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Götterdämmerung

von

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Rochade

Auffällig leise schlich Mana durch den königlichen Palast, äußerst penibel darauf bedacht, Mahad nicht zu begegnen. Es gab da eine dezente Kleinigkeit, die Mana lieber erst einmal mit Ishizu besprach, bevor sie es ihrem Lehrmeister beichtete. Ihr Atem ging flach, nachdem sie den halben Weg hierher gerannt war, aber für eine Pause hatte sie jetzt keine Zeit. Schnell hastete sie den Flur entlang, schlitterte um eine Ecke – und wäre beinahe mit Mahad zusammengeprallt, der gerade an Ishizus Tür klopfte.

Mit einem entsetzten Hechtsprung rettete sich das junge Mädchen hinter die nächstbeste Horus-Statue und hoffte, dass Mahad sie nicht gesehen hatte. Da von dem Hohepriester keine Reaktion kam, wagte es Mana schließlich doch einen Blick zu riskieren. Die Tür zu dem Gemach stand mittlerweile offen und Ishizus schmale Gestalt zeichnete sich im Licht der Fackeln ab, mit denen der Raum hinter ihr erhellt wurde. Zum ersten Mal fiel Mana auf, wie zierlich Ishizu eigentlich war.

“Wie kann ich dir helfen, Mahad?“

“Ich- Nun, ich wollte nur nachfragen ob … deine Befürchtungen immer noch so stark sind.“ 

Obwohl sie kein gutes Gefühl dabei hatte zu lauschen, horchte Mana unwillkürlich auf. Egal wie kurz Mahads Stocken gewesen war, es war ihr aufgefallen. Es war wirklich selten, dass der Hohepriester ins Haspeln geriet. Als er weitersprach, klang seine Stimme gefasster, aber auch wärmer als sie ihn je hatte sprechen hören. „Du bist sehr blass in der letzten Zeit, Ishizu. Ich mache mir Sorgen um dich.“ Mana fühlte sich mit einem Mal äußerst unwohl. Das hier ging sie alles nichts an. Sie sollte das gar nicht hören.

“Es ist nichts.“ Man konnte das sanfte Lächeln in Ishizus Stimme hören. „Ich bin nur etwas müde.“

“Sei bitte vorsichtig. Du bist eine hervorragende Magierin, das weiß ich. Aber auch unsere Kräfte sind begrenzt.“

Mana wollte nicht lauschen. Sie wollte es wirklich nicht. Aber ihre Neugier war schon immer ihr größtes Laster gewesen und so linste sie doch noch einmal hinter der Statue hervor. Sie zuckte zurück, kaum dass sie die Szene vor sich wirklich greifen konnte, aber er Anblick der Hohepriester hatte sich tief in ihre Gedanken gebrannt. Mahad, dessen Fingerspitzen zärtlich an Ishizus Kinn lagen und sie dazu zwangen nach oben zu sehen. Ishizu, die unter dieser Berührung einen Moment die Augen schloss, ehe sie verlegen den Kopf wandte.

Mana fühlte sich elend. Ishizu und Mahad waren wie Geschwister für sie, ihre Ratgeber, Lehrmeister und Tröster, wann immer  es ihr schlecht ging. Und sie hinterging die beiden, indem sie in ihren privatesten Bereichen herumschnüffelte. Sie hörte wie Mahad sprach, aber sie hielt sich die Ohren zu. Sie hatte schon viel zu viel gehört. Erst als es eine ganze Weile still war, wagte sie es wieder, sich zu bewegen. Vorsichtig schob sie sich hinter der Horus-Statue hervor und sah zu ihrer Erleichterung, dass Mahad verschwunden war. Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war Ishizu, die noch immer in der offenen Tür ihrer Unterkunft stand und durch Manas Bewegung aus ihrer Erstarrung gerissen wurde. Die Augen der beiden Frauen trafen sich und Mana wünschte sich ein Mauseloch in dem sie verschwinden konnte.

“Mana…“

Das Mädchen zuckte zusammen, als sie die Verletztheit in Ishizus Stimme hörte. Peinlich berührt vergrub sie ihre Hände in der weißen Tunika und kam betreten hinter dem Abbild des Falkengottes hervor. „Ishizu es ist… nicht wie du denkst. Ich wollte euch nicht… Es tut mir leid, ich wollte nur mit dir sprechen und- und dann war da Mahad. Und ich- ich wollte nicht, dass er mich sieht und …“ sie unterbrach sich und sah zu Boden. Es herrschte ein langes Schweigen, doch schließlich trat Ishizu einen Schritt zurück. „Komm erst einmal rein“, sagte sie tonlos und schloss die Tür hinter Mana, die kleinlaut in das Gemach geschlichen war.

“Es tut mir leid…“, nahm Mana den Faden noch einmal auf. „Ich wollte euch wirklich nicht belauschen. Ehrlich, das musst du mir glauben.“

“Schon gut. Es ist nur … Du solltest … Nein. Es war nicht deine Schuld.“

Die Hilflosigkeit die mit der Stille Einzug hielt, legte sich schwer auf die beiden Frauen. Ishizu öffnete den Mund und schien noch etwas sagen zu wollen, aber stattdessen schüttelte sie leicht den Kopf und schwieg. Mit einer zaghaften Bewegung trat Mana auf sie zu und berührte die Priesterin sanft am Arm. „Ihr- Ihr liebt euch, nicht wahr?“

Der Arm unter ihren Fingerspitzen zuckte deutlich fühlbar und einen Moment sah es so aus, als ob Ishizu ärgerlich werden würde. Doch dann entspannte sich die Priesterin und atmete tief ein. „Mahad und ich haben beide den Eid geschworen unser Leben dem Pharao, und nur ihm, zu widmen. Das können wir nur, indem wir alleine bleiben.“

„Aber…“

„Es war unsere Entscheidung Mana. Weder er, noch ich, haben diese Entscheidung jemals bereut.“

Mana holte schon Luft, aber ein Kopfschütteln Ishizus brachte sie zum Schweigen. „Genug davon“ sprach die Priesterin nun mit fester Stimme. „Dürfte ich den Grund erfahren, warum du überhaupt hier bist?“

„Ich …“ Manas Gedanken waren noch immer so wirr, dass sie nicht recht wusste, wie sie beginnen sollte. Sie verschaffte sich einige Minuten Bedenkzeit, indem sie sich in Ishizus Gemächern umsah. Ihr Blick flog über Schriftrollen, zig Tiegelchen und Töpfchen, Schmuckkästchen und religiöse Statuetten. Alles war so wie immer. Vertraut und heimelig. „Also… ich…“ begann sie erneut, „Ich war ja heute auf der Baustelle. Ich war nur ein wenig neugierig und wollte nachsehen wie der Fortschritt dort so ist. Und … da habe ich zwei Männer getroffen, die vor mir davonrannten. Und dann sind wir eingebrochen und dann war einer der beiden weg, aber der andere ist noch da. Und- nein, ich muss von vorne anfangen, das ist so nicht richtig.“ Ishizus Gesichtsausdruck war tatsächlich so verwirrt, wie Mana es erwartet hatte.

Sie schloss kurz die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Nach einem tiefen Atemzug berichtete sie konzentriert und deutlich gefasster von den Geschehnissen, die sich auf der Baustelle ereignet hatten. Ishizu saß die ganze Zeit ruhig da, die Hände im Schoß gefaltet und hörte aufmerksam zu. Der Schein der vielen Kerzen spiegelte sich auf ihrem tiefschwarzen Haar wieder, das sie heute ausnahmsweise nicht unter einem Schleier verbarg. Nachdem Mana geendet hatte, stand Ishizu auf und trat ans Fenster. Ein sanfter Wind war aufgekommen und trug den warmen Geruch herein, der so typisch für diese Stadt war. „Einer der jungen Männer ist jetzt noch auf der Baustelle sagst du?“

Mana nickte. „Ja. Er wurde verarztet und dann in seine Unterkunft gebracht.“

Nachdem Ishizu nicht weiter antwortete, sondern nachdenklich ins Nichts starrte, erhob sich Mana und trat an die Seite der Priesterin. Die Nase in den Wind streckend, sog sie den Geruch von offenen Feuern, Weihrauch, Ölen und Blüten ein. Es gab ihr das Gefühl von beruhigender Alltäglichkeit.

