir uns in den Biergarten setzten. Zwar musste wir weiterhin in dicken Jacken und Schal nebeneinander eingehakt sitzen, um nicht zu erfrieren, doch gefiel mir die Atmosphäre. Wie ein Paar, dachte ich, sitzen wir im Biergarten nebeneinander und halten Händchen, während ich ihm alles über Lucys Anmaßung erzählte. Er schien geschockt.

»Woher wusste sie von uns?«, fraget er schließlich und zündete sich erneut eine Zigarette an. Dabei bot er mir auch eine an.

»Sie hat wahrscheinlich unsere Zweisamkeit während der Mittagszeit gesehen«, nahm ich den Glimmstängel an. In einer solchen Zeit tat eine Zigarette auch mal gut. Gemeinsam rauchten wir eine, während ein immer kälterer Wind aufkam.

»Machst du am Wochenende was mit Micky?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln; ich wusste, dass er die Frage bejahen würde. Er nickte auch sofort, sah aber wenig begeistert aus.

»Nicht gut?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.

»Ich befinde mich schon nach einem Tag in dieser Zwiespalt-Phase. Weißt du, einem von euch muss ich wehtun. Früher oder später.«

Ich nickte abwegig. »Ist nicht einfach, sich zu entscheiden, hm?«

»Ganz und gar nicht«, gestand er und zog an seiner Zigarette. Ich grinste zufrieden.

»Das freut mich schon sehr, das zu hören.«

»Du ergötzt dich also an meinem Leid?«, lachte er und pustete mir etwas Rauch ins Gesicht. Wedelnd grinste ich ihn an.

»Du weißt, wie ich das meine. Natürlich finde ich es nicht toll, dass es dir im Moment nicht sonderlich gut geht.« Vorsichtig legte ich meinen Kopf auf seine Schulter. Julian lachte noch etwas, dann nickte er verständnisvoll.

Nach einigen Minuten Stille und Lauschen der Menschen um uns, flüsterte er in seinen Schal etwas Unverständliches. Ich horchte auf und sah ihn fragend an. Doch anstatt seinen gemurmelten Satz zu wiederholen, drückte er traurig seine Zigarette aus.

»Bewundernswert, wie locker du an die Sache rangehen kannst.«

Ich stieß einen verzweifelten Lacher aus. »Sicher nicht.«

»Wirkst aber ziemlich locker.«

»Mag sein, aber in mir dreht sich alles.«

Sein Blick senkte sich, dann seufzte er. »Wieso ist es nur so schwer ...«

»Gott mag keine homosexuellen Menschen, deswegen macht er uns das Leben schwer.«

»Hah? Du glaubst an Gott?«, fragte er mich leicht spöttisch. Ich zuckte mit den Schultern.

»Irgendwer muss ja Schuld sein, oder?«, belächelte ich seine Frage und küsste ihn sanft auf die Lippen. Sofort zuckte er zusammen und wich zurück.

»Doch nicht hier«, flüsterte er mir zu und sah sich erschrocken um.

»Hast du Angst, jemand könnte uns sehen, der uns kennt?«, flüsterte ich zurück und berührte wieder seine Lippen, ohne ihn wirklich zu küssen. Sein Blick fiel sofort in meine Augen. Er spannte seine Lippen an. Ich grinste und verdrehte gespielt die Augen.

»Tut mir Leid. Wenn ich zu viel von dir erwarte, bitte weise mich zurecht, ja?«, sagte ich schließlich höflich und ließ von ihm ab. Er versuchte zu lächeln und nickte mit dem Kommentar: »Ich lass deine Leine schon nicht zu lang werden.«

 

Als es uns doch zu kalt wurde, gingen wir zur U-Bahn. Dort durfte ich mich sogar nach mehrmaligem Umblicken an ihn kuscheln und mich unter seiner Jacke aufwärmen. Ich konnte einerseits verstehen, wie er sich fühlen musste, ständig auf der Hut zu sein, andererseits gefiel es mir so, wie es war. Etwas verrucht, immer bemüht nicht gesehen zu werden, hatte seinen Reiz. Ich war mir sicher, dass dieser schnell verfliegen würde, doch im Moment war ich einfach glücklich bei ihm sein zu dürfen.

Und da kamen mir Lucys Worte zurück in den Kopf. Schlampig.

Ein wenig Recht hatte sie schon. Ich bat mich Julian an, wann immer er wollte. Zwar basierte das weniger auf Sex, aber das könnte ja noch kommen. Um ehrlich zu sein, schreckte ich davor nicht zurück. Dann würden wir eben nur Sex haben, wenn ihm danach war. Aber Hauptsache wir hätten welchen. Und das war gewiss schlampig. Ich war die Affäre.

Das war alles so gar nicht meine Art. Dreiecksbeziehungen mit einem Mann führen. Und so. Aber ich wollte mich ja ändern.

Mit gutem Gewissen konnte ich endlich sagen: Ich hatte mich geändert.

Ich war kein Mullemäuschen mehr. Ich hatte eine Meinung und sagte sie. Ich gab meine Gefühle preis, wenn mir danach war. Ich konnte sowohl Ja als auch Nein sagen.

Für mich war das ein gewaltiger Fortschritt.

 

Aber vielleicht war es auch genau das, was Julian so verstörte. Vielleicht liebte er nur den stillen Constantin?

 

Als ich mich von Julian in der S-Bahn verabschiedete, erhaschte ich einen Kuss und ließ ihn gehen.

Sobald er weg war, kamen sie wieder. Diese Gedanken. Dieses Leid.

Vielleicht liebt er ja den alten Constantin mehr als mich?

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Als ich aufwachte, blinzelte ich in die ersten Sonnenstrahlen.

Neben mir war niemand.

Sofort erhob ich mich und tastete meinen Hals ab. Nichts spürbar. Wieder ein Traum …

»Julian?«, fragte ich in das noch abgedunkelte Zimmer. Niemand antwortete. Langsam stand ich auf und zog die Rollläden hoch. Tatsächlich war das Zimmer leer. Nur ich stand in Boxershorts am Fenster und sah mich verloren um. Mit einem T-Shirt bekleidet traute ich mich raus. Niemand war zu sehen. Als ob die Wohnung ausgestorben wäre. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus.

»Hallo?«, piepste ich in das leere Wohnzimmer. Kein Anzeichen auf irgendein Lebenszeichen.

 

Mit einem Schlag öffnete sich die Badtür und Julian trat hervor. Ich erschrak dermaßen, dass ich zusammenzuckte und ihn mit aufgerissenen Augen ansah. Er stand nur regungslos an der Tür und zog eine Augenbraue hoch.

»Alles klar?«, fragte er schließlich und lächelte etwas. Ich beruhigte mich langsam, als ich ihn lächeln sah, und atmete aus.

»Sorry, ich dachte irgendwie, hier wäre niemand mehr... Es war so still.«

»Der Rest des Hauses ist heute morgen schon gegangen. Deine Ma hat kurz in unser Zimmer gelugt.«

Verwundert kam ich auf ihn zu und streckte meine Hände nach ihm aus. »Wohin ist sie denn?«

»Wollte in die Stadt«, antwortete er und küsste mich auf den Mund. Diesmal waren seine Lippen ganz weich und noch etwas feucht. Er hatte wohl etwas Wasser getrunken und sich die Zähne geputzt. Seine Hände umfassten sanft meine Hüfte und drückten mich an sich. Als wir uns lösten, lächelte ich ihn zufrieden an.

»Hast du Hunger?«, fragte ich ihn. Er überlegte kurz, negierte jedoch und drückte mich stattdessen etwas von sich.

»Ich muss mich jetzt eh fertig machen und los.«

Enttäuscht sah ich ihm hinterher, wie er in mein Zimmer zurückging. »Wohin musst du denn?«

»Zu Micky. Ihr Vater hat heute Geburtstag und ich bin dort eingeladen.«

Ich seufzte traurig auf. »Ach so.«

Das hatte ich verdrängt.

Er zog sich an und richtete kurz seine Haare im Spiegel meines Schranks. Ich hatte zwar nicht damit gerechnet, dass ich mit Julian heiß duschen gehen würde, aber doch wenigstens ein gemeinsames Frühstück und noch etwas Kuscheln im Bett. Wir hatten immerhin Sonntag. Doch er schnappte sich seine Tasche und zischte leicht gestresst an mir vorbei.

Ich blieb regungslos in meinem Zimmer stehen, mit dem Rücken zur Tür.

 

Ich war einfach enttäuscht.

 

Ich hörte seine Schritte im Flur stoppen.

»Sagst du mir nicht Tschüss?«, fragte er sichtlich überrascht, dass ich nicht mit zur Tür kam.

Ich drehte mich nicht um. Murmelte nur ein »Tschüss«. Keine Ahnung, was das schon wieder sollte. Natürlich war das ein reines Trotzverhalten meinerseits, trotzdem hätte Julian wenigstens etwas Anstand zeigen können und ... mich nicht wie eine Hure am nächsten Morgen auf die schnelle verlassen sollen, bevor es die Ehefrau merkte.

Ich hörte ihn entnervt seufzen und den Flur entlang gehen. Die Tür öffnete und schloss sich.

 

Dann trat Stille in den Raum. Mein Herz klopfte vor Aufregung und dieses Gefühl in meinem Hals machte sich bereit einen riesigen Kloß zu fabrizieren. Ich schluchzte kurz auf, wischte mir die ersten Tränen vom Gesicht und ging dann in die Küche, um mich abzulenken. Mit verschwommener Sicht holte ich zwei Aufbackbrötchen aus dem Eisfach und stellte den Ofen an.

Nicht dran denken. Nicht dran denken. Es macht dir nichts aus, dachte ich immer und immer wieder.

 

Doch. Irgendwie machte es mir was aus. Ich war nur die Affäre. Damit musste ich wohl leben. Für Julian war sicherlich alles geklärt. Alles irgendwo okay. Ich bekam das, was ich wollte, er musste sich keine Gedanken mehr machen und konnte trotzdem die Beziehung mit Micky weiterführen. Klar stand er zwischen den Fronten. Sich zu entscheiden war doch das Problem des Zukunft-Julian, oder nicht?

Jetzt von ihm zu erwarten, eine vollständige Beziehung mit mir aufzubauen, wäre anmaßend. Zu sprunghaft.

Erst war es in Ordnung. Dann wieder nicht. Außerdem würde ich bei der Entscheidung verlieren. Ob Micky oder ich - da war Micky klar im Vorteil. Mit ihr hatte er eine Zukunft. Mit ihr könnte er eine Familie gründen. Sie könnte er heiraten und niemand würde doof schauen. Sie würde ihm Kinder gebären. Alles wäre in Ordnung. Ich konnte das nicht. Ich würde ihm nie das alles geben können.

 

Vorsichtig schob ich die Brötchen in den Ofen. Meine Trauer ebbte ab und formte sich in eine hilflose Starre. Emotionslos starrte ich auf den Ofen. Beobachtete die Brötchen beim Backen.

Dann fiel mein Blick zu Mamas geliebtem Messerblock.

 

Nein. Versprochen ist versprochen, dachte ich. Trotzdem näherte ich mich ihm. Vorsichtig zog ich das Fleischmesser raus. Das Geräusch, was es beim Herausziehen machte, verursachte bei mir Gänsehaut. Mit dem Zeigefinger fuhr ich die Klinge entlang.

 

Wenn ich jetzt nicht widerstehen kann, dachte ich, muss ich mich einweisen. Das ist der Deal mit mir selbst. So ging es nicht weiter.

Als mein Handy in meinem Zimmer vibrierte, steckte ich das Messer wie ertappt zurück in den Block und lief in mein Zimmer, um an mein Handy zu gehen. Es war Feli.

»Hey! Ich hoffe ich störe nicht?«, meldete sie sich fröhlich.

Ich negierte leise.

