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Shoot my Heart

[Secret Love]
von

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Zwei Mal zwei Meter kalter, harter Stein. Das war seine ganze Welt. Die Zelle hatte kein Fenster und das einzige Licht fiel durch die vergitterte Luke in der Tür zum Gang. Er hatte schon lange aufgehört, hindurch zu sehen - hatte aufgeben, sich in sich zurück gezogen.

Irgendwo in der Ferne hörte er Schritte, die immer näher kamen. Es war wieder so weit, er kam, um ihn zu holen. Angst klammerte sich um sein Herz, das er doch längst für tot gehalten hatte. Reflexartig zog er sich in eine der hinteren Ecken des Raumes zurück, den Rücken flach an die Wand gepresst. Die Ketten, die seine Füße und Handgelenke miteinander verbanden, klirrten verräterisch und obwohl ihm das Geräusch vertraut war wie nichts anderes auf der Welt, zuckte er unwillkürlich zusammen.

Die Schritte draußen auf dem Gang hielten inne, dann tauchte ein Gesicht auf der anderen Seite der Gitterstäbe auf. Grüne Augen blitzten im Zwielicht. Wessen Augen?

„Hallo“, flüsterte eine hohe Stimme, die er nie zuvor gehört hatte. Sie klang unsicher, flatterte wie sein eigenes Herz. „Ich hab dir was mitgebracht.“

Eine weitere Luke im unteren Teil der Tür wurde mit einem hässlichen Geräusch aufgeschoben und wieder geschlossen. Ein seltsamer Geruch erfüllte den Raum. Was war das nur?

Ganz langsam bewegte er sich auf die Tür zu und nahm den Teller in Augenschein, der in die Zelle geschoben worden war. Reis und frittierter Fisch. Wie lange hatte er keinen Fisch mehr gesehen?

Ehrfürchtig kniete er neben dem Teller nieder und hob den Kopf, um einen weiteren Blick auf die grünen Augen hinter dem Gitter zu werfen. War das ein Trick?

„Sag es niemandem, okay?“

Er nickte und begann zaghaft zu essen. Ein Schauder durchlief ihn und er starrte erneut zu dem fremden Augenpaar empor. „Schmeckt es nicht?“

Er schüttelte den Kopf. Er hatte niemals etwas besseres gegessen.

„Ich hasse es, wie sie euch behandeln.“

So war das also.

„Wie heißt du?“

Er zögerte. Dann, ganz vorsichtig, teilten sich seine Lippen: „Kou.“

Seine Stimme klang seltsam und entrückt und hallte beängstigend von den Wänden der Zelle wider. Wie lange hatte er sie nicht mehr gehört, seine Stimme? Wie viel Zeit war vergangen, seit man ihn hierher gebracht hatte? Er konnte es nicht sagen.

„Ich muss gehen, er kommt!“

'Geh nicht', wollte er sagen, doch er konnte es nicht.

„Tut mir Leid. Ich komme wieder!“

Dann war er fort. Seine grünen Augen hinterließen eine Leerstelle hinter den Gittern der Luke und in seinem Herzen. Geh nicht...

Mit einem lauten Grollen wurde der Riegel zur Zellentür zurückgeschoben. Die Tür flog auf und hätte ihn beinahe getroffen. In Panik wirbelte er herum. Seine Ketten rasselten verzweifelt. Es gab kein Entkommen. Hände griffen nach ihm, packten ihn, zerrten ihn aus der Zelle. Nein, nein!

Irgendwo in der Ferne konnte er eine Stimme hören.

„Bitte wachen Sie auf!“
 

Eine Hand berührte ihn an der Schulter und Kou riss den Kopf hoch. Instinktiv schlug er die Hand von sich weg. Erst dann wurde er ihm bewusst, wo er sich befand. Er musste über seiner Arbeit in der Bibliothek eingeschlafen sein. Ihm gegenüber stand Midori, die ein ganzes Stück vor ihm zurückgewichen war, einen verstörten Ausdruck auf dem Gesicht.

