Zum Inhalt der Seite

Götterdämmerung

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 6 wurde noch einmal komplett überarbeitet, nachdem es mir beim letzten Mal die Hälfte aller Absätze rausgelöscht hat (und ich es nicht gemerkt habe ^^")
Sorry dafür, es war wirklich schwer zu lesen. Habe jetzt großzügig Absätze eingestreut und den Lesefluss dadurch hoffentlich deutlich verbessert. :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sakrileg

Mana und Ishizu tauschten irritierte Blicke. Seit Mahad den Raum verlassen hatte, um in den Katakomben nachzusehen, ob der dortige Gefangene tatsächlich Yugi war, herrschte tiefes Schweigen im Raum. Während Ishizus Erzählung hatte Hohepriester Seto kein einziges Wort von sich gegeben, geschweige denn, dass er sich überhaupt bewegt hatte. Mana rutschte auf ihrem Hocker hin und her und warf erneut einen fragenden Blick zu Ishizu, die diesen mit einem fast unmerklichen Schulterzucken beantwortete.
 

Als hätte Seto diese Bewegung gesehen, hob er plötzlich den Kopf und fixierte die Hohepriesterin mit einem unwilligen Blick. „Ich hätte dir deutlich mehr Intellekt zugetraut, Ishizu“, sprach er unterkühlt. „Du machst alle Hohepriester verrückt, indem du ständig das Problem mit deiner Milleniumskette breittrittst. Du forderst Mahad auf, den Pharao zu bemuttern wie eine Glucke, nur weil du glaubst, dass Gefahr bestehen könnte. Und zu guter Letzt schleust du einen fremden Ausländer in den Palast und krönst das Ganze damit, dass du ihn als Priester ausgibst?“

Ishizu zuckte unter Setos Worten sichtlich zusammen und presste aufgebracht die Lippen aufeinander.
 

„Dennoch…“ Seto hielt einen Moment inne und als er weitersprach hatte die Kälte in seiner Stimme einer neutralen Geschäftsmäßigkeit Platz gemacht. „Entweder muss ich deinen Worten trauen, oder ich muss dich für verrückt erklären. Aber ich schätze dich und deine Fähigkeiten zu hoch ein, als dass ich an deinem Geisteszustand zweifeln könnte.“

Mana atmete erleichtert aus als sie sah, wie sich Ishizus Züge wieder entspannten. Sie selbst hatte während Setos Ausbruch unwillkürlich die Luft angehalten. Wenn der Hohepriester wütend wurde, dann war man besser nicht der Grund dafür.
 

Eine Bewegung neben ihr lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Joey. Er hatte sich vorgelehnt und hob eine Hand zu einer entschuldigenden Geste. „Okay, ich hab mich geirrt“, bemerkte er freimütig. „Du bist echt nicht Kaiba. Sorry, Alter. Kaiba hätte hier jetzt einen Aufstand erster Sahne geprobt und dabei mindestens fünfmal darauf hingewiesen, wie unglaublich überragend er doch selber ist. Können wir das Ganze von vorhin vergessen? Also, meinen Auftritt, meine ich. War bescheuert.“

Mana zögerte einen Moment, doch da Seto nicht antwortete, sondern Joey nur irritiert anstarrte, mischte sie sich schließlich doch ins Gespräch ein: „Von was redest du da eigentlich dauernd? Wer oder was soll dieser … Kaiba … sein?“

Joey antwortete mit einer verächtlichen Handbewegung. „Naja, du weißt doch, dass in der Welt, aus der ich komme, auch eine andere Mana existiert, die genauso aussieht wie du.“

„Erschreckenderweise, ja“, murmelte das Magiermädchen.

„Nun, es gibt nicht nur eine Mana, es gibt dort auch einen Seto. Sein voller Name ist Seto Kaiba und er ist das größte, arroganteste Arschloch, das du dir vorstellen kannst.“

Aus den Augenwinkeln bemerkte Mana, dass sich der Hohepriester interessiert vorlehnte und dem Gespräch folgte. In seinen eisblauen Augen lag ein amüsiertes Blitzen und Mana war sich nicht ganz sicher, ob ihr das gefiel oder nicht.