„Du bist dir sicher, dass der zweite Mann nicht einfach nur verschüttet wurde?“

Mana erschrak etwas, als Ishizu doch plötzlich sprach, aber nickte dann bestimmt. „Da bin ich absolut sicher, ich konnte ihn genau sehen. Er stolperte, berührte das Relief und verschwand. Und weißt du, was ebenso seltsam ist? Diesen … Joey oder wie er hieß … schien das gar nicht zu überraschen. Er wirkte eher verzweifelt, dass ihm nicht das Gleiche widerfahren ist.“

Ishizu nickte langsam und legte ihre Fingerspitzen auf die Milleniumskette, die zwar wunderschön, aber erschreckend nutzlos um ihren Hals lag. Es war eine unsichere Geste, die man in der letzten Zeit etwas zu häufig bei ihr sah.

„Irgendetwas geht hier vor sich.“, murmelte sie leise „Diese Männer könnten uns vielleicht einen Hinweis geben. Sind sie der Schlüssel? Oder doch nur ein Auslöser von vielen? Ich glaube das Beste ist es, diesen … Joey … unauffällig hierher zu bringen. Ich möchte selbst mit ihm sprechen.“

„Jetzt gleich?“

„Nun, eigentlich können wir nicht Fremde in den Palast schleusen, wann immer es uns gefällt. Wir müssten sehr vorsichtig sein. Und uns einen wirklich guten Plan zurecht legen.“

Verlegen kratzte Mana sich an der Nase. „Also … das trifft sich ganz phänomenal, weißt du?“ Langsam wich sie rücklings zur Tür zurück, dabei den Gesichtsausdruck von Ishizu genau beobachtend, der immer stärker entgleiste, je stärker auch die Erkenntnis bei ihr einsank.

„Oh nein, Mana ... Sag mir nicht du hast ... Hast du?“

„Ich war vorsichtig! Niemand hat uns gesehen! Und ich habe ihn auch gleich in meiner Unterkunft versteckt!“ Hastig tastete das Magiermädchen hinter ihrem Rücken nach dem Türknauf und drückte die Tür mit der Hüfte auf. Mit einem „Ich bin sofort wieder da!“ quetschte sie sich durch den Türspalt und rannte davon.
 

~oOo~
 

Mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen lehnte Atemu an einer Säule in seinem Gemach. Hin und wieder zuckten seine Finger in innerer Unruhe, doch abgesehen davon bewegte er sich nicht. Er wartete. Eine einzelne Fackel erhellte den Raum nur halbherzig und die nächtliche Stille lag um Atemu wie ein undurchdringlicher Kokon. Plötzlich öffnete er die Augen. Er hatte ein Geräusch gehört. Das Geräusch von nackten Füßen auf dem steinernen Fenstersims. Genau das Geräusch, auf das er gewartet hatte. Die Unruhe in Atemus Innerem wuchs, mischte sich mit erwartungsvoller Erregung und brachte seinen Herzschlag dazu für einen Augenblick auszusetzen. Im düsteren Halbdunkel beobachtete er den jungen Mann, der wie ein Schatten durch das glaslose Fenster glitt. Atemu stieß sich von der Säule ab und zog so die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich, der sofort respektvoll auf die Knie sank.

“ Kronprinz.“

Die leise, immer etwas rau klingende Stimme trieb eine Gänsehaut über Atemus Nacken. Mit einer ungeduldigen Handbewegung brachte er sein Gegenüber dazu, sich wieder zu erheben und ließ seinen Blick über dessen trainierten Körper schweifen.

“Djedefre“ antwortete er leise, ohne den heiseren Unterton gänzlich verbergen  zu können. Der stadtbekannte Tänzer lächelte und schenkte Atemu diesen kokett-unschuldigen Augenaufschlag, der so typisch für ihn war. Atemu unterdrückte den Drang scharf die Luft einzuziehen, stattdessen rettete er sich in einen kontrollierten, tiefen Atemzug. Die goldenen Ringe an seinen Fingern blitzen im Schein der Fackel auf, als er langsam die Hand hob. Seine Fingerspitzen fuhren an der Wange des Tänzers entlang, so nah, dass er die Wärme seiner Haut spüren konnte und doch ein winziges Stück entfernt, sodass er ihn nicht direkt berührte. Mit der Zungenspitze benetzte er seine Lippen, die durch seinen eigenen, heißen Atem ausgetrocknet wurden. Seine Finger fuhren weiter, den schlanken Hals entlang, weiter in den Nacken  und vergruben sich dort in den schulterlangen Haaren. Sein Denken setzte im gleichen Moment aus, indem Djedefre dem Zwang nachgab und ihre Lippen aufeinander trafen. Es war kein Platz für Sanftheit, zu viel Hunger, zu viel Verlangen brannte in dem jungen Kronprinz. Schwer atmend löste er sich aus dem Kuss und legte den Kopf in den Nacken. Ein leiser Laut entkam ihm, als sich Djedefres Lippen ihren Weg über seinen empfindlichen Hals suchten. Seine Fingernägel gruben sich in den warmen Rücken des Tänzers und er ließ es zu, dass dieser ihn gegen die im Halbdunkel liegende Säule drängte. Die Kälte der Steinmauer drang durch seine Tunika, aber er spürte es kaum über die Hitze hinweg, die in seinem Inneren loderte. Seine Hände lösten sich zunächst nur widerwillig, fuhren dann aber gieriger als er es ihnen zugestehen wollte, an dem schmalen Körper des jungen Tänzers herab und pressten dessen Hüfte fest an die seine. Die Aufforderung annehmend, drängte sich Djedefre mit einer katzenhaften Bewegung zwischen Atemus Schenkel, während sich ihre Lippen erneut  zu einem hitzigen Kuss trafen.

„Atemu!“

Zu Tode erschrocken fuhren die Beiden auseinander und Atemu fühlte sich grob an der Schulter gepackt, noch ehe er wusste wie ihm geschah. Als er den Kopf hob, zogen sich seine Eingeweide so schmerzhaft zusammen, als würden sie sich selbst verschlingen. Vor ihm stand sein Vater. Weiß vor Zorn. Mit  solch Ekel und Abscheu im Blick, dass Atemu am liebsten vor ihm auf die Knie gesunken wäre.

„Mein eigener Sohn…“

Die Stimme seines Vaters war nur ein Flüstern, aber jedes Wort traf Atemu wie ein Dolchstoß. Zaghaft hob er seine bebenden Hände, versuchte sich an einer beruhigenden Geste. „Vater, ich, ich kann das erklären. Ich-“

„Erklären? Was kannst du erklären? Dass du für einen dahergelaufenen Gossenjungen die Beine spreizt wie ein Weib?“ Mit jedem Wort war die Stimme Pharao Aknamkanons lauter geworden, bis sie wie Donner widerhallte. Atemu biss sich heftig auf die Lippen. Er spürte, dass er taumelte. Die Scham, die Verzweiflung, sie stiegen in ihm auf und schnürten ihm die Kehle zu.