»Alles klar bei dir? Klingst so niedergeschlagen?«

»Bin nur grade erst aufgestanden und noch was verpennt … Was gibt’s denn?«

»Wollte fragen, ob du heute Lust auf Kino hast? Ich hab den neuen Resident Evil noch nicht gesehen. Woll'n wir rein?«, fragte sie erheitert. Nach kurzem Überlegen stimmte ich zu. War eine gute Ablenkung. Besser als den ganzen Tag über die Begebenheit nachzudenken, dass Julian bei Micky saß und wahrscheinlich ihre Hand hielt, während er sich nett mit ihrem Vater unterhielt. Was der gute Schwiegersohn eben so mit sich bringt.

 

Unfassbar, wie sehr mich das ankotzte. Allein der Gedanke ließ mich Micky immer mehr hassen.

 

Nachdem ich alleine und völlig verloren meine Brötchen schmierte und aß, spielte ich einfach irgendwelche dummen Spiele auf meinem Handy, um mich abzulenken.

 

Später am Nachmittag traf ich mich dann mit Feli. Sie erzählte mir von einem Typen aus ihrem Semester, der gut aussah - den sie gerne mal genauer kennen lernen wollen würde, aber sich nicht traut, weil der Typ wohl schon eine Freundin hatte. Das Übliche also.

Erst als der Film anfing, hörte sie auf zu reden. Aber ihre Wasserfälle von Wörtern taten meinem Kopf gut. Sie lenkten mich ab.

Ich lenkte mich ab, da ich dauernd daran dachte mich abzulenken und im Endeffekt mich mit dem Denken an das Ablenken ablenken konnte.

 

Ein bisschen Zombie Gemetzel tat ebenfalls tut. Es löste ein wenig Aggressionen. Zwischendurch wünschte ich mir, Micky wäre ein Zombie gewesen.

Dann hätte ich eine Entschuldigung gehabt, ihr in den Kopf zu schießen ...

 

Nach dem Film gingen wir noch eine Kleinigkeit in einer Bar trinken. Da fragte sie natürlich das Übliche.

»Und wie läuft's mit Julian?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht sonderlich.« Obwohl das eigentlich nicht stimmte. Immerhin durfte ich ihn meine Affäre nennen. Mehr als ich jemals von unserer Beziehung erwartet hatte. Trotzdem machte es mich nicht glücklich.

»Aber er weiß doch mittlerweile von deiner Liebe, oder?«

Ich nickte und rührte in meinem Cocktail.

»Ja, ist dem das denn egal?«

»Nein, egal nicht. Was soll er schon tun? Er steht zwischen den Fronten und will mich nun mal nicht verlieren, deswegen sucht er jetzt nach einem Schlupfloch.«

»Aber grade das finde ich, zeigt doch, dass du ihm was bedeutest!«

»Ich glaube, das stellt auch keiner in Frage.«

Mit einem aussagekräftigen Blick hob ich beide Augenbrauen und versuchte Feli deutlich zu machen, dass wir das Pferd schon schaukeln werden.

Sie seufzte daraufhin nur auf und schüttelte den Kopf. Geistesabwesend nippe sie an ihrem Getränk.

»Feiert ihr Weihnachten zusammen?«, fragte sie schließlich. Ich schüttelte den Kopf.

»Haben wir doch nie.«

»Schlag doch mal vor.«

»Er feiert Weihnachten immer mit Micky. Keine Chance also.«

»Oh. Seine doofe Freundin, oder?«

Ich lachte traurig. »Ja, die doofe Freundin.«

»Aber Silvester feiern wir doch alle wieder, oder?«

»Ich denke mal ja. Obwohl Annette dieses Jahr wahrscheinlich nicht davon angetan sein wird, dass wir es wieder bei Julian machen. Letztes Jahr ging ja etwas schief.«

Feli winkte ab und lachte über Julians Mutter. Dass sie es überhaupt einmal zugelassen hatte, war schon überraschend genug gewesen, da doch klar war, was kommen würde.

Irgendwann schweiften wir vom Thema "Julian" ab und quatschten so noch ein bisschen über Felis Freunde.

 

Etwas besser gelaunt stand ich am Montagmorgen an der Bahnhaltestelle und wartete auf den Zug. Voller Vorfreude auf Julians Anblick, summte ich vor mich hin.

Dass wir uns so blöd verabschiedet hatten, tat mir Leid und ich hatte mir fest vorgenommen, mich zu entschuldigen. Oder zumindest darauf zu hoffen, dass er es mir nicht weiter krumm nehmen würde.

Als ich in die Bahn einstieg und Julian anlächelte, schenkte der mir nur ein Zunicken. Ich setzte mich zu ihm und sah ihn fragend an.

... wohl doch noch wütend.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich verwundert über seine Kälte. Er schüttelte den Kopf, sah aber nur zu Boden und gab keine Antwort. Ich wollte schon nachfragen, doch als die Frau neben uns eine Seite vom Buch umschlug, empfand ich es als doch keine so gute Idee ein vielleicht heikles Thema in der vollen S-Bahn anzusprechen.

Stattdessen schwiegen wir die komplette S-Bahnfahrt. Ich hatte noch keinen Ton von ihm gehört; nicht mal wirklich in seine Augen gesehen. Unbehaglich ging ich neben ihm her, als wir zur U-Bahn gingen. Vorsichtig fasste ich nach seinem Ärmel. Er blieb weder stehen noch drehte er sich um. Er ging einfach stur weiter. Als ich keine Resonanz bekam, ließ ich ihn wieder los. Was auch immer passiert war, er war sauer. Und zwar auf mich. Schon wieder.

Seit der ganzen Geschichte um uns und der Liebe kamen Streitereien ziemlich häufig vor. Zu häufig. Dieses Hin und Her machte mich fertig!

 

Und sofort kam mir der Gedanke, ob es nicht einfach besser gewesen wäre, wenn nie etwas geschehen wäre. Wenn ich einfach geschwiegen hätte. Als Freunde waren wir unzertrennlich. Wir hatten Spaß und fühlten uns wohl. Und jetzt? War er regelmäßig sauer auf mich, wir stritten uns, wir kamen einfach nicht mit uns klar.

Ich hatte also tatsächlich alles zerstört?

Kann man also nicht einfach einen Schritt weiter gehen...?

Als beste Freunde?

 

Julian schwieg mich einfach nur an. Auch in der Philosophievorlesung. Ich saß nur neben ihm und schwieg ebenfalls. Hin und wieder kritzelte ich ihm etwas auf seinen Block, doch er sah nur starr nach vorne und betrachtete nicht eine Zeichnung. Enttäuscht ließ ich auch das irgendwann sein.

 

Nach den Vorlesungen verschwand er einfach. Micky stand mit Susa und Mike vor dem Gebäude und quatschten. Als ich dazukam, brachen sie ihr Gespräch abrupt ab und sahen mich finster an.

»Ähm … Wisst ihr wo Julian ist?«, fragte ich vorsichtig in die Runde und stellte mich zwischen Susa und Micky.

Susa sah nur schnippisch weg und mied meinen Augenkontakt. Mike zuckte die Schultern und Micky hob eine Augenbraue. Als ich immer verunsicherter wurde, giftete  Micky mich an:

»Ist dein Julian-Sensor kaputt, oder warum?«

Verwundert über ihre Aussage und nicht minder verärgert, sah ich sie verletzt an und schüttelte den Kopf. Was war das denn?, dachte ich und ging ich einfach in den englischen Garten. Wieso schnitten die mich so? Was war denn passiert?

Ich kramte mein Handy raus und setzte mich auf eine Bank. Als ich eine SMS an Julian verfasst und abgeschickt hatte, fing es an zu schneien. Der erste Schnee in dieser Jahreszeit. Ende November war das auch nicht unüblich.

Ich vergrub meine Hände zwischen meine Beine und beobachtete vorbeigehende Passanten. Ein Hund hechelte mich fröhlich an, als sein Herrchen mit einer Dame sprach. Ich lächelte zurück. Ein Hund wäre was schönes. Der würde immer Treu bleiben. Würde immer bei mir bleiben. Würde sich immer auf mich freuen und mich nie enttäuschen. Vielleicht sollte ich mir einen anschaffen und ihn Julian nennen. Dann wären alle glücklicher, dachte ich. Als meine Augen glasig wurden, stoppte ich den Gedanken.

 

Susa war sauer auf mich. Mike hatte die Nase voll von dem ganzen Hin und Her. Lucy machte mir Angst und Andreas hielt sich so gut es ging da raus. Der ja sowieso nicht so viel für Schwule übrig hatte. Und Micky? Tja, die schien ebenfalls etwas genervt von mir zu sein. Lag wahrscheinlich daran, dass ich ihr den Freund wegschnappte. Aber das war ja nichts Neues, oder?

 

Der Schneefall wurde etwas stärker, einzelne Flocken blieben sogar auf meiner Jacke kleben. Ich blickte kurz nach oben. Der Himmel war so grau. Wieder einmal. Wieder einmal so grau.

Um nicht weiter den traurigen Gedanken zu verfallen, ließ ich meine Augen schweifen und las einen halb verblassten Aufkleber auf der Holzbank über einen Club.

Ein Nebenjob wäre mal gut. Eigentlich wollte ich mir immer mal einen gesucht haben. Aber durch die ganzen Feten und die Probleme mit Julian war ich mehr mit mir selbst beschäftigt, als mit der Suche nach einem Job. Doch jetzt wäre es mal eine gelungene Ablenkung. Vielleicht mal Stellenanzeigen lesen. Wäre jedenfalls mal eine Idee, dachte ich und rieb meine Hände in meinem Atem.

Seufzend schaute ich auf meine Handy. Keine Antwort.

 

Ob er jetzt auf diese Weise mit mir brechen will? Ohne ein Wort zu sagen?

Nur, weil ich ihm nicht anständig Tschüss gesagt hatte?

Ernsthaft?

 

Doch da vibrierte mein Handy. Julian rief an.

»Hi Julian«, meldete ich mich um einen neutralen Ton bemüht und hielt das Handy nah an mein Ohr. Es raschelte kurz, dann ertönte endlich seine Stimme, die ich den ganzen Tag hören wollte.

»Wo bist du grade?«, fragte er stumpf.

Ich schluckte etwas und versuchte mich nicht von seinem Ton beirren zu lassen.

»Im englischen Garten. Nähe Monopteros.«

»Bleib da. Bis gleich.«

Dann legte er auf. Wortkarg war er. Mein Herz klopfte und ich wurde nervös.

Diese unheilvolle Stimmung breitete sich schlagartig aus, als ich ihn nach nur wenigen Minuten auf mich zukommen sah.

Ich stand auf und kam ihm etwas entgegen. Vorsichtig lächelte ich ihn an, doch er blieb ernst.

Mit nur einem Wort schlug er vor, zum Pantheon zu gehen. Zurückhaltend nickte ich.

Auf dem Weg dorthin schwiegen wir wieder. Ich lief ihm einfach nur wie ein Dackel hinterher. Die viele Stufen ging er recht zügig, sodass ich etwas zurückfiel. Hin und wieder wartete Julian auf mich, bis ich aufgeholt hatte.

Sein Blick ähnelte dem eines genervten Vaters, der sein ungezogenes Kind leid hatte. Und ihm gleich die Leviten lesen würde.

 

Schwer atmend kamen wir oben an. Einige Touristen standen im Kreis und fotografierten die Gegend. Wir setzten uns auf ein kleines Stück an einer Säule. Der Schnee fiel und fiel. So langsam wurde die Landschaft weiß.

»Wir müssen das endlich klären«, fing Julian diesmal wesentlich leiser und vorsichtiger an. Trotzdem trafen mich seine Worte wie Messer.

Das klang nicht rosig.

Ganz im Gegenteil.

Ich schluckte.

So langsam kam mir in den Sinn, weswegen wir uns trafen. Bedrückt sah ich zu Boden und spürte die Tränen hochschießen.

Seine Entscheidung war also gefallen.

 

»Schon okay ...«, murmelte ich kurz vorm Zusammenbruch. Sofort griff er meine Hand und drückte sie.