„Ich glaube…“, sprach Joey unbeeindruckt weiter, „Kaibas einziger Lebensinhalt ist es, allen und jedem auf die Nerven zu fallen und ich bin dafür sein erklärtes Hauptziel. Es vergeht kein Tag, an dem er mir nicht nach allen Regeln der Kunst auf den Zeiger geht. Ein echter Kotzbrocken, das kann ich euch sagen!“

„Sehr sympathisch dieser Kaiba“, bemerkte Seto süffisant und musterte Joey von oben bis unten. „Bei weitem sympathischer als ein herumstreunender Wanderpriester, der sich ins gemachte Nest setzt.“

Einen Moment starrte Joey den Priester mit offenem Mund an, um sich dann drohend zu erheben. „Ey, willst du mich anmachen?“

„Wer spricht hier von wollen?“ entgegnete Seto gedehnt  „Wir Ägypter sind gastfreundlich. Ich möchte nur, dass du dich wie Zuhause fühlst.“

„Ich zeig dir gleich, was ich von deiner Gastfreundschaft halte!“

„Und was willst du tun? Mich mit einer Sanduhr bewerfen, du Zeitzauberer?“

„Letzte Warnung, Kaiba!“

„Für dich: Hohepriester Seto.“
 

Joey holte gerade Luft um dem Hohepriester Dinge entgegen zu blaffen, von denen wahrschscheinlich mehr als die Hälfte aus Beleidigungen bestanden hätte, da öffnete sich die Tür und schnitt ihm das Wort ab. Mahad war ungewöhnlich schnell zurückgekehrt und seine Miene verhieß nichts Gutes.

„Ihr hattet recht“, erklärte er sofort. „Der Gefangene in den Katakomben ist der, den sie heute auf dem Balkon festgenommen hatten. Er passt genau auf die Beschreibung dieses Yugis. Allerdings muss ich euch mitteilen, dass er nicht mehr in den Katakomben ist. Der Pharao hat ihn zu sich rufen lassen und seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört.“

In einer kraftlos wirkenden Geste sank Joey auf den Hocker zurück. „Was?“, gab er schwach von sich, „Soll das heißen, er ist- er ist- tot?“

Mahad schüttelte den Kopf und umrundete den Tisch mit energischen Schritten „Nein. Der Pharao pflegt Hinrichtungen nicht selbst zu vollstrecken. Ich bin mir sicher, dass er ihn nur befragen will. Auch wenn ich nicht verstehe, weshalb er…“ Er unterbrach sich, ohne den Satz zu beenden, aber Mana ahnte, was er hatte sagen wollen. Atemu begann immer irrationalere Entscheidungen zu treffen. Einen Gefangenen nachts, in den eigenen Gemächern, und dazu noch ohne den Hauptbefehlshaber seiner Wachen zu befragen, war definitiv eine davon.
 

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Mana schließlich und sprach damit die Frage aus, die schon eine ganze Weile unausgesprochen durch den Raum schwebte. Die drei Hohepriester tauschten mehrmals Blicke untereinander aus, bis Mahad schließlich mit den Schultern zuckte. „Im Moment: Nichts.“

Joeys Kopf fuhr ruckartig nach oben. „Aber-!“

„Es tut mir leid, Prie- ich meine, Joey. Wir können gerade nichts tun, auch wenn du das nicht hören möchtest. Wenn dein Freund beim Pharao ist, dann ist er außerhalb unserer Reichweite. Wir müssen bis morgen früh warten. Dann werde ich mit dem Pharao sprechen, um sein weiteres Vorgehen zu erfahren.“

Mahad konnte eine sehr überzeugende Autorität an den Tag legen, die auch bei Joey ihre Wirkung nicht verfehlte. Statt noch einmal aufzubegehren, saß er stumm da und starrte auf die Tischplatte, das Einzige was sich bewegte, waren seine malmenden Kieferknochen.

Ishizu seufzte und schenkte Joey schließlich ein müdes Lächeln. „Komm“, forderte sie ihn leise auf. „Ich zeige dir, wo du vorerst unterkommen kannst, Joey. Du bekommst Räume im Priesterbereich. Wir haben mit dieser Farce angefangen, also müssen wir dich auch weiterhin als Priester ausgeben. Es erspart uns lästige Fragen.“

Mana sah ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwunden waren. Sie fühlte die schale Besorgnis in sich aufsteigen, dass das Auftauchen von Joey und Yugi der Beginn großer Veränderungen sein würde. Es schwang aber auch die leise Hoffnung mit, dass diese Veränderungen Positives mit sich brachten.  
 

