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Loslassen

Die Straßenbahn machte einen unvermuteten Ruck, der dazu führte, dass mein Lidstrich verrutschte. Ich versuchte, ihn zu richten, und war versucht, den Stift wegzuwerfen.

Ein Mädchen vor mir lehnte sich zu ihrer Freundin, ihr Rock verrutschte. Ich sah ihre Unterwäsche, und bat Hannahs Gedächnis, mir dazu eine Erinnerung zu finden. Ich hatte noch zehn Minuten, die ich tot schlagen musste.

Lange musste ich nicht warten.

Marie, ich glaube nicht, dass man das so anzieht...“

Ach was, das gehört so!“

Aber es sieht unbequem aus.“

Marie, die versuchte, Hannah einen Tanga anzudrehen. Sie war skeptisch, aber Marie versuchte, zu überzeugen.

Sind Stöckelschuhe bequem?“

Nein.“

Kurze Röcke?“

Nein.“

Enge Tops? Flechtfrisuren?“

Ein Blick auf die Gestalt, die sich in weiter Kleidung versteckte, das lange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Das macht keinen Spaß mehr.“

Gehen wir schwimmen?“

Nur, wenn du den Tanga anziehst.“

Sie waren wirklich beste Freundinnen.

 

Ich lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe, sah in den grauen Himmel, der langsam dunkler wurde, steckte Kopfhörer in meine Ohren und sah noch einmal auf mein Handy, das beschrieb, wie ich zu Jesaias Wohnung kommen sollte, im neunzehnten Bezirk.

Irgendwann stieg ich um, und schloss kurz die Augen, ließ meine Gedanken den Weg abkürzen. Hannahs Handy spielte ein Liebeslied, und ich dachte an Jakob. Daran, wie ich nicht wirklich ohne in schlafen hatte können, obwohl wir uns gegenseitig andauernd aufweckten, wenn wir neben einander schliefen. An dieses seltsame Gefühl, daheim zu sein, wenn ich in seinen Armen war. Am Anfang unserer Beziehung hatte ich jedes Mal Schmetterlinge im Bauch in seiner Nähe bekommen, später gab es nichts, was mich mehr beruhigen konnte, als seine Berührung. Wann immer ich mich mit meinen Eltern gestritten hatte, mich über sonst was aufregen konnte, Jakob beruhigte mich. Immer. Egal, was passiert war.

Aber ich steckte fest. Ich biss mir auf die Unterlippe, und stieg in die falsche Straßenbahn. Nicht in den neunzehnten Bezirk, sondern in den zwanzigsten. Eine Zahl machte den Unterschied der dichteren Verbauung, ärmeren Bevölkerung, und des falschen Bruders. Jakob wohnte hier.

Ich war nicht so dumm, ihn noch einmal zu besuchen, aber ich schaffte es gerade nicht, in mein neues Leben zu tauchen. Mit geschlossenen Augen lehnte ich an der Mauer und genoss die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Wiens Bewohnerinnen zogen an mir vorbei.

Jemand warf seinen Schatten auf mich.

„Hannah, richtig?“

 

Ich dachte, ich hätte mich verhört. Unmöglich.

Hannahs Augen wurden geöffnet, und sahen direkt ein blau-grün, welches ich überall wieder erkennen würde. Jakob stand vor mir. Müde, mit Augenringen, einigen schmalen Schnitten auf den Händen, ein paar Farbklecksen im dunklen Haar. Er war dünn wie immer, und wirkte seltsam leer. Aber ich sah ihn auch mit Hannahs Augen. Nicht mit meinen. Nie wieder.

„Jakob...“, murmelte mehr Julia als Hannah, und ich besann mich wieder. „Wie geht es dir?“

Er zuckte mit den Schultern, sah auf das Straßenschild, die vorbei fahrenden, hupenden Autos, die hohen Häuser, nur nicht zu mir.

„Was treibt dich hierher?“, fragte er, etwas misstrauisch, ich unterbrach sein Leben schon wieder, die Abstände unserer Begegnungen hatten einen verdächtigen Monatsrythmus.