„Es tut mir Leid“, sagte Kou schnell und rieb sich die Schläfen. „Ich hatte einen schlechten Traum.“

Midoris Haltung entspannte sich, doch sie wirkte immer noch ein wenig unsicher. Sie hatte die rechte Hand an ihre Brust gepresst und schien den Handrücken mit der anderen Hand zu schützen.

„Tut es sehr weh?“, fragte Kou ein wenig zerknirscht, doch Midori schüttelte heftig den Kopf.

„Ich habe mich nur erschreckt“, gab sie leise zurück und ließ die Hände langsam sinken. Dann fuhr sie mit ihrer üblichen höflich-professionellen Stimme fort: „Sie brauchen sich dafür nicht zu entschuldigen, Herr.“

„Kou, ich bin einfach nur Kou“, korrigierte er sie automatisch. „Ich bin genauso ein Angestellter in diesem Haus wie du.“

Hatte er das gerade wirklich gesagt? Es musste daran liegen, dass er noch immer nicht richtig wach war. Die Worte, die ihm schon so lange auf der Seele lagen, waren einfach aus ihm heraus gebrochen, ohne dass er sie hatte halten können. Und nun konnte er sie nicht mehr zurücknehmen.

Unsicher tasteten seine Augen Midoris Gesicht ab. Sie wirkte überrascht, aber nicht beleidigt.

„Ich wusste nicht, dass Sie das so sehen, Herr Kou“, sagte sie und Kou konnte sich ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen. An diesem Missverhältnis zwischen ihnen würde sich wohl nie etwas ändern, ganz gleich, was er sagte. Doch etwas in Midoris Haltung hatte sich gelöst. Beinahe so, als hätte sie ein wenig Vertrauen zu ihm gefasst.

„Und ich glaube nicht, dass Herr Asano es auch so sieht“, fuhr sie fort.

„Was?“

Doch Midori machte den Eindruck, als hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen, als noch ein weiteres Wort darüber zu verlieren.

„Ich mache Ihnen einen Kaffee, Herr Kou“, sagte sie schnell, verbeugte sich tief und war nur wenige Sekunden später verschwunden.

Kou starrte noch einen Augenblick länger auf die dunkle Holztür, die hinter ihr ins Schloss gefallen war, die Stirn in Falten gelegt.

'Ich glaube nicht, dass Herr Asano es auch so sieht' – was sollte das bedeuten? Doch es half nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen - es gab wichtigeres zu tun. Also schüttelte Kou den Gedanken ab. Dann wandte er sich wieder dem Schreibtisch zu und warf einen Blick auf den Computerbildschirm. Während er geschlafen hatte, war der Rechner in standby gegangen, sodass Kou die Maus bewegen musste, um die Ergebnisse seiner gestrigen Recherche zurück auf den Monitor zu rufen.

Es hatte eine ganze Weile gedauert, doch schließlich hatte er einen Haruki Inoue in der Datenbank eines Tokyoer Waisenhauses gefunden. Der Eintrag war schon über zwanzig Jahre alt, doch Kou war sich sicher, dass er auf der richtigen Spur war. Noch einmal ließ er die Augen über die Akte schweifen.

Haruki Inoue. Geboren: 21.08.1989. Vater: Ryo Inoue. Verstorben: 12.04.1993 an den Folgen eines Autounfalls. Mutter: Hinako Inoue, geborene Michiyama. Verstorben: 15.04.1993, Suizid. Adoption: Kyosuke und Kyoko Murata, 03.10.1993.

„Haruki Murata...“

Das Herz in Kous Brust schlug so heftig, dass er glaubte, es könnte zerspringen. Er kannte diesen Namen.

Wie in Zeitlupe griff seine Hand erneut nach der Maus und er öffnete noch einmal die polizeiliche Personendatenbank. Treffer. Haruki Murata, seit 3 Jahren in einem Wohngebiet in Asakusa registriert. Doch die Informationen waren spärlich – offenbar war die Zielperson nie polizeilich auffällig geworden. Nicht einmal ein Foto war vorhanden. Wahrscheinlich hatte Haruki Murata nie einen Pass beantragt. Ungewöhnlich unauffällig für jemanden, der mit der Yakuza in Verbindung stand.