„Vater…“ Er brach ab, als er hörte wie brüchig seine Stimme klang und wandte den Blick ab. Aus den Augenwinkeln sah er zwar, dass die Hand seines Vaters vorschnellte, doch wirklich bewusst wurde es ihm erst, als sie sich tief in seinem Haarschopf vergrub. Mit zorniger Wucht wurde er zur Seite gerissen und zu Boden geschleudert, wo er so heftig aufschlug, dass seine Lippe aufplatzte. Warmes Blut floss über seine Zunge und brachte ihn zum Husten. Sein Blick traf den von Djedefre, der sich hastig in dem Schatten der Säule verborgen hatte. Atemu wischte sich eilig das Blut von den Lippen und versuchte aufzustehen. Er wusste nicht, was schlimmer war. Dass sein Vater ihn geschlagen hatte, oder dass einer vom einfachen Volk ihn so sah.

Bevor er jedoch die Möglichkeit hatte, sich vom Boden hochzustemmen, riss sein Vater ihm die weichen Ledersandalen von den Füßen. Als ihn der erste Schlag des Stockes auf die bloßen Fußsohlen traf, schossen unerträgliche Blitze durch seinen Körper. Wie ein Wahnsinniger schlug der Pharao zu. Immer wieder.

Mit einem gequälten Aufschrei warf Atemu seinen Kopf in den Nacken-
 

und erwachte.

Mit einem Ruck richtete er sich auf und sah sich hektisch um. Er saß an seinem Schreibtisch, die Papyrusrollen an denen er gearbeitet hatte, lagen zerknittert auf dem Boden. Er musste kurz eingenickt sein. Mit zittrigen Händen fuhr er sich über das Gesicht. Warum träumte er von vergangenen Dingen? Und dann auch noch von dem Tag, an dem er die schlimmste Demütigung seines Lebens erfahren hatte? Nie hatte sein Vater die Hand gegen ihn erhoben; bis auf dieses eine Mal. Er hatte ihn geprügelt wie einen einfachen Bauern. Ihn, seinen eigenen Sohn und Thronfolger. Atemu presste die Zähne so fest zusammen, das sie knirschten. Er hatte sich damals geschworen, nie wieder eine solche Demütigung zu erfahren. Nie wieder eine schwache Seite zu zeigen, die ihn angreifbar machte.

Nur einer wusste über ihn Bescheid.

Ein daher gelaufener Tänzer, von dem er nicht los kam. Der ihn in seinem schmachvollsten Moment gesehen hatte und nur durch pures Glück Aknamkanons Rage entgangen war.

Die Bewegung, mit der Atemu sich erhob, war ungewöhnlich kraftlos. Es ärgerte ihn. Schnell trat er auf den Balkon und stützte sich schwer auf der Brüstung ab. Der schale Geschmack des Traumes wich der Wut. Sein Vater war tot. Er war es, der jetzt über dieses Land herrschte. Er war es, der die Zügel in der Hand hielt. Und er war es, dem seit jenem verhängnisvollen Tag eine mächtige Gottheit zur Seite stand.

Atemu merkte, wie er wieder ruhiger zu werden begann. Sein Herzschlag verlangsamte sich und sein Atem brannte nicht mehr wie Feuer in seiner Kehle. Seine Stimme, als er einen Diener herbeirief, war zwar noch etwas rau, aber selbstsicher und fest wie eh und je. Der Wein, den der Diener ihm schließlich brachte, spülte auch den letzten Rest der Trockenheit von seinen Lippen und der Traum begann zu verblassen. Nachdenklich sah Atemu zum Horizont. Vielleicht sollte er heute doch noch einmal vor dem kleinen, privaten Schrein im Nebenraum beten. Nur ein kurzes Gebet. Damit ihn solche wirren Träume nicht noch einmal belästigen würden.
 

Etwas hinter ihm ließ ihn plötzlich stocken.

Er war sich nicht sicher etwas gehört zu haben, oder ob es nur das Gefühl einer fremden Anwesenheit war, aber er wusste plötzlich, dass er nicht mehr allein war. Er fuhr herum – doch außer dem Diener, der neben der Tür des Gemachs verharrte und auf weitere Anweisungen wartete, war dort niemand. Atemu ballte die Hand zur Faust. Wurde er paranoid?

Die feinen Härchen in seinem Nacken begannen sich aufzustellen. Nein. Er wurde nicht paranoid. Da war jemand. Langsam wich Atemu einen Schritt zurück, bis er die Brüstung des Balkons in seinem Rücken spürte. Ein leiser Laut ertönte über ihm und Atemus Blick zuckte nach oben. Ein Schatten kam auf ihn zu und er konnte gerade noch einen Schritt zur Seite machen, als plötzlich ein junger Mann vor ihm zu Boden stürzte. Einen Moment lang schien sich die Zeit zu verlangsamen und Atemu erlebte alles wie in Zeitlupe. Große, erschrockene Augen sahen vom Boden zu ihm auf, ein schmaler Mund formte lautlose Worte. Vom Inneren des Gemachs stürmten einige Medjay herein, aufgeschreckt durch das laute Rufen des Dieners. Mit gezückten Chepesch zerrten sie den jungen Fremden vom Boden hoch, der panisch auf die gefährlichen Krummsäbel starrte.

“…Pharao?“

Die Stimme eines Medjay riss Atemu aus seiner Erstarrung. Erst jetzt merkte er, dass die Wache ihn wohl schon mehrmals angesprochen hatte. Mit einer betont langsamen Bewegung hob Atemu eine Hand, als habe er sich bewusst Zeit mit der Antwort gelassen; einer Antwort auf eine Frage die er nicht einmal wahrgenommen hatte. Noch immer lag sein Blick auf dem kleinen Häuflein Elend, das da paralysiert zwischen den Medjay hing. Hatte er es sich eingebildet, oder war der junge Mann einfach aus dem Nichts erschienen? Einen Moment zögerte Atemu, doch dann ging ein Ruck durch ihn. Es war Unsinn. Natürlich war der Fremde nicht einfach vom Himmel gefallen. Er musste über die Dächer gekommen sein.

Entschlossen wandte er sich ab. „In die Katakomben“, befahl er mit einer knappen, herrischen Geste über die Schulter hinweg. „Das Urteil fällt am morgigen Tag.“

Es war nur ein sehr schwacher Protest zu hören, als die Wachen ihren Gefangenen aus dem Gemach zerrten. Genau genommen war es kein Protest, sondern ein erstickter Laut, in dem sich Verzweiflung, Panik und Hoffnungslosigkeit mischten. Atemu widerstand der Versuchung sich umzudrehen und dem Fremden nachzusehen. Er verharrte schweigend, mit irritiert zusammengezogenen Augenbrauen und versuchte zu begreifen, was gerade eigentlich geschehen war. Der schale Geschmack in seinem Mund kehrte wieder zurück. Doch diesmal waren es nicht die Nachwirkungen eines Traumes, die das ausgelöst hatten.
 

~oOo~
 

„Erheben wir die Kelche auf den edlen Pharao – Leben, Heil und Gesundheit unserem Herrscher!“

„Leben, Heil und Gesundheit!“

Aus zig Kehlen erklang der ehrfürchtige Ausruf und hallte durch den Audienzsaal. Nachdem die Gäste auf das Wohl des Pharaos getrunken hatten, versank alles wieder in einem Stimmengewirr aus Unterhaltungen, Scherzworten und dem Ruf nach mehr Wein. Die anfängliche Verwunderung, dass überhaupt ein Fest stattfinden sollte, hatte sich recht bald gelegt und war dem hellen Gelächter gewichen, das im Saal widerhallte.

Atemu ließ sich gemächlich in das purpurne Kissen in seinem Rücken zurücksinken und hob den reich verzierten Alabasterkrug, um ihn erneut füllen zu lassen. Er sprach wenig, aber er genoss die ausgelassene Stimmung. Hin und wieder strich er mit seiner linken Hand über den Kopf der Löwin, die sich ausnahmsweise mal wieder an seiner Seite niedergelassen hatte und das Fest fast gelangweilt zu betrachten schien. Hochrangige Beamte und Angehörige des städtischen Adels hatten sich heute versammelt und genossen das Können der Hofmusikanten genauso, wie die delikaten Speisen und Getränke, die unermüdlich aus den Küchen des Palastes herausgeschleppt wurden. Atemu selbst begnügte sich mit dem würzigen Geschmack des teuren Shedehs in seinem Kelch.