~oOo~
 

Lautes Gepolter ließ Yugi aus seinem unruhigen Schlaf hochschrecken. Seine verspannten Muskeln in Rücken und Nacken rebellierten gegen diese hektische Bewegung und ließen ihn leise ächzen. Er wusste nicht mehr, wie oft der Pharao ihn am vergangenen Abend nach den Hintermännern des Attentats gefragt hatte. Immer wieder hatte Atemu ihm Namen genannt, die er nie gehört hatte und nach Gruppierungen gefragt, von deren Existenz er nicht die geringste Ahnung hatte. Jedes Mal aufs Neue hatte Yugi verneint, hatte erklärt, dass er niemanden hier kenne und dass er nicht wisse, wie er auf den königlichen Balkon gekommen sei. Inmitten dieses unbarmherzigen Verhörs brach seine Erinnerung irgendwann ab und verlor sich in tiefer Dunkelheit.
 

Verwirrt rappelte Yugi sich auf, zog die Beine an und sah sich um. Der markante Geruch von Lilien lag in der Luft und ein warmer Wind drang durch das offene Fenster herein.  Er befand sich in einem der wundervollsten Räume, die er je gesehen hatte. Hohe Säulen mit blütenförmigen Abschlüssen trugen die Decke, die mit  der atemberaubenden Darstellung einer Gottheit verziert war. Yugi glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, aber er konnte sich an ihren Namen nicht erinnern. Wehmütig dachte er daran, wie glücklich sein Großvater wohl wäre, wenn er all das sehen könnte. Sein Blick begann zu verschwimmen und er hob hastig die Hände, um sich in einer umständlichen Geste über die Augen zu fahren. Ein paar Mal atmete er tief ein und aus um sich zu beruhigen, dann stemmte er sich vom Boden hoch.

Vom Flur drangen wieder die gleichen Geräusche durch die geschlossene Tür, die ihn zuvor geweckt hatten. Langsam erkannte Yugi, dass es sich um unzählige, gehetze Schritte und wirr durcheinander tönende Stimmen handelte. Es lag eine solche aufgeregte Erregung in der Luft, dass er sie trotz der geschlossenen Tür spüren konnte. Die Angst begann wieder in ihm aufzusteigen und ihm mit klammen Fingern die Luft abzuschnüren. Er hatte die gestrige Nacht überlebt, aber was bedeutete das in seiner Situation schon? Yugi schlang unruhig die Arme um sich, als ihm bewusst wurde, dass er gestern mitten im Verhör einfach eingeschlafen war. Der Pharao war darüber wahrscheinlich nicht sehr erfreut. 

Mitten in Yugis bangen Überlegungen, flog die Tür des Raumes auf und ein einfach gekleideter Ägypter eilte herein. Sein Blick wanderte suchend umher, bis er Yugi entdeckte. „Folge mir“, befahl er und trat einen Schritt zur Seite um den Durchgang frei zu machen. Yugi zögerte, aber er hatte ja doch keine andere Wahl als zu gehorchen. Zaghaft stieß er sich von der Wand ab, trat in den Flur hinaus und verharrte mitten im Schritt.

Der Flur glich einem Ameisenhaufen. Scheinbar planlos hasteten dutzend Ägypter hin und her, schwerbepackt mit Krügen, Stoffen, Amphoren oder Schriftrollen, angetrieben von kahlrasierte Männer mit Tierfellen über den Schultern, die jeden anblafften, der nicht schnell genug von einem Zimmer zum nächsten eilte. Yugi war so überfordert, dass er mit offenem Mund mitten in diesem Gewühl stand und es nicht wagte sich zu bewegen. Erst als ihm der Diener eine Hand auf die Schulter legte und Yugi vor sich herschob, begannen ihm seine Gliedmaßen wieder einigermaßen zu gehorchen.