»Du siehst doch selbst, wie sehr wir allen Schaden. Plus uns selbst! Ich will nicht damit Leben, dass du dir das antust!«

»Aber … Wenn ich es noch mal mache, verspreche ich, gehe ich zur Therapie! Versprochen!«

»Das andere Versprechen hast du auch nicht eingehalten ...«, seufzte er und ließ meine Hand etwas locker. Er meinte wohl das Versprechen, dass, solange Julian bei mir war, ich mit dem Schneiden aufhören würde.

Ich nahm meine andere Hand hinzu und legte sie auf seine. Mit großen Augen blickte ich zu ihm hoch.

»Bitte, dieses eine Mal ...«

»Con, alle anderen hassen uns für die Dinge, die wir tun, merkst du das nicht?«, fiel er mir ins Wort und sah verzweifelt in die Ferne, als könne sie ihm eine Antwort geben.

 

Doch, das merkte ich. Und ab heute sogar ziemlich deutlich.

Aber, dass sie Julian ebenfalls hassten?

Ich sah ihn fragend an, dann begann er zu schlucken. Langsam sah er wieder zu mir, seufzte und rang um Worte. Schlussendlich ließ er den Kopf nach vorne fallen und fing an leise vor sich hin zu murmeln.

»Nach dem Geburtstag gestern... kamen noch Susa und Lucy zu Micky. Du glaubst nicht, was die alles gefragt und erzählt haben ... Ich hab mich wie bei einem Verhör gefühlt.«

»Wie jetzt? Drei gegen einen? Das gibt’s doch nicht! Typisch Mädchen!«, prustete ich los und war entsetzt über deren Verhalten.

»Was soll ich sagen, Con?«, sagte er wehleidig. »Sie hatten ja Recht.«

»Sie hatten Recht? Moment mal! Micky weiß jetzt auch Bescheid?«

»Ja, seit gestern ...«

Ich hielt den Atem an.

Deswegen das pure Gift, das sie mir entgegen spritzte, als ich mich ihr näherte.

»Was weiß sie denn alles?«, fragte ich entgeistert.

»Um ehrlich zu sein, keine Ahnung. Jeder von den Damen hatte ihre eigene Info. Ob die sich austauschen oder nicht, ist fraglich. Aber ich bin mir sicher, dass Micky von Susas Geburtstag weiß, da sie mich ziemlich angeschrieen hat. In wiefern sie noch andere Dinge wusste... Keine Ahnung.«

Ich presste die Lippen zusammen und sah gequält zu Julian.

»Das … tut mir so Leid ...«, flüsterte ich. Obwohl ich mir keiner Schuld bewusst sein sollte. Immerhin war das ganze auf seinem Mist gewachsen. Aber in einem solchen Konflikt lag die Schuld natürlich beim Typ ohne Freundin, der sich zu seiner Homosexualität bekannte - als beim Typ mit Freundin, der nichts über die Lippen bekam.

»Braucht es nicht. Mir tut es Leid, dass ich ...« Er stockte. Atmete kurz ein, dann wieder aus. Dann ließ er meine Hände los. »... dass ich es hiermit beenden muss.«

 

Klirr!

Oh, was war das?

Es war mein Herz, das in tausend Splitter zersprang, weil er es fallen gelassen hatte!

Wieder einmal!

 

Eine Träne kullerte mir über die Wange. Dann die Zweite und die Dritte. Ich schämte mich sofort für einen weiteren Gefühlsausbruch in der Öffentlichkeit, doch ich konnte keine Träne zurückhalten. Eigentlich wollte ich stark sein, wenn dieser Tag kommen würde. Aber war das hier nicht höhere Gewalt?

»Erst … Erst war es nein, dann ja, dann wieder nein, ja und jetzt wieder nein?«, hickste ich, während ich über meine Augen wischte. Julian sah mich gequält an, als täte es ihm genauso weh wie mir.

»Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, glaub mir. Ich bin heute morgen zerknautscht aufgestanden und habe mich wirklich gefragt, was jetzt passieren sollte. Ich wollte überlegen, für mich sein. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr wird doch klar, dass wir uns nur wehtun, oder? Wir beide sind als Freunde echt klasse, aber als Paar …? Ich denke eher nicht ...«

Ach ja, die typische Face der Freundschaft. Freundschaft ist okay, alles was bis dato passiert auch. Nur sobald wir uns ein Paar nennen ist es nicht mehr okay? Da ist doch überhaupt kein Sinn hinter! Ich dürfte wahrscheinlich mit ihm schlafen - aber nur rein freundschaftlich! Bloß nicht als Paar!

Ich nickte still und ließ mir meine innere Wut nicht anmerken.

Der kalte Wind wehte sehr unangenehm auf meinen nassen Wangen. Ich zog kurz meine Nase hoch und wischte abermals über mein Gesicht.

Julian sah mich immer noch bedrückt an. Er suchte nach Worten. Wollte mich wahrscheinlich besänftigen, damit ich aufhöre zu weinen. Er seufzte kurz und strich über meinen Handrücken.

»Con … Bitte glaube nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Es war ziemlich schwer an dem Abend dir zu widerstehen, weißt du?«

Ich blickte verheult auf und sah ihn verwundert an. Julian fuhr mit einem leichten Lächeln fort.

»Ich war schon verärgert, als ich die frischen Wunden an deinen Beinen sah. Dass du dich schon wieder geschnitten hattest. Ein Gefühl gemischt von Leidenschaft, Ärger, Wut und Enttäuschung. Vielleicht auch ein wenig Schuldgefühle, weil ich wusste, dass es wegen mir war. Aber als du …«, und auf einmal wurde er ganz leise, »... so gestöhnt hast und mir ein Gesicht von dir gezeigt hast, dass so erotisch war wie noch nie, wusste ich nicht, ob ich wirklich standhalten könnte. In dem Moment, wo ich dir so nah war, hätte ich wirklich gerne mit dir geschlafen … Wirklich …«

Ich musste sofort lächeln und umfasste erneut seine Hand. »Wirklich?«

»Mein voller Ernst.«

Julians Lächeln war so warm, so lieb und voller Hoffnung. Als wäre das ein Liebesgeständnis gewesen.

Im Grunde war es das doch auch, oder nicht? In so vielen Kleinigkeiten sagte er mir Tag ein Tag aus, dass er mich liebte. Nie wortwörtlich, aber seine Taten sprachen Bände.

»Warum beenden wir es dann?«

»Weil … Con, ich hab's dir doch erklärt …«, seufzte er, als würde er das Thema nicht noch einmal wiederholen wollen, da es schon beim ersten Versuch unglaublich schwer gewesen zu sein schien.

»Ich versteh's aber nicht. Erklär's mir nochmal.«

Mein Lächeln versiegte nicht, als er nach weiteren Worten suchte. Denn ich wusste nach dieser Aussage, dass er sich selbst nicht sicher war. Er wollte einfach keinen Stress mehr haben. Er wollte nicht wieder in der Mitte von drei meckernden Mädchen sitzen und sich Moralpredigten anhören. Auch wenn er stark zu sein schien, er war es nicht. Homosexualität bedeutet auch dazu zu stehen. Und das tat Julian nicht. So schwer es mir auch manchmal fiel, aber ich fand mich damit ab. Denn ich konnte von mir behaupten, dass ich ihn wirklich sehr liebte. Und das stärkte. Kein Mädchenpulk der Welt könnte mich von diesen Gedanken abbringen.

Doch im Grunde ließ mich Julians Verhalten wissen, dass er nicht dieselben Gefühle teilte. Oder zumindest sich noch nicht sicher war. Irgendwo tief in seinem Herzen würde er sicherlich gerne eine Beziehung beginnen. Einen Neustart machen, einfach die Seele baumeln lassen. Ohne Meckern, ohne Streit, ohne Zwang.

Doch Julian suchte noch nach Richtig oder Falsch. Dass es das aber nicht gab, wollte er wohl nicht einsehen.

»Ich will nicht, dass wir uns weiter wehtun, hörst du? Ich will einfach, dass es wieder so wird wie vorher ...«

»Das wird aber nicht geschehen, Julian. Was passiert ist, ist passiert.«

Er seufzte wieder, wesentlich verzweifelter. Schließlich sah er mich traurig an.

»Bitte... Bitte, lass uns das einfach beenden. Und bitte mach deine Erpressung nicht wahr … Bitte. Ich bitte dich inständig darum!«

Seine traurigen Augen starrten mich an. Der Schnee fiel ihm vereinzelnd ins Gesicht.

Er hatte Angst um mich. Wollte nicht, dass ich mich weiterhin schneiden würde, sobald er ginge. Wahrscheinlich suchte er mit dieser Lösung nur nach der Besten und Einfachsten.

Langsam tastete ich seine Wangen mit meinen Fingern ab, bis ich mich vorlehnte und ihm vorsichtig meine Lippen aufdrückte.

Er schloss die Augen und ließ es geschehen.

Kurz versanken wir in einen unserer typischen, sanften Küsse. Ewig, dachte ich. Ewig, bitte. Welt, geh jetzt unter. Oder mach ein Erdbeben, dass wir beide unter diesem Monopteros begraben werden würden. Ich will jetzt mit ihm sterben. Ich will ihn für mich. Denn nach diesem Kuss würde er gehen und mich alleine lassen.

Und in diesem Moment verspürte ich keine größere Angst, als vor dem Alleinsein. Selbst der Tod kam mir nicht so grausam vor, wie die Tatsache, ohne Julian zu leben.

Ich spürte seine Hand auf meinem Arm und dachte, er würde mich jetzt von sich stoßen, doch drückte er mich liebevoll an sich. Ich rutschte noch ein Stück zu ihm, berührte seine Beine mit meinen und kuschelte meine Hände in seine Jacke, unter der es wunderbar warm war. Sein Duft kroch in meine Nase und ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus. Immer wieder küssten wir uns. Er ließ nicht los; ich selbstverständlich auch nicht.

Als würde ich ihn in einer solchen Situation loslassen können. Doch mich bewandt der Gedanke, dass er das mir zu Liebe noch einmal tat und danach endgültig Schluss sei. Eine Träne floss über mein Gesicht. Er löste sich kurz von mir, sah die Träne laufen und küsste sie ganz vorsichtig weg.

Und mir soll noch einmal jemand sagen, Männer könnten nicht romantisch sein! Bei ruhigem Schneefall im englischen Garten im Monopteros sitzen und sich küssen ist das wohl Romantischste, was ich je erlebt hatte. Die Plattform bot einen Wahnsinns Ausblick über den weiß bedeckten Garten. Einige Flocken legten sich auf unser Haar, auf unsere Jacken und Hosen. Immer wieder spürte ich seine Lippen auf meinen, ganz zärtlich und voller Liebe. Seine Hände lagen auf meiner Hüfte und ruhten dort. Minuten vergingen. Immer wieder lösten wir uns kurz, sahen uns an, begannen einen weiteren Kuss. Die Welt um uns schien egal zu sein. Auf einmal merkten wir nichts davon. Auf einmal war es ihm egal, dass wir uns in der Öffentlichkeit küssten. Auf einmal waren wir eins. Auf einmal schien alles in Harmonie zu sein.

Und auf einmal tippte mir jemand auf die Schulter. Dann auf Julians Schulter.

Sofort lösten wir uns voneinander. Wir drehten uns um und erblickten Lucy, die fasziniert, aber leicht gereizt vor uns stand. Hinter hier stand Andreas, sichtlich geschockt.

»Lucy?«, quetschte Julian entsetzt und überrumpelt aus seinen Lippen. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht des Autos erstarrte er blitzartig.

»Du betrügst sie also wirklich. Hätte ich mir denken können«, antwortete sie ruhig und sah Julian verachtungsvoll an.

»Es war meine Schuld«, warf ich nervös ein, »Er wollte das beenden und ich hab nicht von ihm gelassen.«

Sie grinste mich hämisch an und schüttelte den Kopf. »Das sah man, dass es erzwungen war.«

»Aber -«, fing ich an, doch Julian hob seine Hand, sodass ich schwieg.