„Ich hoffe es ist alles zu Eurer Zufriedenheit, Pharao?“

Mahad war unbemerkt aus dem Schatten der Säulen zu ihm getreten. Atemu ließ sich zu einem knappen Nicken herab und schenkte dem Magier einen ruhigen Blick. Mahad hatte gute Arbeit geleistet und Atemu war in einer solch besänftigten Stimmung, dass er bereit war das auch einzugestehen. Nach einem weiteren Schluck Shedeh, der endlich begann seine Wirkung zu entfalten, stellte der Pharao den Kelch auf einem niedrigen Tisch ab und strich nachdenklich über den Kopf seiner Löwin. Trotz des Alkohols und der guten Stimmung, konnte Atemu das Fest nicht gänzlich genießen. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem jungen Mann zurück, der so plötzlich auf seinem Balkon erschienen war. Je mehr er versuchte alles zu verdrängen, desto häufiger tauchten die Bilder wieder vor seinem inneren Auge auf. Mit einem auffordernden Blick wandte er sich schließlich wieder dem Hohepriester zu, der noch immer geduldig neben ihm stand und wartete. „Konntest du etwas über den Eindringling herausfinden?“ Als er den verwirrten Ausdruck sah, der über Mahads Züge glitt, wurde Atemu klar, dass der Hohepriester keine Ahnung von dem Gefangenen haben konnte. Mahad war während der Gefangennahme gar nicht im Palast gewesen, Atemu erinnerte sich, dass der Hohepriester aufgrund der Vorbereitungen so beschäftigt gewesen war, dass er erst kurz vor Beginn der Feier zurückgekehrt war. Er hatte sich bei ihm ja sogar noch für sein spätes Erscheinen entschuldigt.

“Verzeiht, Pharao. Ich verstehe nicht. Eindringling?“

Atemu unterdrückte ein Seufzen. Er hätte mit dem Thema gar nicht anfangen sollen, er wollte ein paar unbeschwerte Stunden erleben und wenigstens für diese kurze Zeit sämtliche Gedanken und Sorgen beiseiteschieben. Aber er kannte Mahad. Und er kannte den Ausdruck, der in dessen wachsamen Augen lag. Der Hohepriester würde nun garantiert nicht mehr locker lassen, bis er alles über diesen ominösen Zwischenfall herausgefunden hatte und das war wirklich das Letzte, was Atemu sich für diesen Abend vorgestellt hatte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Mahad bereits den Mund öffnete, um weitere Fragen zu stellen, doch die Ankunft der Tänzergruppe gab Atemu die Möglichkeit, dieses unumgängliche Gespräch zu verschieben. Mit einer kurzen Handbewegung gab der Pharao seinem Magier zu verstehen, dass sie sich später unterhalten würden und er nun die Tanzdarbietung genießen wolle. Einen Moment sah es so aus, als wolle Mahad protestieren, aber schließlich verneigte dieser sich und zog sich zurück.
 

Atemu nahm einen tiefen Schluck des Shedehs und ließ seinen Blick über den Kelchrand hinweg zu dem Haupttänzer der Gruppe gleiten. Obwohl er gerade trank, glaubte er zu fühlen, wie seine Lippen trocken wurden. Er genoss den Anblick des Mannes, der –wie alle Tänzer Ägyptens- bis auf einen schmalen Schmuckgürtel unbekleidet war. Nur das tiefschwarze Haar bedeckte ihn bis zu den Schultern und schuf einen sinnlichen Kontrast zu der bronzenen Haut. Djedefre tanzte mit einer solchen Leidenschaft, dass sie fast körperlich zu spüren war. Sein noch immer so jungenhaft wirkender Körper strahlte eine katzenhafte Geschmeidigkeit aus und schien eins zu werden mit den Klängen der Sistren, Harfen und Tamburine. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die hohen Fenster hinein und tauchten Djedefre in ein magisches Spiel aus goldenem Licht und verschleiernden Schatten.

Betont langsam griff Atemu nach einer Dattel, weniger weil er Lust darauf verspürte, sondern als reine Schutzmaßnahme, damit nicht auffiel, wie sich seine Hand um die Stuhllehne verkrampft hatte.

Gerade als er in die Dattel biss und den süßen Geschmack der Frucht auf seiner Zunge schmeckte, sah Djedefre über seine Schulter hinweg zu ihm auf und sandte einen so neckenden Blick in seine Richtung, dass Atemu gezwungen war sich abzuwenden. Er hasste den Tänzer für die Macht die er über ihn hatte. Dieser gespielt naive Blick, dieser für einen Mann viel zu kokette Augenaufschlag. Jedes Mal aufs Neue brachte er Atemus Selbstbeherrschung damit zum Wanken. Mit einer schnellen Bewegung leerte der Pharao seinen Kelch, erhob sich und verließ den Saal ohne sich noch ein weiteres Mal umzusehen. In seinen Gemächern angekommen, zog er den schweren Umhang von seinen Schultern und warf ihn achtlos neben das Bett. Das letzte Glas Shedeh hatte er etwas zu schnell getrunken, der Alkohol ließ seine Gedanken träge und wirr werden. Er sah den aufreizenden Augenaufschlag von Djedefre vor sich, die geschmeidigen Bewegungen, den sinnlichen Tanz – und violette Augen, die ihn offen und angstvoll anstarrten. Atemu presste zwei Finger gegen seine Nasenwurzel und versuchte die Erinnerung an den fremden Eindringling zu unterdrücken. Er wollte nicht an ihn denken. Nicht jetzt. Mit einer harschen Bewegung fuhr der Pharao herum, als könnte er die Erinnerung dadurch abstreifen und rief seinen Hauptdiener herbei.

 „Sende nach Djedefre. Unauffällig.“ Als der Diener sich verneigt und das Schlafgemach verlassen hatte, schloss Atemu einen Moment die Augen. Er verabscheute diese Heimlichtuerei schon seit dem Tag, an dem er Djedefre das erste Mal verstohlen in den Palast gerufen hatte. Und gleichzeitig war es genau diese Heimlichtuerei, die das unruhige Kribbeln in seinem Inneren sofort entfachte.

Ein Klopfen an der Türe ließ ihn aufhorchen und auf sein knappes „Herein“ trat der Mann ein, den er im Moment gleichzeitig herbeisehnte und verabscheute wie die Motte das Feuer.

„Ihr habt mich rufen lassen, mein Pharao.“

Allein schon die Tatsache, dass Djedefre seine Worte nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung betonte, ließ Atemus Zorn kurz aufflammen. Doch ein Blick in die dunklen, braunen Augen seines Gegenübers stoppten die harschen Worte, die ihm bereits auf den Lippen lagen. Stattdessen wandte er sich ab und löste den blauen Leinengürtel, der sein Gewand zierte.

„Ihr seht erschöpft aus edler Herrscher. Lasst mich das für Euch tun“, bemerkte Djedefre sanft und trat näher, um das weiße Königsgewand zu öffnen. Wie zufällig fuhren seine Fingerspitzen dabei über die dunkle Haut des jungen Pharaos und hinterließen ein Prickeln, das sich alsbald in Atemus ganzen Körper ausbreitete. Der sanfte Geruch des würzigen Öles, mit dem sich Djedefre vor Auftritten einzureiben pflegte, stieg Atemu in die Nase; ein Geruch der seine Gedanken vernebelte und das mühsam unterdrückte Verlangen nährte. Langsam ließ er sich auf seinem Bett nieder und sah auf den Mann hinunter, der vor ihm auf die Knie gesunken war. So demütig, so unschuldig wirkend. Alles was er jetzt wollte und brauchte.