 

Eine überbordend verzierte Flügeltüre öffnete sich knarzend und Yugi wurde in einen Raum geführt, der noch prunkvoller war als der in welchem er am Morgen aufgewacht war. Königliche Reliefs starrten von den Wänden hinunter, während sich das Licht auf glänzendem Gold und sanft schimmerndem Elfenbein brach. Mitten in all diesem Luxus stand der Pharao. Im Gegenlicht der tief stehenden Morgensonne lag sein Gesicht im Schatten, nur die hellen Augen stachen so intensiv hervor, dass Yugi erschrocken zusammen fuhr.
 

Er hatte einen solchen Anblick schon einmal gesehen. Dieselben Augen, dieselbe Silhouette – wie in seiner Vision. Wie versteinert stand Yugi da und starrte Atemu atemlos an, der mit einem seltsam entrückten Blick in der Mitte des Raumes stand und sich von seinen Dienern ankleiden ließ. Einer rückte die weiße Tunika zurecht, ein anderer schloss die goldenen Schmuckreifen um den Arm und ein dritter tauschte den royalblauen Lendenschurz gegen ein imposantes Leopardenfell. Selbst Ringe und Schuhe wurden ihm angelegt, so wie jeder einzelne Handgriff des Ankleidens einem alten Ritual zu folgen schien. Yugi fühlte sich wie ein Fremdkörper. Er fragte sich insgeheim, weshalb er überhaupt hierher gebracht worden war. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere und strich sich fröstelnd über die Oberarme. Sein Blick suchte den des Ägypters der neben ihm stand, doch in dessen ausdruckslosem Gesicht konnte Yugi keinen Hinweis darauf erkennen, was nun mit ihm geschehen sollte.

Das Klappern einer Tür ließ Yugi aufhorchen und er entdeckte einen hochgewachsenen, weißgekleideten Mann, welcher den Raum soeben betreten hatte. Die Diener verneigten sich ehrfurchtsvoll und Yugi tat es ihnen nach einem abwägenden Zögern gleich. Als er den Kopf wieder hob, bemerkte er, dass der Fremde ihn durchdringend musterte. Yugi schluckte. Er fühlte sich wie auf einem Präsentierteller.
 

„Ist alles vorbereitet, Mahad?“ Atemus Stimme drang durch das aufgeregte Treiben und brachte die Anwesenden sofort dazu zu verstummen. Der angesprochene Hohepriester wandte sich langsam von Yugi ab und verneigte sich vor dem Pharao. „Ja. Es ist alles bereit für das schöne Fest des Tales. Die Medjay zu Eurem Schutz stehen bereit und die Hohepriester warten im Thronsaal, um Euch zum Tempel zu begleiten.“

„Gut.“ Atemu scheuchte mit einer Handbewegung sämtliche Diener nach draußen und sah Yugi schließlich zum ersten Mal an diesem Morgen offen ins Gesicht.
 

Unwillkürlich wich dieser etwas zurück und begann nervös auf seiner Lippe zu kauen. Mit dem Verlassen des letzten Bediensteten war es ruhig geworden in dem Zimmer. Es war so ruhig, dass selbst das leise Rascheln der Palmen von draußen deutlich zu hören war. Yugis Hände verkrampften sich in seiner Tunika, doch plötzlich trat er mit dem Mut der Verzweiflung einen Schritt nach vorne und brach das Schweigen. „Ihr… ihr habt nach mir … rufen lassen, Pharao? Kann ich… kann ich etwas für Euch… tun?“

Über Atemus Gesicht flog ein ironischer Ausdruck, als er sich an seinen Hohepriester wandte. „Hast du jemals einen so höflichen Attentäter gesehen?“

Mahads Augenbrauen zogen sich irritiert zusammen, er schien die Belustigung des Pharaos nicht recht nachvollziehen zu können. Er verschränkte die Arme und deutete mit einer Kopfbewegung auf Yugi. „Was habt Ihr mit ihm vor?“

Atemu strich eine imaginäre Falte im Leopardenfell zurecht. „Ich habe beschlossen ihn vorerst hier zu behalten. Ich will an die Hintermänner herankommen, er ist letztendlich doch nur ein kleiner Fisch.“