»Du wirst es ihr nicht sagen, oder?«, fragte er zittrig. Sie bejahte, gab aber eine Bedingung hinzu:

»Entweder oder, Julian. Aber nicht beides. Bitte beachte das. Micky wird dir nicht alles verzeihen können. Und es hätte auch genauso gut sie selbst sein können, die hier steht. Du solltest dich wirklich mal fragen, was dich dazu bewegt, deine langjährige Freundin zu hintergehen.«

Damit fiel ihr Blick entwürdigend in meine Richtung.

Julian schwieg, sah beschämt auf Boden.

Was passierte denn hier gerade? War es nicht der perfekte Moment?

Ich wechselte einen verzweifelten Blick mit Andreas. Der fühlte sich sichtlich fehl am Platz und vermied den Kontakt mit uns; ging sogar einige Schritte von uns weg.

Oh, ich fühlte mich so elendig. Alles ging nach dieser wundervollen Harmonie den Bach runter, dabei bemühte ich mich doch so um das Wohl aller. Niemand sollte verletzt oder hintergangen werden. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl genau das durch meinen Egoismus erreicht zu haben.

Besonders Micky wurde als Opfer der ganzen Chose dargestellt.

Julian schwieg weiterhin, fand anscheinend keine passenden Worte, um Lucy zu erklären, was er sich bei unserem Kuss gedacht hatte.

Wahrscheinlich nichts, denn es fühlte sich echt an. Wie ein Bauchgefühl.

Eben nicht rational. Sondern fühlend.

 

»Überleg dir einen Grund, wieso du Micky hintergehst und mach von dem aus abhängig, wie es weiter gehen soll«, befahl Lucy und sah mich böse an. »Bitte, Con, lass es ab sofort gut sein, ja? Mach nicht so viel kaputt.«

Das tat so weh. Es war wie in einem furchtbaren Alptraum! Alle waren auf einmal gegen mich. Dabei sprachen sie mir doch am Anfang so gut bei. Natürlich war die ein oder andere Warnung mit drin, aber sonst? Wieso war ich jetzt der Buhmann? Wieder Micky das Opfer?

 

Lucy und Andreas gingen schließlich ohne ein weiteres Wort zu verlieren ihre Wege. Julian sah nur weiterhin beschämt zu Boden.

»Wie konnte ich mich nur so gehen lassen ...«, murmelte er in seinen Schal und wendete sich von mir ab. Mit einem Mal stand er auf und wollte ebenfalls gehen, da griff ich seinen Ärmel und stellte mich neben ihn.

»Julian … Ich …«

»Bitte, lass mich einfach, okay?«, sagte er schließlich und drehte sich zu mir um. Eine Träne kullerte ihm über die Wange. Erschrocken wich ich einen kleinen Schritt zurück.

Oh, Julian... Dass du dir auch keine Träne zurückhalten kannst, zeigt doch, dass du das auch nicht willst, oder?

 

»Du bist wie eine Droge, weißt du das? Ich habe dich einmal genommen und es hat mir gefallen. Und jetzt bin ich süchtig nach dir, doch wie jede Droge machst du alles kaputt… Du bist wie Gift ...«

 

Ich war also Gift für ihn? .... Nicht grade nette Worte, die man jeden Tag hören möchte. Weitere Tränen tropften von seinem Kinn. Er schüttelte den Kopf, strich sich mit seinem Ärmel über die Augen und atmete geräuschvoll aus.

»Bitte verachte mich ab sofort. Das macht es einfacher ...«

 

Damit ging er. Langsame Schritte, schlurfend über den Boden, den Schnee aufstauend.

Ich konnte ihn doch jetzt nicht einfach so gehen lassen? Ich wollte ihn nicht so gehen lassen!

»Julian ...«, murmelte ich für mich und lief ihm hinterher. Vorsichtig griff ich nach seinem Ärmel, doch er reagierte wieder einmal nicht, sondern ging nur stur weiter.

»Bedeutet sie dir so viel?«, fragte ich aufgeregt, während er einfach weiter ging ohne mich anzusehen oder überhaupt zu bemerken. Tränen standen noch in seinen Augen. In meinen kamen Neue hinzu, je mehr er mich nicht beachtete. Er antwortete nicht.

»Bedeutet sie dir mehr als unsere Freundschaft? Liebst du sie so sehr?«

Stufe für Stufe rannte ich ihm hinterher und stolperte fast über meine eigenen Füße.

»Wenn dem so ist, dann sag es doch einfach klar und deutlich! Sag doch einfach, dass du sie liebst und du dich unwohl fühlst, wenn wir beide zusammen sind! Dann lass ich dich in Ruhe, dann weiß ich woran ich bei dir bin!«, schrie ich mittlerweile und einige Leute drehten sich um. Immer weiter ging er stur seinen Weg. Als wir unten ankamen, ging er schnurstracks über den weißen Rasen.

»Julian, bitte sag doch was! Antworte mir!«, rief ich und stellte mich schließlich vor ihn, sodass er zum Anhalten gezwungen wurde.

Julian sah mich verbittert an. Einige Sekunden verstrichen und der Schnee fiel immer weiter. Alle meine Gliedmaßen waren vor Kälte abgestorben.

Seine blauen Augen strahlten in dem seltsamen Licht, welches durch die Wolkendecke kam. Seine Haare waren wieder zu lang, sie hingen ihm etwas im Gesicht. An sich sah er wie immer atemberaubend schön aus, doch die kleinen Falten und Schatten um seine Augen verrieten wie sehr er unter dem Alkohol und mir litt.

Vorsichtig bewegten sich seine Wangenknochen und er öffnete den Mund.

 

»Ich kann einfach nicht mehr. Ich bin am Ende.«

 

Am Ende … Das waren wir wohl beide.

 

Schließlich ließ ich ihn gehen. Lief ihm nicht weiter hinterher. Hörte nur sein dumpfes Stapfen durch den Schnee, wie es immer leiser wurde und schlussendlich nicht mehr zu hören war.

 

Wären wir auf einer einsamen Insel, würden wir den ganzen Tag nichts anders tun, als uns küssen und Sex haben. Niemanden würde es interessieren. Niemand würde uns stören. Wir wären einfach glücklich. Davon war ich überzeugt.

Denn er liebte mich. Auf seine ganz eigene Art und Weise.

Aber es war Liebe.

Niemand konnte mich anderweitig davon überzeugen.

 

Der Weg nach Hause war der wohl schlimmste seit langem.

Wieso ging alles immer schief? Wieso hat das alles so ein Ende genommen? Ich wollte doch nur glücklich sein. Ich wollte nur, dass er glücklich ist.

 

Mit mir.

Ich saß traurig in meinem Zimmer. All die Tränen hatte ich bereits beim Heimweg vergossen.

Vom Nervenzusammenbruch direkt hinter der geschlossenen Haustür gar nicht erst zu sprechen.

 

Auf Facebook geschah nichts. Niemand meldete sich. Niemand wollte wissen, was passiert war.

Susa, Mike, Lucy und Andreas schienen sich von mir getrennt zu haben. Ob sie Julian weiterhin fertig machen würden?

 

Ich starrte für Stunden aus dem Fenster und überlegte, ob ich mir das Leben nehmen sollte.

Es war viel zu weit hergeholt, das war mir bewusst, aber etwas in mir schrie, dass ich die Freude im Leben gleich vergessen kann, wenn Julian nicht bei mir wäre.

 

Da ich alleine in der Wohnung war, stellte ich mich in die Badewanne und hielt mir die Rasierklinge ans Handgelenk.

Ein Schnitt und ich würde einfach einschlafen. Verbluten. Irgendwann nichts mehr mitkriegen.

 

Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto absurder und lächerlicher kam mir der Gedanke vor. Nur, weil eine Liebe mich abserviert hatte... Musste deswegen nicht mein Leben zu Ende sein.

Ich liebte Julian über alles und daran würde nichts rütteln. Die Angst, es könne nie wieder ein Mensch mit einer solchen Kraft über mich in mein Leben kommen, stand mir stetig im Nacken.

Vorsichtig stieg ich aus der Badewanne und setzte mich wieder in mein Zimmer.

Wenn ich mich umbrächte ...

Was würde Julian tun?

Würde er traurig sein? Würde er mich vermissen? Würde er sich die Schuld geben? Würde er sich vielleicht sogar totsaufen?

 

Als ich merkte, dass ich keine Frage mit großer Sicherheit negieren konnte, entschloss ich mich gegen einen Suizid.

Wie furchtbar, dachte ich, Julians Tod auf dem Gewissen haben zu können - auch wenn meiner voran ginge.

 

Am Abend suchte ich Schere, Rasierklinge und Nadeln zusammen und verschloss sie allesamt in einer kleinen Kiste, dessen Schlüssel ich in einen Briefumschlag steckte. Auf einem weißen Druckerpapier schrieb ich Julian einen Brief.

Was anderes blieb mir nicht übrig, oder?

Er würde nicht mehr mit mir reden wollen.

Aber ich wollte noch so viel klarstellen.

 

 

Lieber Julian,

 

ich weiß, du würdest diesen Brief am liebsten verbrennen und nicht weiter daran denken wollen, was vorgefallen ist. Aber ich bitte dich, ihn dir erst vorher durchzulesen. Danach darfst du damit machen, was du möchtest.

 

Nach allem, was passiert ist, gibt es eigentlich noch so viele Dinge, die ich dir sagen möchte. Die ich mit dir machen möchte. Dir zeigen möchte.

Aber alles, was mir noch nach dem ganzen Hin und Her im Kopf geblieben ist, ist die Tatsache, dass ich dich liebe und das von ganzem Herzen.

Du sagtest, ich sei wie eine Droge, von der du die Finger nicht lassen kannst.

 

Du bist mein Medikament, was ich brauche, um weiterhin stark zu bleiben. Ich brauche dich jeden Tag, jede Stunde, am liebsten jede Minute, nur, damit ich überlebe.

Seitdem wir uns kennen, klebe ich an deinen Fersen. So lange habe ich diese Gefühle in mich eingesperrt, um dir nicht zu schaden. Aber irgendwann platzten sie einfach raus und ich dachte, ich schwebe auf Wolke Sieben, als du mir keine sofortige Abfuhr erteilt hattest.

Du wusstest es wohl selbst nicht so ganz und hast mir eine Chance gegeben. Und ich war dir so dankbar.

Doch jetzt hast du dich letztendlich gegen mich entschieden. Ich muss das respektieren, aber ich vermisse dich jetzt schon. Deine Umarmungen, deine Küsse … Alles an dir.

Du seufzt jetzt sicherlich, so wie du es immer tust, wenn du nicht weiß, was du sagen sollst.

Der heutige Tag war genauso wichtig in meinem Leben, wie der eine Donnerstag, an dem du mich zum ersten Mal geküsst hast und wir diesen Pakt geschlossen haben.

Unsere "geheime" Beziehung hat sicherlich nicht lange gehalten, nur einen Monat, aber ich sehne mich nach dieser Zeit. So wie du dich nach der Zeit vor allem, was passier ist, sehnst.

Doch wir können nicht die Zeit zurückdrehen. So sehr ich es mir wünschen würde... für dich und für mich ... es geht nicht. Und wir müssen mit den Konsequenzen leben, die ich uns beschert habe.

 

Ich schreibe dir diesen Brief, damit du weißt, dass ich weder böse noch enttäuscht bin. Ich wusste von Anfang an, dass ich zu viel von dir verlangen würde. Micky ist deine langjährige Freundin, bei ihr bist du richtig. Mit mir würdest du ein zu großes Risiko eingehen; das bin ich nicht wert.

Ich wünsche euch trotz allem alles Gute und weiterhin viel Erfolg …

 

Aber bitte, Julian, bitte: Hör mit dem Trinken auf! Ich liebte jede Sekunde mit dir betrunken zu sein, aber letztendlich zerstört es doch nur deine Gesundheit. Ich weiß, ich bin in keiner Position, dir solche Sachen zu sagen... Aber jetzt ist es doch vorbei, oder nicht? Jetzt kannst du wieder aufatmen!