Es war nur noch ein kurzer Moment in dem Atemu zögerte, doch in dem Augenblick in dem Djedefres Lippen ihren Weg zu seinen Lenden fanden ergab er sich seinem Verlangen, schloss die Augen und lehnte sich zurück.
 

~oOo~
 

Ishizu musste zugeben, dass sie etwas nervös war. Sie stand zurückgezogen im Schutz einer mannshohen Vase und neben ihr lehnte, deutlich fehl am Platz wirkend, der fremde Mann, den Mana von der Baustelle aufgelesen hatte. Sie hatten Joey zwar in ein hiesiges Priestergewand gesteckt, in der Hoffnung, dass er zwischen den Gästen einfach untergehen würde, aber seine helle Haut und die strahlend blonden Haare stachen aus der Masse hervor wie der Leuchtturm von Pharos. Ishizu hatte das Gefühl, dass selbst die vielen Tier- und Götterstatuen direkt zu ihnen hinabstarrten. Nur schwer widerstand sie der Versuchung, die Schultern fröstelnd hochzuziehen.

“Ich habs immer noch nicht kapiert…“ murmelte Joey plötzlich und zog Ishizus Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Was genau soll ich jetzt hier?“

Ishizu seufzte und zuckte schwach mit den Schultern. „Wir müssen miteinander sprechen, Joey. Bis jetzt wissen wir durch deine Erzählungen nur, dass du, dieser Yugi und Nechbet in irgendeinem Zusammenhang stehen. Es gibt noch so vieles was ungeklärt ist. Aber sprechen wir nicht hier und jetzt. Es sind zu viele Ohren anwesend, die nicht mithören sollen.“

“Ja, das hab ich schon kapiert. Ich will wissen was ich hier soll.“ Mit weit ausladender Geste deutete Joey auf den durch hell erleuchteten und mit Gelächter widerhallenden Audienzsaal. Mit leisem Lächeln schüttelte Ishizu den Kopf. „Wenn der Pharao zu einem Fest lädt, hat man anwesend zu sein. Und dich konnten wir ja schlecht in einer Vorratskammer lagern, oder?“

Joey schnaubte nur, aber kam nicht dazu zu antworten, denn plötzlich trat Mahad aus dem Schatten einer schwarzen Katzenstatue heraus. Er wirkte nachdenklich und in sich gekehrt, aber als er Ishizu entdeckte, flog ein leichtes Lächeln über seine Züge. Er kam näher und öffnete gerade den Mund um die Hohepriesterin anzusprechen, da fiel sein Blick auf Joey und er stockte stirnrunzelnd.

“Du hast einen Gast?“ fragte er Ishizu mit einem Anflug von Misstrauen in der Stimme. Bei der aktuell angespannten Atmosphäre im Palast waren unangekündigte Fremde nicht gerne gesehen. Ishizu zögerte einen Moment. Sollte sie Mahad gleich die Wahrheit sagen? Alles in ihr drängte sie dazu, aber nach einem Blick auf die vielen Anwesenden entschied sie sich doch dagegen. „Ja.“ Antwortete sie schlicht. „Darf ich euch bekannt machen? Das ist Joey. Er ist ein-“ Sie stockte kurz und rettete sich in ein ausweichendes „… Wanderpriester.“

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Joey der Mund offen stehen blieb, doch als Mahad sich zu ihm umwandte, hatte er sich wieder im Griff und setzte einen Gesichtsausdruck auf, den er wohl als `würdevoll` definierte. Mahads Augen verengten sich, aber nach einem Moment des Haderns neigte er den Kopf zu einer begrüßenden Geste. „Seid willkommen im Palast, Priester Joey. Darf ich fragen, in welchem magischen Bereich Eure Talente liegen?“ Seine Stimme hatte etwas Lauerndes und Ishizu ärgerte sich darüber. Wenn sie ihn nicht tatsächlich angelogen hätte, hätte er sie mit seinem Misstrauen gegenüber Joey gerade öffentlich brüskiert. Genau genommen war es ja keine richtige Lüge. Es war ja nur eine kleine … Unwahrheit.

“Ach weißt du, Alter, ich hab so Tricks mit der Zeit drauf.“

Perplex starrte Ishizu zu Joey hinüber und fragte sich, ob der gerade seinen Verstand verloren hatte.

“Ein Zauberer der Zeit, also?“ Mahad zögerte deutlich, noch immer zwischen Misstrauen und Akzeptanz schwankend. Es war ein Diener, der die Situation rettete. Unterwürfig kam er näher, verneigte sich tief und raunte dem Hohepriester eine Botschaft zu. Der nickte leicht und wandte sich dann noch einmal an Ishizu. „Entschuldige mich, Ishizu. Seto ruft mich, wir haben Einiges zu besprechen.“ Joey noch einen seltsamen Blick schenkend, hob er grüßend die Hand und eilte aus dem Audienzsaal.

Sein Umhang war noch nicht ganz zwischen den schwer beschlagenen Türen verschwunden, da fuhr Ishizu schon zu Joey um. „Spinnst du?“ zischte sie leise „Zeitzauberer? Ist das dein Ernst?“ Joey kratzte sich verlegen am Kopf und nuschelte ein solch zerknirschtes „Sorry“, dass Ishizu schon wieder Mitleid bekam. „Schon … gut“ seufzte sie leise „Es ist alles … etwas viel heute, nicht wahr?“ Mit verschränkten Armen lehnte sich Joey gegen eine Säule, winkelte ein Bein an und stützte sich ab. Nur schwer widerstand Ishizu dem inneren Drang, ihn ungehalten darauf aufmerksam zu machen, dass sein Fuß gerade äußerst taktlos auf der Abbildung eines Skarabäuskäfers ruhte. „Was für eine Scheiße“, gab Joey leise von sich und Ishizu wandte ihren Blick zögernd von dem Relief ab. „Da spielt man ein Kartenspiel und dann ist man urplötzlich im alten Ägypten. Mit einem Mal ist mein bester Kumpel weg und ich hocke hier fest. Was geht hier eigentlich ab?“ Ishizu schwieg betroffen. Sie hätte gerne ein paar beruhigende Worte für Joey. Aber sie verstand ja selbst nicht was hier geschah.
 

„Ishizu! Joey! Den Göttern sei Dank, dass ich euch gefunden habe!“

 Dem Ausruf folgend, schlängelte sich eine kleine Gestalt durch einen der schmalen Eingänge, die sonst eigentlich nur von Dienstboten benutzt wurden. „Was ist denn los, Mana?“, fragte Ishizu alarmiert, „du bist ja ganz erhitzt. Beruhige dich, man dreht sich schon zu uns um.“ Mana schüttelte den Kopf, während sie eine Hand auf ihre Seite presste und nach Atem rang. „Egal! Ich habe gerade Mentu getroffen und der hat mir was Wichtiges erzählt: Heute wurde auf dem privaten Balkon des Pharaos ein Eindringling festgenommen!“ Ishizu öffnete schon den Mund um etwas zu sagen, aber Mana fuhr schnell fort: „Er hat gesagt, der Eindringling sei klein gewesen, weiß wie Leinen und wie aus dem Nichts vor dem Pharao erschienen! Mentu beschwört, dass er einfach vom Himmel gefallen ist! Joey! Das könnte Yugi sein!“
 

Joey zuckte heftig zusammen und packte Mana so fest am Arm, dass diese leise ächzte. Mit harter Stimme fragte er: „Ist das wahr? Wo ist er? Was ist mit ihm geschehen?“

Keuchend die Luft einziehend, deutete das Magiermädchen in eine vage Richtung. „Man hat ihn in die Katakomben gebracht, mehr weiß ich nicht. Aber er steht unter dem Verdacht, einen Anschlag auf den Pharao geplant zu haben! Morgen früh soll das Urteil gesprochen werden. Wenn sich der Verdacht aber erhärtet, dann ….“ Sie stockte. Sie sprach nicht aus, dass auf einen Versuch den Pharao zu verletzen oder gar zu töten, die Todesstrafe stand. Joey schien es dennoch zu ahnen.