„Ich leben seit drei Jahren hier. Aber ich spreche die Sprache schlecht, ich kenne fast nichts...“, versuchte ich mich zu rechtfertigen, aber er sah durch mich hindurch. Lügen.

„Ich musste weg.“

Er nickte, weder zufriedengestellt noch beeindruckt, sondern in schlichter Akzeptanz. Jakob stellte nie in Frage, er nahm hin, er hörte zu. Deswegen hatte ich mich in ihn verliebt. Aber er würde die Situation, meine spezifische Situation nicht verstehen.

„Bist du angekommen?“, fragte er, eine Frage, die so unschuldig war, so typisch, dass ich fast lachte, aber ich hob nur die Schultern.

Als ich sie fallen ließ, dachte Jakob noch immer sorgfältig über seine Reaktion nach, und ich ertappte mich dabei, mir zu wünschen, er wäre mehr wie sein Bruder, spontaner, lebenslustiger. Aber er fuhr nur durch seine Haare, und ich glaubte für einen Moment, den vertrauten Geruch von Farbe und Aftershave zu vernehmen, aber selbst wenn dem so wäre, wurde er rasch von dem der Autos und der vielen anderen Menschen überdeckt.

Er hatte meinen Blick nicht bemerkt, oder sah so großzügig darüber hinweg wie über alles andere. Er fragte nach meiner Schule, meinen Eltern, all den Dingen, die zu seinen typischen Themen gehörten. Anstatt, wie viele meiner alten, Julias alten, Freunden, die Informationen zu sammeln, um sie später zu verwerten, hörte er einfach zu.

Für einen Moment war ich verführt, Simon und Jesaia sitzen zu lassen, um den Abend mit Jakob zu verbringen, wie in den alten Tagen zu reden, auf seiner Feuertreppe zu sitzen, den Ausblick über Wien zu genießen, und so zu tun, als hätte ich keinen neuen, verwirrenden Körper.

Aber Jakobs Leben machte mir einen Strich durch die Rechnung.

„Hannah, entschuldige, ich muss dann weiter, aber du kannst mich gern noch ein Stück begleiten.“, bot er an, und ich nickte, nachdem ich heraus fand, dass wir am gleichen Punkt umsteigen mussten.

Im Bus sprachen wir nicht viel, bis mir kurz vor der Haltestelle auffiel, dass wir in dem Bezirk waren, in dem die Freundin, die uns bekannt gemacht hatte, wohnte. Aber es war wohl nur ein Zufall.

Wir stiegen aus, verabschiedeten uns- etwas ungeschickt, ich wusste nicht, wie, Hand geben war zu formal, Umarmung zu nah, gerade für Hannah, und so hoben wir jeweils eine Hand zum Gruß.

Ich ging in Richtung eines weiteren Busses, und verpasste ihn knapp. Aber der nächste kam ohnehin in zehn Minuten. Ich ging zu einem Stand, kaufte eine Flasche Wasser, und sah meine ehemalige Freundin.

Zuerst wollte ich auf sie zugehen, mit ihr sprechen, sie fragen, wie es ihr ging. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Vielleicht würde sie mich so verstehen wie Marie... Ich zögerte einem Moment zu lang. Jakob ging auf sie zu, und sie begrüßten sich. Eine lange Umarmung. Hand in Hand gingen sie weg.

Ich stieg wie betäubt in den Bus, sah meine Reflektion in der Fensterscheibe. Ich sah so anders aus. Natürlich würde er sich nicht von dem einen Moment auf den anderen in mich verlieben. Dann war da auch noch die Sache, dass wir in den letzten Monaten mehr aneinander gewöhnt waren, als in einander verliebt. Alles war normal geworden.

Auf dem Weg zu Jesaias Wohnung war ich versucht, eine Packung blonder Haarfarbe zu kaufen, ließ es aber dann. Vielleicht waren sie ja auch nur befreundet.

Aber eine leise Stimme in meinem Kopf sagte etwas anderes.



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