 

Und falls du dich wunderst, was dir beim Öffnen dieses Briefes entgegengekommen ist:

Der beiliegende Schlüssel ist zu einer Kiste, in der meine ganzen spitzen Gegenstände liegen. Ich versuche das jetzt sein zu lassen. Vergiss die Erpressung, die mache ich nicht wahr. Du bist der Herr über diese Kiste. Du bist der Herr meines Lebens. Du warst es und du wirst es immer bleiben. Aber ...

Lass uns unser Leben neu ordnen. Ohne den anderen.

Das ist, denke ich, das, was du dir wünschst.

Oder was dir eben im Moment am besten hilft.

 

Ich liebe und vermisse dich.

Bitte vergiss mich nicht.

 

Und danke für alles, mein Hase.

Constantin

 

 

Ein paar Tränen fielen auf das Papier. Dann musste ich grinsen. Drama, Baby, Drama.

Ich packte den Zettel mit dem Schlüssel in den Briefumschlag und schrieb feinsäuberlich Julians Namen auf die Vorderseite.

 

 

Ein letztes Mal stand ich im Schneefall vor seinem Haus. Sah mir den Kleingarten an, betrachtete das Fahrrad, welches unter der Schneedecke verschwand.

All diese kleinen Dinge, die ich vielleicht nie wieder sehen würde. Mit Wehmut im Herzen strich ich über das kleine Geländer.

Vorsichtig näherte ich mich dem Briefkasten. Als ich ihn anhob, um den Brief hineinzuwerfen, öffnete sich die Tür und Annette sah mich überrascht an.

»Constantin! Wieso schleichst du dich denn so an?«, lachte sie fröhlich und bat mich herein. Ich negierte höflich.

»Ich muss gleich weiter, also ...«

»Julian ist nicht zu Hause, der ist im Fitnessstudio. Komm ruhig rein. Vor sieben ist der nicht zu Hause.«

Ich zögerte und zog langsam den Brief wieder aus dem Briefkasten.

Seufzend ließ ich mich von ihrem Blick breitschlagen und kam ins Haus.

Ich reichte Annette sofort den Brief. Sie sah verwirrt aus.

»Gibst du ihm den?«, fragte ich leise.

Mit ernster Miene nahm sie ihn entgegen.

»Willst du ihm den nicht persönlich geben?«

»Nein, lieber nicht. Ich denke, er möchte im Moment eher auf meine Gegenwart verzichten.«

Sie seufzte und ging Richtung Küche. Ich setzte mich zögerlich an den Küchentisch. Alles erinnerte mich an ihn. Natürlich tat es das, es war sein zu Hause. So viele Stunden und Minuten hatte ich schon mit ihm an diesem Tisch verbracht.

Wie oft hatte ich an heißen Sex auf dieser Tischplatte gedacht.

Und er würde niemals stattfinden.

Nach einer Minute stellte sie mir einen Kakao vor die Nase.

»Danke«, murmelte ich kleinlaut. Sie setzte sich ebenfalls zu mir an den Tisch und trank einen Kaffee.

»Julian kam heute Nachmittag tränenüberlaufend nach Hause. Darf ich fragen, was passiert ist?«

Ich zuckte sofort zusammen. Tränenüberlaufen? Oh Julian...

Unsicher stammelte ich etwas rum. Wusste nicht ganz, was ich sagen sollte. Wie viel durfte sie denn erfahren?

»Julian und ich hatten … einen Streit, also ...«

Annette bemerkte wie immer, dass mich das Thema verunsicherte und gab mir Hilfe.

»Ich hab ihn gefragt, was passiert ist und er hat mir einiges erzählt. Es ist eigentlich gut, dass du hier bist, so kann ich deine Meinung mal hören. ... wieder einmal.«

Sie schien ruhig zu sein, lächelte sogar, trotzdem spürte man eine gewisse Anspannung in ihrer Stimme. Ich seufzte leise und hob verklemmt meine Schultern.

»Julian hat mir im Grunde erzählt, dass er und du euch nicht ganz sicher wart, was eure Beziehung angeht.«

»Nun ja, eigentlich war es ja keine Beziehung ...«, korrigierte ich sie kurz.

»Nach Julians Aussage schon«, meinte sie überrascht, dass ich nicht von einer Beziehung ausging.

»Eigentlich war es nur eine seichte Affäre, die ich mit ihm hatte. Micky ist ja seine Freundin geblieben und ist es immer noch. Ich spielte nur die zweite Geige.«

Annette wusste also von unserer Homo-Beziehung. Und wie erwartet nahm sie es als beiläufig hin.

So wie jeder in der Crombach-Familie. Selbst Julian hat Homosexualität ja nie hinterfragt. Sogar bei sich selber nicht.

»Das hat er mir auch erzählt. Dass er im Moment auf zwei Stühlen sitzt. Nun, er hat dann nicht mehr weiter erzählt, sondern machte sich sofort für sein Training fertig und verschwand.«

Ich nickte und presste meine Lippen aufeinander. Schlürfte kurz am Kakao. Schön warm, dachte ich. Wie unter seiner Jacke.

Annette wartete, bis ich von mir aus anfing zu erzählen; als jedoch nichts kam, räusperte sie sich kurz.

»Ihr beiden«, seufzte sie laut aus und trank ebenfalls von ihrem Kaffee. »Ich will dich in keine unangenehme Situation bringen, Constantin. Ich glaube, das war beim letzten Mal schon  unangenehm für dich, oder?«

Ich lachte etwas. »Na ja. Vielleicht ein bisschen.«

»Du musst verstehen, dass ich meinen Sohn ungern weinen sehe. Vor allen Dingen, weil das so gut wie nie vorkommt. Das letzte Mal, wo er weinend in die Arme seiner Mutter gelaufen kam, war, als er sich mit zwölf den Finger gebrochen hatte.«

... Oh.

Mein Julian, der niemals weinte, schon drei mal nicht vor seiner Mutter, kam heute Nachmittag mit Tränen in den Augen nach Hause und weinte sich bei seiner Mama aus?

Wieso hatte er Schluss gemacht?

Wenn es ihn doch genauso belastete wie mich...?

 

Niemals weinen und stark sein. Und doch innerlich … war er schwach. Wie ich.

Und ging damit auch genauso jämmerlich um, wie ich.

»Sag mal, Annette … Weißt du eigentlich, dass Julian vermehrt Alkohol zu sich nimmt?«

Ihr Gesichtsausdruck zerknirschte schlagartig. »Weiß ich, ja. Vor allen Dingen, wenn ich nicht da bin, greift er gerne zur Flasche, um seine Probleme darin zu ertränken.«

»Willst du nichts gegen machen?«, fragte ich kleinlaut.

»Was soll ich tun? Er ist erwachsen. Er macht, was er will. Und das Thema so lange du unter meinem Dach lebst, herrschen meine Regeln funktioniert schon lange nicht mehr. Denn würde ich ihm dann noch Vorschriften machen, würde er erst recht zur Flasche greifen. Vor allen Dingen außerhalb dieser vier Wände. So habe ich wenigstens ein bisschen Kontrolle, falls was Schlimmes passiert. Dann liegt er wenigstens betrunken in seinem Zimmer als betrunken auf der Straße. Ich hatte ihm schon vorgeschlagen, eine Kur zu machen - gemeinsam, doch er wollte partout nicht.«

Ich nickte verständlich. Kam mir so bekannt vor mit der Hilfe zur Selbsthilfe.

Mein Blick fiel abermals zu Boden und ich wusste nicht, was ich da noch anbringen sollte.

Alles sah so verloren aus.

»Ihr beiden macht euch mehr Probleme, als nötig«, sagte sie schließlich.

»Deswegen haben wir auch Schluss gemacht.«

Da schwieg sie auf einmal.

Ich sah auf traurig und blickte in ihre verständnisvollen Augen.

»Du liebst ihn sehr, stimmt's?«

 

Kurz zögernd, nickte ich und starrte in meine Tasse. Der warme Kakao rettete mich vor den Tränen, als ich daran nippte.

»Ich denke, er dich auch. Er weiß es nur nicht zu deuten.«

Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich die Tasse absetzte. »Das ist aber weit hergeholt, Annette. Ich glaube nicht … dass er solche Gefühle hat. Sonst würde er nicht Schluss machen.«

»Er will nur das Beste für euch. Und im Moment ist er davon überzeugt, dass es eure Trennung ist. Er denkt da nur rein logisch: Es hat zusammen nicht geklappt, also klappt es vielleicht auseinander.«

Klang plausibel, aber nicht erfreulich. Annettes warme Worte jedoch ließen mich etwas besser fühlen.

Als ich meinen Kakao ausgetrunken hatte, verabschiedete ich mich und ließ den Brief einfach auf dem Küchentisch liegen.

Doch Annette nahm ihn sofort mit und streckte ihn mit an der Tür entgegen.

»Nimm ihn noch mal mit und gib ihn ihm persönlich.«

Vorsichtig schüttelte ich den Kopf und weigerte mich, den Brief noch einmal anzunehmen.

»Trennung ist Trennung«, sagte ich sanft. »Da muss man sich dran halten.«

 

Damit ging ich.

Verließ das Haus, in dem schon so viel passiert war.

Stapfte mit glasigen Augen durch den Schnee und schniefte vor mich hin.

Zu Hause angekommen, weinte ich wieder einmal los. Doch irgendwann trockneten auch diese Tränen und ich war mir sicher, dass es besser werden würde. Ohne ihn.

 

Am nächsten Tag bin ich ihm kein Mal über den Weg gelaufen.

Die anderen duldeten mich nur begrenzt in ihrer Gegenwart, als ich sie am Morgen auf dem Gang kurz begrüßte. Während der Mittagspause ging ich freiwillig in die Bibliothek, um dort die freie Zeit zu verbringen. Es war nicht so, als wollte ich ihm aus dem Weg gehen, aber etwas in mir würde wieder zerbrechen, wenn meine Augen seine treffen würden.

Susa sagte einmal, wenn Julian und ich so weiter machen würden, würde einer von uns gehen müssen. Oder eben beide.

Und so wie es bisher aussah, ging wohl ich. Aber das war mir von Anfang an klar gewesen.

Bei Facebook löschte er sogar das Profilfoto von uns beiden, welches er seit Silvester drin hatte. Stattdessen sah man nur ein Auge von ihm. Es gehörte zu einem alten Bild noch vor meiner Zeit.

Ich las mir unsere letzten Chatnachrichten durch. Dann unsere letzten SMS.

Ich hatte seinen Namen in Hase geändert. Jetzt änderte ich ihn wieder auf Julian. Was ein hin und her. Vielleicht hatte er Recht und es wäre besser gewesen, wir hätten nie in diesen Teufelskreis gefunden.

 

Die ganze Woche sah ich ihn nicht ein einziges Mal, weder in der Uni, noch in der Bahn. Kaum vorstellbar, wo wir doch nur zehn Minuten voneinander entfernt wohnten und im selben Studiengang studierten. Doch ich vermutete, dass Julian gar nicht erst in die Uni kam.

Mike schnitt mich zwar nicht so sehr wie die anderen, aber grade bei Mitschriften wurde es auf einmal schwer jemanden zu finden.

Aber wie es im Leben so ist: Wenn Leute gehen, kommen Neue.

 

Irgendwann setzte sich ein Mädchen neben mich und sprach mich unverblümt an.

Ein Mädchen namens Samira. Sie hatte ins höhere Semester von einer anderen Uni gewechselt, da sie schon immer mal in München studieren wollte. Samira hatte lange braunrote Haare, die ihr fast bis zur Hüfte gingen. Sie war ein bisschen kleiner als ich und sehr schlank. Sie hatte fast keine Brüste, so schlank war sie. Aber hübsch, musste ich zugeben. Sie fand besonders meine Tattoos interessant.