„Dann hole ich ihn da raus!“ Er schob das Mädchen harsch von sich und rannte aufs Geradewohl los.

„Warte!“ rief Ishizu hastig und holte ihn mit schnellen Schritten ein. „Überstürze nichts, Joey!“

„Mann, wenn das tatsächlich Yugi ist, dann ...“

„… hilfst du ihm nicht, wenn du jetzt blindlings losstürmst und am Schluss noch selber deinen Kopf riskierst!“

Im ersten Moment sah es so aus, als ob Joey Ishizus Warnung in den Wind schlagen würde. Dann aber ballte er die Hände zu Fäusten und blieb tatsächlich stehen. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, wie schwer es ihm fiel, seinen Freund sich selbst überlassen zu müssen.
 

Ishizu unterdessen wägte noch einmal ihre Gedanken ab, doch dann nickte sie bestimmt. „Uns bleibt keine Wahl. Wir werden Mahad in Alles einweihen.“

„Aber Mahad wird den ganzen Abend mit Priester Seto verbringen, die beiden wollten einiges wegen dem Totentempel besprechen. Ich glaube nicht, dass Seto erfreut drüber sein wird, dass wir einen dubiosen Fremden – entschuldige Joey - in den Palast geschleust und ihn als Priester vorgestellt haben.“

„Ich weiß Mana. Wir unterrichten dennoch beide davon. Sie … Sie werden es schon verstehen.“ Es schwang mehr Unsicherheit in Ishizus Stimme mit, als ihr gefiel und sie rettete sich damit, dass sie loslief, ohne sich noch einmal nach Mana und Joey umzusehen.
 

Es war nicht leicht, sich unauffällig durch die Menge an Feiernden zu zwängen, die sämtliche Kissen, Hocker und Nischen besetzt hielten, aber sie kamen doch schneller voran als zunächst befürchtet. Schließlich bogen sie in einen von Fackeln erleuchteten Flur ein. Kunstvolle Darstellungen magischer Rituale und Zauberformeln an den Wänden kennzeichneten ihn als die Residenz der Hohepriester. Vor einer Tür mit den eingravierten Milleniumsgegenständen blieben sie stehen und Ishizu klopfte erst nach einem merklichen Zögern.

„Nicht jetzt.“ Eine deutlich unwillige Stimme erklang und Joey zuckte so heftig zusammen, dass es den beiden Priesterinnen nicht verborgen blieb.

„Hast du was?“ flüsterte Mana ihm irritiert zu, während Ishizu ihre Verwunderung beiseiteschob und stattdessen vor der geschlossenen Tür eine Erklärung abgab: „Ich bin es: Ishizu. Ich muss dringend mit euch sprechen. Es duldet keinen Aufschub.“ Im Inneren des Raumes blieb es ruhig. Ishizu fasste sich ein Herz und drückte die Flügeltür auf, während Mana noch immer zu Joey starrte, der mit seiner Antwort zu hadern schien.

„Ich kriege schon Paranoia, glaube ich“ antwortete er schließlich leise und sah dabei zu, wie die Tür aufging. „Ich war mir einen kurzen Moment sicher, dass ich diese Stimme schon mal gehört ha-“, er unterbrach sich in dem Moment, in dem sein Blick in den Raum fiel und an der Gestalt hängen blieb, die neben Mahad an dem großen Tisch saß. „K-Kaiba?“

Mit aufgerissenen Augen und weit offen stehendem Mund deutete Joey auf den Hohepriester, was diesem eine Mischung aus Überraschung und Ablehnung über das Gesicht jagte.

„Wer ist das? Und von was spricht er?“ fragte Priester Seto knapp und musterte Joey wie ein äußerst unangenehmes Insekt. Joey fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und ächzte.

„Ich werde echt wahnsinnig … Erst Mana, jetzt Kaiba ... Was ist das für eine Scheiße? Und warum zur Hölle unbedingt du, Kaiba? Falls du überhaupt Kaiba bist. Zumindest siehst du genauso aus, wie dieser arrogante Geldsack.“

„Mein Name ist Seto.“ schnarrte der Hohepriester nun deutlich unterkühlt und erhob sich zu seiner vollen Größe, bei der er Joey um wenige Zentimeter überragte. „Dieser Kaiba von dem du sprichst, ist mir völlig unbekannt. Ich habe jetzt weder Zeit, noch Interesse niveaulose Unterhaltungen mit einem Gesprächspartner zu führen, der sich benimmt wie ein Bauerngör.“

Seine eisblauen Augen fixierten Ishizu und sie beeilte sich, zwischen die beiden Streithähne zu treten. Mit einem herrischen Blick brachte sie Joey zum Schweigen, der den Mund schon wieder geöffnet hatte. So wie dessen Augen blitzten, hätte seine nächste Antwort die Situation wahrscheinlich gänzlich eskalieren lassen.
 

„Ishizu. Was hat das zu bedeuten?“ In Setos kühle Stimme war nun eine schneidende Schärfe getreten und Ishizu hob beschwichtigend die Hand. „Verzeih, Seto. Bitte setze dich wieder, ich werde alles erklären. Es ist eine Geschichte, die vielleicht mehr Fragen aufwirft, als sie klärt. Es geht dabei nicht nur um Joey hier, sondern es geht auch um den heutigen Gefangenen des Pharaos. Und, so vermute ich, auch um den Pharao selbst.“

Einen Moment sah es aus, als würde der Hohepriester sie viel lieber allesamt hochkant hinauswerfen, doch dann ließ er sich betont langsam auf seinen Stuhl zurücksinken und verschränkte die Arme.

Von den offenen Fenstern drang ein lautes Lachen aus dem Palasthof herein und übertönte das erleichterte Seufzen der Hohepriesterin, mit dem auch sie sich auf einen niedrigen Hocker niederließ.  Erst als es draußen wieder ruhig geworden war, faltete sie die Hände in ihrem Schoß, sah kurz zu Joey hinüber und begann zu erzählen.
 

~oOo~
 

Es war still geworden im Palast. Die Feier war ausgeklungen und auch die letzten Gäste hatten den Audienzsaal verlassen. Atemu stand vor einem Tischchen und durchsuchte eine große Schmuckschatulle, ohne wirklich etwas finden zu wollen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Djedefre, der sich langsam und mit einer für seine Position seltsam unangebrachten Würde ankleidete. Es waren diese Momente die Atemu so verabscheute. Gleich würde Djedefre seinen Lohn verlangen. Atemu bezahlte ihn nie aus freien Stücken, er erwartete stets dass der Tänzer darum bat. Es gab ihm das Gefühl die Kontrolle zu haben, Herr über die Situation zu sein.
 

„Ihr wart zufrieden“

Djedefre gab sich keine Mühe, es auch nur ansatzweise wie eine Frage zu formulieren. Atemus Oberlippe zuckte leicht.  Er zwang sich dazu, betont lässig einen Ring aus der Schatulle zu nehmen und steckte ihn sich an den kleinen Finger; als sei sein Schmuck interessanter als der anwesende Tänzer. Er ließ sich nicht dazu herab zu antworten, einerseits um eine gewisse Distanz zu wahren und anderseits weil er nicht ausschließen konnte, dass seine Stimme kratzig geklungen hätte. Ein Teil in ihm schrie nach Nähe, nach der warmen Umarmung des einzigen Menschen, der ihm geben konnte was er wollte. Aber da war dieser andere Teil ihn ihm, der Teil der verächtlich auf seine viel zu menschlichen Bedürfnisse und Vorlieben herabsah und ihm beständig zurief, sich zum Teufel noch mal wie ein Pharao zu verhalten.