„Halte den Feind so nah, dass er keinen Platz hat nach einem Dolch zu greifen. Ein bekanntes Sprichwort.“ murmelte Mahad und griff nach einem schweren, purpurnen Umhang, den er dem Pharao mit Bedacht um die Schultern legte. Unter der Berührung von Mahads Händen, die den Stoff des Umhanges glattstrichen, spannte Atemu sich sichtlich an und wies den Hohepriester schließlich mit einer harschen Handbewegung an, einen Schritt zurückzuweichen. „Ich möchte, dass er gut bewacht wird.“

„Natürlich, Pharao. Ein Aufenthalt in den Katakomben sollte aber nicht nötig sein, ich denke-“

„Es hat niemand davon gesprochen, dass er in die Katakomben kommt. Ich gedenke, ihn hier zu behalten.“

„In den Privaträumen?“

„In den privaten Nebenräumen. Dort ist er leicht zu überwachen.“
 

Yugi ballte die Hände zu Fäusten und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. Man sprach über ihn wie über ein dahergelaufenes Haustier. Wie ein Streuner, mit dem man nichts anzufangen wusste. Ein tiefdunkles Rot flog über sein Gesicht und ließ seine Wangen schmerzhaft brennen. Unwillkürlich zog er sich zurück, bis er mit dem Rücken gegen eine der Säulen stieß.

„Eure Krone, Pharao.“

Die Stimme des Hohepriesters ließ Yugi wieder aufblicken. Mahad hatte von einem geschmückten Podest eine große, weiße Krone aufgenommen und setzte sie respektvoll auf Atemus Haupt. Einen kurzen Moment glaubte Yugi einen erschöpften Ausdruck über das Gesicht des Pharaos huschen zu sehen, doch er war verschwunden, bevor er ihn wirklich greifen konnte.
 

Schließlich wandte Atemu Mahad den Rücken zu, was Mahad als Aufforderung zu verstehen schien. Er verneigte sich und verließ wortlos den Raum. Yugi starrte ihm solange hinterher, bis die Türen bereits ins Schloss gefallen waren. Jetzt, da er wieder alleine in einem Raum mit dem Pharao war, begann sein Herz vor Nervosität schmerzhaft zu pochen. Er faltete unruhig die Hände und schluckte schwer, doch dann zwang er sich dazu, seinen Blick von der Tür zu lösen. Als er sich Atemu wieder zuwandte, verharrte Yugi irritiert.

Der Pharao hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Sein Kopf lag leicht im Nacken, die Augen waren geschlossen. Mit einer Hand fuhr er sich über das Gesicht und ließ sie schließlich auf seiner Stirn liegen. Obwohl er dadurch das Meiste seines Gesichtes verbarg, konnte Yugi den angestrengten Zug erkennen, der sich um die schmalen Lippen des Pharaos zog. Unschlüssig trat Yugi von einem Bein auf das andere. Erst als er hörte wie Atemu tief, aber seltsam stockend die Luft einzog, fasste er sich ein Herz und näherte sich zaghaft.

„Ph-Pharao?“

Atemu zuckte sichtlich zusammen und starrte Yugi an wie eine Erscheinung.

„Du? Ich dachte Mahad hätte dich mit …“ Er unterbrach sich und presste die Lippen einen Moment fest aufeinander. Yugi beeilte sich damit, die Hände zu einer beschwichtigenden Geste zu heben und fragte: „Kann ich etwas für Euch tun? Soll ich jemanden rufen?“ Selbst er konnte hören wie belegt seine Stimme klang und er rettete sich in ein hilfloses Lächeln. Atemu schwieg, holte noch einmal tief Luft und stieß sich mit einer betont kraftvollen Bewegung von der Wand ab. Das leichte Zittern seiner Hände strafte dieser aufgesetzten Stärke jedoch Lügen.

„Ist es die Krone?“ fragte Yugi in die Stille. „Sie sieht sehr schwer aus.“ Nach einem Moment des Zögerns fügte er nachdenklich hinzu: „Könnt Ihr sie nicht einfach gegen eine andere austauschen?“

Atemus linke Augenbraue zuckte leicht, doch dann flog ein amüsiertes Lächeln über seine Züge. „Nein. Ich kann sie nicht einfach austauschen“, antwortete er trocken und verschränkte die Arme.