 

Von ihr bekam ich die Mitschriften, die ich brauchte.

So verging ehrlich gesagt die Zeit wie im Fluge.

Der Schnee wurde immer höher und die Tage immer kürzer; Samira hing an mir wie ein Fangirl.

Immer wieder fragte sie mich Dinge, von denen ich selber keine Ahnung hatte, wie "Würdest du dich trauen, vom Eiffelturm Bungee zu springen?" oder "Wenn du dir ein Eis aussuchen könntest, mit egal welcher Geschmacksrichtung: was wäre es?". Ich fühlte mich wie bei einem Psychologen.

Samira war wie Lucy, Susa und Micky in einem. Ständig unter Strom, immer was zum erzählen und das, was sie erzählte, war oft ein bisschen verrückt.

Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, spürte ich die Parallelen zu Julian. Sie blickte oft zu mir hoch, kritzelte mir etwas in meinen Block, kitzelte mich oder legte den Kopf auf meine Schulter. Ich belächelte es einfach.

Sie war wie ich damals. Anhänglich. Offensichtlich war ich jetzt ihr bester Freund geworden. Doch ich kannte solche Geschichten nur zu gut, weswegen ich sie auf Abstand hielt.

Irgendwann, während der Mittagspause, fiel mir auf, dass sie nur in ihrem Salat rumstocherte. Letztendlich schmiss sie ihn in die weg. Das tat sie eine ganze Woche lang, bis ich sie drauf ansprach und sie mir beichtete, dass sie unter einer Essstörung litt, mit der sie schon seit Jahren zu kämpfen hatte. Ich wollte nicht zynisch klingen, aber alles, was mir einfiel war: Ob es auch noch psychisch gesunde Menschen auf diesem Planeten gibt? Oder sind wir alle krank? Alkoholiker, Depressive, Magersüchtige, Angstgestörte...

Samira weinte sich ein wenig bei mir aus. Natürlich versuchte ich ihr zu helfen, doch der tiefe, traurige Kern in mir wiederholte ständig den einen Satz:

"Lass gut sein. Wem kannst du schon helfen? Es endet doch sowieso immer gleich. Nämlich im Tod."

 

Kurz vor Weihnachten trafen uns hin und wieder in der Bibliothek, bis sie mich zwischen den Zeilen mal fragte, ob ich nach der Vorlesung etwas mit ihr unternehmen wollte.

Wie in Watte geschlossen stimmte ich zu, traf mich mit ihr; nicht weiter darüber nachdenkend, dass es im Grunde ein Date war.

Wir gingen ein bisschen im Garten spazieren, bis es uns zu kalt wurde und sie mich in unzählige Shoppinggeschäfte schleifte. Es war eine willkommene Abwechslung, das musste ich zugeben. Denn je mehr Zeit ich mit Samira verbrachte, desto weniger dachte ich an Julian.

Doch sie musste nur eine falsche Bewegung machen, ein falsches Wort sagen oder in Julians Lieblingsladen reingehen... und schon waren die Gefühle wieder da, als hätten wir uns gestern erst getrennt.

Am Ende des Tages wollte sie mich noch zu einem Kaffee einladen. Nicht weiter darüber nachdenkend, stimmte ich zu und sehnte innerlich schon mein Bett herbei. Denn Samira redete eben wie drei Mädchen zusammen: dauerhaft, ununterbrochen, stetig. Irgendwann hörte ich nicht mehr richtig zu. Wenn sie mich etwas fragte und ich ihr wegen mangelnder Aufmerksamkeit keine Antwort geben konnte, lachte sie nur und wiederholte die Frage.

Noch, dachte ich, findet sie es witzig. Auch das wird vorbeigehen. Auch das wird ein Ende haben. So wie alles.

Als wir in einem Starbucks in der Innenstadt saßen, fragte sie mich auf einmal unverblümt, ob ich eine Freundin hätte.

Für einen Moment hielt ich die Luft an. Sollte ich lügen? Sollte ich die Wahrheit sagen? Dass ich insgeheim schon lange keinen Frauen mehr hinterher sehe? Sondern nur dem einen Mann?

Doch ich entschied mich für eine "einfache" Wahrheit: Ich schüttelte einfach den Kopf. Samira lächelte mich zufrieden an.

»Das kann ich mir fast nicht vorstellen. Du bist echt nett«, machte sie mir ein Kompliment. Ich lächelte zurück und sah auf meinen Becher Kaffee.

»Das ist nett, danke. Im Moment ist mir aber auch nach keiner Beziehung«, versuchte ich das Thema zu beenden. Tatsächlich war mir auch nicht nach irgendeiner Beziehung. Mir war nur nach einer. Ich seufzte hörbar und schlurfte an meinem Getränk. Samiras Lächeln versiegte schlagartig. Ihr Blick bohrte bedrohlich lange auf meinem Gesicht, bis sie sich schließlich ein Stück vorbeugte, um meine Augen zu treffen.

»Unglücklich verliebt?«, fragte sie kaum verständlich. Wie ertappt, blickte ich zu ihr auf und sah in ihr besorgtes Gesicht. Ich winkte sofort lächelnd ab.

»Keine Sorge, das ist schon auf dem Weg der Besserung. So schlimm ist es nicht«, log ich. Von wegen so schlimm ist es nicht. Meine Narben sprechen ganze Bände.

Zögerlich zeigte sie mir wieder ihre weißen Zähne. »Also brauch ich es nicht versuchen, meinst du?«

Ich zuckte mit einem Schlag zusammen. Die ganze Zeit ging ich von ihrem Interesse aus; jetzt gab sie mir die Bestätigung. »Oh, Samira, du bist wirklich süß, aber ich suche grade wirklich keine Beziehung ...«

Sie sah enttäuscht lächelnd zu Boden und nickte stumm, als wäre sie sehr geknickt.

Und sofort beschlich mich dieses Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Wieder habe ich jemandem wehgetan. Wieder habe ich einer netten Person alle Hoffnungen genommen. Für einen Mann, der mich nicht haben wollte.

Ich berührte ihre Hand, umschloss sie fest.

»Es tut mir Leid … Sei bitte nicht traurig. Vielleicht nicht jetzt, aber ...«

Samira grinste mich sofort breit an und schüttelte verspielt den Kopf. »Du bist echt süß, Constantin. Immer besorgt«, kicherte sie. Lächelnd betrachtete sie meine Hand, welche ihre umschloss. Zufrieden strich sie mit ihrem Daumen über meinen Handrücken.

Romantisch, dachte ich. Ich habe der Frau gerade eine Abfuhr gegeben und flirte jetzt mit ihr. Toll, Constantin.

 

Ach...

Julian.

Ich weiß noch, wie oft wir unsere Hände gestreichelt haben. Einfach so. Mitten in einem Café. Oder in der Mensa.

Wie du mir den kleinen Finger hingehalten hast. Für unseren Pakt.

Diese Erinnerung war noch so frisch in mein Gehirn gebrannt, dass ich das Gefühl hatte, es würde ewig dauern, bis ich Julian vergessen könnte. Doch der Wille ihn zu vergessen war da und vielleicht... Ja, nur vielleicht, war Samira der Schlüssel dahin.

Ich wollte sie nicht für meine Zwecke missbrauchen... Aber ihre Anwesenheit reichte ja für's Erste. Zumindest schaffte ich es bei ihr, Gedanken an Julian in eine dunkle Ecke zu sperren und -

 

»Da bist du ja! Mensch, immer bist du zu spät!«, rief ein Typ hinter den Tresen. Ich sah kurz auf, erachtete es als nicht weiter wichtig.

 

Doch dann sah ich ihn.

Gehetzt und mit einer grünen Schürze um seinen Hals. Schnell band er sie hinter seinem Rücken zu und betrat den Tresenbereich. Der Typ, der ihm zugerufen hatte, überreichte ihm eine Kleinigkeit, nahm sich einen Kaffee und verabschiedete sich. Eine Frau, die uns unsere Getränke ausgegeben hatte, verabschiedete sich auch und nur ein anderer Typ blieb bei Julian, der bereits an der Kasse die ersten Bestellungen annahm.

 

Ich traute meinen Augen nicht. Mit offenem Mund konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Es dauerte nicht lange, da sprach mich Samira auf meinen Blickfang an.

»Kennst du den?«, fragte sie neugierig. Ich nickte geistesabwesend ohne den Blick abzuwenden. Wieso arbeitete er bei Starbucks? Seit wann? Und wieso? Und... überhaupt...

Mir war nach weinen.

»Genauer? Du siehst geschockt aus, dass er hier arbeitet.«

»Ich bin … nur verwundert. Sonst nichts«, murmelte ich und nahm langsam die Augen vom Tresen.

»Sag ihm doch hallo. Ist schon okay, ich lauf nicht weg«, sagte sie freundlich und deutete auf Julian. Ich schüttelte schnell den Kopf.

»Lieber nicht. Ich hab ein bisschen Beef mit ihm.«

Bisschen, ha.

»Oh … Ach so.«

Doch Samira wäre nicht Samira gewesen, wenn sie Julian nicht die restlichen Minuten angestarrt hätte. Ich versuchte ihm soweit es ging meinen Rücken zuzudrehen; in der Hoffnung, er würde mich nicht erkennen.

Nachdem ich mit großen Schlucken meinen Kaffee die Kehle runtergekippt hatte, wollte ich fluchtartig aus dem Café verschwinden. Doch Samira wollte sich unbedingt noch einen Frappuccino kaufen und tänzelte zum Tresen. Ich beobachtete ihre Bestellung von draußen durch die Fensterscheibe. Sie lächelte ihn an. Lehnte an die Theke und sagte irgendwas. Julian lächelte sanft. Dieses Lächeln …

Moment, flirtete sie etwa mit ihm? Doch ehe ich sie innerlich zerfetzen wollte, kam sie schon raus und grinste mich breit an; den Frappuccino in den Händen haltend.

»Julian heißt er also. Er arbeitet erst seit einer Woche hier. Hat immer eine Spätschicht drei Mal die Woche.«

Ich wusste nicht ganz, wie ich auf ihre Informationen reagieren sollte. Wie hat sie das so schnell aus ihm herausbekommen? Wahrscheinlich dumm gefragt... Julian nimmt ja selten ein Blatt vor den Mund. Doch er sah müde aus. Nicht gewillt auf ihren Flirt einzugehen. »Wie hast du das denn jetzt auf die schnelle rausbekommen?«, fragte ich Samira etwas bewundernd.

»Gefragt«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Nett sieht er aus. Hat sicher 'ne Freundin. Oder auch so ein Keuschheitsgelübde Typ wie du?«

Ich lachte leise. »Er hat eine Freundin.«

»Dacht ich mir. So Typen wie ihr seid meistens vergeben oder schwul … ... Oh, Gott, bist du schwul?«, fragte sie so erschrocken wie direkt. Genauso erschrocken sah ich sie an und hob die Augenbrauen.

»Äh ...«, begann ich und war mir nicht sicher, was ich jetzt antworten sollte. So etwas würde ich nie jemanden so direkt Fragen! Aber Samira... war eben anders. Drei Mädchen in einem. Und ein Hauch Julian war dabei.

Meine Gedanken überschlugen sich. Wahrheit? Lüge?

Nein, keine Lügen mehr. Die Wahrheit.

»Ja ...«, murmelte ich in meinen Schal und vergrub meine Hände beschämt in der Jacke. »Ja, ich bin schwul.«

Samira blieb stehen und schien überrascht, öffnete voller Empörung ihren Mund. »Echt jetzt?«

Ich nickte entschuldigend und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Gerade noch hatte ich ihr Hoffnungen auf "später" gemacht und jetzt ... zerstampfte ich sie mit meinem Outing komplett in Grund und Boden.

Doch Samira begann nur laut zu lachen, kam freudestrahlend auf mich zu und hakte sich bei mir ein.