Djedefre unterdessen war zu ihm herangetreten und verneigte sich. Sein Blick taxierte Atemu von oben bis unten und blieb schließlich an einem smaragdbesetzten Ring hängen, den der Pharao am linken Ringfinger trug.

„Darf ich um meinen Lohn bitten, ehrenwerter Pharao?“

Atemu widerstand dem Drang seine Hand hinter seinem Rücken zu verbergen. Stattdessen öffnete er eine Truhe aus Elfenbein und zählte betont langsam 5 Deben Kupfer heraus, die er vor dem Tänzer auf den Boden warf. Djedefre aber schenkte den Metallstücken keine Beachtung. Seine sanften, braunen Augen lagen noch immer auf dem schmalen Goldring und er lächelte kokett.

“Das ist ein wundervoller Ring, Pharao.“

Diesmal konnte Atemu den Drang nicht mehr unterdrücken und schob seine Hand hinter seinen Rücken. „Das ist mir bewusst“, anwortete er betont beiläufig. „Es ist ein Ring meines Vaters.“

“Ihr tragt die Ringe, die Euer Vater getragen hat? … Damals …?“

“Wage es nicht …“

Wütend ballte Atemu die Hände zur Faust und trat auf den Tänzer zu, doch dieser verneigte sich sofort so tief, dass sein Haar zur Seite fiel und der ungeschützte Nacken zum Vorschein kam.

“Ich dachte nur…“ begann er leise und sah unter seinen langen, dichten Wimpern zu Atemu auf „… man sollte Erinnerungen nicht absichtlich pflegen, mein Pharao. Es quält nur.“

Atemu erstarrte mitten im Schritt und sah mit zusammengepressten Lippen auf den Tänzer herab. Er wusste, dass Djedefre ihn manipulierte. Aber er wusste auch, dass er dabei sehr erfolgreich war. Er würde diesen Ring nie wieder tragen können, ohne an die erlebte Schmach zu denken. Mit einer schnellen Bewegung zog er das Schmuckstück vom Finger und warf es neben dem Kupfer zu Boden. „Verschwinde,“ presste er hervor „und schaffe diesen Ring aus meinen Augen.“ 

Er sah nicht hin als der Tänzer seinen Lohn vom Boden aufsammelte. Er sah auch nicht hin, als dieser auf dem üblichen Weg über den Balkon hinweg verschwand. Er hatte schon zu oft dabei zugesehen.

Als Djedefre weg war, zog Atemu tief die Luft ein.

Er brauchte die Nähe, die Djedefre ihm bot, wenn ihn die Einsamkeit seines Titels zu überrennen drohte. Und doch konnte er ihn nie lang neben sich ertragen. Djedefre hatte zu viel Macht über ihn. Macht, die ihren Ursprung in dem Wissen hatte, dass der Tänzer über all die Jahre hinweg über ihn gesammelt hatte. Mit einer aufgewühlten Bewegung betrat Atemu den Balkon, um über das nächtliche Theben hinweg zu blicken, wie er es so oft um diese Tageszeit tat. Die Nacht umfing ihn und kühlte seine hitzige Stirn. Es beruhigte ihn und half ihm dabei seine schnell dahin fließenden Gedanken zu ordnen. Ein weißer Gegenstand am Boden des Balkons erregte seine Aufmerksamkeit. Es war der Alabasterkrug aus dem er getrunken hatte, bevor ihm dieser seltsame Fremde vor die Füße gefallen war.

Nachdenklich hob Atemu das Gefäß auf und betrachtete es. Ein gezackter Riss zog sich am Kelchrand entlang. Ein hässliches Grau in dem ansonsten so glänzend weißen Stein. Die Haut des Fremden war genauso weiß gewesen. Weiß wie Alabaster. Atemus Blick glitt weiter zu der Stelle an der der junge Mann gelegen hatte. Er hatte nicht ausgesehen wie jemand, der einem wilden Entschluss nachging. Im Gegenteil. Er hatte eher gewirkt, als wüsste er selber nicht, was er hier eigentlich tat. In Atemu stieg der Verdacht auf, dass der Fremde nicht aus freien Stücken gekommen, sondern von jemandem geschickt worden war. Atemus Augen verengten sich. Wenn dem so war, dann wollte er die Hintermänner finden.

Entschlossen kehrte er in sein Gemach zurück und wies seinen Diener Mentu an, den Gefangenen in den kleinen Raum bringen zu lassen, in dem für gewöhnlich die Privataudienzen abgehalten wurden. Den gesprungenen Krug hatte er unbewusst auf seinen Schreibtisch gestellt. Das Mondlicht tauchte ihn in ein silbernes Licht, verbarg den hässlichen Sprung und schuf einen Moment lang die Illusion von perfekter Schönheit. Es war Atemu nicht einmal einen beiläufigen Blick wert.
 

~oOo~
 

Wassertropfen fielen in langsamer Regelmäßigkeit auf steinernen Boden. Es war kalt hier unten. Die Feuchtigkeit des Bodens kroch an ihm entlang und schmerzte in seinen Gliedern. Yugi schlang die schmächtigen Arme um seine Knie und versuchte sich verzweifelt zu wärmen. Leises Getrappel ließ ihn aufschrecken und in der schummrigen Dunkelheit seiner Zelle glaubte er kleine, pelzige Körper zu sehen, die durch die Schatten huschten. Ratten. Yugi zitterte vor Anspannung und vergrub sein Gesicht in seinen Armen.

Er wollte weinen, schreien, um Hilfe rufen; aber der Kloß in seiner Kehle war so schwer und bitter, dass er Angst hatte sich übergeben zu müssen, wenn er den Mund öffnete. Was würde nun mit ihm geschehen? Er hatte mitangehört, wie sich zwei Medjay über eine Hinrichtung unterhalten hatten. War damit seine eigene gemeint? Würde er tatsächlich sterben, wenn diese Nacht beendet war? Der Kloß in seiner Kehle stieg ein Stück nach oben und brachte ihn zum Würgen. Nur mit letzter Willenskraft konnte er den Reiz noch einmal unterdrücken und fiel matt gegen die feuchte Mauer. Wenn er nur wüsste, was ihm vorgeworfen wurde.

Seine Gedanken waren so wirr, er konnte sich nicht richtig erinnern, was überhaupt geschehen war. Jedes Mal wenn er versuchte sich zu konzentrieren, drang das monotone Stakkato der Wassertropfen in sein Bewusstsein. Mit jedem Tropfen wurde es lauter und lauter, bis Yugi das Gefühl hatte, dass sein Kopf bald platzen würde. Mit zitternden Händen deckte er seine Ohren ab und presste so fest darauf, dass es schmerzte. Es half ein wenig. Seine Gedanken wurden ruhiger. Er erinnerte sich wieder an die Vision, die er gehabt hatte. Und an den tiefen Fall danach.

Seine Finger zitterten und er senkte sie, um die Spitzen anzuhauchen, die sich vor Kälte taub anfühlten. Müde starrte er auf seine Hände und dachte an den Mann, dem er es zu verdanken hatte, dass er überhaupt hier war. Es war alles so schnell gegangen. Aber diesen durchdringenden Blick würde er dennoch nie wieder vergessen. Diese violetten Augen, die ihn so überrascht angesehen hatten. Augen, von denen er wusste, dass er sie schon einmal gesehen hatte.

Yugis Stirn sank mit einem Schluchzen auf seine Knie. Er war so überfordert, so müde, so verängstigt. Der bittere Geschmack in seiner Kehle wurde stärker, er schluckte krampfhaft, aber kam nicht dagegen an. Er schaffte es nur noch sich zur Seite zu drehen, bevor er sich zitternd übergab. Ein lautloses Weinen schüttelte ihn, bis er kraftlos auf den Boden sank. Er war am Ende seiner Kräfte.