In diesem Augenblick hörte Kou, wie hinter ihm die Tür zur Bibliothek aufgedrückt wurde. Schnell schaltete er den Monitor aus und wandte sich zu Midori um, die eine Tasse auf einem Tablett trug.

„Ihr Kaffee, Herr Kou“, sagte sie mit ihrem üblichen Lächeln, stellte die Tasse auf seinem Schreibtisch ab, verbeugte sich und war wieder verschwunden.

Haruki Murata... Kou hatte keine Wahl. Er musste sich selbst ein Bild von der Lage machen.
 

***
 

Seit Stunden stand Kou zwischen Büschen und Bäumen verborgen und starrte auf das unscheinbare Apartmenthaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Sonne begann bereits hinter den fernen Hochhäusern zu versinken und tauchte das Viertel in dämmriges Zwielicht. Nummer 11. Das war sein Appartement. Doch bisher hatte es niemand betreten oder verlassen.

Kou konnte den nervösen Schlag seines Herzens in seiner Brust spüren. Alles um ihn her wirkte entrückt, seltsam irreal, wie in einem Traum. Der Himmel war zu rot, der Wind zu warm, die Stadt zu still. Und er selbst, er war...

Hinter den Fensterscheiben von Appartement Nummer 11 entflammte Licht. Kous Herz setzte einen Schlag lang aus. Er hatte ihn verpasst – oder war er schon die ganze Zeit über im Haus gewesen?

Ohne länger darüber nachzudenken trat Kou aus seinem Versteck und überquerte die schmale Straße, bis er schließlich vor dem Apartmenthaus stand, direkt vor der Tür mit der Nummer 11. Er würde nur einen kurzen Blick durchs Fenster werfen, nur einen Blick.

Plötzlich wurde Kou von einem hellen Streifen Licht erfasst. Mit gefrorenem Herzen hob er den Kopf und starrte in das Gesicht eines jungen Mannes, nicht älter als er selbst. Der Blick seiner ungewöhnlich grünen Augen nahm ihn gefangen: Er konnte sich nicht rühren, nicht sprechen. Er war es, er war es wirklich...

„Kou“, die helle Stimme schwebte unsicher, schwankend durch die Dämmerung. „Oh Gott, ich dachte, du...“

Er trat einen Schritt näher auf Kou zu, die Augen ungläubig geweitet. Grün, so grün.

„Sag etwas.“

„Haru...“

Kous Stimme war nicht mehr die seine. Immer wieder verschwamm Haruki Muratas Gesicht vor seinen Augen und machte dem Gesicht des sechzehnjährigen Teenagers aus seiner Erinnerung Platz; den grünen Augen, die durch die Dunkelheit funkelten – in jener letzten Nacht.

„Lauf. Lauf!“, hörte er seine Stimme noch einmal rufen. Sah, wie er die Tür für ihn öffnete. Diese Tür, hinter der die Freiheit lag.

„Komm doch rein“, rief ihn die Stimme des heutigen Haruki in die Wirklichkeit zurück. „Bitte.“

Eine Hand berührte seinen Arm – und er ließ es geschehen. Weil es seine Hand war...

Noch immer ein wenig benommen ließ sich Kou in das Appartement führen und folgte der unausgesprochenen Bitte, sich zu setzen. Harukis Blick ruhte auf ihm, prüfte jeden seiner Züge, als könne er noch immer nicht glauben, was er doch mit eigenen Augen sah.

„Du hast dich verändert. Deine Haare sind länger“, sagte er schließlich ein wenig hilflos, während er sich Kou gegenüber niederließ.