»Das ist ja so was von krass! Weißt du, ich wollte schon immer einen schwulen Bekannten haben! Also hast du einen Freund? Du darfst ja jetzt ehrlich zu mir sein«, zwinkerte sie mir verspielt zu. Wir gingen ein Stück, bis wir uns an das Monument der Oper setzten. Ich war mir nicht sicher, ob es eine so gute Idee war, wieder jemanden in das Schlamassel "Julian"  einzuweihen, doch Samira wiederholte ihre Frage abermals und sah mich dermaßen auffordernd an, dass mir auch auf die schnelle überhaupt keine andere Antwort einfiel, als die ganze Wahrheit.

Sowieso war die Sache gegessen, oder? Julian arbeitete bei Starbucks, war glücklich mit Micky zusammen und zog sein Studium hoffentlich relativ nüchtern durch. Ich wünschte ihm einfach alles Gute. Und auf diesem Weg war er wohl.

»Julian... Hier, Starbucksmann... Er war mal mein Freund«, sagte ich schüchtern. Samira horchte auf und verzog ihr Gesicht.

»Hä? Ach so! Ich denk, der hat 'ne Freundin?«

»Ja ...«, seufzte ich. »Hat er auch. Aus diesem Grund ist er nicht mehr mein Freund. Beziehungsweise... war es auch nie richtig. Er ist für eine Zeit mit mir Zweigleisig gefahren.«

»Nein! Ihr beide hattet also eine Affäre?«

Ich nickte und verzog meinen Mund; sah sie schließlich mahnend an. »Bleibt bei dir, ja?«

Sofort hob sie die Hände. »Ich schweige wie ein Grab!« Da lachte sie wieder und setzte sich etwas näher an mich ran.

»Hängst du also noch an ihm?«, fragte sie etwas gefühlvoller.

»Ja, ziemlich. Aber wir haben Funkstille. Das ist gut so.«

 

Ich begann also alles zu erzählen. Vom ersten Semester, übers Zweite und Dritte. Wieder einmal.

Samira hörte mir bei meinen Erzählungen verständnisvoll zu und versuchte, wie alle anderen Eingeweihten, mir beizupflichten, dass es doch noch nicht vorbei sein könnte, wenn Julian im Grunde genauso fühlen muss. Ich bestritt Julians Gefühle für mich, aber Samira blieb eisern. Sie versprach mir, mit einem Kumpel zu reden, dessen Freundin in dem selben Starbucks arbeitete, mal was aus Julian rauszukriegen. Eigentlich wehrte ich mich ziemlich gegen diese Idee, da sie mir als zu gefährlich erschien, zudem ich ein neues Leben ohne ihn anfangen wollte. Und ohne ihn hieß auch ohne, dass er Thema war.

Doch Samira ließ nicht locker und kaute mir das Thema jeden Tag deutlich vor. Sie war ein regelrechter Fan von mir und Julian geworden

Und zwar ziemlich. Sie begrüßte mich von nun an immer sehr euphorisch und umarmte mich öfter, als nötig, weil sie mich so süß fand. Im Grunde fand ich mich nicht annähernd süß, weil ich wie ein Trauerkloß durch die Uni lief.

Seit wann war Homosexualität so furchtbar in?

 

Weihnachten stand vor der Tür. Semesterferien natürlich ebenfalls. Alle freuten sich auf das gemeinsame Fest. Ich erinnerte mich an Felis Worte, ich solle Julian fragen, ob wir Weihnachten nicht mal zusammen feiern sollten. Tja. Wie gut, dass sich das erledigt hatte.

Und abermals verfiel ich der allgemeinen Trauer, Julian nicht mehr bei mir zu haben. Nicht, weil Weihnachten das Fest der Liebe war. Sondern, weil ich mir für dieses Jahr fest vorgenommen hatte, ihm etwas Romantisches zu schenken. Stundenlang surfte ich im Internet nach schönen Dingen. Allein die Erinnerung daran, ließ meinen Magen Achterbahn fahren.

 

In der letzten Woche vor den Ferien scheuchte mich Samira wieder in die Stadt zu Starbucks.

»Samira, ich will ihm nicht über den Weg laufen«, raunte ich ihr unfreundlich entgegen. So langsam trieb sie es auf die Spitze.

»Warum nicht? Ich denke, er würde sich freuen.«

»Nein, bestimmt nicht«, murmelte ich vor mich hin und ging widerwillig in den Laden.

Julian stand hinter dem Tresen und mixte ein paar von den Sachen, die man kaufen konnte. Laut rief er hin und wieder, was er grade vollbrachte hatte und stellte es auf die Ablagefläche, damit die Kunden ihr Getränk abholen konnten.

 

Wir setzten uns in eine Ecke, von der man ihn gut beobachten konnte. Samira grinste mir siegessicher zu.

»Die Freundin meines Kumpels hat mir erzählt, dass es zwischen seiner Freundin und ihm ganz schön kriselt.«

»Aha. Samira, das interessiert mich nicht«, seufzte ich und hielt ihr einen 5-Euro-Schein hin. »Hol mir lieber einen Latte Macciato.«

»Hol ihn dir doch selbst«, sah sie mich herausfordernd an und verweigerte den Schein.

»Samira, bitte … Sei nicht so fies ...«

Sie seufzte laut und schnappte sich den Schein. »Von mir aus ... Angsthase.«

Während Samira bestellte, mixte Julian immer weiter irgendwelche Getränke.

Ich sah hauptsächlich nur seinen Rücken. Ich starrte auf das Tattoo in seinem Nacken. Seine Haare gingen ihm schon fast bis zum Rumpf. Viel zu lang waren sie. Ob er sich einen anderen Schnitt zulegen wollte? Es kriselte also bei Micky und ihm? Warum wohl? Wegen der Arbeit jetzt? Oder noch wegen mir?

... Meine Gedanken überschlugen sich abermals und ich bekam Herzrasen.

Als Samira auf unsere Getränke wartete, quatschte sie ihn an. Er drehte sich kurz um, schien überrascht, erkannte sie dann doch wieder und lächelte höflich. Es war dieses unangenehme Lächeln. Ich kannte es zu gut. Er setzte es auf, wenn er keine Lust hatte, sich zu bemühen. Wenn er im Stress war oder es ihm nicht gut ging. Wahrscheinlich grade beides. Und nach nur wenigen Worten, versank sein Lächeln und Samira strich ihm kurz über die Schulter.

Was war das denn für eine Geste?

Er bedankte sich kopfnickend, reichte Samira dann die Getränke und drehte sich wieder zu seiner Arbeit um.

Als Samira auf mich zukam, grinste sie freudestrahlend, hob beide Augebrauen und setzt sich mir wieder gegenüber.

»Weißt du was?«, fragte sie aufgeregt, »Julian hat mit seiner Freundin Schluss gemacht!«

 

 

Wow.

Das war … überraschend.

Mit geöffnetem Mund starrte ich in Samiras erfreutes Gesicht.

»Na? Willst du ihm nicht doch hallo sagen?«, fragte sie zwinkernd und deutete mit einer Kopfbewegung zum Tresen. Ich schüttelte schnell den Kopf.

»Niemals! Grade jetzt nicht, wo Schluss ist. Wie sieht das denn aus?«

»Hm ...«, brummte sie und presste ihre Lippen aufeinander. »Hast Recht. Sieht doof aus.«

Ich rückte meinen Stuhl etwas zu Samira, sodass ich mit dem Rücken zu ihm saß. Nur nicht in seine Augen sehen, dachte ich. Nur nicht das.

»Trotzdem gut, oder nicht?«, hakte sie nach und schlürfte an ihrem Kaffe.

Ich sah noch eine Weile entsetzt vor mich hin, rührte den Latte Macciato, als könne er mir eine Vision zeigen. Schließlich nickte ich vorsichtig. »Schon. Beziehungsweise nicht … Die beiden waren so lange zusammen ...«

»Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Darüber muss man nicht philosophieren«, scherzte sie und griff nach meiner Hand. »Ich bin mir sicher, dass, wenn du noch einmal mit ihm sprichst und die Fronten geklärt sind, ihr beide sicherlich noch einmal beginnen könnt!«

Ich bezweifelte das stark, grinste sie trotzdem an und gab ihr Recht, damit sie das Thema endlich unter den Tisch fallen lassen würde. »Vielleicht ...«

 

Nach wenigen Sekunden ergriff mich doch die Neugier, kurz noch einmal auf seinen Rücken zu sehen. Als ich mich umdrehte, stellte er grade ein paar Kunden die Becher auf den Tresen. Er blickte auf. Blickte wieder zu den Bechern.

Erschrocken hob sich sein Blick wieder.

Oh, oh.

Schnell drehte ich mich um und bat Samira um ein schnelles Verlassen des Cafés. Sie sah mich erst perplex an, wusste wohl nicht, wieso ich auf einmal die Flucht ergreifen wollte, erspähte dann aber Julians verwirrten Blick zu uns. Sie lachte auf und winkte ihm energisch zu.

»Bist du kaputt? Hör auf damit!«, zischte ich ihr zu. Sie lachte nur amüsiert weiter.

»Soll er doch herkommen!«

»Was? Nein!«, zischte ich erneut. Doch sie ließ sich nicht beirren und winkte ihn zu uns. Nach einigen Sekunden setzte sie ihr schmollendes Gesicht auf, da er nicht kam.

»Er kommt nicht.«

»Natürlich nicht. Er muss arbeiten ...«, fügte ich nervös hinzu. Gott sei Dank.

»Dann frag ich, wann er Schluss hat!« Mit den Worten sprang sie auf und begab sich schneller zum Tresen, als dass ich sie packen konnte.

Was für ein Hin und Her! Die einen wollen nichts mehr von mir und Julian wissen und die andere will es umso mehr.

Nach etlichen Minuten der Qual, kam sie wieder, zwinkerte mir zu und fügte hinzu:

»Ich hab dir grade ein Date klar gemacht. Ich erwarte das nächste Mal eine Einladung.«

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Epilog

»Wollen wir Weihnachten zusammen feiern?«, fragte ich ihn am nächsten Morgen leise, während wir noch gemeinsam im Bett kuschelten. Etwas verschlafen rieb Julian sich ein Auge, bis er antwortete.

»Mit oder ohne Familie?« Ein Lächeln streifte seine Lippen. Ich erwiderte es.

»Ich mag es auch harmonisch ganz alleine mit dir. Aber entscheide es für dich.«

»Ohne meine Schwester würde es wohl romantischer werden«, lachte er kurz auf. Ich nickte vorsichtig. Dann küsste ich ihn kurz auf den Mund.

»Also feiern wir zusammen?«

»Sehr gerne«, flüsterte er mir zu.

Und wieder durfte ich in den Genuss seiner Lippen kommen.

 

Vielleicht war ich doch tot? Vielleicht lag ich wirklich noch in der Badewanne, ertrunken und wartete entdeckt zu werden. Dann ist das also mein Himmel? Und wenn es doch wieder nur ein Traum war?

Wie auch immer, das Glück war kaum zu fassen.

 

Kurz vor den Semesterferien kam Samira noch einmal auf mich zu.

»Und?«, fragte sie schon mit einem riesigen Grinsen, als sie mich an seiner Schulter sah. Julian sah zur Seite und schien etwas zu erröten. Ich erwiderte ihr Lächeln und bewegte meine Hand an Julians Arm.

»Danke, Samira«, nuschelte ich in meinen Schal. Sie nickte sehr zufrieden, wünschte uns viel Glück und ging fröhlich weiter.

Mike machte sich nicht viel draus, als Julian und ich kichernd neben ihm saßen. Nach der Vorlesung fragte er vorsichtig nach, ob es zwischen uns nun endlich funktionieren würde. Als Julian zögernd nickte, hob Mike nur seine Hand und winkte ab. Kopfschüttelnd ging er seine Wege.