Yugi, der plötzlich das eindeutige Gefühl hatte, etwas ungemein Dummes von sich gegeben zu haben spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Atemus Mundwinkel zuckten erneut, doch bevor er noch etwas hinzufügen konnte, klopfte es an der Tür und eine sonore Stimme ertönte.

„Ehrenwerter Pharao, die Sänfte ist bereit. Die Feierlichkeiten können nun beginnen.“

Atemu schloss einen Moment die Augen und wandte sich dann ruckartig um. Das Zittern seiner Hände hatte nachgelassen und seine Bewegungen waren so sicher und energisch wie zuvor. An der Tür angekommen, wandte er sich noch einmal zu Yugi um und fixierte ihn scharf. „Innerhalb des privaten Bereiches kannst du dich frei bewegen. Denke aber immer daran: Du bist nicht mein Gast.“ Es schien als wollte er noch etwas sagen, doch nach einem kurzen Zögern verließ er den Raum und ließ die Tür lautstark hinter sich ins Schloss fallen.

Yugi blieb allein zurück. Nachdenklich starrte er auf den bunten Mosaikboden zu seinen Füßen, ohne die Muster wirklich wahrzunehmen. Das Lächeln, das auf dem Gesicht des Pharaos aufgeblitzt war, hing in seinen Gedanken fest. Atemu hatte nur kurz gelächelt, fast unscheinbar. Aber es hatte seine Augen erreicht und war offen und warm gewesen. Yugi ließ sich gedankenverloren auf dem Fenstersims nieder und sah in die Palastgärten hinaus. Wenn der Pharao lächelte, wirkte er wie ein anderer Mensch. Es nahm ihm die angsteinflößende Erhabenheit, die Yugi bis dahin so eingeschüchtert hatte. Er fragte sich, ob hinter der Fassade des Pharaos noch ein anderer Teil verborgen war. Ein Teil, auf den Yugi durch feine Risse im Mauerwerk hindurch einen kleinen Blick hatte erhaschen können. Ein leiser Funken Hoffnung begann sich in ihm auszubreiten. Atemu hätte ihn schon längst hinrichten lassen können, wenn er gewollt hätte. Aber vielleicht war er doch gütiger, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Vielleicht konnte Yugi ihm doch glaubhaft machen, dass er kein Attentäter war. Vielleicht konnte er den Pharao sogar davon überzeugen, ihn gehen zu lassen. Einen Moment lang pochte Yugis Herz merklich schneller als zuvor.
 

~oOo~
 

Jubelschreie, Gesänge und Kinderlachen. So viele unterschiedliche Geräusche prasselten auf Atemu ein, dass er kaum noch in der Lage war, einzelne Laute darunter herauszuhören. Alles verschmolz zu einer Geräuschkulisse, die sich wie ein fein gewobenes Leinentuch über Theben legte. Die Stadt kochte vor Aufregung und Atemu musste sich eingestehen, dass er sich dieser Aufregung nicht völlig verweigern konnte. Seine Fingerspitzen zitterten leicht als er die Hand hob, um seine Augen vor der gleißenden Sonne abzuschirmen. Sein Blick flog über die vielen Priester, die den Tross begleiteten, weiter zu den unzähligen Schaulustigen, die sich an den Straßen versammelt hatten und von den Medjay nur schwer zu bändigen waren. Selbst auf den Dächern drängten sich die Menschen - jeder versuchte einen Blick auf den Pharao zu erhaschen.
 

Atemus Oberlippe kräuselte sich leicht. Er fühlte sich unwohl. Die vielen starrenden Menschen, der ohrenbetäubende Lärm, die unbequeme Sänfte und die schwere Krone verlangten ihm unendlich viel Kraft ab. Je näher der Tempel kam, desto mehr schnürte sich ihm die Kehle zu.

Sein Herz schlug so stark, dass es ihm Schmerzen. Der Singsang der Priester, das Jubeln seiner Untertanen – alles wurde immer dumpfer, bis er es über seinen eigenen Herzschlag hinweg nicht mehr hören konnte. Sein Blickfeld schrumpfte, er sah nur noch die Tore des Tempels, weit geöffnet wie der aufgerissene Schlund der Urschlange Apophis.