Selbst als Schritte laut wurden reagierte er nicht. Er nahm alles nur durch einen dumpfen Schleier wahr. Erst als er mit einem Mal vom Boden hochgezogen wurde, kam wieder etwas Leben in ihn zurück und er starrte eingeschüchtert auf einen breiten Medjay, der sich vor ihm aufgebaut hatte. Wortlos band dieser ihm die Hände zusammen und Yugi wurde durch das Seil gezwungen ihm zu folgen. Sein Herz raste schmerzhaft. War es nun soweit? Würde man ihn nun hinrichten?

Mit Tränen in den Augen senkte Yugi den Blick zu Boden. Wie eine Marionette stolperte er hinter der Wache drein und sah nur auf seine eigenen Füße. Beobachtete, wie sie ohne sein Zutun ihre Schritte setzten. Einen nach dem anderen.
 

„Du bringst den Gefangenen? Sehr gut.“

Als eine nasale Stimme erklang, zuckte Yugis Blick nach oben und er blinzelte überrascht. Er hatte einen Gerichtsaal erwartet. Oder gleich das Schafott. Aber stattdessen sah er nur eine goldene Flügeltür, auf der eine große Sonnenscheibe prangte. Ein drahtiger Ägypter in hellem Schurz stand davor und nahm gerade das Seil entgegen, mit dem Yugis Hände gebunden waren.

„Du kannst gehen.“ Sagte der Mann nun zur Palastwache. „Der Pharao wünscht den Gefangenen allein zu sprechen.“ Während sich der Medjay umwandte und genauso wortlos verschwand wie er erschienen war, wurde Yugi durch einen schmerzhaften Zug an seiner Fessel ein paar Meter nach vorne gezwungen. „Du sprichst nur wenn du gefragt wirst, hältst den Blick gesenkt und bleibst solange auf den Knien, bis unser König es dir erlaubt aufzustehen, verstanden?“

Yugi nickte nur zaghaft, in seinem Kopf verschwamm alles. Wie betäubt trottete er hinter dem Mann her, der eine der Türen mühsam öffnete und sich danach tief verneigte. „Der Gefangene, edler Pharao. Wie von Euch gewünscht“ Er versetzte Yugi dabei einen derben Schlag in den Rücken, sodass dieser ein paar Schritte nach vorne stolperte und in die Knie brach.
 

Das knarzende Geräusch der schließenden Türen trieb Yugi eine Gänsehaut über den Körper, aber er wagte nicht aufzusehen. Er verharrte kniend und reglos. In seinen Ohren rauschte das Blut und er glaubte jeden seiner Atemzüge wie Donnerhall zu hören. Doch abseits davon… Nichts.

Erdrückende Stille.

Die Augenblicke zogen sich wie Stunden. Yugis Angst wuchs, bis er das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen. Angespannt wartete er auf einen Laut, irgendein Wort, doch als schließlich tatsächlich jemand sprach, erschrak er trotzdem bis tief ins Mark.

„Sieh mich an.“

Was für eine durchdringende Stimme…

Sie war ruhig und angenehm leise, doch die Autorität die in jedem einzelnen Wort mitschwang, war so erdrückend, dass sie Yugi eine Gänsehaut über den Körper jagte. Unter großer Anstrengung hob er den Kopf. Quälend langsam flog sein Blick über edle Sandalen, muskulöse Beine, einen dunklen Körper in einer strahlend weißen Tunika und legte sich schließlich in ein ernstes, scharf geschnittenes Gesicht. Yugis Atem setzte einen kurzen Moment aus.
 

„Wie ist dein Name?“

Mehrmals öffnete Yugi die Lippen, versuchte zu antworten, aber bekam keinen Ton heraus. Erst beim vierten Versuch schaffte er es, eine brüchige Antwort zu formulieren. „… Yu… gi… Ich… ich heiße Yugi...“ Der intensive Blick des Pharaos schien ihn bis ins Innerste zu durchdringen und er spürte wie eine brennende Röte sein Gesicht überflutete. Hastig senkte er den Kopf und starrte auf den Boden.

„Yugi also.“

Wieder dieser Blick. Dieser durchdringende Blick. Er konnte spüren, wie er sich in seinen Nacken brannte.

„Was hat man einem leichtsinnigen Narren wie dir geboten, damit du in den Palast eindringst und mich in meinen eigenen Gemächern anzugreifen versuchst?“
 

Fassungslos zuckte Yugi nach oben und machte Anstalten sich zu erheben, doch ein strenger Blick des Pharaos ließ ihn innehalten. „Ich hätte Euch niemals angegriffen!“, rief er ehrlich und beschwörend „Ich würde niemanden angreifen! Niemals! Ich- Ich könnte das gar nicht, das müsst Ihr mir glauben!“

Ein süffisantes Lächeln flog über die Züge des Pharaos, während er seinen Blick langsam über Yugis Körper wandern lies. „Das glaube ich dir aufs Wort“ gab er von sich und Yugi spürte, wie erneut eine Welle flammender Röte über sein Gesicht schwappte.
 

Einige lange Augenblicke vergingen, in denen der Pharao schweigend vor ihm stand und ihn gedankenverloren musterte, doch dann ging ein Ruck dessen Körper. Halb von Yugi abgewandt, blieb er vor einem großen, aber recht niedrigen Tisch stehen, auf dem eine riesige Papyrusrolle lag. Yugi glaubte eine Landkarte darauf zu erkennen, aber er war zu nervös um solchen Details wirkliche Beachtung zu schenken. Mit ausgebreiteten Armen stützte sich der Pharao auf die Tischplatte auf. Es schien Yugi als würde er ihn gar nicht weiter beachten und eine vorsichtige Erleichterung begann in ihm aufzusteigen. Vielleicht würde der Pharao ihn wieder gehen lassen? Er sah nicht so aus, als sähe er eine Gefahr in ihm.

Als hätte der Pharao seine Gedanken gelesen, sah er aus den Augenwinkeln zu dem am Boden kauernden Yugi hinab. „Denke nicht mal daran, dein Vorhaben zu beenden. Nur ein Wort von mir und es wimmelt hier von Medjay, von denen jeder Einzelne ein großes Vergnügen daran haben wird, dich aufzuspießen. Du wirst dich keinen Millimeter bewegen.“ Es lag eine solche Schärfe in seinen Worten, dass Yugi zusammenzuckte und hastig nickte. Der Pharao musterte ihn durchdringend, schien dann aber zufrieden. Aus einer silbernen Schale am Tischrand holte er ein paar weiße und rote Steine hervor, die er nachdenklich in der Hand wog, während er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Papyrusrolle legte.

„Und nun“, bemerkte er wie beiläufig, „gebe ich dir die Möglichkeit, mir zu sagen wer dich schickt. Gib mir Namen, dann schenke ich dir das Leben. Kleine Fische wie du sind nicht wichtig für mich. Ich will wissen, wer der Aufrührer ist, der sich in meiner eigenen Stadt verbirgt.“ Seine Finger schoben die bunten Steine über die Landkarte, bis ein engmaschiges Muster entstand, das für ihn einen Sinn zu ergeben schien. Nach der Art, wie sich seine Augenbrauen zusammenzogen, war es jedoch kein positives Bild, das er da sah. Er war so in sein Tun vertieft, dass er den Gesichtsausdruck nicht bemerken konnte, der sich auf Yugis Züge gelegt hatte. Yugi wusste, dass seine Antworten nun darüber entschieden, ob er den nächsten Morgen erleben durfte oder nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, wieviel Macht in einzelnen Worten lag. Und zum ersten Mal in seinem Leben war sein Kopf so leergefegt, dass nur ein blankes Nichts zurück blieb.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  va
2015-10-05T13:42:27+00:00 05.10.2015 15:42
Si hammer geil getippt ich könnte quitschen :) *-*
Antwort von:  Mieziliger
06.10.2015 12:11
vielen, vielen Dank *.*
Quietschen ist in Fanfiktion-Kreisen eine anerkannte Form des Lobes XD


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