Micky, Susa und Lucy saßen wie immer in der Mensa beieinander und tratschten. Ihre verschwörerischen Blicke strichen immer wieder unsere Plätze. Ganz besonders Micky sah uns enttäuscht an. Was genau sie fühlte oder dachte, war ein Geheimnis. Julian wollte auch nicht groß drüber reden. Er schwieg das Thema regelrecht tot. Und es störte mich ausnahmsweise mal nicht, was die Exfreundin von meiner langen, geheimen Liebe von uns hielt.

Als ich Feli von der ganzen Geschichte erzählte, freute sie sich natürlich sehr für mich. Auch wenn es mehr ein 'Na-Endlich'-Freuen war.

Ja, irgendwie waren wir alle froh, dass der ganze Quatsch vorbei war. Julian versprach mir hoch und heilig, dass er mit dem Trinken aufhören würde, solange ich mich von spitzen Gegenständen fernhalten würde. Der kleine Finger besiegelte den Pakt. Hoffentlich länger, als der letzte Pakt, dachte ich bei mir.

 

Meine Mutter nahmen die Neuigkeit gemischt auf. Es war okay, so lange niemand darüber sprach. Julian war immer noch gerne gesehen, aber Küsschen und Händchenhalten bitte woanders. Und von Sex wollte sowieso niemand etwas hören. Das war ja peinlich. Und irgendwo 'eklig'.

Annette hingegen konnte nicht an sich halten. Selbst an Weihnachten schenkte sie uns einen Gutschein von Amazon - mit den Worten "Dass man ja vielleicht was schönes finden würde; für das gemeinsame Wohl" und zwinkerte uns vielsagend an. Julian versank in Scham, während ich lachend den Gutschein annahm.

Selbst Jenny, so wie die Crombachs eben waren, zuckte nur mit den Schultern und pöhnte laut: War doch klar, dass da was läuft!

 

Ja, war doch klar.

 

Von Anfang an.

 

 

»Julian. Mickys Freund. Du kennst sie aus der U-Bahn?«

Nein.

»Julian. Constantins Freund. Erinnerst du dich?«


Nachwort zu diesem Kapitel:
... Ich hoffe, es waren nicht zu viele Namen auf einmal. Ich muss zugeben, manche Passagen sind etwas verwirrend oder plumb geschrieben. Eventuelle gehe ich solche Passagen in Zukunft vorher durch und ändere sie, so gut ich kann! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
BESTE Freunde. Dicke Freunde, mehr ja nicht (_๑˘ㅂ˘๑) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jetzt geht's mit den Traumsequenzen los!
Also kursiv in langen Absätzen bedeutet immer: Traum, haha :D

Es kommen noch längere Passagen von Träumen, wo man vielleicht schnell den Überblick verlieren könnte; deswegen sei das hier nur kurz angemerkt (*´∀`*) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Wie immer bin ich mit mit dem Adult nicht sicher... Immerhin sind es zwei Zeilen... Aber wenn es Adult sein sollte, dann natürlich bitte ändern! :-)

Und ich habe Charaktere angelegt, weil es doch einige sind, die immer mal wieder auftreten! So kann man sich ein kleines Bild von jedem Charakter machen ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... die Kapitel werden jetzt etwas kürzer, wie ich bereits angekündigt hatte, weil ich die Menge an Adult Kapiteln etwas umgehen möchte.. Aber ich denke, jemand, der die Adult Kapitel nicht lesen kann, wird die Nicht-Adult Kapitel nicht verstehen... Seufz!

Ich schau mal, wie ich die Kapitel demnächst einteile! :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
ZACK - da ists's auch gleich vorbei!

Scherz beiseite ;-)
... geht ja noch weiter :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... ich hoffe, ich komme mit dem Querlesen hinterher! Ich muss auch noch ein paar Kapitel einteilen hihi... Kann also passieren, dass vielleicht mal einen Tag kein Kapitel kommt!

Aber ich bemühe mich um Gleichmäßigkeit :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... na so lang waren sie ja doch nicht getrennt :D
Aber Con wäre nicht Con wenn er es wieder vermasseln würde! Hrhrhr... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wo die Adult Kapitel so kurz waren - hier jetzt mal zwei längere :D

... Es ist ein Hin und Her mit den beiden, oder? Aber wer kennt das nicht von irgendwoher... Und wenn's nur mit einer Freundin oder Freund war. Irgendwie hat man ja doch immer Ärger am stecken, will aber auch nicht abschließen ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tadaaa~

Ende! Ich hoffe, euch hat die kurze (aber vielleicht ganz unterhaltsame) Story gefallen!

Ich setze mich dann bald an My Dear Brother 2, sodass es da auch weiter geht :3

Bis bald! ♥ Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (36)
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Von:  queen006
2021-03-15T06:17:59+00:00 15.03.2021 07:17
Na wenn Constantin sich noch die Kontaktlinsen ordentlich rausnehmen konnte,war er wohl doch nicht sooooo hacke.Was ich von Julian halten soöl,weiss ich noch nicht so genau.
Von:  Remi-cookie
2016-01-11T20:04:00+00:00 11.01.2016 21:04
Oh gott
Ich dachte ich würde sterben aus lauter cuteness.*den cuteness-tod stirbt*
Ahhh so toll hast du es geschrieben.
Wehe du schreibst nicht weiter *böse schau*
Nein nein spass ich freue mich auf neue cuteness attacks.

Bussi
remi-cookie
Von:  Ksu
2016-01-06T16:19:23+00:00 06.01.2016 17:19
Jetzt habe ich es auch endlich mal geschafft die letzte deiner Geschichten zu lesen und ich bin wie, bei jeder anderen deiner Geschichten, begeistert und genau wie bei den anderen auch musste ich sie so gut wie es geht am stück lesen (MdB2 und Hold On sind da eine Ausnahme da die ja immer geupdatet wurde bzw werden :)) Und bisher hat mich auch in keiner deiner Storys die adult Kapitel gestört... bis halt jetzt XD das liegt aber nur daran das ich das letzte Kapitel leider nicht lesen kann und ich halt zu gerne wissen würde wie das Date bei den beiden verlief (ok wie ich weiß lief es gut aber ich wüsste gerne was alles passiert ist XD) vielleicht lässt sich da ja was machen ;)
Jedenfalls wie immer liebe ich deine Geschichten auch wenn mich Julian fast zum verzweifeln gebracht hätte :D
Antwort von:  ellenchain
06.01.2016 21:13
Es freut mich sehr zu hören, dass du alle meine Stories magst :D
... wenn du die Adult Kapitel lesen möchtest: ein kleiner Hinweis auf meine Homepage an dieser Stelle... :D Einfach unter Romane gehen! ;-))
Von:  Taiet-Fiona-Dai
2015-11-20T13:03:45+00:00 20.11.2015 14:03
Ich habe deine Story in zwei Tagen durch gelesen, sie hat mich so was von gefesselt. Ich konnte mit Con echt mitfühlen, es war echt klasse. Eigentlich bin ich ja nicht so für eigene Storys aber ich muss sagen das du mich echt auf den Geschmack gebrachte hast, deine Gesichten sind so abwechslungsreich und Spannend bis zum Ende. Ich freu mich schon darauf was Neues von dir zu lesen. Mach weiter so, du hast wirklich das Talent Leute zufesseln.

Lg, Taiet

Antwort von:  ellenchain
20.11.2015 21:33
Vielen herzlichen Dank für diesen lieben Kommentar! :3 Ich freue mich immer sehr, wenn ich Lesern eine schöne Zeit mit meinen Geschichten schenken kann! ♥
Von:  Lookslikeanowl
2015-11-03T12:36:40+00:00 03.11.2015 13:36
Ich hab diese story genauso wie MDB (1&2) am stück durchgelesen XD ich saß bis vier uhr morgens dran, aber DAS WAR ES MIR WERT!! Jetz mal ganz ernsthaft, du schreibst soo mega geil!! hab MDB und das hier auch schon einem haufen leute empfohlen (Die davon wohl ziemlich genervt sind mittlerweile XD) Ich weiß nicht wieso, aber ich kann einfach ncihtmehr aufhören sobald ich angefangen hab, normalerweise ist das nicht so XD Normalerweise bringt mich ne story auch nicht zum heulen, aber ernsthaft, ich hatte tränen in den augen! Die beiden haben mich soo fertig gemacht....
Antwort von:  ellenchain
03.11.2015 15:10
Hui! Das freut mich aber wahnsinnig, dass du beide Storys sofort gelesen hast, wow :D Und sie auch noch toll findest! Und dass du mich weiterempfielst, schmeichelt mir sehr! ♥
Ich hoffe natürlich, dass nicht zu viele Tränchen geflossen sind...
Von:  Streber_Nr1
2015-10-05T17:00:24+00:00 05.10.2015 19:00
Einfach gut geschrieben:-D
Mehr kann man nicht schreiben
Ich hoffe du schreibst weitere gute fanfics
Wenn ja freu ich mich jetzt schon
Lg streber
Antwort von:  ellenchain
03.11.2015 15:10
Ich danke dir vielmals! ♥
Von:  BlaclRabbit
2015-09-30T11:54:53+00:00 30.09.2015 13:54
Ich habe jetzt innerhalb von zwei Tagen diese Geschichte gelesen. Ich konnte einfach nicht aufhören, so bannend war sie.
Mit jedem Kapitel habe ich gehofft das er endlich Julian für sich bekommt. Und zum Ende dachte ich. Was nein nicht so, umso erleichterter war ich bei den letzten drei Kapitel

Du hast einfach die Spannung bis zum Ende aufrechterhalten. Ich hab so mit Con gefiebert und manchmal nur den Kopf geschüttelt. Dein Stil ist einfach super,s selbst wenn du sagst das diese Geschichte älter als Dear Brother ist. Das schreiben liegt dir einfach.
Ich hoffe auf weitere schön geschriebene und zum mitfiebernde Geschichten.

Nun ich verschwinde wieder zum Lesen von Dear Brother. ^-~

LG Rabbit
Antwort von:  ellenchain
30.09.2015 16:51
Vielen herzlichen Dank für deinen lieben Kommentar! <3 D freu ich mich sehr, dass dir meine Geschichte gefallen hat und du Spaß beim Lesen hattest :-)) Danke dir!
Von:  lilac
2015-08-28T22:33:18+00:00 29.08.2015 00:33
Das ist bis jetzt mein lieblings kapitel ...
Ich bewundere die enthaltsamkeit von constantin ...eigentlich gibt man nach einiger zeit auf ....nimmt abstand ....oder gesteht ....aber einfach nichts machen ...sehr kräftezerrend.

Die sache mit "Ich schwieg." ....."Ich schwieg" ....."Also schwiegen wir alle." ....♡♡♡♡♡♡♡♡♡♡ Super!!!
Von:  lilac
2015-08-28T21:55:28+00:00 28.08.2015 23:55
Es ist eigentlich so offensichtlich wie die beiden zueinander stehen. Julian ist wie immer noch schwer zudurchschauen ....es ist nun eine lange zeit vergangen und er ist immer noch mit m7cke zusammen ....warum? Und diese küsschensachen ...und kuschelabende ....also wenn ich 2 kerle so sehen würde ...hmmm...
Micke muss julian wirklich lieben ....wie hält man das den sonst aus.

Andreas ist in diesen kapitel mal echt gut weg gekommen ....mag ihn irgendwie.

Bin wirkl7ch beeindruckt wie schön du schreiben kannst ...mann kann constantin total gut verstehen ....
Von:  lilac
2015-08-28T21:12:06+00:00 28.08.2015 23:12
Man bin ich froh das da nichts gelaufen ist ....echt mal.
Ich muss gestehen das es mich wirklich nervt, das die bei shonen Ai sofort mit einander schlaffen.
Aber hier ....das war irgendwie so ...ehm... unschuldig. Große klasse.

Man kann julian rekativ schwer einschätzen. Es gibt stellen da verhält er sich so eindeutig und dann wiederrum ....?
Die umschreibung wie constantin unter der missachtung seitens julians geliiten hat hat mir vand ich klasse.

Ich mussssss nun weiter lesen ....dabei will ich schon die ganze zeit etwas anderes machen .....ark.

Lg lilac


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