Ein leichter Ruck riss ihn aus seiner Trance und er bemerkte, dass die vier Träger seine Sänfte zu Boden gelassen hatten. Einen Moment lang ballte er die Hände so fest zur Faust, dass sich seine Fingernägel schmerzhaft in die Handballen gruben, dann erhob er sich. Mit aller Willenskraft die er aufbringen konnte, schaffte er es seine Schritte fest und sicher wirken zu lassen, als er seine drei hochrangigsten Priester auf dem Weg zum Allerheiligsten anführte. Dort warteten sie auf ihn. Amun, Mut und Chons – Die Göttertriade Thebens.
 

Jeder Meter wurde für Atemu zur Qual. Die Krone schien immer enger zu werden, sie umklammerte ihn wie eine todbringende Schlange. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und seine Zunge war taub vor Trockenheit. Seine Schritte wurden langsamer. Die Säulenhalle wurde kleiner, dunkler, zog sich um ihn zusammen wie die Wände eines Gefängnisses. Mit letzter Kraft trat er in den sakralen Bereich ein und hielt inne um sich zu beruhigen. Durch dumpfen Nebel hindurch flog sein Blick über Opfergaben und Blumen, bis er auf den steinernen Gesichtern der Götterstatuen liegen blieb. Im gleichen Augenblick schoss ein quälender Schmerz durch seine Schläfen, durchfuhr sein Rückenmark und bohrte sich in seine Brust.

Er konnte es nicht.

Er konnte diese Götter nicht anbeten. Götter, die ihm in seiner dunkelsten Stunde nicht beigestanden hatten, Götter, die tatenlos zusahen, wie sein Land vor die Hunde ging, Götter, die ihm weder Kraft, noch Stärke gesandt hatten, als er in ihren Schreinen darum bat.
 

„Nein.“

Es war nur ein einzelnes Wort, doch es war so entschlossen gesprochen, dass Ishizu, Mahad und Seto, die ihn hierher begleitet hatten, mitten in ihren Bewegungen erstarrten. Atemu lächelte leicht, ein schales, dünnes Lächeln und wandte den Götterstatuen offen den Rücken zu. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich auf den Gesichtern der drei Hohepriester Fassungslosigkeit und Entsetzen widerspiegelte.

„Aber… aber Pharao, ihr könnt nicht…“

Mit einer Handbewegung brachte er Ishizu zum Schweigen, die als Erste ihre Stimme wiedergefunden hatte.

„Ich sagte: Nein.“

Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren gefährlich gepresst und Ishizu tat ihm den Gefallen erschrocken zusammen zu zucken. Mit einer schnellen Bewegung verließ er das Allerheiligste, ohne sich noch einmal zu den drei Priestern umzusehen. Je weiter er sich von den Götterstatuen entfernte, desto energischer wurden seine Schritte. Die Kraft kam zurück, durchströmte ihn wie eine Flutwelle und verbannte den Schmerz aus seinem Körper. Sein Blick war wieder klar, er erkannte alles in einer nie dagewesenen Schärfe und tief in seinem Inneren begann eine leise Stimme zu flüstern, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es war eine Stimme die er nicht kannte, sie war tonlos und kalt, doch die Worte die sie sprach waren so verlockend und umschmeichelnd, dass er sie aufsog wie das Land die Nilschwemme. Er hatte das Richtige getan. Er hatte den Göttern abgeschworen, die ihn nie erhört hatten. Der einzige Gott, der ihm treu zur Seite stand, war Seth. Er schenkte Atemu nicht die Hoffnung, dass er siegreich sein würde. Er schenkte ihm die reine Gewissheit.

 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  va
2015-10-05T18:21:37+00:00 05.10.2015 20:21
Super interessant:) frau mich schon auf das nächste Kapitel :)
Antwort von:  Mieziliger
06.10.2015 12:39
Lieben Dank :)
Ich hatte ein wenig Angst, dass es zu langweilig werden würde, aber scheinbar kommt es doch recht interessant rüber :D
Das nächste Kapitel ist schon in Arbeit :)
Von:  RandaleEiko
2015-09-24T20:27:05+00:00 24.09.2015 22:27
Gut geschrieben! Hat mit sehr gut gefallen ^^
Antwort von:  Mieziliger
06.10.2015 12:38
vielen Dank!
Es war ein schweres Kapitel, ich bin sehr froh, dass es gefällt :)


Zurück