„Ich mag es nicht, wenn mir jemand mit einem spitzen Gegenstand zu nahe kommt.“

Kou sah Haruki nicht an, während er sprach. Es war seltsam – er hatte diesen Menschen beinahe zehn Jahre lang nicht gesehen. Und doch hatte er das Gefühl, offen zu ihm sprechen zu können – wie zu einem engen Freund. Als hätten all diese Jahre keine Leerstelle hinterlassen, als wäre Haruki die ganze Zeit über bei ihm gewesen. Es hätte ein überschwängliches, ein glückliches Wiedersehen sein können. Wenn da nicht dieser Zettel gewesen wäre...

Kous Atem ging flach. Er konnte spüren, wie das Springmesser in seiner Hosentasche gegen sein Bein drückte.

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“

Als Kou den Kopf hob, sah er das Strahlen in Harukis Augen und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er konnte diesen Mann nicht töten, er konnte es nicht...

„Wie bist du da rausgekommen?“, fragte Kou schließlich, um von seiner Nervosität abzulenken.

„Ich bin gegangen, als ich volljährig geworden bin.“

„Einfach gegangen?“

Haruki lächelte leicht: „Mir ging es nicht so schlecht wie dir. Soll ich uns Tee machen?“

„Keinen Tee“, sagte Kou schnell.

Einen kurzen Augenblick lang wirkte Haruki verdutzt, doch dann zuckte er die Achseln: „Dann eben einen Kaffee.“

Während er sich am Wasserkocher zu schaffen machte, ließ Kou seinen Blick durch den Raum wandern. Das Appartement war nicht besonders groß. Das Wohnzimmer war gleichzeitig auch die Küche und eine angrenzende Tür mochte zu einem kleinen Schlafzimmer mit Bad führen. Alles war sauber und aufgeräumt und irgendwie unpersönlich. Beinahe so, als handelte es sich eher um eine Übergangslösung als um ein Heim.

Auf dem Tisch, an dem Kou saß, lag die aktuelle Ausgabe der Tokyo Shinbun. Die Schlagzeile der Titelseite erweckte seine Aufmerksamkeit: „Der Nachtschatten schlägt wieder zu. Spitzenpolitiker Ryota Narai kaltblütig ermordet.“

Kou konnte sich ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen. Genau in diesem Augenblick brachte Haruki den Kaffee zum Tisch.

„Was ist?“, wollte er mit gerunzelter Stirn wissen. Da Kou nicht antwortete, folgte er seinem Blick. „Ach so. Ich kann darüber auch nicht wirklich traurig sein. Ich erinnere mich noch genau daran, wie du ihm damals das Messer in den Rücken gerammt hast...“

Was?

Kou starrte auf die Zeitung hinab. Unter der Schlagzeile war ein großformatiges Foto Narais abgedruckt. Schwarz-weiß zwar, aber doch unverkennbar: Die runde Nase und die kleinen, trüben Augen... Von Anfang an war ihm dieses Gesicht bekannt vorgekommen – doch er hatte nicht sagen können, woher. Nun wusste er es. Narai war sein letzter Kunde gewesen, bevor er geflohen war, bevor Asano sich seiner angenommen hatte. Konnte das wirklich ein Zufall sein? Mit einer schnellen Bewegung stand er auf.

„Ich muss gehen“, sagte er nur und griff nach der Zeitung. „Kann ich die mitnehmen?“

„Ja, klar...“

Er hatte Haruki offensichtlich überrumpelt, doch auch wenn es ihm von Herzen Leid tat, war er sicher, dass es besser so war. Für sie beide.

Kou trat aus der Tür und wandte sich noch einmal um, blickte noch einmal in diese grünen Augen, die ihm so vertraut waren: „Danke für den Kaffee.“

Dann wandte er sich ab.

„Sehen wir uns wieder?“

Harukis Stimme schien ihn zurückhalten zu wollen, doch Kou zögerte keinen Augenblick. Er wusste, dass das niemals geschehen durfte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  ReinaDoreen
2015-05-24T18:56:43+00:00 24.05.2015 20:56
Habe deine Geschichte eben erst entdeckt und gleich komplett gelesen. Sie ist wirklich spannend.
reni
Antwort von:  Hoellenhund
24.05.2015 21:00
Freut mich, danke :D Ich hoffe, sie wird dir auch weiterhin gefallen!


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